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artig Kunstpreis 2016 - Katalog zur Ausstellung

Der Katalog zum artig Kunstpreis 2016 mit den Preisträgern, den Laudatios und vielen Infos mehr

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ARTIG KUNSTPREIS <strong>2016</strong><br />

Ein Bild wie ein Roman<br />

JURY KÜRT JULES VON MERLIN ORTNER<br />

Es sind diese Bilder, die uns nicht nur kurz ins Auge<br />

stechen, sondern auch nach Tagen nicht loslassen<br />

und locken: Komm, ich erzähl Dir eine Geschichte, und<br />

dann erzählst Du mir eine. Bilder, die uns mit Freude<br />

rätseln lassen und auch dann keineswegs enttäuschen,<br />

wenn sie nicht alle ihre Geheimnisse preisgeben.<br />

Mit einer originalen Boxkamera von Kodak, einer<br />

„Brownie“ aus dem Jahr 1905, malt Merlin Ortner<br />

Bilder – und vielmehr: Er inszeniert und komprimiert<br />

einen ganzen Film auf einen einzigen Moment und<br />

schreibt zugleich einen Roman. Mindestens einen,<br />

denn bei den Betrachtern ruft seine Fotografie „Jules“<br />

je nach deren persönlichen Geschichte unterschiedliche<br />

Reaktionen hervor: Der eine findet sich im männlichen<br />

Hauptdarsteller wieder, auch wenn der vor<br />

Hunderten von Jahren gelebt haben muss, verlassen<br />

und verloren, allein, fast hilflos bis autistisch in sich<br />

gekehrt. Der andere sieht einen bourgeoisen Jules,<br />

den es wach<strong>zur</strong>ütteln gilt, bevor das dekadente Leben<br />

den Bach runter geht; er würde am liebsten in das<br />

Bild springen und ihn anstelle der geisterhaften Braut<br />

schütteln. Oder: Sie entdeckt sich selbst als jene junge<br />

Frau, die damals viel für ihn gegeben hätte. Doch er<br />

sah sie nicht.<br />

Mit der Verdichtung auf ein einziges Bild ist‘s aber<br />

nicht genug: Gleichsam kinematografisch packt Merlin<br />

Ortner die fein komponierte Szenerie in einen Leuchtkasten<br />

in der Größe eines üblichen Bildschirms. Durch<br />

diesen anachronistischen Rückgriff sitzt der Betrachter<br />

wie vor einem stillstehenden Video, einem eingefrorenem<br />

Monitor, auf dem heutzutage sonst so Vieles und<br />

Belangloses auf- und wieder wegblitzt. Mit Ortners<br />

analoger Langsamkeit beschenkt, stehen wir beunruhigend<br />

ruhig inmitten einer schnelllebigen Zeit. Eine<br />

Zeit, in der fast jedes Telefon mit einer Videokamera<br />

ausgestattet ist und auf Youtube jede Minute mehrere<br />

hundert Stunden Filmmaterial hochgeladen werden.<br />

In der ruhenden Mitte zwischen klassischer Malerei<br />

und moderner Videokunst steht im besten wie im<br />

logischsten Falle einer wie Merlin Ortner: Sein Studium<br />

an der Hochschule Berlin-Weißensee hat er 2013<br />

bei Friederike Feldmann, Professorin für Malerei,<br />

abgeschlossen. Heute arbeitet er als Künstler sowie<br />

als Production Designer bzw. Szenenbildner für Filmproduktionen.<br />

Aus dieser Erfahrung weiß er, wie<br />

nah Wirklichkeit und Fiktion beieinander liegen. Wir<br />

können beiden nicht trauen, sagt Ortner: der Wahrnehmung<br />

nicht, und der Fotografie nicht, da wir zu viel<br />

über deren Manipulation wissen.<br />

Dass Geschichtenerzähler aber nicht der Wahrheit –<br />

und wessen Wahrheit überhaupt? – verpflichtet sind,<br />

wissen wir wie er. So lassen wir uns gerne einwickeln<br />

von seiner wie unserer eigenen Phantasie.<br />

„Jules“ stammt aus der mehrteiligen Fotoserie „Der<br />

Geist von Görlitz”, die Ortner 2015 konzipierte und in<br />

Jahrhunderte alten Häusern von Görlitz inszenierte.<br />

Hier machte er einen Ort <strong>zur</strong> Bühne, dessen historische<br />

Innenstadt im Zweiten Weltkrieg fast völlig<br />

verschont blieb und mit über 4.000 Baudenkmalen<br />

als das größte zusammenhängende Flächendenkmal<br />

Deutschlands gilt.<br />

Der „Geist“ sei in seinem Kopf entstanden, als er dort<br />

in einem Haus aus dem 14. Jahrhundert wohnte,<br />

erzählt er: „Ich war der festen Überzeugung, dass<br />

ich die Geister, die überall in der Stadt zu finden sind,<br />

fotografisch festhalten muss.“ Die mit der „Brownie“<br />

und ihren nur drei Blenden eingefangenen Rollfilm-Fotos<br />

bearbeitet er nie in Photoshop oder ähnlichem.<br />

Ob wir‘s glauben oder nicht – dass diese Geschichte<br />

wahr sein muss, zeigen die Bilder, die er aus Görlitz<br />

mitgebracht hat.<br />

Apropos Geschichte: Während in den 50er Jahren die<br />

Fotografie erst langsam salon- und museumsfähig<br />

wurde, ab Ende der 70er dann Künstler wie Jeff Wall<br />

konsequent mit großformatigen Leuchtkästen aus der<br />

Werbeindustrie arbeiteten, stand in den Wohnzimmern<br />

vielleicht ein Fernsehgerät und auf den Schreibtischen<br />

eine Schreibmaschine. Heute ist es umgekehrt:<br />

Wir sind im Büro wie zuhause von Monitoren und<br />

mobilen Bildschirmen umgeben.<br />

Umso mutiger und konsequenter ist Ortners inhaltlicher<br />

wie formaler Kunstkniff, nebst der Box-Kamera<br />

auf inzwischen altmodisch wirkende, bilderbuchgroße<br />

Leuchtkästen aus Glas und Holz <strong>zur</strong>ückzugreifen und<br />

für sich als die beste Form der Vermittlung zu entdecken.<br />

Dies beeindruckte die Jury ebenso wie seine<br />

fotografische Herangehensweise und seine grandiose<br />

Erzählkunst.<br />

Wir gratulieren Merlin Ortner aus Teltow herzlich zum<br />

<strong>artig</strong> <strong>Kunstpreis</strong> <strong>2016</strong>!

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