die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen
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WIE STEHT ES UM<br />
DIE GERECHTIGKEIT?<br />
Wilhelm Heitmeyer, 63, Konfliktforscher an <strong>der</strong> Universität Bielefeld,<br />
führt seit 2002 <strong>die</strong> Langzeitstu<strong>die</strong> „Deutsche Zustände“ durch, er kennt<br />
<strong>die</strong> Deutschen und ihre Gefühlslage wie kaum ein an<strong>der</strong>er, er wird weiterhelfen.<br />
(...) Er zeichnet das Bild eines verunsicherten, wütenden und enttäuschten<br />
Deutschen: Immer mehr Deutsche fühlen sich immer ungerechter<br />
behandelt, je<strong>der</strong> zweite Deutsche denkt, er bekäme weniger als seinen<br />
gerechten Anteil, zwei Drittel <strong>der</strong> Deutschen glauben, Arme würden immer<br />
ärmer und Reiche immer reicher. Die Hälfte <strong>der</strong> Deutschen ist <strong>der</strong> Meinung,<br />
es würden in Deutschland immer mehr Leute an den Rand <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
gedrängt. „Wir erleben eine Demokratieentleerung, eine wachsende Distanz<br />
<strong>der</strong> Menschen zum demokratischen System, <strong>die</strong> Menschen fühlen sich<br />
ohne Stimme, nicht mehr vertreten.“<br />
In den Fragebögen, <strong>die</strong> Heitmeyer ausgibt, ist auch das Entsetzen über<br />
den plötzlichen Abstieg herauslesbar, <strong>der</strong> mit dem Jobverlust einsetzt und<br />
nach einem Jahr schon bei Hartz IV endet. „Ich bin in einer Kategorie mit<br />
den Pennern gelandet“, heißt es da zum Beispiel, und Heitmeyer sagt, dass<br />
<strong>die</strong>se Wut nicht selten ist: „Die Menschen nehmen <strong>die</strong> Entwicklung unserer<br />
Gesellschaft als ungerecht wahr, sie haben das Gefühl, in einem immer ungerechteren<br />
Land zu leben.“<br />
Was beson<strong>der</strong>s ins Gewicht fällt: Dieses Phänomen ist neu in Deutschland.<br />
Seit 1964 wird in Umfragen regelmäßig gefragt, ob <strong>die</strong> wirtschaftlichen<br />
Verhältnisse – was Menschen besitzen und was sie ver<strong>die</strong>nen – im Großen<br />
und Ganzen gerecht o<strong>der</strong> ungerecht seien. Über <strong>die</strong> Jahrzehnte blieb das<br />
Ergebnis relativ konstant, fast gleich viele Befragte hielten das Land für<br />
gerecht beziehungsweise ungerecht. Erst ab <strong>der</strong> Jahrtausendwende wurde<br />
Deutschland als immer ungerechter empfunden, zuletzt standen 73 Prozent,<br />
<strong>die</strong> das Land als ungerecht ansahen, gegen nur mehr 13 Prozent, <strong>die</strong><br />
<strong>die</strong> Lage als gerecht wahrnahmen. Aber warum? Wilhelm Heitmeyer sagt:<br />
„Weil das Land sichtbar ungleicher geworden ist.“<br />
Hans-Olaf Henkel, Ex-Chef des Bundesverbands <strong>der</strong> Deutschen Industrie,<br />
meint: „Weil eine Armee von Meinungsführern den Deutschen seit Jahren<br />
einredet, unser Land wäre beson<strong>der</strong>s ungerecht, dabei kann mir kaum<br />
jemand ein Land nennen, wo <strong>der</strong> Unterschied zwischen Arm und Reich so<br />
gering ist wie in Deutschland!“<br />
Michael Hüther, Direktor des Instituts <strong>der</strong> Deutschen Wirtschaft in Köln,<br />
sagt: „Weil wir <strong>die</strong> meiste Zeit nicht von Fakten ausgehen, son<strong>der</strong>n von Gefühlen.“<br />
Hüther hat darüber ein Buch geschrieben, <strong>der</strong> Titel „Die gefühlte<br />
Ungerechtigkeit“, er sagt, mit talkshowgestähltem Lächeln, alle Zahlen, <strong>die</strong><br />
in das Bild des ungerechten Landes passen, würden sofort aufgebauscht,<br />
und alle gegenteiligen Entwicklungen weitgehend ignoriert. Was er nicht<br />
sagt: dass es gerade ziemlich wenige gegenteilige Entwicklungen gibt. (...)<br />
Die Ungleichheit in Deutschland wächst. Das sagen <strong>die</strong> Zahlen, das sagen<br />
<strong>die</strong> Umfragen und das sagen <strong>die</strong> Menschen, denen man im Lauf <strong>die</strong>ser<br />
Reise durch Deutschland <strong>die</strong> kurze Frage stellt, ob Deutschland sozial<br />
gerecht sei: Die Be<strong>die</strong>nung in einem Göttinger „McDonald’s“, <strong>der</strong> Rentner<br />
in <strong>der</strong> Bremer Innenstadt, <strong>die</strong> Frau an <strong>der</strong> Rezeption eines Dessauer<br />
Hotels, <strong>der</strong> Maurer im thüringischen Stadtroda. Sie alle antworten sofort<br />
mit „Nein“. Genauso <strong>der</strong> Theaterintendant und ausgewiesene Linke Claus<br />
Peymann in Berlin, <strong>der</strong> gleich noch den großen Knall prophezeit, den Aufstand:<br />
Es sei doch kein Zufall, dass Schriftsteller wie Elfriede Jelinek o<strong>der</strong><br />
Peter Handke <strong>die</strong> ganze Zeit vom Untergang schrieben. „Niemand glaubt<br />
das“, ruft Peymann, „wir lachen darüber, aber ich sage Ihnen, das sind <strong>die</strong><br />
Seher, <strong>die</strong> haben den klareren Blick!“ Auch Wachtmeister Heinz- Jürgen