De:Bug 175
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Text Christoph Jacke <strong>175</strong> — deep data<br />
Technik und<br />
Technokratie<br />
Zwei Bücher,<br />
ein Wandel<br />
Zygmunt Bauman/David Lyon – Daten, Drohnen, Disziplin.<br />
Ein Gespräch über flüchtige Überwachung.<br />
(Suhrkamp 2013)<br />
Jürgen Habermas – Im Sog der Technokratie.<br />
(Suhrkamp 2013)<br />
In der letzten Zeit haben sich die deutschen Groß-<br />
Intellektuellen, so etwa der konservative Schriftsteller<br />
Botho Strauß, der medienkritische <strong>De</strong>nker Hans-Magnus<br />
Enzensberger und der Philosoph Jürgen Habermas wieder<br />
vermehrt in der Wochenzeitschrift "<strong>De</strong>r Spiegel"<br />
geäußert: Sie scheinen besorgt über gesellschaftliche<br />
Entwicklungen, die sie in alltäglichen Mikrokosmen wie<br />
Institutionen, öffentlicher Nahverkehr oder Familien- und<br />
Freundeskreis beobachten müssen: Man solle sich selbst<br />
managen - bezahlt auch noch dafür - und entlastet die ursprünglich<br />
verantwortlichen Institutionen, die, etwa die<br />
Politik, an Souveränität verlieren und krampfhaft nach erweiterten<br />
Kontrollmöglichkeiten suchen.<br />
Das mag demokratisch und emanzipatorisch klingen,<br />
aber ihm könnte ein größerer Wandel zugrundeliegen,<br />
den der Soziologe Zygmunt Bauman in einem ausführlichen<br />
E-Mail-Gespräch mit dem Überwachungsforscher<br />
David Lyon sehr kritisch als Adiaphorisierung<br />
beschreibt: "<strong>De</strong>r wichtigste Effekt des Fortschritts in<br />
der Distanzierungs- und Automatisierungstechnologie<br />
ist die zunehmende und vielleicht unaufhaltsame Befreiung<br />
unseres Handelns von moralischen Skrupeln."<br />
<strong>De</strong>r Band "Daten, Drohnen, Disziplin" ist ein dialogischer<br />
Parforceritt durch Entwicklungen wie Medialisierung,<br />
Digitalisierung, Überwachung, Kontrolle, Konsum, Nähe/<br />
Distanz, Sichtbarkeit und Verantwortung, der – bei aller<br />
angeratenen Skepsis – keineswegs kulturpessimistisch<br />
vorverurteilt. Nein, in diesem ungemein unterhaltsamen<br />
und aufklärenden Gespräch steigt der Lesende mit in<br />
einen Diskurs ein und entwickelt anhand der durchaus<br />
kontroversen Meinungen der beiden Diskutierenden<br />
eigene Perspektiven und Standpunkte. Insofern liefern<br />
Bauman und Lyon nichts weniger als einen Rahmen für<br />
»Pflichtlektüre für Schulen<br />
und Universitäten!<br />
Nicht zum Auswendiglernen,<br />
sondern zur kritischen<br />
Auseinandersetzung!«<br />
Halt in der von Bauman schon lange ausgerufenen flüssigen<br />
beziehungsweise flüchtigen Moderne. Und vorläufig<br />
enden sie sogar in einem durchaus hoffnungsvollen<br />
Ausblick: "Wir versuchen angestrengt, in der Tatsache,<br />
dass dank digitaler Vorrichtungen Tausende Menschen<br />
an einem öffentlichen Ort zusammenkommen können,<br />
das Versprechen einer neuen Regierungsform zu erblicken,<br />
die den Seltsamkeiten und Dümmlichkeiten der<br />
gegenwärtigen ein Ende machen kann."<br />
Während die beiden Soziologen bewusst dialogisch<br />
und ganz nah an alltäglichen Verschiebungen und Phänomenen<br />
arbeiten, hat Jürgen Habermas mit "Im Sog<br />
der Technokratie" dem zwölften Band seiner "kleinen politischen<br />
Schriften", eine eher übergeordnete Perspektive<br />
veröffentlicht. In ihm versammelt der Philosoph und Zeitdiagnostiker<br />
Essays, Zeitungsartikel und andere kürzere Abhandlungen,<br />
in denen er vor allem die (eigenen) Verhältnisse<br />
in <strong>De</strong>utschland und Europa ins Visier nimmt. So landet<br />
er mit wissenswerten und wichtigen Ausflügen - etwa zu<br />
deutschen Juden, <strong>De</strong>utschen und Juden und Überlegungen<br />
zu deutschen Intellektuellen - bei seinem zentralen<br />
Thema: der Organisation, Regierbarkeit und vor allem dem<br />
Zusammenhalt Europas und einer sympathischen und gewichtigen<br />
Einforderung des Verzichts auf parteipolitische<br />
Spielchen und Technokratie (im Sinne einer entmenschlichenden<br />
Überbürokratisierung) zum Wohle der gesamteuropäischen<br />
Idee. Nicht eben wenig und dennoch immens<br />
wichtig als Grundlage für all die erregten Diskussionen des<br />
Auseinanderdriftens und Zusammenlebens.<br />
Diese beiden anspruchsvollen, nur bedingt zur Freibadlektüre<br />
geeigneten, und dennoch absolut kurzweiligen<br />
Bände sollten Pflichtlektüre in Schulen und Universitäten<br />
werden – nicht zum Auswendiglernen, sondern zur kritischen<br />
Auseinandersetzung.<br />
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