FernUni Perspektive Nr. 56 / Sommer 2016
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Forschung<br />
Seite 6<br />
<strong>FernUni</strong> <strong>Perspektive</strong><br />
EU-Referendum im Vereinigten Königreich<br />
Bleiben oder nicht bleiben? Das ist hier die Frage!<br />
Am 23. Juni <strong>2016</strong> entscheiden die Wählerinnen und Wähler im Vereinigten Königreich Großbritannien<br />
und Nordirland in einem Referendum über das Ausscheiden aus der Europäischen Union, den so genannten<br />
„Brexit“. An den europäischen Einigungsprozessen beteiligte sich das Vereinigte Königreich<br />
erst seit seinem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1973. Welche Entwicklungen<br />
führten zur heutigen EU? Wie stehen die Britinnen und Briten zu ihr? Was könnte ein Ausscheiden bedeuten?<br />
Zwei Wissenschaftlerinnen und ein Wissenschaftler der <strong>FernUni</strong>versität beleuchten dies aus<br />
unterschiedlichen Richtungen.<br />
Ausfahrt in die Sackgasse?<br />
Die Skepsis gegenüber der Europäischen<br />
Union ist unter den Britinnen<br />
und Briten besonders weit verbreitet,<br />
die einzigen Gegner sind sie jedoch<br />
bei weitem nicht: „Wenn jedoch<br />
jemand diesen aktuell besonders<br />
starken Trend mitbegründet<br />
hat, gehören die Briten auf jeden<br />
Fall dazu“, erläutert die <strong>FernUni</strong>-<br />
Politikwissenschaftlerin Prof. Dr.<br />
Viktoria Kaina. Seit dem Beginn<br />
der 1970er Jahre werden Befragungen<br />
zu den Einstellungen der<br />
EU-Bürgerinnen und EU-Bürger gegenüber<br />
der Gemeinschaft durchgeführt:<br />
„Die Briten gehörten immer<br />
zu den EU-Skeptikerinnen und<br />
Skeptikern, eine relative Mehrheit<br />
sah sich immer nur als Britinnen<br />
und Briten, nicht als Europäerinnen<br />
und Europäer.“ Das bringt die Distanz<br />
zur EU deutlich zum Ausdruck.<br />
Besonders in der britischen Außenund<br />
Sicherheitspolitik dominiert die<br />
transatlantische Allianz<br />
mit den USA.<br />
Vor allem seit dem<br />
Vertrag von Maastricht<br />
hat die EU-<br />
Skepsis in der Bevölkerung<br />
insgesamt zugenommen.<br />
Souveränität hat Vorrang<br />
Bei den Britinnen und Briten stellte<br />
Prof. Kaina eine „ökonomisch und<br />
politisch motivierte EU-Skepsis“<br />
fest: „Sie sind für einen freien Markt<br />
und auch für einen Zusammenschluss<br />
souveräner Nationalstaaten,<br />
lehnen einen europäischen Superstaat<br />
aber mehrheitlich ab. Wenn<br />
es um die nationale Sicherheits-, Finanz-<br />
und Wirtschaftspolitik geht,<br />
sind sie knallhart. Die Britinnen und<br />
Briten sind also nicht grundsätzlich<br />
gegen Europa und auch nicht gegen<br />
die EU, sie sind aber gegen eine<br />
bestimmte Art EU.“<br />
Die tiefe innere Distanz vieler Britinnen<br />
und Briten zur EU und zu den<br />
Vorläufer-Gemeinschaften sieht der<br />
Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Andreas<br />
Haratsch auch als Resultat<br />
eines Jahrhunderte alten Rechtsbewusstseins.<br />
Die Magna Charta<br />
von 1215 hatte eine Entwicklung<br />
der Begrenzung der monarchischen<br />
Macht eingeleitet, die darin gipfelt,<br />
das Parlament als Träger der uneingeschränkten<br />
Souveränität zu sehen.<br />
Diese Souveränität sehen viele<br />
durch die Regelungskompetenz der<br />
Prof. Viktoria Kaina, Lehrgebiet Politikwissenschaft I: Staat und Regieren<br />
EU eingeschränkt: „Nach ihrer Meinung<br />
kann das Parlament in London<br />
alles entscheiden, was es will“, so<br />
Prof. Haratsch.<br />
„Die Britinnen und Briten sind nicht grundsätzlich<br />
gegen Europa und auch nicht gegen die EU, sie sind aber<br />
gegen eine bestimmte Art EU.“<br />
Viktoria Kaina macht aber auch<br />
massive Fehler auf der Entscheidungsebene<br />
der Mitgliedsstaaten<br />
dafür mitverantwortlich, dass in vielen<br />
EU-Staaten nationale Egoismen<br />
revitalisiert werden. „Bei Gipfeln<br />
und Vertragsveränderungen wurden<br />
viele Probleme unter den Teppich<br />
gekehrt und immer wieder vertagt<br />
oder Kompromisse auf dem<br />
kleinsten gemeinsamen Nenner<br />
geschlossen.“ Irgendwann funktioniert<br />
das nicht mehr, so wie aktuell<br />
bei der Flüchtlingskrise. „Seit<br />
dem Vertrag von Maastricht gibt es<br />
den ‚Elitenkonsens‘ nicht mehr, der<br />
dazu beitrug, frühere Brüche und<br />
Krisen in der Entwicklung der Gemeinschaft<br />
zu überwinden“, erläutert<br />
die Politologin. Vor Maastricht<br />
waren sich die europäischen Eliten<br />
noch einig, das Integrationsprojekt<br />
voranzutreiben. Aber schon ab Mitte<br />
der 1980er Jahre begann dieser<br />
Konsens zu bröckeln. Kaina: „Bis<br />
heute besteht keine Einigkeit, was<br />
die EU am Ende eigentlich sein soll.“<br />
Ein freier Binnenmarkt? Ein politisches<br />
Projekt in Form eines föderalen<br />
Staates? Oder ein sicherheitspolitischer<br />
Pfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur<br />
und NATO-Ergänzung?<br />
„Too fast, too much“<br />
„Diese Frage wurde auch beim<br />
Maastrichter Vertrag ausgeklammert,<br />
mit der Erweiterung und Vertiefung<br />
jedoch weitergemacht ohne<br />
sich einig zu sein: Was wollen wir eigentlich?“<br />
Eine Folge war die wachsende<br />
Disparität in der EU, verschärft<br />
durch die rasante<br />
Aufnahme von Staaten<br />
auf ganz unterschiedlichen<br />
Niveaus ökonomischer<br />
und gesellschaftlicher<br />
Entwicklung. Das<br />
zeigte sich, so die Wissenschaftlerin<br />
weiter, vor allem nach dem Beitritt<br />
von zehn neuen Mitgliedern<br />
im Jahr 2004, bei dem es auch um<br />
die Stabilisierung der jungen Demokratien<br />
in Ost- und Südosteuropa<br />
ging. Diese große „Beitrittswelle“<br />
und die Aufnahme von zwei weiteren<br />
Staaten 2007 und 2013 veränderten<br />
die Machtverhältnisse in der<br />
EU fundamental.<br />
Es wurden aber<br />
nicht nur zu<br />
schnell zu viele<br />
Staaten aufgenommen<br />
(Er<br />
Prof. Viktoria Kaina<br />
weiterung), zeitgleich<br />
wurden auch die Kompetenzen<br />
der EU zu Lasten nationaler<br />
Souveränitätsrechte dramatisch erweitert<br />
(Vertiefung). „US-amerikanische<br />
Kollegen brachten die selbst<br />
verursachte Überforderung der EU<br />
mit der Formulierung ‚Too fast, too<br />
much‘ gut auf den Punkt.“<br />
Britischer Linksverkehr bei der EU-Zugehörigkeit<br />
Nicht nur Gewinner<br />
Vor allem aber wurde nach dem<br />
Vertrag von Maastricht für die Bevölkerung<br />
spürbar, dass es durch die<br />
Integration nicht länger nur Gewinnerinnen<br />
und Gewinner gibt, sondern<br />
auch Verliererinnen und Verlieren.<br />
Zudem lasten viele Menschen<br />
ihre durch Globalisierungsprozesse<br />
verursachten Probleme der EU<br />
an. „Entgegen ihren Versprechungen<br />
konnte die EU viele Menschen<br />
nicht vor den negativen Globalisierungsfolgen<br />
schützen“, so Kaina.<br />
„Bestimmte Prozesse sind von<br />
der Politik nicht beherrschbar.“ Die<br />
„Modernisierungsverlierer“ – und<br />
Gespaltenes Land<br />
Die Grenzen zwischen Befürwortern<br />
und Gegnern der EU gehen<br />
nicht nur in Großbritannien quer<br />
durch die politischen Lager. Auch<br />
eigentlich international orientierte<br />
Linke lehnen die Union wegen ihrer<br />
wirtschaftsliberalen Linie oft ab.<br />
Und Liberale sagen „nein“ zur Brüsseler<br />
Bürokratie.<br />
Premierminister<br />
„Der Traum von einer faktischen Unabhängigkeit des<br />
David Cameron<br />
Vereinigten Königreichs ist eine Illusion.“<br />
gab mit seiner Entscheidung<br />
für ein<br />
Prof. Andreas Haratsch<br />
Referendum nicht<br />
das sind eben nicht die jungen, gut zuletzt dem Druck innerhalb seiner<br />
eigenen konservativen Partei<br />
Ausgebildeten oder diejenigen, die<br />
vom freien Handel profitieren – stellen<br />
einen großen Anteil unter den EU-Partei UKIP: Die United King<br />
nach, so Kaina. Ebenso der Anti-<br />
Skeptikern.<br />
dom Independence Party kam bei<br />
der Europawahl 2014 auf 27,5 Prozent<br />
der Stimmen. „Das Volk zu be<br />
Die Politikerinnen und Politiker machen<br />
nach den Worten von Viktoria<br />
Kaina im Hinblick auf die nächsdung<br />
zu treffen, ist manchmal auch<br />
fragen, statt selbst eine Entscheite<br />
Wahl oft große Versprechen und eine Form von Verantwortungsentlastung,<br />
ein Populismus der Mitte.<br />
setzen so eine Spirale von Erwartungen<br />
in Gang, die nicht zu erfüllen<br />
sind: „Die Politik wäre gut be<br />
er setzt ja durchaus auch Akzente“,<br />
Dabei ist Cameron nicht unbeliebt,<br />
raten, wieder etwas mehr Demut erläutert Kaina. „Aber in dieser Frage<br />
ist er ein Getriebener.“<br />
zu zeigen.“<br />
Fortsetzung auf Seite 7<br />
Prof. Andreas Haratsch, Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Verfassungs- und<br />
Verwaltungsrecht sowie Völkerrecht<br />
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