Das Ende des 2.Weltkrieges in Bremerhaven
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lngrid Rucks<br />
Midgardweg 19<br />
Jahrgang 1933<br />
berichtet am 8. 2. 1985<br />
Als im Mai 1945 das "1000jährige Reich"<br />
zusammenbrach, war ich 11 Jahre alt.<br />
Wir wohnten <strong>in</strong> der Nähe <strong>des</strong> Wulsdorfer<br />
Bahnhofes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Straße mit vier<br />
Häusern. An e<strong>in</strong>em <strong>Ende</strong> der Straße befand<br />
sich e<strong>in</strong>e Möbelfabrik. Seit Wochen<br />
brauchten wir K<strong>in</strong>der nicht mehr zur<br />
Schule, was uns natürlich sehr freute.<br />
Wie sollten wir denn auch die Tragik, die<br />
h<strong>in</strong>ter diesen Zwangsferien stand, verstehen.<br />
Ich er<strong>in</strong>nere mich, daß damals fast nur<br />
von baldigem Umsturz die Rede war.<br />
Deshalb wurden Vorkehrungen getroffen, längere Zeit das Haus nicht zu verlassen,<br />
weil alle mit Ausgehverboten rechneten. Es war e<strong>in</strong> Aufruf ergangen, daß die Stadt<br />
ihre Lebensmittellager und Kühlhäuser räumte und daß die Waren an die Bevölkerung<br />
verteilt werden sollten. Viele Leute waren erstaunt, daß <strong>in</strong> der Stadt noch so große<br />
Mengen Lebensmittel e<strong>in</strong>gelagert waren. Auch wurde am Wulsdorfer Kle<strong>in</strong>bahnhof<br />
aus Tankwagen der Reichsbahn Öl ausgegeben. Wir holten unsere Rationen (pro<br />
Kopf der Familie) <strong>in</strong> Wassereimern und E<strong>in</strong>wecktöpfen nach Hause. Hier füllten wir<br />
das Öl <strong>in</strong> Demijohns, die me<strong>in</strong> Vater unter unserer Landbude zusammen mit anderen<br />
Lebensmitteln vergrub. Ich er<strong>in</strong>nere mich an e<strong>in</strong> besonderes Mißgeschick: Ich wollte<br />
aus der Grube unter unserer Landbude e<strong>in</strong>e Flasche Apfelsaft hervorholen und stieß<br />
dabei mit dem Ellenbogen an e<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong>. Dieser zerschlug e<strong>in</strong>en der Öldemijohns.<br />
Heute kann sich wohl ke<strong>in</strong>er mehr me<strong>in</strong>en Schrecken und me<strong>in</strong>e Angst vor Prügel<br />
vorstellen. Me<strong>in</strong>e Mutter hat noch versucht zu retten, was noch zu retten war. Schöpfversuche<br />
mit e<strong>in</strong>er Keile und Siebversuche mit e<strong>in</strong>em Tuch hatten nur ger<strong>in</strong>gen Erfolg.<br />
Unseren Bewegungsraum mußten wir bald sehr e<strong>in</strong>schränken. Als me<strong>in</strong> Vater, der <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er nahe gelegenen Munitionsfabrik beschäftigt war, nicht mehr zur Arbeit brauchte,<br />
war unsere ganze Familie ständig zusammen. Nachbarbesuche waren für unsere<br />
Mitbewohner und uns bald die e<strong>in</strong>zigen Kontakte zu anderen Menschen. <strong>Das</strong> Verbot,<br />
auf die Straße zu gehen, zwang uns dazu, die Hofzäune zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Anwesen<br />
zu entfernen, um <strong>in</strong> die Nachbarhäuser zu gelangen. Geme<strong>in</strong>sam wurde beraten,<br />
wie man sich wohl bei andauernder Sperrzeit verhalten solle. Die Sorgen der<br />
Erwachsenen über e<strong>in</strong>e ungewisse Zukunft hat uns K<strong>in</strong>der damals weniger bedrückt.<br />
Für uns war es eigentlich e<strong>in</strong>e schöne Zeit: Ferien, herrliches Frühl<strong>in</strong>gswetter, Mutter<br />
und Vater ständig <strong>in</strong> der Nähe und endlich ausreichend zu essen. Was brauchten wir<br />
mehr? Natürlich wußten wir größeren K<strong>in</strong>der, daß der Krieg nun zu <strong>Ende</strong> war und daß<br />
irgendetwas Ungewisses auf uns zukam.<br />
Nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung haben die Engländer erst e<strong>in</strong>en Tag nach ihrem E<strong>in</strong>marsch<br />
<strong>in</strong> Wesermünde Wulsdorf erreicht. Wir K<strong>in</strong>der mißachteten die Ausgehverbote und<br />
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liefen auf die Straße. So sahen wir nun, wie die Besetzer mit ihren Lastwagen <strong>in</strong> unsere<br />
Straße e<strong>in</strong>bogen und auf den Hof der Möbelfabrik fuhren.<br />
Alsbald sahen sich die Alliierten <strong>in</strong> der Umgebung um und erließen e<strong>in</strong>e Verordnung.<br />
Den Hauswirten wurde aufgetragen, e<strong>in</strong>e Liste anzufertigen, wieviel Personen <strong>in</strong> ihrem<br />
Haus seien, und diese Liste an ihrem Haus zu befestigen. Ferner mußte auf<br />
dieser Liste vermerkt werden, ob sich Waffen im Haus befänden. Wegen dieser Angabe<br />
über Waffen, gab es im Nachbarhaus noch e<strong>in</strong>e große Aufregung. E<strong>in</strong> Unbekannter<br />
hatte das "ke<strong>in</strong>e" im Anschlag <strong>des</strong> Hauswirtes: "Hier ke<strong>in</strong>e Waffen" e<strong>in</strong>fach<br />
durchgestrichen. Dieser üble Streich wurde jedoch sehr schnell von e<strong>in</strong>em Hausbewohner<br />
entdeckt. Diese Situation hat zu vielen gegenseitigen Verdächtigungen Anlaß<br />
gegeben.<br />
Wir neugierigen K<strong>in</strong>der liefen schon sehr bald zu den Soldaten. Zwar verstanden wir<br />
ihre Sprache nicht, empfanden aber, daß sie nett und freundlich zu uns waren. Sie<br />
schenkten uns Schokolade, Kaugummi und me<strong>in</strong>es Wissens auch Weißbrot. Ich selber<br />
hatte e<strong>in</strong>e unbestimmte Scheu, von diesen Männern etwas anzunehmen. Mir<br />
stand e<strong>in</strong> Erlebnis, das sich im Sommer 1944 ereignet hatte, wieder <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ganzen<br />
Grausamkeit vor Augen. Ich fragte mich: Ist wohl der Mann, der damals aus se<strong>in</strong>em<br />
Flugzeug kaltblütig auf mich geschossen hatte, unter diesen hier anwesenden Soldaten?<br />
Bestimmt hätte ich ihn wiedererkannt. Noch heute sehe ich das Gesicht <strong>des</strong><br />
Piloten vor mir, der damals mit se<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>e ca. 20 m über mir h<strong>in</strong>wegflog und<br />
mich unter Masch<strong>in</strong>engewehrbeschuß nahm. E<strong>in</strong>es wußte ich nun jedoch genau, vor<br />
e<strong>in</strong>em solchen Angriff brauchte ich mich nicht mehr zu fürchten.<br />
Die Besetzer blieben nur e<strong>in</strong> paar Tage auf dem Fabrikgelände. Es wurde erzählt,<br />
daß sie sich bessere Quartiere gesucht hätten. Nach ihrem Abzug und der Auflockerung<br />
<strong>des</strong> Ausgehverbotes spürte man überall Erleichterung unter der Bevölkerung.<br />
Der unglückselige Krieg war beende!, und die Zukunft hatte schon begonnen.<br />
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