EINER VON EINER MILLION
Liberal-02_2016
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FLÜCHTLINGE INTERVIEW<br />
„FLÜCHTLINGSWELLEN<br />
ENTSTEHEN<br />
NICHT ÜBER NACHT“<br />
Die Frage nach dem richtigen Umgang mit den ins Land strömenden Massen spaltet<br />
gleichermaßen Regierung wie Gesellschaft. Im Interview beklagt der Migrationsforscher<br />
THOMAS STRAUBHAAR die Strategielosigkeit der Politik angesichts des sich seit Langem<br />
abzeichnenden Problems, fordert temporäre Sonderregeln, um die Integration der<br />
Flücht linge in den Arbeitsmarkt zu erleichtern, und erklärt, wie aus der Krise eine Win-win-<br />
Situation für alle Beteiligten erwachsen könnte. // INTERVIEW // DAVID HARNASCH<br />
Es gibt zur Vorgeschichte<br />
der aktuellen<br />
Situation zwei verschiedene Interpretationen:<br />
Angela Merkel sieht eine komplexe<br />
globale Gemengelage, auf deren Auswirkungen<br />
die Politik nur reagieren konnte. Kritiker<br />
der Bundeskanzlerin, hier wie im EU-<br />
Ausland, sehen ihre Äußerungen des<br />
vergangenen Sommers als ursächlich für die<br />
Zuwanderungsrekorde. Wer hat recht?<br />
Die hohe Zahl von Flüchtlingen kann nicht<br />
auf ein singuläres Ereignis wie Frau Merkels<br />
Bemerkungen zum Asylrecht ohne Obergrenze<br />
reduziert werden. Es ist ja nicht so,<br />
dass sie damit Türen geöffnet hätte, die zuvor<br />
fest verschlossen waren. Ihre Äußerungen<br />
mögen verstärkend gewirkt haben, Auslöser<br />
der Flüchtlingswelle waren jedoch andere<br />
und weit früher bereits wirksame Ursachen:<br />
Zum einen ist Flucht aus politischem wie<br />
auch ökonomischem Elend im Kontext der<br />
globalisierungsbedingten Migrationsbewegungen<br />
kein ungewöhnliches Phänomen.<br />
Zum anderen hat die seit Jahren eskalierende<br />
Situation im Nahen Osten Menschen in die<br />
Hoffnungslosigkeit und damit in die Flucht<br />
getrieben. Frau Merkel mag durch ihre Worte<br />
Deutschland als Ziel attraktiver gemacht<br />
haben – Ursache für die Flüchtlingsströme<br />
waren ihre Äußerungen aber nicht.<br />
Bereits im Mai 2015 haben wir in „liberal“<br />
die Planlosigkeit der Regierung angesichts<br />
der sich damals bereits abzeichnenden<br />
Flüchtlingskrise beklagt. Drei weitere Monate<br />
blieb das Innenministerium bei der offiziellen<br />
Einschätzung von 450.000 zu erwartenden<br />
Flüchtlingen. Wollte oder konnte<br />
de Maizière das nicht besser wissen?<br />
Eigentlich hätte er es wissen müssen! Fakt ist:<br />
Die Bundesregierung hat das schon lange<br />
offensichtliche Thema verdrängt oder nicht<br />
zur Kenntnis genommen. Flüchtlingswellen<br />
entstehen nicht über Nacht, ihnen gehen<br />
lange Anlaufphasen voraus. Ihre Auslöser<br />
sind nicht konjunktureller, sondern struktureller<br />
Natur. Das gilt insbesondere für Flüchtlingsbewegungen<br />
aus politisch instabilen<br />
Ländern oder wirtschaftlichen Elendsregionen.<br />
Man konnte schon seit Beginn des<br />
Jahrzehnts erkennen, wie sich die Situation<br />
im Nahen Osten dramatisch verschlechterte.<br />
Während Westerwelle als Außenminister die<br />
Beziehungen zur Türkei offensiv verbesserte<br />
und mitwirkte, dass der damalige Außenminister<br />
und heutige Ministerpräsident Ahmet<br />
Davutoğlu eine Außenpolitik der „zero<br />
problems“ mit den Nachbarn verfolgte und<br />
Recep Tayyip Erdoğan Syrien und Baschar<br />
al-Assad sich noch als beste Freunde und<br />
Brüder im Geiste bezeichneten, hat die<br />
aktuelle Bundesregierung einen anderen<br />
Kurs eingeschlagen — und ging trotzdem<br />
davon aus, dass Länder wie die Türkei und<br />
Jordanien das Flüchtlingsproblem für uns<br />
lösen würden und bereit wären, die Kosten<br />
dafür alleine zu tragen. Offensichtlich fehlt<br />
der Regierung für die Migrationspolitik im<br />
Allgemeinen und für die Flüchtlingspolitik<br />
im Speziellen seit Jahren jede Strategie. Man<br />
ist für die Globalisierung, aber gegen die<br />
Zuwanderung. Deshalb gibt es auch weder<br />
ein Einwanderungsgesetz noch ein Migrationsministerium.<br />
Man hat nicht den Eindruck, dass sich das<br />
inzwischen verbessert hätte.<br />
Sich erst angesichts der akuten Krise Gedanken<br />
über eine Strategie zu machen ist natürlich<br />
zu spät. Krisenbewältigung ist in aller<br />
Regel Hauruck-Politik, ein hektischer Aktio-<br />
Foto: Lucas Wahl/Kollektiv25/Agentur Focus<br />
14 2.2016 liberal