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ectcetera 64

LitGes St. Pölten.

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ISSN: 1682-9115 | NR.<strong>64</strong> 2016| PREIS: 7 EURO<br />

etcetera<br />

Bildträger<br />

L i t e r a t u r u n d s o w e i t e r


2<br />

BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Inhalt<br />

Editorial<br />

03 Vorwort/Impressum<br />

Heftkünstler/Interview<br />

04 Birgit und Peter Kainz: Ein Ausverkauf der Bilder<br />

hat begonnen ….<br />

Interviews<br />

16 Nina Maron<br />

18 Michael Ziegelwagner<br />

Berichte<br />

09 Franz Wallner von Hadmar Lichtenwallner<br />

10 Chagall bis Malewitsch: Der Kampf gegen die<br />

Schwerkraft. Albertina/von Gertraud Artner<br />

12 Rückblick Leipziger Buchmesse 2016 von C.Stahl<br />

14 70 Jahre DEFA- Vom Filmaktiv zum Staatsbetrieb<br />

41 Reinhard Wegerth: Bilder aus den 70ern<br />

58 Thomas Northoff: Graffiti<br />

Essays<br />

06 Carl Aigner: Photographie und Gedächtnis<br />

20 Caspar Jenny: Stoff der in die Bilder zwingt<br />

23 Gerhard Benigni: Bildungsferne Jugendschutzbril-<br />

lenträger<br />

24 Werner Stangl: Bildträger<br />

Prosa<br />

26 Heinz Zitta: Der Bildträger und die Kunst des Re-<br />

genbogens<br />

28 Margit Heumann: Wenn wir in Gruppen ziellos<br />

30 Constantin Schwab: Selbstbild<br />

31 Orla Wolf: Erkundung eines Parks u.a.<br />

36 Evelin Juen: Der alte Mann und das Mädchen<br />

40 Klaus Daniel: Unbebaute Grundstücke<br />

43 Isabella Krainer: Katzensilber<br />

45 Annemarie Andre: U1 Südtiroler Platz/Haupbahnhof<br />

46 Thomas Losch: Wien bei Nacht 1978<br />

49 Andi Pianka: Der Bilderrahmen/Wie man dem To-<br />

ten Hasen die Bilder erklärt...<br />

54 HansPeter Ausserhofer: Im Café Wortspiel<br />

Lyrik<br />

34 Angelica Seithe: Dank an die Droste u.a.<br />

35 Jan-Eike Hornauer: Das Dritte Reich im Zeitalter<br />

der Casting-Shows u.a.<br />

42 Claudia Kohlus: trughummel u.a.<br />

46 Martin Piekar: Schau nicht so. Ihr nackter Arsch.<br />

Morgenlicht u.a.<br />

47 Ingrid Messing: Was bleibt<br />

50 Richard Weihs: Einbildung, Die Beule u.a.<br />

52 Manfred Pricha: verfilmte verfremdung u.a.<br />

56 Janus Zeitstein: Dauer-Spuren, Gedacht<br />

Vereinsleben<br />

60 Rückschau und Präs. etcetera 63 Alles Theater<br />

61 Osterspaziergang der LitGes am Karsamstag 2016<br />

62 16. Poetry Slam der LitGes in St.Pölten<br />

Rezensionen<br />

<strong>64</strong> Renate Sattler: Risse im Gesicht<br />

<strong>64</strong> Romana M. Jäger: Wasch mich, aber mach mich<br />

nicht nass! Yoga für Unerleuchtete<br />

<strong>64</strong> Gertraud Klemm: Muttergehäuse<br />

65 I. Breier & H. Pregesbauer (Hg): Wir sind Frauen.<br />

Wir sind viele. Wir haben die Schnauze voll<br />

65 K. Kumersberger & W. Vogel: Wunderland Korrek-<br />

turrand<br />

65 Friedemann Derschmidt: Sag Du es Deinem Kinde!<br />

66 Christian Katt: lebend.maske. Cut (2)!<br />

66 Barbara Wolflingseder: Lust & Laster im alten Wien<br />

66 Synke Köhler: Kameraübung. Erzählungen<br />

67 Klaus Kufeld: Das Singen der Schwäne<br />

67 Wolfg. Kühn/HG/Bilder Irena Rácek: Anthologie<br />

Mein Weinviertel<br />

67 Caspar Jenny: Der Waran. Roman<br />

Birgit&Peter Kainz<br />

Cover und Rückseite ©Birgit&Peter Kainz Wien_Nacht


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

3<br />

Liebe Leserinnen, Liebe Leser!<br />

Sie tragen wohl auch einen Stapel BILDER in sich. Somit sind sie BILDTRÄGER und für Sie haben wir dieses<br />

Heft gemacht!<br />

Schildern Sie uns, wie und wohin wir Sie mit unseren Beiträgen und Bildern treffen, welche zündenden<br />

Gedanken oder halbleeren Grinser wir in Ihnen hervorrufen! Denn mittlerweile ist es das 50. „etcetera“,<br />

das ich mit dem Redaktionsteam herausgeben & und dem ich meine persönliche Note ein-, aufprägen darf.<br />

Rückmeldungen von der Basis bergen immer zündende Erkenntnisse und wir lieben diese, auch wenn es<br />

keine satten Lacher & Lobe sind!<br />

Und weil die LitGes eine lebhafte Plattform und keine leere Schablone ist, seit 30 Jahren eine eigene Zeitschrift herausgibt, feiern wir<br />

mit Ihnen!<br />

Ihre Eva Riebler-Ü<br />

Impressum<br />

etcetera erscheint 4x jährlich<br />

ISSN: 1682-9115<br />

Richtung der Zeitschrift: Literarisch-kulturelles<br />

Magazin mit thematischem Schwerpunkt.<br />

Namentlich bezeichnete Beiträge geben<br />

die Meinung der Autorin, bzw. des Autors<br />

wieder und müssen mit der Meinung von<br />

Herausgeberin und Redaktion nicht übereinstimmen!<br />

Herausgeber: Eva Riebler-Übleis<br />

Heftredaktion: Eva Riebler-Übleis und<br />

Cornelia Stahl<br />

Text und Ilustration © bei den Autoren<br />

Cover und Bilder: Birgit&Peter Kainz<br />

Fotos: siehe © Fotonachweis<br />

Gestaltung: G. H. Axmann<br />

Druck: Dockner, Kuffern 87, A-3125<br />

LeserInnerservice<br />

Werden Sie Mitglied der LitGes und erhalten<br />

Sie vierteljährlich etcetera, die Zeitschrift<br />

für Literatur junger bis arrivierter<br />

AutorInnen mit Prosa- und Lyrikbeiträgen,<br />

Essays, Interviews, Rezensionen und<br />

Künstlerporträts sowie Einladungen zu unseren<br />

Veranstaltungen.<br />

Abonnementspreis:<br />

24 Euro/Jahr = 4 Hefte; Einzelpreis 7 Euro<br />

Bestellung = Überweisung an:<br />

Sparkasse NÖ Mitte-West<br />

BLZ 20256, Konto-Nr. 55137<br />

IBAN: AT422025600000055137<br />

BIC: SPSPAT21<br />

Verwendungszweck: „etcetera-Abo“<br />

Bitte, Namen und genaue Anschrift leserlich<br />

auf dem Erlagschein vermerken!<br />

Die nächsten etcetera-Ausgaben:<br />

etcetera 65 HOLZ<br />

Vom Holzkopf, Holzweg, Hinterholz bis ich<br />

gehe ins Holz...<br />

Einsendeschluss: 1. August 2016<br />

an Redaktion@litges.at<br />

Redaktion: Susanne Klinger/E.Riebler-Ü.<br />

etcetera 66 Venedig<br />

Sehnsucht und Untergang<br />

Einsendeschluss: 1. September 2016<br />

an Redaktion@litges.at<br />

Redaktion: Thomas Fröhlich<br />

LitGes Jour-fixe Schreibwerkstätten<br />

8. Juni, 6 Juli 2016 für alle Schreibenden<br />

und ZuhörerInnen!<br />

LitGes Büro, Steinergasse 3, 3100 STP<br />

Home/Info: www.litges.at<br />

Medieninhaber:<br />

Literarische Gesellschaft St. Pölten<br />

HG Eva Riebler-Übleis<br />

Büro Steinergasse 3, 3100 St. Pölten<br />

Home: www.litges.at<br />

E–Mail: redaktion@litges.at<br />

LitGes Hauptstadtlesung mit PODIUM<br />

30 Jahre Haupstadt, 30 Jahre Zeitschrift<br />

der LitGes! Eva Riebler-Übleis gibt das<br />

50. Heft „etcetera” heraus.<br />

Mittwoch 01.06. 2016, 20 Uhr<br />

Cinema Paradiso, Rathausplatz 14, STP<br />

Mit dem Künstlerehepaar Birgit&Peter<br />

Kainz, den Autoren Reinhard Wegerth,<br />

Richard Weihs, Janus Zeitstein und dem<br />

Museumsdirektor Carl Aigner. Eintritt frei!<br />

Die nächsten LitGes Präsentationen:<br />

etcetera 65 HOLZ<br />

12. Okt. 19 Uhr Stadtmuseum STP<br />

Mit Objekten des Bildhauers Gotth. Obholzer<br />

Tagebuchtag der LitGes<br />

19. Okt. 19 Uhr Buchhandlung Schubert<br />

Wienerstr. 6 mit Musik aus den Regalen.<br />

Lesende: Brigitte Pokornik und<br />

Romana M. Jäger<br />

Vorwort/Impressum


4<br />

BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Birgit und Peter Kainz<br />

Ein Ausverkauf der Bilder hat begonnen ….<br />

Die Künstler Birgit und Peter Kainz, bekannt geworden durch<br />

ihr länderübergreifendes Projekt „Human“, beschäftigen<br />

sich seit über zwanzig Jahren mit analoger und digitaler Fotografie.<br />

Im Zeitalter des Überflusses spricht Peter Kainz von<br />

einer Inflation der Bilder, in der die Betrachtung eines Bildes<br />

nur Sekunden dauert. Mit faksimile digital- Zentrum für dokumentarische<br />

Fotografie hat das Künstlerehepaar die Möglichkeit<br />

geschaffen, Bilder langfristig aufzubewahren und<br />

einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Cornelia<br />

Stahl befragte beide Künstler in Wien.<br />

erscheint verlockend. Mit der erneuten Reproduktion der<br />

Bilder bzw. der Fotos sind wir an dem Punkt angelangt,<br />

dass diese nicht mehr altern. Dennoch besteht in fast allen<br />

Bereichen nach zehn Jahren der Wunsch, sich zu erneuern.<br />

Sie haben mit faksimile digital ein Zentrum für dokumentarische<br />

Fotografie entwickelt. Welches Motiv<br />

stand dahinter?<br />

Wir haben damals 1995 als eine der ersten mit der Großformat-Fotografie<br />

in Österreich begonnen. Und es bestand<br />

der Wunsch nach Abgrenzung. Durch die rasant fortschreitende<br />

digitale Entwicklung entstand damit aber auch das<br />

Problem der Bilderflut und der damit verbundenen Wahrnehmungsproblematik.<br />

Je mehr Bilder existieren, desto<br />

kürzer wird die Verweildauer beim Betrachten eines Bildes.<br />

Mit faksimile digital- Zentrum für dokumentarische Fotografie<br />

haben wir das Ziel verfolgt, Bilder langfristig aufzubewahren.<br />

Für die Universität für angewandte Kunst Wien<br />

(die Angewandte) haben wir alle künstlerischen Abschlussarbeiten<br />

dokumentiert und öffentlich sichtbar gemacht in<br />

einem Archiv für Bildende Kunst. Durch das Internet hat<br />

nun ein Paradigmenwechsel stattgefunden, da alle Bilder<br />

vermeintlich gratis zur Verfügung stehen.<br />

Interview<br />

©Foto Cornelia Stahl<br />

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte ….............<br />

War das auch das Motto Ihrer künstlerischen Arbeit?<br />

Ein originalgetreues Foto enthält immer eine persönliche<br />

Note und es sagt auch etwas über den Fotografen aus. Wir<br />

wollten diese persönliche Sichtweise in der Dokumentation<br />

besrücksichtigen. Anfangs haben wir für Künstler fotografiert.<br />

Mit Beginn der digitalen Fotografie haben wir gedacht,<br />

alles wird besser, originalgetreuer. Natürlich gibt es mehr<br />

Möglichkeiten innerhalb der Fotografie, auch die Qualität<br />

der Fotos ist gestiegen. Erstmals ist es möglich, die Information<br />

vom Bildträger zu trennen. Die Archivierung und<br />

Vervielfältigungsmöglichkeit ist jedoch mit vielen Pro und<br />

Contras verbunden. Die Gefahr der Manipulation<br />

Wer sind die Nutzer Ihres dokumentarischen Archives?<br />

Die Nutzer sind Künstler/Künstlerinnen bzw. Studenten/<br />

Studentinnen der Angewandten als auch die Öffentlichkeit.<br />

Die Abschlussarbeiten sind dort archiviert und können für<br />

weitere Ideen angesehen werden.<br />

Als Ehepaar Kainz stehen sie stellvertretend für gesellschaftskritische<br />

Fotografie der ersten Stunde.<br />

Welche Themen sind Ihnen wichtig?<br />

2005 starteten wir unser Projekt „identitas“- der 6.Sinn.<br />

Das war damals eng verbunden mit dem 6.Bezirk. Das<br />

sozio-kulturelle Vermittlungsprojekt entstand durch den<br />

Künstler Walter Stach. Dadurch ergab sich eine enge Zusammenarbeit<br />

mit der Beratungsstelle „courage“, die einen<br />

Vorurteilskatalog erstellte, in dem Vorurteile aufgelistet<br />

wurden, unter denen einige Gesellschaftsgruppen zu<br />

leiden haben. Einzelne Vorurteile wurden herausgegriffen<br />

und auf eine menschengroße Rolle geklebt und einzel-


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

5<br />

nen Personen übergestülpt. Die Möglichkeit bestand darin,<br />

dass der Träger jederzeit die Rolle abtreifen und sich<br />

somit den mit der Rolle verbundenen Zuschreibungen<br />

entledigen konnte. Das Projekt war Teil von „Kunst im<br />

öffentlichen Raum“ und hat einige Diskussionen in Gang<br />

gesetzt.<br />

Unter dem Motto „Nachbar in Not“ erstellten Sie<br />

1992 ein Kinderbuch für Flüchtlingsfrauen und deren<br />

Kinder. Planen Sie heuer ein ähnliches Projekt?<br />

Das Buch selbst ist vergriffen, aber es existieren noch die<br />

Vorlagen, sodass man eine Neuauflage starten könnte.<br />

Das wäre reizvoll!<br />

HUMAN ist der Name für eine Reihe von Projekten und<br />

Aktionen, die Sie initiiert und durchgeführt haben.<br />

Welches war aus Ihrer Sicht besonders gut gelungen,<br />

im Sinne von nachhaltig?<br />

2013 haben wir zwischen zwei Partnergemeinden im Grenzgebiet<br />

Österreich/Tschechien ein grenzUNTERSCHREITEN-<br />

DES Projekt veranstaltet. Durch das Versinken des ersten<br />

Wortteiles des Wortes HUM(an) und wieder Auftauchen<br />

des zweiten Teiles MAN konnte man Zusammengehörigkeit<br />

evozieren. Human impliziert die Gleichheit aller Menschen,<br />

ihr Recht auf Entfaltung und Freiheit von Zwängen.<br />

Zunächst hatte sich bei diesem Projekt die Zusammenarbeit<br />

mit den Tschechen als herausfordernd erwiesen, da sie<br />

die Buchstabenreihe in einem entlegenen Teich eintauchen<br />

wollten. Die Idee dahinter, einen Wanderweg dorthin anzulegen,<br />

erwies sich aber als Glücksgriff und wurde von der<br />

Bevölkerung sehr gut angenommen. Gemeinsame Treffen,<br />

bei denen man zum Teich pilgerte, Rast machte, sich gegenseitig<br />

kennenlernte, entwickelten sich zu kleinen Events,<br />

die für alle Beteiligten nachhaltig in Erinnerung blieben.<br />

Welches sind die Schwerpunkte Ihrer zukünftigen<br />

künstlerischen Arbeit?<br />

Die Bespielung einer niederösterreichischen Landschaft<br />

mit großformatigen Fahnen, quer durch das Land, planen<br />

wir für 2017. Wie von uns zu erwarten, wird wiederum HU-<br />

MAN in spielerischer Form der Inhalt sein. „Getragen“ wird<br />

dieses Projekt diesmal nicht nur von vielen Beteiligten, sondern<br />

auch von 30 Maibäumen.<br />

Aber mehr wollen wir noch nicht verraten.<br />

Ich danke Ihnen für das ausführliche Gespräch!<br />

Peter Kainz<br />

Geb. 1961 in Wien; Lithograf, Offsetmontierer und Fotograf. 1995<br />

erster digitaler Fotograf bei der Einführung der digitalen Großformatfotografie<br />

in Österreich. 1995-2008 Lektor an der Universität<br />

für angewandte Kunst Wien für digitale Technologien und Reproduktionstechniken.<br />

Vorträge und Workshops zum Thema Digitalisierung<br />

und Archivierung von Kunstgegenständen. Veröffentlichungen<br />

in Handbüchern, Bereich Bildende Kunst.2011 Diplom M.A. 2008-<br />

2011 Master-Studium in Krems: Bildwissenschaften/Fotografie.<br />

Birgit Kainz<br />

Lehre als Köchin; Weiterbildung in Grafikdesign; Firmengründung<br />

mit Peter Kainz als Grafik- Designerin, Organisation und Koordination<br />

der Projekte. 2009 Abschluss der Akademie für KleinstunternehmerInnen.<br />

1997 Gründung des Studios faksimile digital als<br />

Werkstätte für digitale Fotografie und Bildverwandlung im Kunstbereich.<br />

2005 Gründung der Edition „Collected Works“, Künstlerkataloge,<br />

verbunden mit einem hochauflösendem Langzeitbildarchiv<br />

„Collected Works across Europe“. Seit 2009 HUMAN-Projekte (Birgit<br />

+ Peter Kainz).<br />

Projekte: 1992 Nachbar in Not, Bilderbuch für Flüchtlingsfrauen<br />

und deren Kinder; 2002 OffenSichtlich (gemeinsam mit Walter<br />

Stach) Ein Projekt der Visualisierung zu den Lagerhäusern Weinviertel<br />

Mitte; 2005 Teilnahme am Der 6te Sinn, Wien; 2006 Pixelstau,<br />

Artikel zum Pressehandbuch in der bildenden Kunst, basis-wien;<br />

ab 2006 Fang das Licht: Vermittlungs-Projekt; Angewandten-Kinderuni;<br />

2007 Kunst am Bau (mit Walter Stach) Gestaltungsentwurf<br />

für die Eingangshalle Appartement Towers/Wienerberg City/Wien-<br />

Favoriten. 2007/08 Kunst am Bau Konzept zur Wohnhausanlage<br />

ehem. Wilhelm-Kaserne, Wien Leopoldsdorf (mit Walter Stach).<br />

2009 HUMAN – Das Wort – Eine künstlerische Intervention<br />

2010 HUMAN – Zeichen in einer ökosozialen Landschaft<br />

2011 HUMAN – 10 Finger, 5 Buchstaben, 1 Wort<br />

2011 GNOTHI SEAUTON –Ausstellung in der Karlskirche<br />

2012 HUMAN – Zeichen in Casablanca<br />

2012 HUMAN – Kalender 2013<br />

2013 HUMAN – eine Grenzunterschreitung<br />

2013 HUMAN – Entfesselung im Red Carpet Showroom Karlsplatz<br />

2013 HUMAN - Kalender 2014<br />

2014 FOTOFEHLER – Ausstellung in der Galerie artmark<br />

2014 HUMAN – Rallye von Loosdorf nach Rudice<br />

2015 HUMAN – Kalender 2015<br />

2015 Karlsplatzgaragenausgangsvirtine<br />

Den österreichischen MAECENAS-Preis, gesponsert von der „Initiative<br />

Wirtschaft und Kunst“, erhielten 2014 faksimile digital &<br />

Spenglerei Gepperth für ihr Projekt: HUMAN - eine Grenzunterschreitung<br />

& HUMAN – Rallye.<br />

Interview


6<br />

BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Carl Aigner<br />

Photogrpahie und Gedächtnis.<br />

Zum Verhältnis von Bildmaterialität und (>geschichtlicher) Sichtbarkeit, ein Fragment.<br />

Essay<br />

Die GESCHICHTE ist hysterisch: sie nimmt<br />

erst Gestalt an, wenn man sie betrachtet.<br />

Roland Barthes<br />

Anthropologisch ist das Gedächtnis das Materielle des Erinnerns,<br />

während das Erinnern das Ephemere des Gedächtnisses<br />

wohl ist, wiewohl wir es subjektiv genau umgekehrt<br />

„wahrnehmen”. Und je mehr unsere Lernpotentiale sich entwickelt<br />

haben - je mehr wir uns aus dem genetischen Programm<br />

des Bio-logischen absentieren, umso mehr werden<br />

Gedächtnis und Erinnern für den Menschen existentiell. Und<br />

je komplexer anthropologisch soziale Biotope geworden sind,<br />

umso mehr stieg das Bedürfnis nach „Aufschreibesysteme”. 1)<br />

Wiewohl das mündliche „Gedächtnis” als Erinnerung bis heute<br />

gesellschaftliche Praxis, aber zunehmend im Verschwinden<br />

ist (der Biochip in unserem Körper ist schon Realität), finden<br />

sich früh schon Aufzeichnungssysteme, die letztendlich<br />

nichts Anderes als externe „Gedächtnisspeicher” sind. Kurzum:<br />

je mehr wir erfahren, je mehr wir Informationen haben,<br />

umso mehr ist die Externisierung bzw. Deterritorialisierung<br />

des Erinnerns für deren Bewältigung eine immanente gesellschaftliche<br />

Notwendigkeit.<br />

Damit wird der Zusammenhang zwischen Gedächtnis und<br />

materiellem Träger nicht nur in semiologischer Hinsicht äußerst<br />

relevant. In Bezug auf die„techné” des Gedächtnisträgers<br />

wird die Beziehung von Information (als Gedächtnis) und<br />

seinem materiellen Transportmittel erinnerungsenergetisch<br />

virulent (wir hätten eine andere Erinnerung von der Steinzeit,<br />

wenn wir auch schriftliche „Quellen” hätten, nicht nur die<br />

Höhlenmalereien und -zeichnungen). Gedächtnis und Erinnern<br />

sind ein konstitutiver Faktor für das Überleben jedweder<br />

humanen Gesellschaft. In ihrer jeweiligen spezifischen Entwicklung<br />

entstand ein enger Konnex mit dem jeweiligen materiellen<br />

Träger, der in jeder Hinsicht ihre Seinsweise ko-konstituiert<br />

(etwa banal: die Haltbarkeit eines Trägermaterials).<br />

Das heißt zum Beispiel, dass in einer Gesellschaft, in der Bilder<br />

eine zunehmende essentielle Rolle zu spielen begonnen<br />

haben, wie es in der europäischen Gesellschaft spätestens<br />

seit der Renaissance der Fall ist (das Tafelbild als mobiles Gedächtnis,<br />

also das Kernmodell des heutigen Bildbegriffs, ist<br />

eine europäische Intervention, so wie die Universität und das<br />

Museum!) diese auch zu eminenten Gedächtnisspeichern geworden<br />

sind. Wie sehr auch der Buchdruck eine vehemente<br />

Rolle in der Gedächtnispraxis der europäischen Gesellschaften<br />

spielt, die Rolle der Bilder ist dem ebenbürtig, wie<br />

die Entwicklung der Bildergesellschaften mit ihren heutigen<br />

Bilderfluten (erschreckend? 2) ) zeigt. In einer zunehmend bilderbasierten<br />

Gesellschaft (ver-)bildet sich buchstäblich das<br />

Gedächtnis (auch als Trigger von Erinnerungen). Das Bildbedürfnis<br />

einer Gesellschaft verknüpft sich damit unweigerlich<br />

mit dem Gedächtnis- und Erinnerungsbedürfnis: es wird zu<br />

ihrem extensiven Informationsträger.<br />

Der Informationsträger selbst ist ein gesellschaftlicher Effekt.<br />

Analogisierend zur jeweiligen technischen bzw. technologischen<br />

Entwicklung, die wiederum ein Effekt gesellschaftlicher<br />

Bedürfnisentwicklung ist, schafft sich jede Gesellschaft<br />

entsprechend ihrer „intrinsischen” Logik und Notwendigkeit<br />

jene Informationsträger, mit welchen sie ihre „Notwendigkeiten”<br />

und „Bedürfnisse” existentiell gewährleisten kann.<br />

Das bedeutet, dass eine Gesellschaft wie die Europäische,<br />

wo die Bilder in unglaublicher Weise seit dem 18. Jahrhundert<br />

zu perforieren beginnen haben, auch die materielle und<br />

produktionsspezifische Seinsweise der Bilder selbst einer allgemeinen<br />

„Ökonomie” folgen: eine Industriegesellschaft wird<br />

auch ihre Bilder „industrialisieren“ – mit all den Inkredienzen,<br />

welche eine industrialisierte Gesellschaft prägt: schneller sowie<br />

qualitativ und quantitativ effizienter.<br />

Die bildgesellschaftliche Antwort darauf war die Erfindung<br />

der Photographie. Es ist kein Zufall, dass Ende des 18. und<br />

am Beginn des 19. Jahrhunderts die Apparatisierung der Bildproduktion<br />

– analog zur Apparatisierung der Gesellschaft<br />

generell, Stichwort Maschi(e)nenzeitalter, von statten ging.<br />

Die Photographie ist Signum, Synonymität und Teil zugleich<br />

dieser Entwicklungen; in ihr manifestieren sich die neuen gesellschaftlichen<br />

Grundbedürfnisse in exzellenter Weise: Beschleunigung,<br />

neues Realitätsbedürfnis, Massentauglichkeit<br />

und Mobilität. In ihr Verschränken sich das Bedürfnis nach


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

7<br />

Damit wird das Verhältnis von Bild und Gedächtnis neu<br />

konstituiert. Endlich wird der Traum wahr, Geschichtliches<br />

scheinbar wirklich sehen zu können, Geschichte sehen zu<br />

können, denn die neue Bildmaterialität als Trägerschicht<br />

des Gedächtnisses gewissermaßen vollzieht eine semiologische<br />

Revolution: Inhalt und Materialität fallen zusammen,<br />

der Signifikant ist gleichzeitig das Signifikat des Sichtbaren:<br />

Wir glauben, mittels der Photographie direkt auf die darauf<br />

gezeigte Wirklichkeit blicken zu können, ohne jedweden zeichenbasierenden<br />

Vorgang, unverfälscht, wahr, einfach wirklich<br />

(Das Diktum der parallel zur Photographie entstehenden<br />

Geschichtswissenschaft damals war: „Zeigen, wie es gewesen<br />

ist”.<br />

schnellerer Bildproduktion, effizienterer Abbildungsmöglichkeit,<br />

Bildquantität (die Photographie ist auch das erste<br />

Bildmassenmedium in der Geschichte der Bilder) sowie ihre<br />

Transportabilität, also ihre Globalitätsfähigkeit.<br />

Ermöglicht wird dies durch eine neue Bildmaterialität, derer<br />

photochemischen Schicht und deren abbildende Fixierbarkeit.<br />

Das lichtempfindliche Material (Silbersalze im Wesent-<br />

Die erste bekannte Fotografie (Nicéphore Niépce 1826, retuschierte Fassung)<br />

lichen) ermöglicht eine Bildgewinnung ohne manuellen Einsatz<br />

in seinem Entstehungsprozess - wie durch ein analoges<br />

Wunder bilden sich visuelle Wirklichkeiten auf der photochemischen<br />

Trägerschicht ab: noch nie konnten in derartig<br />

kurzer Zeit derart detaillierte pikturale Darstellungen der visuellen<br />

Welt geschaffen werden. Und dies in einer Epoche,<br />

wo infolge der Technisierung immer schneller kein Stein auf<br />

dem anderen blieb. Paul Cézanne hat es um 1900 auf den<br />

Punkt gebracht: „Wir müssen uns beeilen, etwas zu sehen,<br />

alles verschwindet.“<br />

Das photographische Bild ist jedoch auch in anderer Hinsicht<br />

ein absolutes Novum: Es bildet etwas real Existierende nicht<br />

bloß ab, nein, es bestätigt auch das, was es abbildet (ein Eiffelturm<br />

kann nicht photographiert werden, wenn er nicht physisch,<br />

also real existiert!). Das „Wunder” der Photographie ist<br />

die Seinsbestätigung des auf dem Photo gezeigten. Sie schafft<br />

mit ihrer neuen Trägermaterialität einen neuen Realitätsbegriff<br />

in der Geschichte der Bilder. Das ist auch ihr klandestines Vermögen,<br />

welches geistesgeschichtlich ebenfalls ein Signum ihrer<br />

Epoche ist und uns bis heute fasziniert. 3) Jede Gesellschaft<br />

entwickelt im Prozess starker Veränderungen das Empfingen<br />

von Seinsverlust. Genau dies kompensiert die Photograpie mit<br />

ihrem seinbestätigendem Potential, indem sie einfach zeigt:<br />

das was du siehst, existiert wirklich oder hat zumindest im<br />

Moment der photographischen Aufnahme existiert!<br />

Wenn da nicht das Faktum wäre, dass das photographische<br />

Bild einem ästhetischen Prozess unterliegt und das Betrachten<br />

einer Photographie immer eine historische Differenz in<br />

sich birgt: Jeder Akt der Betrachtung einer Photographie,<br />

mag sie noch so alt sein, kann immer nur aus der Gegenwart<br />

des Betrachtens erfolgen. Das impliziert eine ästhetische Differenz,<br />

die gerade im künstlerischen Diskurs in den letzten<br />

Jahren zu einer neuen Aktualität photohistorischer Verfahrensweisen<br />

und damit auch zu einem neuen Verhältnis von<br />

Photographie und Geschichte.<br />

Mit dem Aufkommen neuer Medien ist es spannend zu sehen,<br />

dass traditionelle Möglichkeiten der Bildproduktion oft<br />

eine erstaunliche Aktualität zu gewinnen vermögen. So war<br />

es mit der Erfindung der Photographie, die, entgegen radikaler<br />

Statements vom Ende der Malerei, diese in neuer Weise<br />

stimulierte und etwa in den Impressionismus münden ließ;<br />

in erstaunlicher Parallelität können wir dies in den letzten<br />

beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verfolgen, als im<br />

Windschatten der entstehenden digitalen Bilderwelten, die<br />

analoge Fotografie insbesondere in den deutschsprachigen<br />

Ländern eine bemerkenswerte (künstlerische) Renaissance<br />

erfuhr und in den 1990er Jahren zum Kunstmarktphänomen<br />

schlechthin avancierte.<br />

Ein anderes, ebenso spannendes Phänomen lässt sich in<br />

den letzten eineinhalb Jahrzehnten erkennen: dass sich eine<br />

junge Künstlergeneration völlig ideologielos sogenannte alte<br />

Bildmedien anzueignen begonnen hat und höchst neugierig<br />

und innovativ damit (wieder) experimentiert. Dies gilt nicht<br />

nur für den Holz- und Scherenschnitt, sondern auch für historische<br />

Phototechniken.<br />

Essay


8 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Diese Beschäftigung spiegelt sich auch im jüngsten Ausstellungs-<br />

und Publikationsgeschehen wider: „Ein Gramm Licht”<br />

nennt sich eine Ausstellung bzw. der nämliche Katalog des<br />

Museums Industriekultur der Stadt Nürnberg von 2014 (ein<br />

Fotobuch von Bernhard Wicki von 1960 trug den Titel Zwei<br />

Gramm Licht). Eine zum Teil sehr junge Gruppe von Kunstschaffenden<br />

zeigt eindrucksvoll, wie vital fotohistorische<br />

Bildverfahren wie Kallitypie, fotogenische Zeichnungen, Heliografien,<br />

Cyanotypien oder Ferrotypien noch heute sein können<br />

(in der Schau vertreten sind auch österreichische KünstlerInnen<br />

wie Agnes Prammer, Wolfgang Reichmann, Stefan<br />

Sappert). Hier geht es nicht um nostalgische Rückblicke,<br />

sondern um das Befragen bildnerischer und ästhetischer Potentiale.<br />

„Experiment Analog. Fotografische Handschriften<br />

im Zeitalter des Digitalen” lautet der Titel einer Ausstellung<br />

und Publikation des Wiener Künstlerhauses im Herbst 2014.<br />

Im Zentrum steht die analoge Topographie des Lichtes (oder<br />

Topography of Light, so der Werkserientitel von Tina Lechner).<br />

Karin Mack hat einen aufschlussreichen Parcours von<br />

Arbeiten zusammengestellt, der eindrucksvoll beweist, dass<br />

es keine alten oder neuen Medien gibt, sondern nur eine öde<br />

oder avancierte künstlerische Reflexion und Inbesitznahme<br />

von Bildgewinnungsmöglichkeiten generell.<br />

Dass seit einigen Jahren der Begriff „Vintage” weit über die<br />

Photographie hinaus zu einem zeitgeistigen kulturellen Phänomen<br />

geworden ist, zeigt auch die Aufmerksamkeit, die<br />

wiederum dem Materiellen des künstlerischen Diskurses<br />

gewidmet wird. Die 2015 realisierte Ausstellung „Living in<br />

the Material World“, die sich dem Materiellen im aktuellen<br />

Kunstdiskurs widmete, sondiert den Faktor Werkstoff, der<br />

eine neue „Vintagequalität” zu gewinnen scheint. En passant<br />

sei hier auch auf die bereits 2008 erschienene Publikation<br />

Im Licht der Bilder. Von der Photographie zur Natur und retour<br />

verwiesen (hg. von NöART, St. Pölten), welche anhand von<br />

zwölf fotokünstlerischen Positionen einerseits der Vielfalt<br />

fotografischer Prints, andererseits dem (verschwindenden)<br />

Pluralismus fototechnischer Erzeugungsmöglichkeiten nachspürte.<br />

Zweifellos: Der Rausch des Digitalen, wie wir ihn in<br />

den 1990er Jahren erleben konnten, ist vorüber, das Interesse<br />

gilt zurzeit wieder verstärkt dem Analog-Materiellen. 4)<br />

Ästhetik im ursprünglichen von „wahrnehmen” zeigt, dass<br />

das visuelle Gedächtnis der Photographie eine immateriale<br />

Arbeit benötigt: die Arbeit des Wahrnehmens, durch die niemals<br />

eine Synchronizität von Geschichte und ihrer Wahrnehmung<br />

entstehen kann. Alles, was das Vermächtnis der Photographie<br />

und ihre Epoche betrifft. ist absent. Das Digitale<br />

ist die „Wahrheit” der neuen Bildepoche, die keine realen<br />

Bezüge in Form einer Photo-Graphie benötigt. Es scheint,<br />

dass Geschichte an und für sich zu verschwinden droht, da<br />

in unserem gigantischen Info-Universum Geschichtliches ihre<br />

Ästhetik, also Wahrnehmbarkeit, in einem grundsätzlichen<br />

Sinn zu verlieren im Begriff ist: „Wir sind eine Gesellschaft<br />

geworden, die sich auf dem Experiment gründet und glaubt,<br />

auf Erfahrung verzichten zu können”, heißt es in den 1920er<br />

Jahren einmal bei Ernst Jünger.<br />

1)<br />

Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München, Wilhelm<br />

Fink Verlag 1985<br />

2)<br />

„Schaffen wir die Bilder ab, retten wir das unmittelbare (unvermittelte)<br />

VERLANGEN!“, schreibt äußerst emphatisch Roland Barthes 1980, siehe<br />

Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie,<br />

Frankfurt/M., Suhrkamp 1980, S. 130<br />

3)<br />

Niemand hat das eindringlicher und klarer formuliert wie Roland Barthes<br />

mit seinem Essay „Die helle Kammer“.<br />

4)<br />

mehr zu diesem Thema auch im EIKON 88 (11/2014):„Im Fokus. Eine<br />

Hommage an das Analoge”.<br />

Essay<br />

Carl Aigner<br />

Geb. 1954 in OÖ, lebt in St. Pölten. Studium der Geschichte, Germanistik,<br />

Kunstgeschichte und Publizistik in Salzburg und Paris.<br />

1989 - 2001 Lehrtätigkeit an verschiedenen österreichischen Universitäten<br />

und an der Universität für Angewandte Kunst Wien.1991<br />

gründete Aigner die internationale Kunstzeitschrift für Photographie<br />

und neue Medien EIKON, Wien.1997-2003 Direktor Kunsthalle<br />

Krems. 2000/2001 Projektleitung der Abteilung Kulturwissenschaften<br />

an der Donauuniversität Krems. Seit 2001 Direktor des<br />

Niederösterreichischen Landesmuseums in St. Pölten. 2004 Verleihung<br />

des „Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst“ durch die<br />

Republik Österreich. Jänner 2005: Österreichkommissär Triennale<br />

India - New Delhi 2005. Seit 2006 Künstlerischer Leiter des Ausstellungszyklus<br />

„Nahe Ferne – Gegenwartskunst aus Mitteleuropa<br />

und dem Donauraum“, Stift Lilienfeld. 2005 - 2008 Präsident von<br />

ICOM Österreich (International Council of Museums), seit 2014<br />

Vizepräsident. Seit 2008 Mitglied der Leopold Museum-Privatstiftung<br />

Wien. Seit 2009 Direktor Egon Schiele-Museum Tulln.<br />

Zahlreiche Kuratoren- und Herausgeberschaften sowie Publikationen<br />

zur Bildenden Kunst, Photographie und Medienkunst; seit<br />

vielen Jahren intensive Beschäftigung mit der Entwicklung der österreichischen<br />

internationalen Museumslandschaften.


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

9<br />

Franz Wallner<br />

1929 Krems - 2013 Langenlebarn<br />

Text und © von Hadmar Lichtenwallner<br />

in Wallners skurillem Kosmos etwas ans Licht kommt, was<br />

man als Bild in der Seele trägt, eine Botschaft aus dem Unterbewusstsein?<br />

o.T., kein Datum, Nr.324, 100x100, Leinwand<br />

Dieses und die übrigen 2000 Bilder des 2013 verstorbenen<br />

Künstlers Franz Wallner haben zu seinen Lebzeiten außer<br />

Familienmitgliedern nur wenige Menschen gesehen, denn<br />

er hatte sich - mit einer einzigen Ausnahme - beharrlich geweigert,<br />

Bilder öffentlich zu zeigen. Erst kurz vor seinem Tod<br />

ließ er den Wunsch durchblicken, dass sein Werk doch den<br />

Weg in die Öffentlichkeit finden möge.<br />

Einer der Wenigen, die es vorher schon kennenlernten , ist<br />

OSR Johannes Neuhold. Er organisierte 2015 in Krems eine<br />

kleine Retrospektive und machte Museumschefs mit Wallners<br />

Arbeiten bekannt. Das Feedback war ermutigend: Bemerkenswert,<br />

beeindruckend, interessant, humorvoll, weiter<br />

verfolgenswert... Ähnliches hätte auch Wallner selbst hören<br />

können, warum hat er sich verweigert?<br />

Wollte er, der sein Leben lang die ins Wanken geratenen<br />

Bastionen eines linken Humanismus gegen Auswüchse der<br />

Marktwirtschaft verteidigte, nicht auch noch sein eigenes<br />

Schaffen verteidigen müssen?<br />

Rätselhaft wie seine Verweigerung sind auch seine Bilder; Titel<br />

als Interpretationshilfen fehlen meist. Als hintergründige<br />

und doppeldeutige Vexierbilder bezeichnete sie die Kunsthistorikerin<br />

Beate Rukschcio, narrativen Expressionismus sah<br />

ein anderer Experte. Neben den Expressionisten standen<br />

wohl auch James Ensor, die Surrealisten und überhaupt<br />

das halbe 20. Jahrhundert Pate, und aus der Ferne grüßen<br />

Bosch, Goya, Füssli... Nicht nur deshalb wird man das Gefühl<br />

nicht los, manches schon gesehen zu haben. Ist es, weil<br />

o.T., 2006, Nr. 028, 90x70, Baumwolle<br />

Das mag jeder/jede für sich selbst entscheiden. Bei der Betrachtung<br />

geraten die Bilder durcheinander und der Buddha,<br />

eine alte Frau, die Fantasyfigur Shrek und eine vielarmige<br />

indische Göttin verschmelzen vielleicht zu einer Gestalt.<br />

o.T., 2007, Nr.127, 50x60cm, Leinwand<br />

Hadmar Lichtenwallner<br />

Geb. 1944 in Schärding. Ehem. Lehrer an Pädak Krems.<br />

Bericht


10 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Der Kampf gegen die Schwerkraft. Albertina<br />

Gertraud Artner über „Chagall bis Malewitsch. Die Russischen<br />

Avantgarden“ in der Albertina (bis 26.6.2016).<br />

Es ist die Vielfalt dieser Ausstellung, die in ihrer Gegensätzlichkeit<br />

als Erstes ins Auge sticht. Einerseits die surrealfantastischen<br />

Bildwelten Chagalls, voll Farbenpracht und<br />

Poesie, andererseits die konstruktivistische Malerei von<br />

Rodtschenko und El Lissitzky mit ihren gesellschaftlichen<br />

Anliegen, oder die beschwingten Kompositionen von Kandinsky,<br />

der eigentliche Pionier der Abstraktion, der 1910 das<br />

erste abstrakte Bild überhaupt malte. Und schließlich Malewitsch:<br />

Mit dem Schwarzen und Roten Quadrat schuf er die<br />

Ikonen des Suprematismus, durch die völlige Befreiung vom<br />

Gegenstand von ihm zur höchsten Kunstform geadelt.<br />

oder Picasso blieben nicht ohne Einfluss. Doch ging es den<br />

russischen KünstlerInnen immer auch um den Bezug zur<br />

folkloristischen Bildtradition ihrer Heimat. Auf diese Weise<br />

entwickelten sich in den Jahren zwischen 1910 und 1920 so<br />

unterschiedliche Kunststile wie Neoprimitivismus, Rayonismus,<br />

Kubofuturismus, Suprematismus und Konstruktivismus,<br />

die sich alle souverän zunächst nebeneinander, später<br />

immer mehr im Wettstreit gegeneinander behaupteten.<br />

Wassilij Kandinsky/Auf Weiß 1, 1920/ St. Petersburg, Staatliches Russisches<br />

Museum<br />

Marc Chagall/Der Spaziergang, 1917-1918 St. Petersburg, Staatliches<br />

Russisches Museum | Chagall® | © Bildrecht, Wien | 2016<br />

Bericht<br />

Es gab eben nicht nur eine russische Avantgarde, es gab<br />

viele. Der deutsche Philosoph Ernst Bloch prägte in diesem<br />

Zusammenhang die Begrifflichkeit der Gleichzeitigkeit des<br />

Ungleichzeitigen. In einem engen Zeitfenster von rund 10<br />

Jahren entwickelten sich noch im zaristischen Russland<br />

eine Reihe von Kunstströmungen, die zu den radikalsten<br />

der Moderne zählen und in ihrer Dynamik einzigartig sind.<br />

Wohl diente die westeuropäische Avantgarde zur Orientierung,<br />

neue Ausdrucksformen wie Fauvismus und Kubismus,<br />

Künstlerpersönlichkeiten wie Van Gogh, Matisse<br />

Selbstportrait mit sieben Fingern, 1912-1913/Amsterdam, Stedelijk Museum<br />

| Chagall® | © Bildrecht, Wien, 2016<br />

Bei aller Unterschiedlichkeit hatten die Avantgardisten<br />

doch eine Gemeinsamkeit, das war der Kampf gegen die<br />

Vergangenheit. Klaus Albrecht Schröder, Direktor der


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

11<br />

Albertina, der gemeinsam mit Evgenia Petrova die Ausstellung<br />

kuratierte, auf der Pressekonferenz: “Es ist der<br />

Kampf gegen die Schwerkraft, gegen alles, was uns an die<br />

Vergangenheit bindet.“ Durch die Oktoberrevolution 1917<br />

fühlten sich die KünstlerInnen in ihrem Streben bestätigt<br />

und gestärkt, suchten ihren Platz im Kampf Lenins und<br />

der Bolschewiki als Avantgarde der Arbeiterklasse. Dieses<br />

Bemühen ist in der Ausstellung eindringlich nachvollziehbar,<br />

ebenso das schrittweise Zerbrechen einer so euphorisch<br />

begrüßten Utopie, bis schließlich mit der Machtergreifung<br />

Stalins die Vielfalt der Kunstströmungen selbst<br />

Vergangenheit wurde und es für die nächsten 60 Jahre nur<br />

noch eine Richtung gab: den Sozialistischen Realismus.<br />

In einer großangelegten Schau von 130 Meisterwerken<br />

gelingt es der Albertina in Kooperation mit dem Staatlichen<br />

Russischen Museum in St. Petersburg die dynamische<br />

Vielfalt dieser Kunst in all ihrer Komplexität und<br />

Auch Malewitschs Werdegang ist von radikalen Umbrüchen<br />

gezeichnet. Er, der die völlige Befreiung der Kunst<br />

vom Gegenstand propagierte, leidet besonders an den<br />

wachsenden staatlichen Repressionen, sich wieder der<br />

Natalia Gontscharowa/Radfahrer, 1913/ St. Petersburg, Staatliches Russisches<br />

Museum<br />

Kazimir Malewitsch/Rote Kavallerie, um 1932/Öl auf Leinwand/St. Petersburg,<br />

Staatliches Russisches Museum<br />

Widersprüchlichkeit darzustellen. Das sich zuspitzende<br />

Drama der im Wettstreit stehenden Avantgarden wird in<br />

11 Kapiteln aufbereitet.<br />

Eine führende Rolle spielt Marc Chagall, der - aus Paris<br />

kommend – 1914 seine Heimatstadt Witebsk besucht.<br />

Der Ausbruch des 1. Weltkriegs zwingt ihn, in Russland<br />

zu bleiben. Chagall begeistert sich für die Ziele der Revolution<br />

und wird 1918 zum Kommissar für Kunst und Kultur<br />

für die Region Witebsk und zum Leiter der öffentlichen<br />

Kunstschule ernannt. Er beruft El Lissitzky und Kasimir<br />

Malewitsch als Lehrer an die Schule. Als 1920 Chagalls<br />

StudentInnen geschlossen in die Klasse Malewitschs<br />

wechseln und seinen Stil für altmodisch erklären, geht<br />

er enttäuscht nach Moskau, wo er zunehmend verarmt.<br />

1922 verlässt er Russland in Richtung Westen.<br />

akademischen Gegenständlichkeit zuzuwenden. Mallewitsch<br />

verweigert diesen Weg, legt bis 1926 seine Malerei<br />

nieder. Erst in seinem Spätwerk ist er zum Kompromiss<br />

bereit, er vereint das Unvereinbare: Suprematismus<br />

und Naturalismus. Doch auch diese Bilder entsprechen<br />

nicht der offiziellen Kunstdoktrin unter Stalin. Nach einem<br />

Parteibeschluss, der alle Künstlerverbände und Kunstrichtungen,<br />

die nicht dem Sozialistischen Realismus zuzurechnen<br />

sind, verbietet, kommt es 1935 zur letzten Ausstellung<br />

von Malewitschs Werken in der UdSSR. Im selben<br />

Jahr stirbt Malewitsch mit 57 Jahren an einem Krebsleiden,<br />

50 Jahre vor seinem ehemaligen Kontrahenten Marc<br />

Chagall, der mit 98 Jahren in Südfrankreich 1985 seine<br />

letzte Ruhe findet.<br />

Die tragische Entwicklung der russischen Avantgarden wird<br />

in der Albertina – unterstützt durch Dokumentarfilme- zutiefst<br />

berührend vermittelt. Schließlich ist es das erklärte Ziel<br />

der Ausstellung, die visuellen Spannungen dieser heroischen<br />

Phase russischer Kunst sicht- und erlebbar zu machen.<br />

Die Ausstellung läuft noch bis 26. Juni, ein Katalog ist um 29 Euro<br />

im Shop der Albertina sowie unter www.albertina.at erhältlich.<br />

Gertraud Artner<br />

Geb. 1948 in St.P., Dr. Phil., Akad. d. Bild. Künste (Meisterklasse<br />

Hausner) u. Soziol.,Kunstvermittlerin, im LitGes Vorstand.<br />

Bericht


12 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Rückblick Leipziger Buchmesse 2016<br />

Bericht<br />

©Foto Cornelia Stahl<br />

Nur einen Ausschnitt kann man wahrnehmen, wenn man<br />

einen Tag auf der Leipziger Buchmesse verweilt, die heuer<br />

vom 17.3.-20.3.2016 stattfand. Der Artikel von Cornelia<br />

Stahl bietet einen Einblick und Rückblick zugleich.<br />

So wie Menschen zu Rockkonzerten pilgern, so machen<br />

sich jährlich unzählige Bücherfreunde aus allen europäischen<br />

Ländern auf nach Leipzig, um die dortige Buchmesse<br />

zu besuchen.<br />

Ob Sachbuch, Krimi, Belletristik oder Fantasy- jedes Genre<br />

ist vertreten, und so kommt jeder Besucher auf seine<br />

Kosten, zumal die Buchmesse Gelegenheit bietet, Autoren<br />

hautnah bei Lesungen kennen zu lernen. Mit einem Besucherrekord<br />

von 260 000 Gästen ( 251 000 im Jahr 2015)<br />

ging am 20.03.2016 die Leipziger Buchmesse zu Ende.<br />

In Vorfreude auf das kommende Jahr präsentierte sich Litauen<br />

mit eigens ausgewählter Literatur. 2017 wird das<br />

baltische Land Gastland der Leipziger Buchmesse sein.<br />

Im darauffolgenden Jahr, 2018, wird Rumänien dann den<br />

Platz Litauens einnehmen und sich als Gastland präsentieren.<br />

Eigens dafür reiste der rumänische Kulturminister<br />

Vlad Alexandrescu nach Leipzig und unterzeichnete mit<br />

dem Buchmessedirektor Oliver Zille den Vertrag für den<br />

Gastlandauftritt 2018. Die Leipziger Buchmesser, ein beliebter<br />

Treffpunkt für Verleger, Autoren und Dienstleister,<br />

bot während der Buchmesse ein umfangreiches Fachprogramm<br />

sowie begleitende Lesungen mit Autoren und Autorinnen,<br />

sowohl auf dem Messegelände selbst, als auch<br />

an externen Orten in Leipzig. Auf dem ersten internationalen<br />

Book Pitch präsentierten sich Autoren/Autorinnen<br />

aus Georgien, Slowenien, Tschechien, Rumänien und Ungarn.<br />

Der Stand Neuland 2.0. wagte einen Blick in die Zukunft<br />

der Medienbranche, start-ups präsentierten innovative<br />

Ideen der Vermittlung von Literatur und Medien rund<br />

um´s Buch.<br />

Doch für Autoren gilt: Schreiben allein genügt längst<br />

nicht mehr! Sehen und gesehen werden, lesen und gelesen<br />

werden, hören und gehört werden... darum dreht<br />

sich das jährliche Event der Leipziger Buchmesse. Ja, ein<br />

Event, auf dem Autorinnen und Autorinnen nicht schlichtweg<br />

ihre Texte vortragen, sondern vielmehr, um die Gunst<br />

des Publikums buhlen. Sich in Szene setzen, das kann der<br />

eine mehr oder weniger besser als der andere. Manche<br />

können es schlichtweg sehr schlecht. Aber von der Präsentation<br />

des Autors hängt wesentlich der Verkauf seines<br />

Buches ab! Schon viele Jahre geht es nicht mehr nur um<br />

Inhaltliches, um das Narrativ des Autor/die Autorin. Verlage<br />

sind wirtschaftliche Unternehmen und müssen daher<br />

auf Verkaufszahlen schauen, was verständlich ist!<br />

Erstaunlich, dass Autorinnen/Autorinnen sich davon nicht<br />

abschrecken lassen, weiterhin ihrer Leidenschaft nachzugehen:<br />

dem Schreiben. Guntram Vesper legte sein Tausend<br />

Seiten umfassendes Werk „Frohburg“ vor und erhielt<br />

dafür den Preis der Leipziger Buchmesse. Darin erzählt<br />

er ein Stück deutscher Zeitgeschichte, skizziert einen<br />

kleinen Ort, Frohburg bei Leipzig und seine wechselvolle<br />

Geschichte vom Dritten Reich bis hin zum sozialistischen<br />

SED-Staat. Ein historischer „Schinken“, der Zeit braucht,<br />

um ihn zu lesen und sich der Verbindung zwischen Vergangenheit<br />

und Gegenwart bewusst zu werden. Doch nicht jeder<br />

Autor/jede Autorin schafft es gleich zu einem renommierten<br />

Verlag wie Schöffling & Co., in dem „Frohburg“<br />

von Guntram Vesper jetzt erschien. Glücklicherweise gibt<br />

es unter der Flut der jährlichen Neuerscheinungen auch<br />

Verlage, die mutig genug sind, literarische Aussenseiter in<br />

ihr Verlagsprogramm aufzunehmen, wie zum Beispiel der<br />

Ch. Links Verlag, genauer gesagt, Christoph Links Verlag,


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

13<br />

den die Kurt-Wolff-Stiftung heuer für sein unkonventionelles<br />

Handeln prämierte. Der mit 26 000 Euro dotierte<br />

Preis ging an den Verleger Christoph Links. Den mit 5000<br />

Euro dotierten Förderpreis erhielt der Verlag Vorwerk8.<br />

Alle verliehenen Preise an dieser Stelle aufzuführen, würde<br />

den Rahmen sprengen. Daher konzentriere ich mich<br />

auf die wichtigsten Begegnungen der Leipziger Buchmesse,<br />

die nachhaltig in Erinnerung blieben: Das Interview<br />

mit der Autorin Verena Zeltner. Ihr Buch „Kornblumenkinder“<br />

hatte ich bereits in etcetera vorgestellt. Ihr<br />

überaus großes Engagement für Kinder und Jugendliche<br />

wurde noch einmal deutlich in unserem persönlichen Gespräch<br />

auf der Buchmesse. Das zweite Interview führte<br />

ich mit der Jugendbuchautorin Antje Babendererde, die<br />

durch ihre Themen mit Indigenen Völkern aus der Jugendbuchszene<br />

hervorsticht. Ihr neues Buch „Der Kuss des Raben“<br />

spielt diesmal im heimischen Thüringen und nicht in<br />

den USA wie in ihren vorangegangenen Büchern.<br />

Die Begegnungen und Gespräche mit Verlegern von kleinen,<br />

weniger bekannten Verlagen, wie z.B. mit Werner<br />

Schmid vom Wiesenburg-Verlag, Schweinfurt, Angelika<br />

Bruhn vom BS-Verlag Rostock, Tino Hemmann vom Engelsdorfer-Verlag<br />

Leipzig und Jörg Becken vom Klak-Verlag<br />

Berlin, der so freundlich war, etcetera-Exemplare an<br />

seinem Messestand aufzulegen, machten die weite Anreise<br />

nach Leipzig unbedingt lohnenswert. Ich blicke zurück<br />

auf einen Tag auf der Leipziger Buchmesse, auf dem ich<br />

viele Eindrücke wahrnehmen konnte und mit neuen Ideen<br />

und Leseempehlungen nach Hause fuhr.<br />

Cornelia Stahl<br />

Lebt in Wien, Dipl. Sozialökonomin, Redakteurin „Literaturfenster<br />

Österreich“, Radio Orange, Wien, www.o94.at. Schreibt für „bn-<br />

Bibliotheksnachrichten“ Salzburg, www.biblio.at „Die Alternative“,<br />

„Magdeburg- Kompakt“, „celluloid“, ist Redaktionsmitglied<br />

und Vorstandsmitglied der LitGes.<br />

©Birgit und Peter Kainz/HUMAN_Taschenmesser<br />

Bericht


14 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

70 Jahre DEFA- Vom Filmaktiv zum Staatsbetrieb<br />

Bericht<br />

Vor 70 Jahren, am 17.5.1946, wurde auf dem Gelände der<br />

Althoff-Ateliers die DEFA-Deutsche Film Aktiengesellschaft<br />

in Berlin gegründet. Vorbereitet wurde die Gründung von<br />

einem antifaschistischen Filmaktiv. Der Beitrag gibt Einblicke<br />

in einen Abschnitt deutscher Filmgeschichte und spannt einen<br />

Bogen zwischen den Anfängen der DEFA damals und der<br />

DEFA-Stiftung heute.<br />

Berlin 1945. Kurz nach Ende des Krieges wurden Theater<br />

und Kinos erneut geöffnet und für das Publikum zugänglich<br />

gemacht. Die geteilte Stadt Berlin, die von den Allierten<br />

besetzt war, schrieb kurz nach Kriegsende erneut Filmgeschichte.<br />

In der sowjetischen Besatzungszone war man<br />

daran interessiert, russische Filme wie „Iwan der Schreckliche“<br />

zu zeigen und Filme für Propagandazwecke zu nutzen.<br />

In der Nähe Berlins, in Potsdam-Babelsberg, überreichte<br />

der sowjetische Kulturoffizier Sergej Tulpanow am 17.Mai<br />

1946 die Gründungsurkunde der Deutschen Film Aktiengesellschaft<br />

(DEFA). Anfangs existierte sie zunächst als<br />

sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft. Erst ab dem Jahr<br />

1952 lag die DEFA in der Verantwortung der 1949 gegründeten<br />

Deutschen Demokratischen Republik (DDR). 1950<br />

wurde der Progress-Filmverleih gegründet, der ab 1955 zu<br />

den volkseigenen Betrieben zählte. Mehrere DEFA-Studios<br />

wurden in Folge gegründet, mit jeweils eigenen Bereichen.<br />

Das DEFA-Synchronistaionsstudio war eines von ihnen. Bis<br />

zur Umwandlung in eine Stiftung im Jahr 1992 produzierte<br />

die DEFA ungefähr 700 Spielfilme, 750 Animationsfilme<br />

sowie 2250 Dokumentar- und Kurzfilme. Zirka 8000 Filme<br />

wurden synchronisiert.<br />

Filmschaffende zwischen Euphorie und Antifaschismus<br />

Die Anfangsfilme bekannten sich zum Antifaschismus, der<br />

von der Kulturabteilung des Zentralkomitees der Sozialistischen<br />

Einheitspartei Deutschlands (SED) vorgegebenen<br />

war. Wichtige Nachkriegsfilme, die damals entstanden, waren:<br />

Die Mörder sind unter uns (1946), Irgendwo in Berlin<br />

(1946) und Ehe im Schatten (1947). Wolfgang Staudtes Film<br />

©Hans Klering<br />

Die Mörder sind unter uns startete 1946 mit Hildegard Knef,<br />

in der Rolle als Überlebende eines Konzentrationslagers.<br />

Staudtes Film stand stellvertretend für die Abrechnung mit<br />

dem Faschismus. 1947 folgte Kurt Maetzigs Debüt Ehe im<br />

Schatten. Die Geschichte des Schauspielers Joachim Gottschalk<br />

und seiner Frau, einer Jüdin, nahm Maetzig als Vorlage<br />

für seinen Film. Aus Furcht vor der der Deportation<br />

wählten die Eheleute den Freitod. Unmittelbar involviert<br />

in das Thema Suizid war Maetzig durch den Freitod seiner<br />

Mutter. Im Film bearbeitete er dieses Thema, das ihn<br />

mehrfach berührte und persönlich betraf. Auch die Hochschule<br />

für Film und Fernshehen ( HFF) sowie zahlreiche<br />

Amateurstudios drehten Filme. Der wichtigste Filmproduzent<br />

blieb jedoch die DEFA. 1952 teilte sich die DEFA in<br />

vier Produktionsbereiche auf, eine davon war die Kinderfilmabteilung,<br />

die ab 1953 eigene Filme drehte. Ein Fünftel<br />

der Gesamtproduktion war dem Kinderfilm gewidmet. Zu<br />

den ersten Kinderfilmen zählte der Film Irgendwo in Berlin<br />

(1946), der die Nachkriegsgeschichte Jugendlicher in der<br />

SBZ (Sowjetisch besetzte Zone)skizziert, die die Trümmerberge<br />

als Abenteuerspielplatz nutzen. Die Implikation der<br />

Abrechnung mit dem Faschismus und der Aufarbeitung der<br />

Schuldfrage spürt man auch in diesem Kunstwerk. Lamprecht,<br />

damals bekannt als Bilderpoet, gelang es, die Atmosphäre<br />

des Neuanfangs zu suggerieren . Mit Wolfgang<br />

Staudtes Film Rotation, von 1949, der die Welt eines Kleinbürgers<br />

inmitten politischer Umbrüche darstellt, kündigte<br />

sich der Beginn einer gesellschaftskritischen Wende an.<br />

Amateurfilmstudios als Gegenstück zur staatlichen<br />

verordneten Filmproduktion<br />

1951 gründete der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung<br />

Deutschlands Filmamateurgruppen mit der Aufgabe,<br />

die Entwicklung einer neuen deutschen Filmkunst zu unterstützen.<br />

Unabhängig davon bildeten sich ab 1951 Betriebsfilmstudios<br />

sowie Pionier- und Jugendfilmstudios ( 1951:<br />

Pirna/ bei Dresden). Klubs der Filmamateure und Konsultationsstellen<br />

enstanden parallel in den Kulturhäusern. Eine<br />

Zeit künstlerischen Schaffens brach an, in der Filme öffentlich<br />

gezeigt wurden oder im Untergrund, in Liebhaberkreise<br />

auf Interesse stießen. 1985 gab es 180 Amateurfilmstudios<br />

in Betrieben, Kombinaten, Kulturhäusern und Klubs, 50 Jugendgruppen<br />

in Amateurfilmstudios und 35 Pionier- und<br />

Jugendstudios. Zeitgleich entwickelten sich Bereiche des


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

15<br />

Künstlerischen Experimental- und Undergroundfilms, die<br />

jedoch anderen Herstellungs- und Veröffentlichungsbedingungen<br />

unterlagen. Die ZAG, der Zentralen Arbeitsgemeinschaft<br />

„Junge Künstler“ bewegte sich im nichtöffentlichen<br />

Bereich und zeigte sich offen für Experimentalfilme.<br />

Festival des volksdemokratischen Films – Höhepunkte<br />

aus sozialistischen Ländern<br />

Die Gründung des ersten Jugendfilmstudios 1951, im Pionierhaus<br />

Maxim Gorki, in Pirna, wirkte sich auf die Kurzfilmproduktion<br />

in der DDR aus. Der DEFA-Vorstand beauftragte<br />

die Kurzfilmabteilung, ca. 150 Kurzfilme herzustellen. Im<br />

Mai 1951, auf dem 1.Deutschen Kulturkongress in Leipzig,<br />

trafen sich erstmals Kulturschaffende beider deutscher<br />

Staaten. Kurz darauf fand in West-Berlin das Filmfestival<br />

Berlinale statt. Ostberliner Filmschaffende äußerten Kritik,<br />

denn Laut Urteil eines Grundsatzentscheides wurden Filme<br />

aus sozialistischen Ländern kategorisch ausgeschlossen,<br />

da man ihnen ihre Internationalität absprach. Dennoch<br />

wollten Filmschaffende wie Interessierte am Festival teilnehmen.<br />

Die Sektorengrenzen waren noch passierbar. Ein<br />

Kontingent an verbilligten Karten ermöglichte Ostberlinern,<br />

die Berlinale zu besuchen. Ende Juni 1951 folgte dann in<br />

Ostberlin das sozialistische Film-Festival „Festwoche des<br />

volksdemokratischen Films“. Filmschaffende aus dem sozialistischen<br />

Ausland trafen sich, um polnische, rumänische<br />

und tschechoslowakische Filme zu präsentieren. Wichtig<br />

zu erwähnen sind auch die zahlreichen DEFA-Filme, die als<br />

Koproduktion entstanden, vor allem mit den tschechischen<br />

Barrandov-Filmstudios.<br />

Propaganda, Kinder und Zensur<br />

Wie alle Medien in der DDR, wurde unterlagen auch Filme<br />

der Zensur. DEFA-Filme, die nicht ins ideologische Konzept<br />

der SED passten, mussten in den entsprechenden Szenen<br />

abgeändert werden oder wurden generell verboten. Kreatives<br />

Filmschaffen musste im Einklang mit den Idealen des<br />

Sozialismus erfolgen. Auf dem 11.Plenum des Zentralkomittes<br />

der SED 1965 wurden zahlreiche Filme festgelegt,<br />

die verboten wurden. Allein im Jahr 1965 fielen zehn Filme<br />

der Zensur zum Opfer. 1966 wurde auch Frank Beyers Film<br />

Spur der Steine wegen antisozialistischer Tendenzen verboten.<br />

Erst im Herbst 1989 durfte er erneut gezeigt werden.<br />

Filme über Ernst Thälmann, Karl Liebknecht, Klara Zetkin<br />

etc. waren eher unbeliebtheit bei Filmschaffenden und Zuschauern.<br />

Der ideologisch vorgegebene Kurs der Partei war<br />

vielen Filmschaffenden ein Dorn im Auge. Als Folge dessen<br />

verließen talentierte Filmkünstler die DDR. Trotz Verbot<br />

blieben künstlerisch wertvolle Filme beim Publikum nachhaltig<br />

in Erinnerung. Unter Kindern waren Indianerfilme mit<br />

dem Hauptdarsteller Gojko Mitic sehr beliebt. Anfangsfilme<br />

waren Die Söhne der großen Bärin, 1966 oder Die Spur des<br />

Falken, 1968. Literaturverfilmungen, zum Beispiel Lütt<br />

Matten und die weiße Muschel, 19<strong>64</strong>, und Die Reise nach<br />

Sundevit,1966 (beide nach Benno Pludra) oder Moritz in<br />

der Litfasssäule, 1983, nach dem Kinderbuch von Christa<br />

Kozik, standen in der Beliebtheitsskala an oberster Stelle.<br />

Kultfilme für Erwachsene waren zum Beispiel Berlin-Ecke<br />

Schönhauser, 1957. Nach der Ausbürgerung des Liedermachers<br />

Wolf Biermann entstand 1973 der Film „Die Legende<br />

von Paul und Paula“. Drei Millionen DDR-Bürger sahen<br />

ihn im ersten Jahr. Und Paul und Paula avancierten über<br />

Nacht zu Volkshelden. Die Berlinale 2016 widmete sich verbotenen<br />

DEFA-Filmen in ihrer Retrospektive „Deutschland<br />

1966“. In dem Buch „Verbotene Utopie“ ( 2015) setzen sich<br />

die beiden herausgeber Andreas Kötzing und Ralf Schenk<br />

detalliert mit verbotenen DEFA-Filmen auseinander, die<br />

1965 der kultupolitischen Zäsur der DDR zum Opfer fielen.<br />

Vom Staatsbetrieb zur Stiftung<br />

Ein Jahr nach dem Mauerfall, 1990, wurde der Staatsbetrieb<br />

VEB DEFA-Studio für Spielfilme in DEFA Studio Babelsberg<br />

GmbH umgewandelt. Die Filmproduktion lief bis<br />

1992. Roland Gräf gelang 1990 mit Der Tangospieler eine<br />

authentische Skizze des DDR-Alltags. Herwig Kipping hingegen<br />

rechnete in seinem Film Das Land hinter dem Regenbogen<br />

von 1992/93 mit der sozialistischen Vergangenheit<br />

ab. Filmfreunde können Dank Gründung der DEFA-Stiftung<br />

die filmische Hinterlassenschaft der DEFA erschließen.<br />

Der Progress-Filmverleih verzeichnet in seinem Bestand<br />

alle DEFA-Kinoproduktionen der DDR von 1946 bis 1993,<br />

inklusive aller Ausgaben der Wochenschau „Der Augenzeuge“<br />

und 3.800 Dokumentarfilme aller Genres sowie die<br />

Produktionen der DEFA-Stiftung von 1999 bis 2006. Wer<br />

also neugierig geworden ist, kann das Filmmaterial zu Themen<br />

und Zeitgeschehen ab 1945 aus der ehemaligen SBZ<br />

(Sowjetisch-besetzten-Zone), der DDR oder den neuen Bundesländern<br />

sichten oder sich über Jahrestage informieren,<br />

unter www.progress-film.de<br />

Anmerkung: Der Artikel erschien in modifizierter Fassung<br />

im Filmmagazin celluloid 02/2016, April/Mai 2016.<br />

Bericht


16 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Nina Maron<br />

Interview Nina Maron Artothek 5.3.16, Steiner Landstr. 2,<br />

Krems/Stein. Die Ausstellung ist bis Ende Juni geöffnet, täglich<br />

außer Mo, Die. Auch an Samstagen und Sonntagen. Vernissage<br />

„Ölarbeiten Nina Marons” war anlässlich des Frauentages<br />

2016. Eva Riebler-Übleis sprach vor Ort mit der Künstlerin.<br />

©Fotos Eva Riebler-Übleis<br />

Liebe Nina Maron, Sie beschäftigen sich vor allem mit<br />

Frauenportraits. Ist dies Ihr Leitmotiv?<br />

Ich beschäftige mich auch mit Frauenportraits, ich finde<br />

es wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, was Frauen<br />

schon alles geleistet haben und noch immer leisten.<br />

Wer ist für Sie eine Heldin und wer eine Legende?<br />

Heldinnen und Legenden sind für mich viele Frauen, allen<br />

voran Rosa Luxembourg, Käthe Kollwitz, Irma Schwager,<br />

Alice Schwarzer… Frauen haben im Widerstand immer eine<br />

sehr wichtige Rolle gespielt. Das verengte Verständnis des<br />

Begriffs Widerstand, der sich immer im Wesentlichen nur<br />

auf politische und militärische Aktivitäten bezog, führte<br />

dazu die Form des Widerstandes die Frauen geleistet haben<br />

immer minder zu bewerten. (Aktiver und passiver Widerstand<br />

siehe Ingrid Strobl: Die Angst kam erst danach).<br />

Ich habe dann in meinen Bildserien aber auch Frauen dazu<br />

genommen, die in ihrer Sparte Widerstand (ebenfalls als<br />

erweiterer Begriff) geleistet haben, in Kunst, Literatur usw.<br />

Um zu einer Frau zu kommen, die es Ihrer Ansicht nach<br />

wert ist, abgebildet zu werden, betrieben Sie Recherche<br />

oder…?<br />

Ja ich recherchiere und beschäftige mich auch immer wieder<br />

mit feministischen Texten, zu denen ich dann auch Geschichten<br />

von Frauen lese, die aus meiner Sicht Grossartiges<br />

oder Besonderes geleistet haben.<br />

Sind Anekdoten spannender als Aussagen, Programme<br />

oder Inhalte?<br />

?<br />

Wie transportierten diese Frauen ihre Plotpoints. Programme,<br />

nicht nur die politischen?<br />

Sie treten für ihre Überzeugungen ein und bezahlten zum<br />

Teil mit ihrem Leben.<br />

Interview<br />

Was wollen Sie mit diesen Serien bewirken? Oder: Sehen<br />

Sie sich als aktives Glied der Emanzipation?<br />

In Serien arbeite ich schon seit 1996, begonnen hab ich<br />

damit, weil mir bewusst wurde, dass man inhaltlich und<br />

arbeitstechnisch sich immer wieder mit einem Thema beschäftigen<br />

muss, um auf den Kern der Sache zu kommen<br />

bzw. dass auch für die BetrachterInnen es wichtig ist, das<br />

gleiche Bild immer wieder präsentiert zu bekommen. Der<br />

Inhalt wird dann genauer betrachtet. So sind zumindest<br />

meine Erfahrungswerte. Als aktives Glied der Emanzipation<br />

sehe ich mich nicht, da gibt es wirklich Kämpferinnen, die<br />

man als solche bezeichnen kann. Ich mache meine Kunst,<br />

das ist das, was ich immer wollte und will. Dass ich mich<br />

mit feministischen Themen beschäftige, hat den Grund,<br />

dass für mich Wut ein kreativer Motor ist und ich dann die<br />

Art von Kunst machen kann, die ich gerne möchte. Und das<br />

Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau gibt genug Arbeitsmaterial.<br />

Wenn Sie vor einem Ihrer Bilder stehen und ein Selbstgespräch<br />

führen…. Wie schaut dies aus, wie ist die Essenz?<br />

Ich führe leider immer wieder nicht nur wenn ich vor meinen Bildern<br />

stehe Selbstgespräche. Die Essenz ist: Kommt das Kämpferische<br />

rüber, bin ich zufrieden.


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

17<br />

Fragen zu Ihrer Arbeitsweise/Herangehensweise: Benutzen<br />

Sie stets als Bildträger eher großformatige Leinwand?<br />

Nein sehr unterschiedlich.<br />

Gibt es Klangfarben?<br />

Am liebsten arbeite ich mit den Primärfarben Rot, Blau und<br />

Gelb.<br />

Ich wechsle ab zwischen Comicfiguren und Portraits, das<br />

sind meist meine klassischen BildträgerInnen. Bekannte Comicfiguren<br />

verwende ich gerne, weil ich den Versuch gestartet<br />

habe, die eingeimpften stereotypen Bilder, die man als<br />

Kleinkind schon mit auf den Weg bekommt, in einen anderen<br />

Kontext zu stellen, das Scheuklappendenken soll hier ein wenig<br />

aufgeweicht werden, wenn ich also die Daisy Duck aus<br />

©Nina Maron, Ceci n est pas une muse, 2015 ©Nina Maron, Half Love_LizTaylor, 2015<br />

Verändern sich Ihre Arbeitsweisen oder verändern Sie<br />

Ihre Arbeitsweisen?<br />

Den Versuch starte ich täglich, weil ich nicht immer wieder<br />

das gleiche machen will .<br />

Ihre Zyklen „blind date“ oder „I can`t shoot him anymore“<br />

kommen der visuellen Poesie sehr nahe. Steht hier<br />

der Humor im Vordergrund?<br />

Eigentlich der Zynismus. I cant shoot him anymore stand<br />

aus der Serie zur Katharina Blum.<br />

Ihre Micky Mouse Serie in flashigem Pink war 2013 in<br />

der Liegl Galerie Neulengbach ausgestellt. Die Peanuts<br />

oder Dick und Doof waren für Sie ebenfalls Anlass für<br />

eine Serie. Wie kommen Sie auf diese Protagonisten?<br />

ihrer heilen Comicwelt hole und sie als Domina darstelle,<br />

dann gibt es einen Bruch.<br />

Haben Sie Grundsätze? Strukturierte Wucherungen?<br />

Meine Grundsatz ist: Widerstand zu leisten, wo es geht.<br />

Kondensstreifen am Horizont?<br />

?<br />

Nina Maron<br />

Geb.1973 in Mödling schloss 1998 ihr Diplomstudium an der<br />

Hochschule für angewandte Kunst in Wien bei Prof. Adolf Frohner<br />

ab. Heute arbeitet und lebt die Künstlerin in Wien.<br />

Interview


18 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Michael Ziegelwagner<br />

Anlässlich der Bürgerproduktion 4.0 des Landestheaters NÖ<br />

traf Eva Riebler-Übleis den Satire-, Essay-Schreiber, ehemaligen<br />

LitGes Mitarbeiter, Autor zweier Romane und einer der<br />

sechs AutorInnen der neuen Bürgerproduktion 4.0 des Landestheaters<br />

NÖ im Büro der Litges.<br />

Lieber Michael, Du bist ein Autor, der einen Text für<br />

das heurige Bürgertheater geschrieben hat. Wie kamst<br />

Du auf Deine Idee?<br />

Ich wurde bereits im Sommer gefragt, ob ich mitmachen<br />

möchte, und wir, also die Intendantin Bettina Hering, die<br />

Regisseurin Renate Aichinger und der Dramaturg Matthias<br />

Asboth, einigten uns auf das Thema Landeshauptstadtwerdung.<br />

Mich interessierte der propagandistische Aspekt: mit<br />

welchen Mitteln, Slogans und Parolen die Bürger für eine<br />

Hauptstadt gewonnen werden konnten. Ich wollte die Figur<br />

des Siegfried Ludwig mit seinem Spruch: Ein Land ohne<br />

Hauptstadt ist wie ein Gulasch ohne Saft! behandeln.<br />

Du ließest den Landeshauptmann auftreten?<br />

Nein, ich habe ihn als eine Art Marketingstrategen konzipiert.<br />

Die Idee war, eine Gruppe auftreten zu lassen, die<br />

eine Mischung aus Werbeagentur und Heeresabteilung ist.<br />

Diese Gruppe leitet die Propagandaschlacht um die Hauptstadtwerdung<br />

von St. Pölten und den Abwehrkampf von der<br />

Wiener Herrengasse. Entsprechend militärisch ist auch der<br />

Jargon, der im Stück gesprochen wird...<br />

Warst Du zufrieden mit der Umsetzung Deiner Szene, die<br />

in der Aula der Sparkasse St. Pölten zur Aufführung kam?<br />

Ja, ich war erstaunt, wie die Leute, die ja keine ausgebildeten<br />

Schauspieler sind, diese Rollen hinkriegen! Unglaublich<br />

war für mich, was in der letzten Probewoche noch aus<br />

den Darstellern herausgekitzelt worden ist!<br />

Die Bürgerproduktion des Vorjahres Glanzstoff hatte<br />

ja den Nestroy-Preis bekommen. War dieses tolle Stationentheater<br />

wieder preisverdächtig?<br />

Ich verleihe keine Preise – leider! Wenn ich nur könnte...<br />

Für den direkten Vergleich fehlt mir aber die Kenntnis von<br />

Glanzstoff. Ich habe dieses Stück versäumt, weil ich vor<br />

einem Jahr noch zwischen Frankfurt und Wien gependelt<br />

bin…<br />

Interview<br />

©Fotos Eva Riebler-Übleis<br />

War dies beruflich oder…<br />

Ja, in Frankfurt war ich Redakteur bei der Satirezeitschrift<br />

Titanic.<br />

Und jetzt lebst Du von Luft und Liebe?<br />

Unter anderem! Für die Titanic schreibe ich immer noch.<br />

Außerdem für die Wiener Zeitung – und nicht zuletzt, vor<br />

kurzem, fürs Bürgertheater.<br />

Du schriebst ja auch zwei Romane. Besonders gefiel<br />

mir, weil extrem pointiert und den Bürgern aufs Maul<br />

geschaut, das 2011 herausgegebene Café Anschluss.<br />

Als Österreicher unter Deutschen…<br />

Ich sehe es nicht unbedingt als Roman, sondern eher als<br />

Satire mit romanhaften Elementen. Bei meinem zweiten<br />

Buch, dem Aufblasbaren Kaiser, war es umgekehrt: ein<br />

ernsthafter Roman mit satirischen Elementen.<br />

Anlässlich von Café Anschluss schrieb ich in der Rezension<br />

des Heftes 54, Du sollst wieder nach Wien<br />

kommen, denn das Leid, das Dir die Deutschen sprachlich<br />

antun, ist auf Dauer zu groß…<br />

Dein Wunsch war mir Befehl – ich bin wieder in Österreich!<br />

Das Leid wurde allerdings nicht mir angetan, sondern dem<br />

Protagonisten des Werkes. Und der hat es auch verdient.<br />

Immerhin war er ein deutschenfeindlicher Rassist.


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

19<br />

Im Aufblasbaren Kaiser war eine Monarchistin die<br />

Hauptfigur. Wie kamst Du zu dieser Idee?<br />

Durch ein reales Erlebnis. Zu Beginn meines Studiums<br />

gelangte ich aus Interesse in solch einen Club von Monarchisten:<br />

Ich habe ein Plakat einer monarchistischen Versammlung<br />

gesehen, ging hin und wollte dort anonym aus<br />

einer Ecke heraus beobachten. Leider waren es nur 7-8<br />

Bei der Bürgertheater-Szene, dem Aufschreiben des<br />

Spruches: Ein Land ohne Hauptstadt ist wie ein Gulasch<br />

ohne Saft - wolltest Du da beides verquirlen?<br />

Ja, hier wird schließlich Handlung Sprache: Vier Menschen<br />

sind unter vollem Körpereinsatz damit beschäftigt, die zehn<br />

Wörter eines Slogans zu finden. Und wenn wir schon über<br />

das Thema BILD sprechen: Es war das erste Mal, dass aus<br />

einem Text von mir Bilder wurden!<br />

Trägst Du BILDER der Erinnerung in Dir?<br />

Ich lebe literarisch davon, natürlich. Ohne einen gewissen<br />

Vorrat an Urbildern geht es eigentlich nicht. Was man sich<br />

dann im späteren Leben an neuen Bildern zulegt, das ist ja<br />

eher Recherche als tatsächliche Erfahrung.<br />

Welches BILD machst Du Dir von Dir? (lacht)<br />

Äh, welches machst Du Dir von Dir?<br />

Als Kind suchte ich die Nische des kleinen braven<br />

Mädchens. Ich stellte mich naiv und konnte dadurch<br />

still beobachten…<br />

Das ist auch ein guter satirischer Ansatz: Sich naiv stellen,<br />

ganz harmlos die grundsätzlichen Fragen aufwerfen, sich<br />

klein machen und ins Denkgebäude des Gegenübers –<br />

oder des satirisch zu Behandelnden – tief hineinkriechen …<br />

Leute, unter denen ich sehr schnell aufgefallen bin. Statt<br />

zu beobachten, wurde ich beobachtet, dann ausgefragt<br />

und betrunken gemacht. Ich bin nicht mehr hingegangen<br />

– im Gegensatz zur Protagonistin!<br />

Du meinst, wie die Termite?<br />

Das kleine Tier, das es sich im Baumstamm gemütlich<br />

macht, bis er irgendwann zusammenbricht. Ja. Das Gegenteil<br />

wäre polemische, offensive Satire: Mit der riesengroßen<br />

Axt auf den Baum loszugehen, z B. Das hat natürlich<br />

auch Berechtigung.<br />

Du schreibst so bildlich vorstellbare Szenen, womit<br />

wir beim Thema des Heftes BILD anknüpfen können.<br />

Denkst Du räumlich vorstellbar oder eher sprachlich?<br />

Schwierige Frage... Café Anschluss habe ich als eine<br />

Sammlung von Essays bezeichnet. Die Kapitel befassen<br />

sich u.a. mit der unterschiedlichen Sprache von Deutschen<br />

und Österreichern, der unterschiedlichen Friedhofs-,<br />

Ernährungskultur, und erst allmählich schälte sich<br />

so etwas wie eine Handlung heraus. Die Sprache war also<br />

vor der Handlung da. Beim anderen Werk ist es umgekehrt,<br />

erst der Plot und dann die sprachliche Behandlung.<br />

Trennen kann man das aber nie. So, wie man Form und<br />

Inhalt nicht trennen kann.<br />

Ein kräftiges, eindrucksvolles BILD!<br />

Das wir gemeinsam erstellt haben!<br />

Michael Ziegelwagner<br />

Geb.1983 in St. Pölten, lebt in Wien. Studierte Journalismus, Praktika<br />

bei Presse, Wiener Kurier, Medium Magazin und Fernsehkanal<br />

Okto. Diplom 2008, Autor für das Satiremagazin Titanic, von 2009<br />

bis 2015 als Redakteur. Seit 2014 ist er dort Leiter des Ressorts<br />

„Humorkritik“. Darüber hinaus veröffentlichte er im Standard, der<br />

Wiener Zeitung und der taz. Seit 2015 Kolumnist des Monatsmagazins<br />

Datum. Lesender des Tagebuchtages der LitGes 2014.<br />

Seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis (Longlist) nutzte<br />

Ziegelwagner 2014 für einen Boykottaufruf der Preisverleihung.<br />

Interview


20 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Essay<br />

Caspar Jenny<br />

Stoff der in die Bilder zwingt<br />

Nachdem es über Nacht geschneit hatte, stapfe ich am<br />

anderen Morgen durch den Schnee. Es waren bereits vor<br />

mir Fussgänger unterwegs. Ich sehe den Abdruck ihrer<br />

Sohlen im noch frischen Schnee. Auch ich hinterlasse<br />

mit jedem Schritt, den ich vorwärtsgehe eine Spur: die<br />

Sohle meines Schuhs. Ich kann mich von der Vielfalt der<br />

verschiedenen Schuhabdrücke nicht mehr abwenden,<br />

sie wirken wie Zeichen mit einem tieferen symbolischen<br />

Gehalt, keineswegs banal oder oberflächlich. Mit den<br />

Tagen gefror der Schnee zu Eis. Die Abdrücke überlagern<br />

sich jetzt, da verschiedene Schichten von Schnee<br />

und Eis die jeweils untere Schicht bewahrt hatten. Komplexe<br />

Muster sind jetzt überall zu sehen. Dort die Reifenspur<br />

eines Autos, über die eine Lage konzentrischer<br />

Kreise wandert, hier wellenförmige Linien neben denen<br />

parallel ein Zickzack-Muster verläuft. Von besonderem<br />

Einfallsreichtum scheint ein Schuhabdruck, der einzelne<br />

Stücke eines Musters weiter vorne wiederholt. Ich<br />

kann es mir erklären, denn der Schnee musste durch<br />

das Sohlenmuster ausgestanzt worden sein, und während<br />

der Schuh wieder in die Höhe ging, löste sich der<br />

Schnee als positive Form aus der Sohle und fiel vor sein<br />

negativ. So fange ich an die Entstehungsgeschichte der<br />

raffinierten Muster zu lesen. Die Wege von Menschen,<br />

Fahrzeugen und Tieren haben sich für die Dauer eines<br />

Winters in Schnee und Eis konserviert. Dass diese Bilder<br />

ohne Absicht entstanden sind, erhöhte in meinen Augen<br />

ihren ästhetischen Wert. Niemand dachte an Kunst. Der<br />

Stoff des Schnees hat sich als geeigneter Bildträger erwiesen,<br />

und einen Winter lang erlag ich diesem glücklichen<br />

Zusammentreffen von Natur und Kultur.<br />

Ephemer wie die Bilder, die jeder Winter mit sich bringt,<br />

sind auch die Bilder, die im Himmel entstehen. Die<br />

weissen Kondensstreifen der Flugzeuge, die sich bei besonders<br />

blauem Himmel schön abzeichnen, rühren an<br />

mein ästhetisches Empfinden. Als wäre ein himmlischer<br />

Zeichner am Werk, treffen und kreuzen sich die geraden<br />

Linien im weiten Raum des Himmelsgrunds. Von dieser<br />

Präzision in Staunen versetzt, beobachte ich gerade<br />

noch, wie ein weisser Strich knapp über eine Kirchturmspitze<br />

gezogen wird. Dann werde ich von einem fernen<br />

Donnern überrascht. Von irgendwoher scheint der Himmel<br />

auseinandergerissen zu werden. Eine Flugzeugstaffel<br />

schiesst im Geschwader im Tiefflug vorüber. Hinter<br />

sich lassen sie breite Streifen in rot, weiss und blau,<br />

Farben, mit denen man auch ein Gemälde auf eine Leinwand<br />

malt. Jenseits von dieser gibt es den ausgedehnten<br />

Bildraum, der beinahe grenzenlos zu sein scheint. Kein<br />

Rahmen behindert den Malgrund, wenn es der Himmel<br />

selbst ist, und die Kunstflugstaffel will Bilder in den<br />

Himmel malen, für die Dauer einer Sensation, die das<br />

Publikum in Staunen versetzt. Dann sehe ich, wie zwei<br />

nebenher fliegende Flugzeuge sich voneinander lösen,<br />

als würde jedes von einer anderen Kraft weggezogen.<br />

Erst jetzt sehe ich, dass sie eine symmetrische Schlaufe<br />

in den Himmel malen, während ein drittes Flugzeug in<br />

diese Figur hineinfliegt und ein Herz durchbohrt.<br />

Doch der Himmel wechselt seine Grundierung von Tag<br />

zur Nacht, und wieder werden auf seinem dunklen Grund<br />

Bilder entstehen. In allen Farben aufgehende Blumen<br />

erleuchten den Nachthimmel, in dem glitzernde Girlanden<br />

herunterregnen. Aus der Mitte eines bunt explodierenden<br />

Lichts bricht eine nächste Blüte hervor, als wolle<br />

die folgende die vorhergehende noch überbieten, in<br />

noch grösseren Kreisen sich in den Himmel weiten, und<br />

immer wird mein Auge gieriger, will den einen optischen<br />

Triumph noch übertroffen sehen für diese Dauer eines<br />

kurzen Glücks, bis diese Bilder der Nacht mit einer letzten<br />

aufgehenden Blume, die den Firmament zu durchdringen<br />

scheint zu einem krönenden Abschluss kommt.<br />

Mit dem Verglühen dieses Feuers sinkt die Nacht wieder<br />

in ihr Dunkel zurück, aus der nun mein hellerleuchteter<br />

Schlaf auftaucht. Bilder meines träumenden Unterbewusstseins<br />

entstehen, das am Tag gesehene Dinge neu<br />

zusammensetzt. Ich träume einen Himmel aus Schnee,<br />

ich träume ein Herz aus Eis, das von einer Schuhsohle<br />

bricht. Mein schlafendes Bewusstsein ist jetzt Bildträger<br />

jenes Schöpfers Traum, der ein absichtsloser Künstler<br />

ist, und mich an die Entstehung der Schneebilder<br />

erinnert.<br />

Als ich meine Augen wieder öffne, befinde ich mich in<br />

einem Kreis in einem Getreidefeld. Unter meinen Füssen<br />

liegen abgeknickte Halme. Die Kraft, welche die<br />

Halme niedergedrückt hatte, zog den Kreis präzise bis<br />

an den Rand des unberührten Feldes, wo die Halme<br />

unbeschädigt nach innen abgeknickt liegen. Während<br />

mein Blick den Himmel absucht, wie um mich zu vergewissern,<br />

ob da etwas ist, bleibt mir das Bild verborgen,


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

21<br />

in dem ich drin stehe. Nur von oben lässt sich erkennen,<br />

was in das Kornfeld „gezeichnet“ wurde. Wer mit einem<br />

Flugzeug über die Stelle fliegt, sieht eine komplex angeordnetes<br />

Muster, das sich inmitten eines Feldes befindet.<br />

Von einem Mittelkreis aus gehen drei Spiralen<br />

aus, die wiederum aus kleineren und grösseren Kreisen<br />

bestehen. Die Perfektion des Bildes ist erstaunlich.<br />

Selbst auf einem Blatt Papier dürfte es schwierig sein<br />

diese Kreiskonstruktion zu zeichnen. Als ich später auf<br />

einer Anhöhe auf dieses Bild schaue, in dem ich zuvor<br />

noch gestanden habe, kommt es mir wie ein Traum vor.<br />

Der Bauer, dem das Feld gehört, versichert mir, dass<br />

das Bild über Nacht entstanden war. Wir rätseln darüber,<br />

wer in solch einer kurzen Zeit in der Lage gewesen<br />

sein könnte, die komplexe Kreisfigur in dem Kornfeld<br />

abzubilden. Es gibt keinerlei Spuren, die darauf hindeuten<br />

würden, dass sich Menschen durchs Feld bewegt<br />

hätten, um das Bild anzufertigen. Einzig eine dünne<br />

Linie zieht sich aus dem Mittelkreis bis an den Rand<br />

des Feldes. Es ist meine eigene Spur, als ich aus dem<br />

Kornkreis einen Weg durch das Feld nahm und dabei die<br />

Halme niedertrampelte. Am Rand des Felds stiess ich<br />

dann auf den Bauer, der mich lächelnd begrüsste. Nun<br />

stehen wir beide auf der Anhöhe, blicken in den klaren<br />

Himmel hoch, und irgendwo am Himmelsrand verblasst<br />

der Kondensstreifen eines Flugzeugs, diese Spur einer<br />

uns vertrauten Zivilisation. Doch was wir in dem golden<br />

glänzenden Feld sehen, das durch die niedergedrückten<br />

Halme hell erscheinende Muster, scheint nicht von dieser<br />

Welt.<br />

Jede gestalterische Kraft sucht sich den Träger aus, den<br />

er für sein Bild geeignet hält. Wenn im Dunkeln liegt,<br />

wer der Schöpfer war, wie im Fall der Kornkreise, wird<br />

das Bild zu einem Mysterium, das an eine göttliche<br />

Urheberschaft denken lässt. Diese transzendierende<br />

Kraft, die von Bildern ausgehen kann, ist wahrscheinlich<br />

der Grund, weshalb Menschen immer schon Bilder<br />

angefertigt haben, sei es auf einem Stück Knochen,<br />

auf einer Höhlenwand, im Sand, auf Felsen und letztlich<br />

auch auf dem Menschenkörper selbst. Indem der<br />

Mensch zum Träger von Bildern wird, vermag er sich selber<br />

zu transzendieren. Selbst der Biss eines Krokodils<br />

kann in einem Initiationsritus in den Körper eingezeichnet<br />

werden. In einer schmerzvollen Prozedur beisst sich<br />

das Haupttier einer Schöpfungsmythologie in den Körper<br />

hinein, indem man die Haut aufschneidet, die blutenden<br />

Wunden mit Schmutz einreibt, damit sie Narben<br />

bilden. Das entstandene Narbenmuster auf dem Körper<br />

des Initianten ist der Biss des Krokodils. Mit der Einzeichnung<br />

eines göttlichen Tiers in den menschlichen<br />

Körper ist dieser selber zu einem Träger dieser Gottheit<br />

geworden. Auch in der der christlichen Religion ist der<br />

Menschenkörper ein Träger göttlicher Zeichen. Nachdem<br />

Kain seinen Bruder Abel aus Eifersucht erschlug,<br />

weil Gott nur auf das Opfer seines Bruders sah, und auf<br />

seines nicht, glaubte er sich vogelfrei. Doch Gott versah<br />

Kain mit einem Zeichen, damit ihn keiner erschlüge.<br />

Das „Kainszeichen“ aus dem ersten Buch Mose kann<br />

als eine Urform der Tätowierung angesehen werden.<br />

Der so stigmatisierte Körper erzählt von einer eigenen<br />

Geschichte, die gewollt oder ungewollt auf den Körper<br />

gebannt wurde. Mit der Idee der Nichtauslöschbarkeit<br />

stehen Tätowierungen für mehr als was sie repräsentieren,<br />

sie bedingen den Träger bis in seine Seele hinein.<br />

Auf der menschlichen Haut existiert das Bild solange<br />

der Bildträger am Leben ist. Mit dem Tod des Bildträgers<br />

geht auch das Bild unter. Der vergängliche Bildträger<br />

übt eine besondere Faszination aus, auch die unbeschädigten<br />

Halme der Kornmuster richten sich nach einer<br />

gewissen Zeit wieder auf oder werden abgemäht, die<br />

Abdrücke im Schnee vergehen mit der ersten Wärme,<br />

und der sterbliche Bildträger Mensch nimmt normalerweise<br />

seine Tätowierung mit ins Grab. Das Paradox des<br />

sowohl vergänglichen als auch lebendigen Bildträgers<br />

hat der Meister des makabren Humors Roald Dahl in<br />

seiner Kurzgeschichte „Skin“ von 1952 ausgelotet. In<br />

seinen Jugendjahren kommt einem Berufstätowierer im<br />

Atelier seines Freundes (der Maler Chaim Soutine) die<br />

Idee, das Portrait seiner ebenso anwesenden Frau vom<br />

Kunstmaler auf seinen Rücken tätowieren zu lassen. In<br />

einer hochkonzentrierten Sitzung tätowiert der Maler<br />

das Portrait der Frau auf den Rücken seines Freundes.<br />

Jahrzehnte später steht der verarmte Tätowierer (seine<br />

Frau ist bereits verstorben) vor dem Schaufenster<br />

einer Galerie in Paris, in dem ein Gemälde seines nun<br />

berühmt gewordenen Freundes ausgestellt ist. Er geht<br />

in die Galerie und als man ihn wieder hinauswerfen will,<br />

entblösst er seinen Rücken vor einem in Staunen geratenen<br />

Publikum. Nachdem er einem verführerischen<br />

Angebot eines Sammlers nachgibt, geht er mit dem<br />

Fremden weg. Einige Zeit später taucht in einer Galerie<br />

das Bild eines verschollenen Meisterwerks des Malers<br />

Essay


22 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Chaim Soutine auf, bei dem es sich offenbar um das<br />

tätowierte Bild der Frau handelt.<br />

Erst mit der Tötung des lebendigen Teils des Bildträgers,<br />

konnte der so mortifizierte Bildteil, die Haut, von<br />

seinem Träger abgezogen, konserviert und auf einen<br />

Rahmen gespannt werden. Das Bild hat somit seinen<br />

Träger im wahrsten Sinn „überlebt“, seinem Träger gar<br />

einen gewaltsamen Tod beschert. Der Wert des Bildes<br />

hat den Lebenswert seines Trägers in einer Weise übertroffen,<br />

dass der Sammler den menschlichen Teil für<br />

wertlos hielt. Der lebendige Träger wurde auf eine absurde<br />

Weise zu einem unerwünschten Hindernis, das<br />

entfernt werden musste, um an das Bild zu gelangen.<br />

So gesehen ist die menschliche Haut eine Extremform<br />

eines Bildträgers, der unweigerlich an seinen menschlichen<br />

Träger gebunden ist. Auch Tierhäute wurden zu<br />

Pergament verarbeitet, und der Gedanke lässt sich nicht<br />

mehr verscheuchen, ob man die schönen Illuminationen<br />

nicht vielleicht auch auf Menschenhaut gemalt hatte.<br />

Mein vergängliches Leben trotzt diesen ewigen Bildträgern,<br />

die mich überdauern werden, und damit wende ich<br />

mich gerne auch wieder dem vergänglichen Bildträger<br />

zu. Schon jetzt freue ich mich auf den nächsten Winter,<br />

wenn noch ausgefallenere Sohlenmuster den Schnee<br />

bebildern werden.<br />

Caspar Jenny<br />

Geb. 1971 in Basel. Aufgewachsen in Griechenland und im Tessin.<br />

Studium der Philosophie, Germanistik und Ethnologie. Arbeiten<br />

als Postler, Kunstmaler, Asylbeobachter und Lektor. Gedichte und<br />

Essays in Krautgarten, etcetera und Der Dreischneuss. 2012 Gedichtband<br />

„Im Rückstoss des Tages“. 2015 Veröffentlichung des<br />

Romans „Der Waran“ (killroy media Verlag). Schreibt an einem<br />

Roman mit dem Titel „Die Gezeiten der Stadt“.<br />

Essay<br />

©Birgit&Peter Kainz HUMAN-U-Bahnspinne_2016


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

23<br />

Gerhard Benigni<br />

Bildungsferne Jugendschutzbrillenträger<br />

Auszug aus dem Kärntner Jugendschutzgesetz, Paragraf<br />

11, Absatz 6 Jugendgefährdende Medien, Gegenstände und<br />

Dienstleistungen:<br />

Die Kennzeichnung der Freigabe für Kinder und Jugendliche<br />

insgesamt oder ab einem bestimmten Alter hat auf fälschungssichere<br />

Weise deutlich sichtbar auf dem Bildträger<br />

und auf dessen Umhüllung zu erfolgen. Bei auf sonstigem<br />

elektronischen Weg zugänglichen Bildträgern ist die Kennzeichnung<br />

so abzuspeichern, dass sie unmittelbar vor dem<br />

Programm auf die Dauer von zehn Sekunden aufscheint.<br />

10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1... Cola Zero. Jugend forscht. Ich<br />

glaub’, ich bin im Bild. Ich glaub’, ich bin im Bild. Träger<br />

Beginn. Hosenträger. Würdenträger. Bauträger. Briefträger.<br />

Skiträger. Ideenträger. Keimträger. Stahlträger. Datenträger.<br />

Sargträger. Massenweise Träger. Träge Masse. Immerhin<br />

jede Menge Bilder. Nicht im Kopf. Am Handy. Selfies mit<br />

Selbstauslöser. Ein Sittenbild der jungen Gesellschaft. Immer<br />

träger werden wir. Waffenträger. Uniformträger. Flugzeugträger.<br />

Trägerraketen. Immer mehr Kriege. Das Ende<br />

der Friedensnobelpreisträger. Gut gefüllte Kriegskassen<br />

klingeln. Humanitäre Sanitätsmaßnahmen. Krankenträger.<br />

Verbandelte Sozialversicherungsträger. Zahnlose Prothesenträger<br />

machen bissige Bemerkungen. In die Enge getriebene<br />

Rechtsträger als unerwartete Linksausleger.<br />

Verklemmte Gepäcksträger hier, radikalisierte Kofferträger<br />

dort. Sie bilden gemeinsam einen Sprengsatz. Das sprengt<br />

den grammatikalischen Rahmen. Lizenzträger to kill. Amtierende<br />

Amtsträger in Amsterdam grachten ihrer Ämter,<br />

während sich Brüsseler Spitzen als schweigsame Geheimnisträger<br />

entpuppen. Flämische Fackelträger beschwören<br />

transfette Fritten als bombastische Geschmacksträger.<br />

Was bleibt: Bartträger und Kopftuchträgerinnen als Feindbild.<br />

Dazu Livebilder im Fernsehen.<br />

Früher. Ohne HD. Da war das Bild auch noch träger. Keine<br />

400 Hertz. Keine 200. Nicht einmal 100. Hertzflimmern.<br />

Und Sendeschluss. Bundeshymne. Fahnenträger. Flauschige<br />

Deckenträger vor den Kisten. Von namhaften Namensträgern<br />

als reklamierende Werbeträger angestrahlt.<br />

Lauter Sympathieträger. Jedenfalls träger Informationsaustausch.<br />

Einseitig. Der Konsument als geweihter Hornträger,<br />

vielmehr als gehörnter Geweihträger. Es gilt das<br />

Trägheitsprinzip: „Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe<br />

oder der gleichförmigen Translation, sofern er nicht durch<br />

einwirkende Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen<br />

wird.“ Ehemalige Einkaufskorbträger mutieren online<br />

alsbald zu Hauptumsatzträgern der Konsumgesellschaft.<br />

Zugleich demonstrieren sie Geschlossenheit vor Ort. Konsumleichenträger<br />

arbeiten im Akkord.<br />

Ob der Doppel-T-Träger mir wohl auch einen einfachen<br />

Espresso serviert? Sicher nicht. Schließlich ist auch nicht<br />

jeder Speisenträger ein Spaghettiträger. Nudelsieb. Siebträger.<br />

Herr Ober, zahlen! Zu blöd auch. Trägerwechsel.<br />

Nachkommende Erbträger entschlüpfen Kinderausträgerinnen.<br />

Windelträger. Hoffnungsträger. Laternenträger.<br />

Angehende Leistungsträger. Leistungsdruck. Während<br />

das Geschäft der Möbelträger schleppend läuft, nicht zu<br />

verwechseln mit Schleppenträgern, werden töpfernde Tonträger<br />

nicht müde, zu betonen: „Scheiben bringen Glück!“<br />

Eines ist jedenfalls sicher: Querträger sind dick.<br />

Kraftlose Energieträger. Überleitende Wärmeträger. Betrübte<br />

Wasserträger. Endlich gefunden: den gemeinen Bildträger.<br />

Deutschlands gebildete Zeitungsausträger. Und bei<br />

uns: heimische Bildungsmisere. Schwankende Entscheidungsträger.<br />

Professorische Titelträger. Bedenkenträger.<br />

Vermeidende Risikoträger. Störrische Lastträger. Vor allem<br />

aber Scheuklappenträger. Und alles nur zum Schutz der Jugend.<br />

Träger wird’s nimmer. Der Textträger ist müde. Bachmannpreisträger<br />

wird man damit nicht. Das Trägermaterial<br />

ist erschöpft. Pictures in the dark.<br />

Gerhard Benigni<br />

Geb. 1973, lebt, arbeitet und schreibt in Villach. Viele seiner Kurzgeschichten<br />

sind in Literaturzeitschriften und Anthologien sowie<br />

in seinen ersten beiden Büchern „Fertigteilparkettboden. Im Niedrigenergiereihenhaus“<br />

und „Der Usambaraveilchenstreichler auf<br />

dem Weg zum Südpol“ erschienen.<br />

Essay


24 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Werner Stangl<br />

Bildträger<br />

Wikipedia: Als Bildträger wird in der bildenden Kunst<br />

der Untergrund eines Bildes bezeichnet. In der Tafelmalerei<br />

besteht der Bildträger üblicherweise aus Holz.<br />

Textile Bildträger werden als Leinwand bezeichnet, obwohl<br />

diese Bezeichnung eigentlich nur für Textilien aus<br />

Flachs zutrifft. Weitere Bildträger sind Karton oder Papier,<br />

seltener Blech, Glas, Keramik und andere Materialien.<br />

In der Wandmalerei können Felsen oder jede andere<br />

Architekturoberfläche, z. B. Wände oder Decken mit<br />

oder ohne Putz auf Mauerwerk, als Bildträger dienen.<br />

Jugendschutzgesetz (§ 1 Abs. 2): Bildträger sind gegenständliche<br />

Träger von Texten, Bildern oder Tönen, die zur<br />

Weitergabe geeignet, zur unmittelbaren Wahrnehmung<br />

bestimmt oder in einem Vorführ- oder Spielgerät eingebaut<br />

sind oder mit Hilfe dieser Vorführ- oder Spielgeräte<br />

dargestellt werden können. Bildträger müssen, wenn<br />

sie in der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden,<br />

mit einerAltersfreigabe der Obersten Landesjugendbehörden<br />

oder einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle,<br />

i.d.R. der „Freiwilligen Selbstkontrolle der<br />

Filmwirtschaft“und der „Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle“<br />

gekennzeichnet sein. Bildträger, die indiziert<br />

bzw. mit „Keine Jugendfreigabe“ oder überhaupt nicht<br />

gekennzeichnet sind, dürfen Kindern und Jugendlichen<br />

nicht angeboten, überlassen oder zugänglich gemacht<br />

werden.<br />

“Love”und “Hate” auf seinen Fingern stehen hat, sind<br />

bei Flatz am Daumenansatz die Worte “Give”und “Take”<br />

eintätowiert. Nach seinem Ableben will er seine Haut in<br />

einem Auktionshaus meistbietend versteigern lassen,<br />

wodurch sie zum verfügbaren Kunstwerk und überleben<br />

wird.<br />

Mädchenportrait (The Metropolitan Museum of Art,<br />

New York): Gemälde, Öl auf Leinwand, Höhe: 110 cm,<br />

datiert 1869. Beschädigung des Bildträgers durch einen<br />

Türgriff beim Handling einer Umzugsfirma.<br />

Digitale Bildverarbeitung: Ein Bildträger ist charakterisiert<br />

durch eine Punktmenge P, eine Nachbarschaftsrelation<br />

N für die Punkte von P und durch eine zyklische<br />

Ordnung Z für die Nachbarschaften der Punkte.<br />

Mein Bildträger: Das Herz.<br />

Essay<br />

Flatz - die Haut als Bildträger (Marktstr. 33, 6850 Dornbirn):<br />

Im Gefolge von Valie Export und Timm Ulrichs<br />

begab sich Flatz in den 1980er Jahren auf die Suche<br />

nach Ausdrucksformen außerhalb der konventionellen<br />

Bildmittel und wurde bei seinem Körper fündig. 1985 signierte<br />

Flatz sich selbst durch ein Tattoo auf dem Schulterblatt,<br />

drei Jahre später folgte ein Barcode auf dem<br />

linken Oberarm. Über die Jahre kamen weitere großflächige<br />

Beschriftungen der Haut: “Physical Sculpture” auf<br />

dem Rücken, die altgriechische Redewendung “Molon<br />

Labe” (Komm und hol sie dir!) am Bauchansatz, die vertikalen<br />

Schriftzüge “Mut tut gut” und Ciceros “Dum spiro<br />

spero”(Solange ich atme, hoffe ich) auf den Armen. Und<br />

analog zum Film “Die Nacht des Jägers” (1955), in dem<br />

Robert Mitchum als falscher Gefängnispriester die Worte<br />

Werner Stangl<br />

Geb. 1947 in Wien, lehrte 36 Jahre an der Johannes Kepler<br />

Universität Linz Psychologie, Veröffentlichung von Gedichten,<br />

Kurzgeschichten und Theaterstücken („neue wege“, „facetten“,<br />

„erostepost“, „sterz“, „Landstrich“, „Die Rampe“). Drama „Die<br />

Vorladung“ (Landestheater Linz, Wien). WWW: http://literatur.<br />

stangl.eu/


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

25<br />

©Birgit&Peter Kainz Karlskirche_24_6_09 und Karlskirche_Lutherbibel1-3<br />

Karlskirche


26 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Heinz Zitta<br />

Der Bildträger und die Kunst des Regenbogens<br />

Prosa<br />

Ich bin jetzt ein Bildträger. Früher habe ich mit Büchern<br />

statt mit Bildern gearbeitet. Ich hatte einen erfüllenden Job<br />

als Buchstütze in einer Bibliothek. Aber die Bibliothek wurde<br />

aus Lesermangel geschlossen und die Buchhandlungen<br />

brauchen keine Buchstützen mehr. Sie verkürzen die Regale,<br />

sodass kein freier Platz mehr bleibt und somit nicht<br />

länger Bedarf an Buchstützen besteht. Und die E-Books, die<br />

brauchen erst recht keine Buchstützen. Ich wollte aber unbedingt<br />

wieder im kulturellen oder künstlerischen Bereich<br />

arbeiten. Als in meiner Stadt eine Galerie neu eröffnet wurde,<br />

witterte ich meine Chance und bewarb mich als Bildträger.<br />

Ich kam gerade rechtzeitig in die Galerie, als der Galerist<br />

Bilder für seine erste Ausstellung aufhängen wollte. Als<br />

ich ihn alleine mit Maßband, Wasserwaage, Bleistift, Nägeln<br />

und Hammer hantieren sah, war mir sofort klar: Dem<br />

Mann muss geholfen werden. Der braucht einen Bildträger.<br />

Als Neuankömmling in der Galerie wollte ich nicht gleich<br />

mit der Tür ins Haus fallen und beobachtete eine Weile aus<br />

sicherer Entfernung, wie der Mann die gerahmten Bilder<br />

zuerst im Raum anordnete, an die Wand lehnte und die<br />

richtige Höhe zum Aufhängen abschätzte. Er wirkte dabei<br />

hektisch und planlos, machte erst einen Bleistiftstrich in<br />

Kopfhöhe, dann etwas höher, dann wieder niedriger. Er<br />

fuchtelte wild mit dem Maßband herum und erschien mir<br />

irgendwie überfordert. Das sollte einem erfahrenen Galeristen<br />

nicht passieren, aber dafür bin ja ich nun da. Ich<br />

machte mich mit einem Räuspern bemerkbar und sprach<br />

ihn an: „Entschuldigung, Herr …, brauchen Sie vielleicht<br />

einen Bildträger? Ich kann Ihnen gerne zur Hand gehen.“<br />

Der Maßbandfuchtler ließ sich durch meine Anwesenheit<br />

aber nicht beeindrucken, machte weiterhin wirre Striche<br />

auf die Wand und begann jetzt auch noch, die Reihenfolge<br />

der Bilder zu vertauschen. Er fing mit dem größten links<br />

an und fädelte die restlichen dann in der Größe absteigend<br />

auf, wie beim Aufstellen einer Mannschaft beim Sport. Ich<br />

versuchte es nochmals, diesmal etwas lauter: „Soll ich Ihnen<br />

helfen, mit der Anordnung der Bilder? Ich habe damit<br />

Erfahrung. Ich bin ein geprüfter Bildträger.“<br />

Das mit dem „geprüft“ war zwar schamlos übertrieben,<br />

aber man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen.<br />

Und bevor der Galerist mich wieder ignorieren konnte,<br />

nahm ich kurz entschlossen ein kleines Bild von der rechten<br />

Seite und trug es auf die linke Seite. Dann schnappte<br />

ich mir aus der Mitte ein Bild und trug es nach rechts. Mit<br />

diesem Überraschungsangriff hatte der Herr Bildaufhänger<br />

wohl nicht gerechnet. Verdutzt schaute er mir zu, ließ mir<br />

aber die Freiheit, noch ein weiteres Bilderpaar umzugruppieren.<br />

„Gar nicht einmal so schlecht“, gab er plötzlich seine Meinung<br />

kund. „Sie können das anscheinend. Sind Sie ein Bildträger?“<br />

Diese rasche Auffassungsgabe des Galeristen tat meinem<br />

Ego gut. Ja, ich bin ein Bildträger, und dass der Galerist das<br />

so schnell erkannt hatte, zeigte, dass auch er vom Fach ist.<br />

„Gestatten, Bernhard Bildträger“, trat ich nun zu ihm und<br />

streckte ihm zur Begrüßung meine Hand entgegen.<br />

„Willkommen im Team! Ich bin Georg, der Galeriebetreiber“,<br />

erwiderte er auf meinen Gruß und drückte dabei meine<br />

Hand etwas zu kräftig. Besonders angesichts des Nagels,<br />

den er immer noch in der Hand hielt.<br />

„Ich bin heute etwas im Stress“, wurde Georg auf einmal<br />

gesprächig. „Morgen wird die neue Ausstellung eröffnet<br />

und gerade heute hat sich mein Mitarbeiter krankgemeldet.<br />

So muss ich jetzt alleine alle Bilder anordnen und aufhängen<br />

und ich kann mich so schwer entscheiden. Soll ich<br />

sie der Helligkeit nach anordnen? Oder der Größe nach?<br />

Oder alphabetisch, dem Bildtitel nach? Was meinen Sie?“<br />

Diese Ansage von Georg gefiel mir. Er hatte mich offensichtlich<br />

schon akzeptiert und in sein Team aufgenommen.<br />

„Das muss man einfach ausprobieren“, tat ich nun sehr<br />

geschäftig und ordnete schnell und wahllos noch ein paar<br />

Bilder um. Alphabetisch, das wäre auch ein Ansatz, warum<br />

nicht? Aber dann erkannte ich das Dilemma: Gut die Hälfte<br />

der Bilder war mit „Ohne Titel“ betitelt. Also eben nicht<br />

betitelt. Da hat der Künstler wohl geschlampt. Dafür gibt’s<br />

einen Punkte-, einen Preisabzug.<br />

„Der Künstler ist gleich nach Anlieferung der Bilder in die<br />

Galerie auf Urlaub gefahren“, erklärte mir Georg die Sachlage.<br />

„Er wird den Käufern die Titel auf Anfrage nachliefern,<br />

portofrei.“<br />

Das half uns jetzt aber auch nicht weiter. Ein alphabetisches<br />

Anordnen der Werke fiel damit aus. Schwierig, schwierig.<br />

Als Bildträger fühlte ich mich heillos überfordert. Im Bilder-


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

27<br />

tragen war ich fit. Wenn mir jemand sagte, wohin ich die<br />

Bilder tragen sollte, dann war das ein Kinderspiel für mich.<br />

Bilderanordnen war eine gänzlich andere Sache. Aber diese<br />

Unsicherheit durfte ich mir gegenüber Georg nicht anmerken<br />

lassen. Er vertraute mir jetzt, er verließ sich auf mich.<br />

Georg zündete sich gerade eine Zigarette an. Darf er das?<br />

Er durfte, es war ja seine Galerie. Er lümmelte an einem<br />

Stehtisch und sah mir zu, wie ich die Bilder hin und her<br />

trug. Ich wartete auf eine Eingebung, nach welchen Kriterien<br />

ich die Bilder anordnen könnte. Wer macht das üblicherweise<br />

in einer Galerie? Das ist doch ein Job für einen<br />

Kurator, nicht für einen Bildträger. Doch woher so schnell<br />

einen Kurator nehmen? Also blieb diese Aufgabe doch an<br />

mir hängen.<br />

Ich schaute mir die Bilder genauer an. Was hat der Künstler<br />

eigentlich gemalt? Ich konnte nichts Konkretes erkennen,<br />

nur abstrakte Pinselstriche, geometrische Formen und<br />

Farbspritzer. Sehr bunt. Rot, orange, gelb … Die Farben gefielen<br />

mir. Ich hatte es gerne bunt. Die Farben erinnerten<br />

mich an einen Regenbogen. Regenbogen? Ja, das wäre<br />

doch ein Ordnungskriterium. Die Farben des Regenbogens.<br />

Wie waren die noch gleich? Das hatte ich mal in der Schule<br />

gelernt, im Physikunterricht. Vom Professor Newton. Nein,<br />

nicht Newton, Müller hieß mein Prof. Aber der selige Newton<br />

hat sie entdeckt, die Regenbogenfarben. Mit einem<br />

Prisma. Rot, Orange … wie geht’s weiter? Rot, Orange,<br />

Gelb, Grün … Hellblau, Dunkelblau … Violett. Ja, so könnte<br />

es gehen.<br />

er kein Anhänger von Goethe. Von Goethe, dem Maler?<br />

Nein, Goethe, der Dichter, ist gemeint. Der hat sich auch<br />

mit Naturwissenschaft beschäftigt und sich seine eigene<br />

Meinung über die Farben gebildet. Und diese hat er niedergeschrieben,<br />

in seiner Farbenlehre. Mit dieser Farbenlehre<br />

hätte Newton wiederum keine Freude gehabt. Goethe war<br />

halt kein Physiker und hat sich nicht so gut ausgekannt<br />

bei den Farben. Er akzeptierte es nicht, dass Newton das<br />

weiße Licht mit einem Prisma in die Regebogenfarben zerlegte.<br />

Weiß ist eine reine Farbe, die kann man nicht zerlegen,<br />

meinte Goethe. Beim Schreiben hat er sich besser<br />

ausgekannt, der Goethe, als in der Physik der Farben. Heute<br />

weiß jedes Kind, dass ein Farbfernseher, ein Computerbildschirm<br />

und auch ein Smartphone ein RGB-Display hat.<br />

Das heißt, Rot, Grün und Blau werden zusammengemischt,<br />

um Weiß darzustellen. Zu Goethes Zeiten gab es noch keine<br />

Farbfernseher, deshalb wollen wir ihm diesen Fehler in<br />

seiner Farbenlehre verzeihen. Ich schweife ab. Auf was will<br />

ich hier hinaus? Ach so, der Regenbogen. Der funktioniert<br />

mit Newtons Prima oder einfach mit ein bisschen Regen.<br />

Und man braucht auch Sonne dazu, die von der richtigen<br />

Seite in den Regen hineinscheint, um einen Regenbogen zu<br />

sehen. Die Maler haben es hier leichter. Die brauchen nicht<br />

warten, bis es gleichzeitig regnet und die Sonne scheint,<br />

um einen Regenbogen zu erschaffen. Die kaufen einfach<br />

die passenden Farben und pinseln sie auf ihre Leinwände.<br />

Rot, Orange, Gelb, Grün, Hellblau, Dunkelblau, Violett. Das<br />

funktioniert mit Ölfarben, mit Acryl oder als Aquarell. Und<br />

ich, Bernhard, der Bildträger, hab’s richtig erkannt und richtig<br />

angeordnet. Ganz alleine und ohne Kurator!<br />

Ich trug die Bilder jetzt den Farben nach zusammen, zuerst<br />

die roten, dann die mit viel Orange, dann die überwiegend<br />

gelben. Danach kam Grün dran. Wo sind die grünen Bilder?<br />

Keine dabei? Hat er wohl wieder geschlampt, der Herr<br />

Künstler. Kennt sich wohl nicht aus mit dem Regenbogen.<br />

Hat er den Physikunterricht geschwänzt? Grün fiel also aus,<br />

mit Blau ging’s weiter. Hell- oder Dunkelblau? Egal. Violett?<br />

Violette Bilder gab’s auch keine. Da stellen wir einen Strauß<br />

Veilchen hin, als Abschluss. Sonst ist der Regenbogen nicht<br />

komplett.<br />

Georg, der Galerist, war begeistert. Meine farbphysikalische<br />

Anordnung gefiel ihm. Dem Newton hätte sie auch<br />

gefallen. Ich hoffe, der Künstler kann sich mit dieser Auslegung<br />

seiner Bilder ebenfalls anfreunden. Hoffentlich ist<br />

Kommen Sie in die Galerie Georg! Morgen ist Vernissage.<br />

Sekt gibt’s da auch. Aber nur Orange, keinen Rosé. Die Farbe<br />

kommt im Regenbogen nun mal nicht vor.<br />

Heinz Zitta<br />

Geb. 1950, lebt in Villach/Österreich und arbeitete als Entwicklungs-Ingenieur<br />

in der Elektronik-Industrie. Kreatives Schreiben<br />

ist für ihn ein willkommener Ausgleich zu den exakten Anforderungen<br />

seines technischen Berufs. Seine literarischen Interessen<br />

umfassen Kurzgeschichten, Satire und Reiseberichte.<br />

Prosa


28 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Prosa<br />

Margit Heumann<br />

Wenn wir in Gruppen ziellos<br />

Auch wenn es schon eine Weile her ist, dass ich ein<br />

Neuankömmling war, erkenne ich euch überall und<br />

sofort. Ich erkenne euch an der Resignation in eurem<br />

Schritt, an der schicksalsergebenen Haltung, an der Kapitulation<br />

im Blick. Der Flüchtling steht euch ins Gesicht<br />

geschrieben und in euren Augen spiegelt sich meine eigene<br />

Heimatlosigkeit.<br />

Wir haben die Heimat verloren, aber ihre Zerrbilder<br />

schleppen wir mit uns herum, wenn wir in Gruppen ziellos<br />

durch die Stadt schlendern, an einer Straßenecke<br />

stehen, am Bahnhof die Zeit tot schlagen. Wir sind Bildträger<br />

unserer entstellten Heimat und leiden unter ihrer<br />

Last, doch wir murren nicht, wir jammern nicht, alle Tränen<br />

sind längst geweint. Nach den Gräueln des Gestern,<br />

tun wir uns schwer mit dem Heute und wissen nichts<br />

von Morgen. Ich, jünger an Jahren, doch als Flüchtling<br />

der Ältere, gebe mich souverän, als hätte ich Lösungen<br />

für jedes Problem parat, wenn das Handy aussetzt, das<br />

Essen fremd schmeckt, die Zimmerkollegen schnarchen<br />

und einer aufschreit im Schlaf und ein anderer weint,<br />

jede Nacht. Es sind die immer gleichen Geschichten,<br />

meine, eure, die der anderen, in denen das Wesentliche<br />

verschleiert und das Wichtige ungesagt bleibt. Mag<br />

sein, dieser Anschein und Unterton wird nur für unsereinen<br />

deutlich, die wir alle so reden und alle so hören und<br />

alle so fühlen, weil wir dem gleichen Umstand zum Opfer<br />

gefallen sind, dem Umstand der verlorenen Heimat.<br />

Dass der Umstand schmerzhaft ist, überrascht uns<br />

nicht. Wohl aber, dass er uns Schuldgefühle verursacht,<br />

obwohl wir keine Wahl hatten. Er lässt nicht zu, dass wir<br />

uns loskaufen, obwohl wir teuer dafür bezahlt haben. Er<br />

macht uns zu traumatisierten Bildträgern, randvoll mit<br />

Erinnerungsansichten, zum Platzen voll, und gleichzeitig<br />

versiegelt er uns die Lippen, sodass wir nichts sagen<br />

können. Zumindest nicht das, was gesagt werden will.<br />

Die Bilder in unseren Köpfen drängen nach Ausdruck,<br />

aber unsere Zungen gehorchen ihnen nicht, die Stimmbänder<br />

verweigern ihren Dienst, der Kehlkopf streikt.<br />

Um nicht an dem Ungesagten zu ersticken, reden wir<br />

uns selbst gut zu, irgendwann wird das, was jetzt in uns<br />

brennt, nicht mehr weh tun, irgendwann werden wir uns<br />

daran gewöhnen, dass das, wovon wir für immer Teil<br />

sein wollten, nicht mehr zu uns gehört.<br />

Wenn wir so in Gruppen ziellos durch die Stadt schlendern,<br />

an einer Straßenecke stehen, am Bahnhof die Zeit<br />

tot schlagen, kommt unweigerlich der Moment, wo Lider<br />

flackern, Lippen zittern und einer von uns sich innerlich<br />

verabschiedet, magisch angezogen von dem schwarzen<br />

Loch, an dessen Rand wir Heimatlosen alle von Zeit zu<br />

Zeit entlang taumeln. Stumm holt ein anderer ein Päckchen<br />

Filterlose aus der Tasche, sucht umständlich nach<br />

dem Feuerzeug, das Anzünden reihum dauert, schweigend<br />

paffen und inhalieren und blasen wir Rauch in die<br />

Luft, bis der Sog nachlässt und die Augen zurückkehren<br />

ins Hier und Heute. Nach dem Blick in den Abgrund sind<br />

die Themen andere, wir erörtern das karge Leben syrischer<br />

Landwirte, den kriegsbedingten Rückgang des<br />

Tourismus, die Einzigartigkeit unserer antiken Stätten,<br />

die Wichtigkeit der Erdgasproduktion, und es ist abgemacht,<br />

dass alles Erzählte im Allgemeinen und ohne<br />

persönlichen Bezug bleibt, auf leerer Bühne stattfindet,<br />

vor bereinigter Kulisse, ohne Hintergrund, im luftleeren<br />

Raum. Weil wir den Himmel über Syrien lange<br />

nicht mehr blau oder grau gesehen haben, sondern viel<br />

zu oft feuerrot, weil ganze Distrikte IS-Gebiet sind und<br />

die Täler nicht mehr Viehweiden, sondern Kriegsgebiet,<br />

die Städte und Dörfer nicht mehr voller Leben, sondern<br />

Geisterorte und die Wüsten nicht mehr Wüsten, sondern<br />

Schlachtfelder.<br />

Auch ich habe die Schießereien, die Bomben, die Gewalt,<br />

die zerstörten Häuser, die vergewaltigten Frauen,<br />

die weinenden Kinder hinter mir gelassen. Ich habe alles<br />

hinter mir gelassen, was nicht mehr Heimat ist. Ich<br />

habe mich auf den Weg gemacht, bei Nacht und Nebel,<br />

in Eiseskälte und brütender Hitze, über die Berge, über<br />

grüne Grenzen, ich habe mich in Wäldern versteckt, in<br />

Zelten gefroren, in Lagern gehungert, ich habe Schlepper<br />

gesucht und gefunden, Geld bezahlt, um auf einem<br />

maroden Kahn übers Meer zu fahren, ich bin mit Vielen<br />

aufgebrochen, mit Wenigen weitergezogen, mit einer<br />

Handvoll in Österreich gelandet. Angekommen bin ich<br />

noch lange nicht.<br />

Am Ende der Flucht bin ich gestrandet in einem Zwischenreich,<br />

registriert, fotografiert, administriert und


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

29<br />

eingeschlossen in eine Blase aus Fluchtursachen,<br />

Flüchtlingsströmen, Massenflucht, Flüchtlingskrise,<br />

Fluchtzielen, Flüchtlingshilfe. Nichts anderes existiert<br />

mehr, und ich agiere, wenn ich überhaupt agiere und<br />

nicht nur sprach- und stimmlos fremdgesteuert werde,<br />

in dieser Fluchtblase, die ebenso blankgefegt ist wie die<br />

hinter uns gelassenbereinigte Heimatbühne. Mit dem<br />

einen Unterschied: Hier fallen keine Bomben, hier ist<br />

keine unmittelbare Lebensgefahr. Frieden ist trotzdem<br />

nicht. Hier toben Kleinkriege um ein Bett in der Flüchtlingsunterkunft,<br />

um Schlaf im Chor der Schnarcher im<br />

Sechser-Zimmer, um einen Platz in der Schlange vor<br />

dem Amt, um Legal Advice im Asylverfahren, um die Zulassung<br />

zum Deutschunterricht.<br />

Deutsch fällt mir schwer. Das liegt nicht daran, dass<br />

ich nicht will, auch nicht daran, dass Deutsch schwierig<br />

ist oder meine Sprechwerkzeuge sich nicht eignen<br />

oder ich zu dumm bin. Es fällt mir schwer, weil meine<br />

Muttersprache das Letzte ist, das ich, im Gegensatz<br />

zur zerstörten Heimat, mehr oder weniger unversehrt<br />

im Gepäck habe und in dem ich mich noch heimisch<br />

fühle. Es ist diese sanfte Tonfolge des Arabischen, in<br />

dem meine Vergangenheit unauslöschlich konserviert<br />

ist und die sich unversehens und zu ungewissen Anlässen<br />

in eine Bilderreihe verwandelt, einen Film, den ich<br />

weder abrufen noch zurückweisen kann. Der häufig im<br />

Zeitraffer abgespielt wird, bisweilen in Zeitlupe dahin<br />

kriecht und manchmal zu einem Standbild wird, das mir<br />

den Blick auf eine belebte und beseelte Heimatbühne<br />

gönnt: Mit dem Vater beim Ziegenhüten. Die Wüste. Der<br />

Nachthimmel über dem Feuer. Fruchtbare Weizenfelder.<br />

Die Großeltern vor ihrem Lehmhaus. Das moderne Damaskus.<br />

Dicke Teppiche unter nackten Füßen. Mutters<br />

Essen. Die Koranschule, wo man im Chor rezitiert, was<br />

man nur ansatzweise begreift.<br />

Im Deutschkurs geht es um Bedeutung. Immer um Bedeutung.<br />

Fremde Zeichen unter farbigen Zeichnungen<br />

bedeuten Mann, Frau, Kind, Wasser, Brot. Stockend<br />

spreche ich nach: Mann. Frau. Kind. Wasser. Brot. Die<br />

Begriffe kommen mir nur zäh über die Lippen. Ich lerne<br />

Buchstaben: A wie Asyl, das kannte ich schon vorher,<br />

Ausweis, Amt und – ganz wichtig – Adresse. Ich lese die<br />

A-Wörter: Asyl. Ausweis. Amt. Adresse. Es fällt schwer,<br />

weil ich befürchte, mit jedem deutschen Wort ein arabisches<br />

zu verraten. Eines Tages stehen Wörter unter<br />

dem Bild einer österreichischen Landschaft: Berg, Tal,<br />

لبج Fluss, Himmel. Während ich Berg sage, erinnere ich<br />

[dʒabal] und die schneebedeckten Golanhöhen. Bei Tal<br />

lese ich داو [waːdin/iː] und sehe die fruchtbare Dschazira<br />

vor mir. Im Wort Fluss rauscht mit رهن [nahr] auch<br />

der Euphrat durchs Bild. Und während mein Mund Himmel<br />

ausspricht und mein Gehirn ءامس [saˈmaːʔ] denkt,<br />

gehen der österreichische und der syrische Himmel ineinander<br />

über und werden ein gemeinsamer, grenzenloser.<br />

So verbinden sich fremde Laute mit vertrauten<br />

Erinnerungen und österreichische Landschaft mit<br />

arabischer Sprache, und mit diesen sich gegenseitig<br />

überblendenden Bildern im Kopf scheint es nicht mehr<br />

unmöglich, hier eine neue Heimat zu finden ohne die<br />

frühere zu verraten.<br />

Und wenn ich mit dieser Erkenntnis gegen eure<br />

Resignation anrede, während wir ziellos durch die Stadt<br />

schlendern, an einer Straßenecke stehen, am Bahnhof<br />

die Zeit tot schlagen, schaut ihr ungläubig, doch in eure<br />

Augen – ich sehe es genau – stiehlt sich ein Fünkchen<br />

Hoffnung, dass man mit Syrien im Herzen nach vorn<br />

schauen und sich auf Österreich einlassen kann.<br />

Margit Heumann<br />

Geb. und aufgewachsen in Vorarlberg, verheiratet, lebt und<br />

schreibt in Wien und Bayern. Freie Mitarbeiterin bei großen Zeitschriftenverlagen.<br />

Redaktionsmitglied bei Asphaltspuren. Seit<br />

2007 Einzelveröffentlichungen in Print und E-Book sowie zahlreiche<br />

Publikationen in Literaturzeitschriften und Anthologien.<br />

www.margitheumann.com<br />

Prosa


30 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Prosa<br />

Constantin Schwab<br />

Selbstbild<br />

Sie saß am Küchentisch und rauchte, als er nach Hause<br />

kam; die Weinflasche schon beinah leer. Seine Rufe im Flur<br />

blieben unerwidert, nur das zischende Geräusch des Zigarettenstumpens,<br />

der ins Wasserglas fiel. Er trat in die Küche,<br />

den Mantel noch an, starrte auf ihren Rücken, schnüffelte.<br />

„Du rauchst?“<br />

Sie schwieg.<br />

„Ich dachte, wir rauchen nicht mehr im Haus. Ist Leonie<br />

schon im Bett?“<br />

Sein Blick fiel auf die Weinflasche, die aufgelösten Stumpen<br />

im Wasser, das lädierte Kuvert daneben.<br />

„Wie kann man nur dermaßen dumm sein.“<br />

„Bitte?“<br />

„Wie lange geht dieser kranke Spaß schon?“<br />

„Ich weiß nicht, was du meinst, Schatz.“<br />

„Heute Vormittag war der Bildträger da“, sagte sie. „Anscheinend<br />

konnte er ein paar Bilder nicht zustellen. Sie kamen<br />

zurück an den Absender. An dich.“<br />

Sie strich mit ihren Fingerkuppen über das Kuvert.<br />

„Ach, wirklich? Nun, da muss es sich wohl um ein Missverständnis<br />

bei der Adresse handeln, ich habe die letzten Tage<br />

keine Bilder verschick –“<br />

Plötzlich ihre Faust auf den Tisch, die Weinflasche zitternd.<br />

Er verstummte.<br />

„Schluss mit den Lügen. Ich hab die Bilder gesehen.“<br />

„Du hast was?“<br />

„Du perverses Schwein. Wie kannst du nur solche Bilder<br />

von dir machen und sie irgendeiner Schlampe schicken?“<br />

„Schatz, bitte, ich hab doch schon gesagt … hier muss<br />

ein Missverständnis herrschen. Der Bildträger hat etwas<br />

durcheinander gebracht. Das können unmöglich meine Bilder<br />

sein.“<br />

Er stand wie verloren in der Gegend, den Mantel immer<br />

noch an, ungelenk, grob in seinen Gesten. Ihr entfuhr ein<br />

schiefes Lachen.<br />

„Du kannst es noch hundertmal bestreiten, aber nach vier<br />

Jahren Ehe erkenne ich deinen Schwanz.“<br />

Sie griff zur nächsten Zigarette, flammte ein Streichholz<br />

auf; tiefe, schnelle Züge in das nächste Schweigen. Er zog<br />

seinen Mantel endlich aus, strich ihn glatt, legte ihn behutsam<br />

in die Armbeuge. Er zögerte. Sie weinte.<br />

„Hör zu …“, fing er langsam an, „das Ganze ist … Ich meine<br />

… Ich wollte nicht, dass du es auf diesem Weg erfährst. Ich<br />

hatte schon länger vor, es dir zu sagen, ganz ehrlich, ich<br />

wollte es dir in aller Vernunft erklären, damit wir uns so<br />

etwas hier ersparen, ich meine … Verdammt, warum greifst<br />

du auch ein Kuvert an, auf dem mein Name steht? Wieso<br />

machst du Bilder auf, die dich nichts angehen?!“<br />

„Das hab ich gar nicht.“<br />

„Ach, nein? Und wer sonst, bitteschön? Wer außer dir hätte<br />

die Bilder geöffnet, hm?“<br />

„Deine Tochter.“<br />

„Was?“<br />

„Leonie hat das Kuvert entdeckt. Sie hat deinen Namen<br />

gelesen und es aufgemacht.“<br />

Er begriff es nicht sofort; erst nach Sekunden überfiel ihn<br />

die Scham, die Angst, das Verständnis.<br />

„Und sie … Wo ist sie?“<br />

„Sie ist bereits bei ihrer Tante, wo sie vorerst auch bleiben<br />

wird. Ihren Vater wird sie allerdings für sehr lange Zeit nicht<br />

mehr sehen. Und ich auch nicht.“<br />

Sie blies den Rauch in die Luft, während er langsam den<br />

Kopf senkte, still und resigniert. Ihr Blick auf das Kuvert.<br />

Sein Blick in der Mantelfalte. Und keine Worte, keine Bewegung,<br />

nur der zischende Klang von Asche, die auf Wasser<br />

trifft.<br />

Constantin Schwab<br />

Geb. 1988, aufgewachsen in Berlin und Kärnten. Diplomstudium<br />

der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien. Schreibt<br />

Filmbeiträge (celluloid), Kurzprosa, Theaterstücke. Preisträger<br />

beim LitArena Wettbewerb 2015 (2. Platz). Veröffentlichungen<br />

in Anthologien und Literaturzeitschriften (DUM, die Anstalten,<br />

Erostepost, etcetera, &radieschen). Seit 2015 Zusammenarbeit<br />

mit dem Theaterverlag CoCo Speyer. Kontakt: c-schwab@gmx.at


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

31<br />

Orla Wolf<br />

Erkundung eines Parks<br />

Ich hatte lange auf der anderen Seite des Kanals gewohnt.<br />

Heute beschloss ich, hinüberzusetzen. Am Ufer<br />

angekommen, folgte ich einem gepflasterten Weg. Er<br />

führte direkt in einen Park. Dort betrachtete ich die Bäume.<br />

Und verweilte lange an einem Tulpenbeet. Als ich<br />

weiterging, fand ich an einer Wegbiegung einen Handschuh.<br />

Ich setzte mich auf eine Parkbank und zog ihn an.<br />

Er passte. Der Handschuh begann, sich zu bewegen. Er<br />

umgriff, hielt, schob. Und warf. Ich schloss meine Augen.<br />

Und spürte, wie ich einen Hund streichelte. Und dann<br />

jemanden an die Hand nahm. Ich zog den Handschuh<br />

aus. Und meine Hand ruhte sogleich reglos in meinem<br />

Schoß. Ich ließ den Handschuh auf der Bank zurück. Und<br />

ging weiter. Ich näherte mich nun einem Brunnen. Als ich<br />

an ihn herantrat, sah ich, dass das Wasser darin gefroren<br />

war. Und sich eine dicke Eisschicht gebildet hatte.<br />

Von links und rechts begann man jetzt, etwas auf der<br />

Eisfläche aufzubauen. Schon stand dort eine festlich geschmückte<br />

Tafel. Stühle wurden dazugestellt. Und Karaffen<br />

gefüllt. Ich wurde aufgefordert, Platz zu nehmen. Auf<br />

einem Beistelltisch stand ein Gerät. Es war ein Fernseher<br />

alter Bauart. Seine Bilder schwarz-weiß. Ich saß auf<br />

einem Stuhl, trank ein dunkelrotes Getränk, das köstlich<br />

schmeckte und rückte näher an das Gerät. Der Film hieß<br />

„Das Zugezogene“. Ich sah auf einen Vorhang. Und wartete.<br />

Doch nichts geschah. Er blieb geschlossen. Jetzt<br />

ist Sommer. Und ich schaue. Noch immer. Ich werde gut<br />

versorgt. Und irgendwann wird es sich zeigen. Hier. Am<br />

Brunnen.<br />

Live-Installation<br />

Datenspur<br />

Ich gehe spazieren. An einem Fluss entlang. Und dann sehe<br />

ich auf dem Boden etwas liegen. Ich hebe es auf. Es ist eine<br />

Kassette. Zu Hause habe ich ein Gerät, mit dem ich sie abspielen<br />

kann. Und ich gehe nach Hause. Säubere die Kassette.<br />

Lege sie ein. Und tatsächlich: Sie läuft. Leiernd zwar.<br />

Aber ich lausche. Und höre Bruchstücke. Musik. Satzfetzen.<br />

Zwei, nein, sogar drei verschiedene Stimmen. Die miteinander<br />

sprechen. Über eine Laubenkolonie. In der sie sich<br />

gerade befinden. Sie haben gesät. Ihre Stiefel ausgezogen.<br />

Und sitzen jetzt beisammen. Zwei Männer. Und eine Frau.<br />

Sie reden vom Schachspielen. Ich kenne mich damit nicht<br />

aus. Die drei hingegen schon. Sehr sogar. Es klingt jedenfalls<br />

professionell. In meinen Ohren: Offene Linien. Angriffsfelder.<br />

Raumvorteil. Ich höre heraus, dass die drei planen, die Strategie<br />

des Spiels auch auf andere Bereiche anzuwenden. Sie<br />

versprechen sich einen hohen Nutzen und satte Gewinne.<br />

Und sie spielen das durch. Mit verteilten Rollen. Und entwickeln<br />

ihr Drehbuch dabei. Die Dialoge werden festgelegt. Sie<br />

werden einen Streit haben. Vor einer vierten Person. Die sie<br />

zunächst unter einem Vorwand freundlich einladen. Die Aufnahme<br />

endet hier. In dieser Nacht träume ich von Spuren.<br />

Denen ich folge. Von Füßen. Stiefeln. Und Abdrücken. Die<br />

mich durch Parks, Wohngegenden und Büroviertel führen.<br />

Von der Frage getrieben: Wer ist diese Person? Heute Morgen<br />

gehe ich wieder spazieren. Mein Weg führt mich durch<br />

eine Laubenkolonie. Im zweiten Gang bleibe ich vor eine Parzelle<br />

stehen. Das Tor steht offen. Direkt dahinter: Drei Paar<br />

Gummistiefel. Auf der Veranda steht ein Tisch. Mit vier Stühlen.<br />

Darauf ein Schachbrett. Ein Mann kommt heraus. Mit<br />

einer einladenden Geste deutet er in Richtung Schachbrett:<br />

Wir haben Sie schon erwartet. Jetzt Sie.<br />

Reigen<br />

Ich lebe. In einer Drehtür. Seit Jahren schon. Die Drehtür<br />

ist ein Labyrinth, das aus einer einzigen Bewegung besteht.<br />

Einem Kreis. Die Leute sagen: Sie bewegen sich<br />

so schön. Ich selbst sehe das anders. Mit der Zeit hat<br />

mein Gang etwas Taumeliges bekommen. Das kann ich<br />

beobachten. In den Glasscheiben. Um mich herum. Ich<br />

laufe. Weiter. Und heute sind sie wieder da. Diese Gedanken:<br />

Geh rückwärts! Oder: Bleib einfach stehen! Ich<br />

wüsste. Nicht weiter.<br />

Als ich am Tisch Platz nahm, fiel mein Blick sogleich auf<br />

das Bild an der Wand gegenüber. Es war ein Kupferstich.<br />

Und zeigte Menschen, die auf einer Waldlichtung im Kreis<br />

um einen Baum tanzen. Jemand hatte oberhalb des Bildes<br />

Federn hinter den Rahmen gesteckt. Schwarz gesprenkelt.<br />

Auf olivbraunem Grund. Vielleicht die eines Fasans. Dann<br />

hörte ich Laute. Von Vögeln. Und ein leichter Wind ging<br />

durch den Raum. Die Menschen um den Baum gerieten in<br />

Bewegung. Ihr Tanz wurde schneller. Und schneller. Dann<br />

Prosa


32 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

war da nur noch ein dunkler Ring. Und ich schloss die Augen,<br />

weil mir schwindelig wurde. Als ich sie wieder öffnete,<br />

stand die Gruppe ganz still. Ihre Blicke richteten sich nach<br />

oben. In Richtung der Federn. Alle reckten sich. Und öffneten<br />

ihre Lippen. Dann fielen die Federn hinab. Direkt in<br />

ihre Münder. Jetzt kam die Gastgeberin mit einer Teekanne<br />

herein, schenkte uns nach und blickte dann suchend in<br />

Richtung Bild. Federn, die in Münder fallen, sang sie leise.<br />

Und sah mich versonnen an.<br />

Solipsistische Interviews II:<br />

Streifen<br />

Mein erster Gedanke: Ich gehe eine Treppe hinunter. Zur<br />

U-Bahn. Zum Beispiel. Es ist sehr voll auf der Treppe. Und<br />

mein Mantel, mein Ärmel, streift eine andere Person.<br />

Dieses Streifen ist mehr als nur eine kurze Berührung, ein<br />

kurzer Kontakt: Es ist vielmehr etwas, das sich in einer<br />

Bewegung vollzieht. Ein Gleiten. Aneinander. Ich stelle mir<br />

vor, Kreide an meinem Mantelärmel zu haben. Dann würde<br />

ich das sehen. An dem Gestreiften. Dieses Streifen. Diese<br />

Streifen. Irgendetwas bleibt zurück. Irgendetwas bleibt<br />

haften. Ein Rückstand eben. Es wäre vielleicht ganz interessant,<br />

wenn alle Menschen Kreidemäntel trügen. Nicht<br />

alle. Jeder Zweite vielleicht. Und die Anderen hätten etwas<br />

Dunkles an. Um es sehen zu können. Dieses Streifen. Diese<br />

Streifen. All die Markierungen auf der Kleidung. Die sich<br />

auch zählen ließen. Und die Ergebnisse würden Fragen aufwerfen.<br />

Man würde Kategorien bilden. Und weitere Untersuchungen<br />

durchführen. In Stadien, Fußgängerzonen, auf<br />

Flughäfen. Und dann geschieht etwas: Die Streifen nehmen<br />

zu. Sie werden an Hauswänden, Bäumen und an Stränden<br />

gesichtet. Schließlich auch auf Kinoleinwänden. Im Fell von<br />

Tieren. Und dann am Himmel. Man kommt mit dem Zählen<br />

kaum noch nach. Die Kreidemäntel sind längst aus der<br />

Mode gekommen. Stattdessen trägt man jetzt Ringe. Oder<br />

Reifen. Um den Körper. Gegen das Streifen.<br />

Prosa<br />

Orla Wolf<br />

Geb. 1971 in Düsseldorf. Lebt als Autorin (Lyrik, Prosa, Drama,<br />

Drehbuch) und Filmemacherin in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen<br />

in Literaturzeitschriften und Anthologien. Einzeltitel: Protokoll<br />

eines Nachtfalters– Gedichte (Klingenberg/2010). Schwebende<br />

Architekturen– Gedichte und Fotografien (Wien/ 2015).<br />

Eigener Literaturblog zuckerauge (www.zuckerauge.blogspot.de).<br />

©Birgit&Peter Kainz 2013_09_17_HUMANCarpet_11


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

33<br />

Lyrik


34 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Angelica Seithe<br />

Dank an die Droste<br />

Hindurchsehen<br />

Lyrik<br />

Wieder vor ihrem Bildnis im Park<br />

Und aus dem ältlichen<br />

Fräulein von damals mit hängenden<br />

Locken im Netz, ist eine<br />

junge Frau geworden, schön plötzlich auch<br />

in der Nische ihrer heimlichen Büsche<br />

Hier pflückte ich einmal<br />

Duft für den Schreibtisch<br />

nicht an den Zahlen, nicht<br />

am Buchstabenholz zu<br />

ersticken<br />

Es blüht mir bis heute der Kopf<br />

Mit dir zu Abend<br />

Du hattest Forelle bestellt.<br />

Auch mir brachte der Kellner<br />

den Fisch, etwas kleiner, mit erhobenem Kopf<br />

und einem nicht mehr gesprochenen Wort<br />

im geöffneten Maul.<br />

Du trenntest die Flossen ab und den Schwanz<br />

legtest den Kopf, die Gräten und schillernde Haut<br />

auf den Teller beiseite.<br />

Ich sah dir zu, während<br />

du Antwort gabst auf meine<br />

verhaltene Frage und folgte<br />

mit einer kleinen Entschlossenheit<br />

deinem Beispiel<br />

legte die Flossen zu deinen<br />

das Rückgrat des Tieres, die Haut<br />

und den bläulichen Kopf.<br />

Als ich es sah<br />

war’s schon geschehen:<br />

Die Überreste unsrer Fische lagen lebendig<br />

beieinander<br />

ganz nah<br />

verschlungen und<br />

Kopf an Kopf<br />

Frühling im Buchenwald.<br />

Um uns<br />

silberne Netze.<br />

Einmal ein Wind -<br />

Die braunen Blätter am Boden<br />

laufen auf uns zu.<br />

Wie eine Schar Küken.<br />

Wie im Krieg Soldaten auf der Flucht,<br />

sagst du.<br />

Hintergründig<br />

Vor hellem Himmel siehst du<br />

das weiße Segel kaum, wie es am<br />

Horizont erscheint mit seiner<br />

Freude an Bord<br />

Auf tintentraurigem Meer vor<br />

schwarzer Wolke leuchtet es<br />

hebt es sich ab, gleitet es dir<br />

in die Herzbucht<br />

Züge<br />

Überhaupt<br />

ist es immer der andere<br />

Bahnsteig<br />

auf dem mein Zug gerade steht<br />

Angelica Seithe<br />

Lebt in Wettenberg bei Gießen und in München, tätig als Psychotherapeutin,<br />

Dozentin und Autorin. Zuletzt erschien ihr Gedichtband<br />

„Regenlicht“ (2013). Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften.<br />

– Ausgezeichnet u. a. mit dem Sonderpreis Lyrik beim<br />

Wettbewerb um den Nordhessischen Autorenpreis 2009 und dem<br />

Hauptpreis beim Hildesheimer Lyrikwettbewerb 2012 & 2014. -<br />

www.angelica-seithe.de


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

35<br />

Jan-Eike Hornauer<br />

Das Dritte Reich im Zeitalter der Casting-Shows<br />

Wollt ihr den totalen Krieg?<br />

Diese Frage dröhnt<br />

immer wiederaus meinem TV-Gerät.<br />

Was mich irritiert,<br />

nie ist der Hinweiseingeblendet:<br />

Bitte nicht mehr anrufen,<br />

Wiederholung!<br />

Doch dann fällt mir endlich auf:<br />

Es ist ja auch gar keineNummer angegeben.<br />

Wohl weil Telefon<br />

unüblich war damals.<br />

Na, dann braucht’s den<br />

Hinweis auch nicht.<br />

Antwort eines mit dem Autor nichtidentischen lyrischen<br />

Ichs auf eine Frage aus dem Bereich der verkitschten<br />

Romantik<br />

Trüg’ ich stets Dein Bild im Herzen,<br />

schlüg’ es wohl nicht mehr.<br />

Und das Bild wär’ ganz zerknittert,<br />

machte nichts mehr her.<br />

Deshalb liegt Dein Bild auch hübsch<br />

–mir kannst Du vertrauen!–<br />

dort in meinem Nachttisch drin<br />

–gern kannst Du auch schauen!–,<br />

aufbewahrt bei den Portraits<br />

all der andern Frauen.<br />

Jan-Eike Hornauer:<br />

Geb. 1979 in Lübeck, leidenschaftlicher Textzüchter (freier Lektor,<br />

Texter, Autor, Herausgeber), wohnt in München. Studium der<br />

Germanistik und Soziologie in Würzburg. Veröffentlichungen in<br />

Literaturzeitschriften und Anthologien, u. a. DASGEDICHT, etcetera,<br />

Versnetze, Poesiealbumneu, Dichtungsring, Schreibkräfte.<br />

Im Juni erscheint sein Gedichtband »Das Objekt ist beschädigt–<br />

zumeist komische Gedichte aus einer brüchigen Welt« im muc<br />

Verlag.www.textzuechterei.de<br />

Lyrik


36 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Evelin Juen<br />

Der alte Mann und das Mädchen<br />

Prosa<br />

Das Wasser fließt träge dahin und leckt die Ufer des<br />

Flusses mit sanfter Gleichmäßigkeit.<br />

Die großen Ahornbäume strecken ihre Wurzeln aus dem<br />

Erdreich, graben mit steter Langsamkeit nach neuem Boden,<br />

unbeirrbar, klar und eindeutig.<br />

Als der Morgen anbricht, überflutet er die Landschaft<br />

ringsum mit silbernem, kühlen Glanz. Spiegelt sich funkelnd<br />

in der Feuchtigkeit der zurückweichenden Nacht.<br />

Die Ruhe ist vollkommen, Innehalten, stilles Universum<br />

in der Welt.<br />

Dann das Atmen aus moosüberwachsenen Steinen, der<br />

Tag lässt Nebel zwischen den Hügeln aufsteigen, das Reh<br />

weicht zurück.<br />

Rotbraun. Vorsichtiger, wachsamer Blick aus unschuldigen,<br />

großen Augen. Schon verschmolzen mit dem Wald,<br />

mit dunklem Gehölz, mit letzten Rufen der Dunkelheit.<br />

Die Schatten verlassen das Tal, machen Platz, geben Geheimnisse<br />

preis.<br />

Die Ecken bröckeln zu formlosen Wunden aus, fallen als<br />

vergessene Relikte in den Garten, in dem Brennnessel<br />

zu großen Stauden wuchert. Zwischen den Heckenrosen<br />

schimmert die Unsichtbarkeit, leuchtet das spinngewebte<br />

Lichterspiel.<br />

Das Dach lässt sich schwach und gebrechlich auf den<br />

weiß getünchten Steinmauern nieder, stöhnt im Wind,<br />

viele Jahre schon.<br />

Ein gelbes Fahrrad tropft in das Bild, bringt Frische und<br />

Leben, bringt Nell und ihr schwirrendes Lachen.<br />

Hinein mit dir! ruft sie, es ist kalt.<br />

Sein starrer Körper dehnt sich, gewinnt an Volumen.<br />

Hemd und Augen von einem tiefen Blau, ein Mann vom<br />

Meer. Irgendwann war das Alter gekommen, hatte ihn erschreckt<br />

beim Anblick im Spiegel, ist geblieben auf einen<br />

langen Augenblick.<br />

Seine Stimme lässt ihn nicht im Stich, fest und sicher,<br />

trotz des klopfenden Herzens.<br />

Sie steht schon bei ihm, erhitzt von der Anstrengung.<br />

Ihr warmer Körper dampft, er riecht ihren Schweiß. Sie<br />

dreht leicht den Kopf seitwärts, eine bezaubernde, fast<br />

unmerkliche Bewegung.<br />

Lass uns hinein gehen, sie drängt ihn mit sanfter Stimme,<br />

kommt ihm dabei nahe.<br />

Er weicht zurück, spürt schmerzhaft seinen Rücken. Rehaugen<br />

blicken in die seinen, er sieht alles an ihr. Das<br />

kleine Muttermal, Insel im weichen Flaum, hebt sich.<br />

Sie lächelt.<br />

Das Wesen mit den langen, schlanken Beinen. Jungenbeine,<br />

hat sie anfangs gescherzt. Sie, deren Haar im Dunkel<br />

des Vordaches matt glänzt. Er spürt ihre Hand, ein<br />

Streifzug nur, dann gehen sie zusammen ins Haus. Die<br />

Morgenluft macht ihn frösteln.<br />

Im Inneren zucken die Flammen, der Raum atmet lebendiges<br />

Feuer. Begierig saugt sie nach dem Duft des<br />

Holzes, schnüffelt mit geblähten, zarten Nüstern. Licht<br />

fällt dünn und geschwächt durch die staubigen Fenster<br />

herein, schafft Dämmerung am Beginn des Tages. Er legt<br />

ihr ein Kissen auf den Stuhl, beginnt, Frühstück zuzubereiten.<br />

Sie hat darauf bestanden, dass er sich eine Jacke überzieht.<br />

Nun sitzt sie da, zufrieden wartend, ab und zu ein<br />

Nicken, während er redet.<br />

Über die Wipfel der Bäume geht ein Rauschen, ein fließendes<br />

Raunen, das so lange andauert, bis die Angst erwacht.<br />

Dann ist es wieder ruhig.<br />

Die Wildrosensträucher locken die Amseln mit ihren letzten<br />

Früchten, begieriges Schnappen und Schlucken, wirrer<br />

Taumel.<br />

Bald wird das Fest vorbei sein, das Mahl beendet. Sie haben<br />

sich zurückgelehnt, satt und vertraut still, sitzen, bis<br />

die Sonne gegen Mittag den Raum durchflutet.<br />

Lass uns beginnen, damit sich der Kreis schließen kann,<br />

murmelt er.<br />

Sie ist nackt. Nie zuvor in seinem Leben, hat sich ihm<br />

Weiblichkeit so natürlich dargeboten. Ihr vollkommenes<br />

Entblößt sein. Wenn sich der Hals zu einem Bogen formt,


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

37<br />

die Kehle offen liegt. Das Schweben und Fließen ihrer<br />

Silhouette, ein warmer Strom, der ihn mit sich nimmt.<br />

Grelle Helligkeit liegt auf ihrem linken Bein. Steigt auf zu<br />

dem flaumüberzogenen Hügel ihrer Scham, macht einen<br />

Schwung das Becken hinauf. Fällt hinunter auf die linke<br />

Brust, schmiegt sich hinauf zum breit geschwungenen<br />

Mund und ergießt sich schließlich mit ihrem Haar zu Boden.<br />

Er lächelt. Findet mit seinen Blicken die Höhlen, findet<br />

die Schatten.<br />

Deine Dunkelheit ist ebenso lockend wie dein Licht. Bleib<br />

so, nicht bewegen -<br />

Bin ich schön? Leise Worte, ausgesprochen von einem<br />

Bild, einer Komposition.<br />

Aber er ist schon fort.<br />

Wenn sie so regungslos verharrt, ihn betrachtet, wie er<br />

immer wieder von ihr zur Staffelei, dann wieder aus dem<br />

Fenster blickt, weit entfernt, in einer anderen Wirklichkeit,<br />

fragt sie sich, was er sieht. Welche Menschen er<br />

dort trifft, ob es jemanden gibt, dem er vertraut.<br />

Manchmal, selten, erzählt er. Dann verlieren sich die<br />

Stunden und sie fährt erst spätabends zurück. Die Geschichten<br />

sind bunt und voller Gerüche. Bruchstücke<br />

eines Lebens, dessen Teil sie geworden ist, seit er begonnen<br />

hat, sie zu malen.<br />

Seine Phantasie lässt ihren Körpers neu entstehen, sie<br />

ahnt, er stillt an ihr seine Sehnsucht, findet die Heimat<br />

seiner Kindheit. Die weiß getünchten Häuser, das Salz<br />

auf den Lippen. Alles ist Erinnerung. Spuren überlappen<br />

sich, schieben sich ineinander zu einem verwirrenden<br />

Netz, das die Gegenwart trägt.<br />

Aphrodite, du bist mir Vertrautheit an einem fremden<br />

Ort, hatte er damals geflüstert und sie hat sich auf die<br />

Verwandlung eingelassen. Damals, in einem anderen Leben.<br />

Die Hitze des Hochsommers hatte sie zu dem kleinen<br />

Waldweiher geführt, die Mücken tanzten und ließen<br />

sich kreisend von der aufsteigenden Luft nach oben tragen.<br />

Und das leerstehende, alte Haus war plötzlich kein<br />

verlassener Ort mehr.<br />

Er war da.<br />

Langsam hebt sich sein Arm. Die Landschaft ihrer Formen<br />

ist ein Wiedererkennen, bringen ihm Jugend und<br />

Wärme und er entgleitet in die Erinnerung - :<br />

Die Klippen leuchten weiß in dem unendlichen Reichtum<br />

an Blau. Es ist heiß, auch wenn der Wind auf dem Meer<br />

vibriert, kräuselt und zupft, das glatte Bild des Spiegels<br />

verwischend. Seemöwen kreischen in Schwärmen, stoßen<br />

hinab, fallen aus dem Himmel mit atemberaubendem Mut,<br />

er träumt davon, immer wieder. Das Wasser küssen nur,<br />

dann, ohne die Harmonie der Bewegungen zu stören, wieder<br />

davon segeln.<br />

Abstand gewinnen.Im Sonnenlicht erwachen die Farben<br />

zum Leben, legen sich zueinander, wachsen im gegenseitigen<br />

Glanz. Pastose Üppigkeit, kraftvolle Linien. Dann, mit<br />

unendlicher Sorgfalt und Zartheit, die Vögel.<br />

Später wird er zum Strand hinunter laufen, das reinigende<br />

Ritual am Ende des Tages, das ihn zurückholt in den feucht<br />

pulsierenden Leib. Mit offenen Augen am Rücken liegend<br />

treibt er,Ebbe und Flut, sich vergessend zwischen den Gezeiten.<br />

Komm, flüstert ihre Stimme, von jenseits der Wellen getragen<br />

und er kehrt aus der Vergangenheit zurück. Sieht<br />

sich orientierungslos im Zimmer um, fremder Raum,<br />

fremdes Haus, fremdes Land. Dann dringt der vertraute<br />

Geruch der Ölfarbe in sein Bewusstsein.<br />

Das Bild ist fertig, nicht? Sag mir, ist es jetzt vorbei?, fragt<br />

sie und steht langsam auf. Gleitende Bewegungen, seine<br />

Augen hypnotisch fixierend, während sie näher kommt.<br />

Ihre Schönheit blendet ihn und durchströmt den müden<br />

Körper wie Tausende von Glühwürmchen, die sein Innerstes<br />

mit ihrem Licht wärmen. Wie er es genießt, wenn<br />

seine Poren die Lebendigkeit ihres Seins aufsaugen –<br />

Vorbei, sagt er traurig und lässt sich in die Farbe ihrer<br />

Augen fallen.<br />

Dann ist sie neben der Staffelei und senkt den Kopf. Die<br />

Verbindung reißt, ihr Gesicht wird zum Profil.<br />

Zwei Monate. Zufällig oder vielleicht auch nicht. Sie hat<br />

viel darüber nachgedacht.<br />

Nun ist es zu Ende. Marc und ihre Freundin Lea wollten<br />

wissen, was der Fremde von ihr will. Was er redet, wer er<br />

ist. Sie bedrängten sie. Warum sie sich verändert.<br />

Keiner versteht, am allerwenigsten sie selbst.<br />

Die tiefen Furchen, die sein Gesicht durchziehen. Mehr<br />

und mehr Wege, auf denen sie sich heimlich entlang getastet<br />

hat, entzückt über jede Abzweigung.<br />

Er schien es nicht zu merken. Wollte nicht erkennen. All<br />

die ungezählten Stunden, versunken in seine Malerei.<br />

Prosa


38 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Prosa<br />

Ich liebe ihn, würde sie antworten, auf eine Frage, die allen<br />

zu absurd schien, um gestellt zu werden.<br />

Das Meer hat mich herumgewirbelt, mitgerissen und in<br />

eine andere Welt gespuckt, sagt er.<br />

Seine Antworten, immer Geschichten in der Geschichte,<br />

mochten Wahrheit in sich tragen oder Lügen sein. Dennoch<br />

gibt er ihr Nähe, für die sie keine Worte hat.<br />

Sie schlägt die Augen auf, dreht sich zum Bild.<br />

Dann, als er hinter ihr steht und seine Hände über ihren<br />

Schultern schweben, sich in der Luft hebend und senkend<br />

mit ihrem Atem, riecht er an ihrem Haar. Salbei und Minze.<br />

Die Stille im Raum ist ein silbern glänzender, spiegelglatter<br />

See, der die Welt auf den Kopf stellt. Gedanken<br />

zerfließen an den Rändern, verwischen die Momente der<br />

Angst, überschreiten Grenzen.<br />

Zum erstenmal berührt er sie. Erschauert, kostet aus.<br />

Lässt zu, dass vertrocknete Finger auf samtweicher Haut<br />

verweilen. Ruhig liegen bleiben, Kraft schöpfen.<br />

Als es dunkler wird, alle Farben vollgesogen mit Grau,<br />

Schatten zwischen Schatten, lösen sich ihre Blicke vom<br />

Gemälde. Sie erwachen aus der Bewegungslosigkeit, regen<br />

sich, sind verwirrt.<br />

Aphrodite, flüstert er immer noch dicht hinter ihr stehend.<br />

Sie nickt leicht, er kann fühlen wie sich ihre Muskeln anspannen.<br />

Morgen werde ich nicht mehr hier sein, murmelt er, während<br />

er zögernd seine Hände von ihren Schultern hebt,<br />

einen Schritt zurückweicht.


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

39<br />

©Birgit&Peter Kainz Wien_Tag<br />

Das Vakuum rieselt als eisiger Schauder über ihren Rücken,<br />

sie schwankt leicht, konzentriert sich auf ihr pulsierendes,<br />

forderndes Zentrum, findet zum Gleichgewicht.<br />

Dann etwas Kaltes, Glattes in ihrer Hand.<br />

Seine rauen Lippen hauchen nahe am linken Ohr und ihr<br />

Atem wird heftiger.<br />

Tu es! flüstert er. Nur du und ich und ein Geheimnis.<br />

Ihre Hand zittert, als sie den Widerstand der Leinwand<br />

spürt, dann beginnt die Klinge schon breite Wunden zu<br />

schlagen. Risse klaffen, Körper und Landschaft ineinander<br />

verschlungen, Farben zu Farben.<br />

Entstanden und vergangen. Dem grenzenlosen Fließen<br />

geschenkt.<br />

Die Sterne funkeln, eine kalte, klare Nacht. Ein gelbes<br />

Fahrrad, wehende Haare.<br />

Ein alter Mann am Fenster.<br />

Evelin Juen<br />

Geb.19<strong>64</strong>. Studium der Kunstgeschichte und Archäologie. Als<br />

Autorin, Bildende Künstlerin und Musikerin (singer/songwriter)<br />

tätig. Diese Tätigkeiten verbinden sich synergetisch und ermöglichen<br />

das kreative Ganze. Viele Reisen in Europa und mehrere<br />

längere Aufenthalte in Asien, Südamerika und Afrika.Zahlreiche literarische<br />

Publikationen, Preise und internationale Ausstellungen.<br />

www.evelinjuen.at<br />

Prosa


40 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Daniel Klaus<br />

Unbebaute Grundstücke<br />

Prosa<br />

Gegenüber von meinem Stammbäcker ist eine Baulücke.<br />

Es ist eines dieser unbebauten Grundstücke in der Stadt,<br />

die immer weniger werden, bis es sie irgendwann überhaupt<br />

nicht mehr geben wird. Das Grundstück ist nicht<br />

mehr als ein leerer Platz zwischen zwei Häusern. Trotzdem<br />

wird es von einem zwei Meter hohen Bretterzaun wie<br />

eine Kostbarkeit bewacht, und es gibt nirgendwo Astlöcher,<br />

durch die man hindurchschauen könnte, weil der<br />

komplette Zaun mit Plakaten zugeklebt ist.<br />

Der Mann, der einen hellbraunen Hut aus Cordstoff auf<br />

dem Kopf trug, stellte sich auf die Zehenspitzen, um über<br />

den Zaun zu schauen, aber er war einfach zu klein. Und<br />

er war alt. Er war richtig alt. Er hätte ein Jugendfreund<br />

meines Großvaters sein können. Ich blieb stehen und sah<br />

ihm bei seinen Bemühungen zu.<br />

„Ich bin einfach zu klein“, sagte er, als er mich bemerkte<br />

und klopfte mit seinem Stock traurig gegen den Zaun.<br />

„Was ist denn hinter diesem Zaun?“, fragte ich.<br />

„Ich habe da mit meinen Eltern gewohnt“, sagte er. „Im<br />

vierten Stock.“ Er zeigte mit dem Finger in den Himmel.<br />

Ich folgte seinem Finger mit den Augen und sah zwei<br />

Spatzen, die in der Luft Pirouetten drehten. Vielleicht war<br />

genau an dieser Stelle sein Kinderzimmer gewesen, dachte<br />

ich.<br />

„Ich würde gerne wissen, wie es jetzt dort aussieht“,<br />

sagte er.<br />

Ich sah ihn wieder an. Sein Gesicht war ein Mosaik aus<br />

faszinierenden Falten. Ich dachte nach. „Ich kann Ihnen<br />

helfen“, sagte ich schließlich.<br />

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Bretterwand<br />

und schränkte meine Handflächen ineinander. Eine klassische<br />

Räuberleiter.<br />

Er sah auf meine Hände. „Meinen Sie wirklich?“<br />

„Na los“, sagte ich. „Wofür gehe ich sonst zwei Mal in<br />

der Woche ins Fitnessstudio? Außerdem habe ich Handschuhe<br />

an. Sie werden mir nicht wehtun.“<br />

Er zögerte einen kleinen Moment, aber dann lehnte er<br />

seinen Stock an die Wand und stieg vorsichtig mit dem<br />

linken Fuß auf meine Handflächen. Er hielt sich mit den<br />

Händen an meinen Schultern fest, und dann fuhr ich ihn<br />

wie ein Fahrstuhl einen halben Meter nach oben.<br />

„Es funktioniert“, sagte er über mir. „Ich kann über den<br />

Zaun sehen.“ Seine Stimme klang warm und aufgeregt.<br />

„Und was sehen Sie?“, fragte ich. Ich musste ein wenig<br />

keuchen. Ich trainierte im Fitnessstudio zwar alle möglichen<br />

Muskelpartien, aber die Muskeln in den Handflächen<br />

gehörten anscheinend nicht dazu.<br />

„Na ja“, sagte er. „Aufgeworfene Erde, Steine, ein paar<br />

Disteln. Aber darum geht es nicht.“ Er machte eine Pause.<br />

„Ich erinnere mich.“<br />

Wir schwiegen beide eine Weile, während ich ihn weiter<br />

festhielt und er über den Zaun in seine Kindheit blickte.<br />

Ich dachte an das sechshundert Kilometer entfernte Haus<br />

meiner Eltern. Es war das letzte in der Straße und dahinter<br />

begannen die Felder. Wenn im Sommer der Weizen hoch<br />

stand, hatte ich darin mit meinem Bruder Verstecken gespielt.<br />

Und einige Jahre später hatte mir Verena dort auch<br />

meinen ersten Zungenkuss gegeben. Ich war schon lange<br />

nicht mehr dort gewesen.<br />

„Sie können mich jetzt wieder herunterlassen“, sagte der<br />

Mann über mir.<br />

Ich nickte. „Halten Sie sich fest“, sagte ich. Dann fuhr ich<br />

ihn mit meinem Einpersonenlift langsam zurück in die Gegenwart.<br />

„Dankeschön“, sagte er, als er wieder festen Boden unter<br />

den Füßen hatte. Er reichte mir seine Hand. „Das war sehr<br />

nett von Ihnen.“<br />

Daniel Klaus<br />

Geb. 1972 in Wiesbaden, lebt heute in Berlin. Walter-Serner-<br />

Preisträger, Literaturförderpreis Ruhrgebiet, Alfred-Döblin-Stipendium.<br />

Literarische Kolumnen u.a. für die taz, derFreitag und<br />

die Stuttgarter Zeitung. Mehr unter www.danielklaus.com<br />

Reinhard Wegerth<br />

Geb. 1950 in Neudorf bei Staaz, lebt in Mödling. Pseudonym Leidergott.<br />

lässt die Dinge reden: Stimmenroman 2010 "damals und<br />

dort" Sisyphus, "Frpher und hier" 2013 und "Als es geschah" 2014.<br />

Veröffentlungen im Augustin, etcetera ..


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

41<br />

Reinhard Wegerth<br />

Bilder aus den 70ern<br />

In den 70ern war vieles möglich, über das man heute<br />

staunt – das zeigt (neben der aktuellen Ausstellung auf der<br />

Schallaburg) wohl auch dieses Bild, aufgenommen am 15.<br />

September 1977 im Bundeskanzleramt in Wien: Der Bursche<br />

links bin ich, damals 27 Jahre alt und Redakteur des<br />

Literaturmagazins „Frischfleisch“, der Herr rechts ist der<br />

Kanzler höchstpersönlich, damals 66 und offenbar ohne<br />

Berührungsängste gegenüber langhaarigen alternativen Typen.<br />

Anlass war ein Interview zum Atomkraftwerk Zwentendorf,<br />

über dessen Inbetriebnahme Kreisky und ich konträrer<br />

Ansicht waren (weshalb wir uns auch nicht anstrahlen).<br />

Literarisch verarbeitet habe ich dieses Interview später in<br />

einer Episode meines Buchs „Damals und dort“, das ich<br />

vor ein paar Jahren auch bei einer LitGes-Veranstaltung im<br />

Stadtmuseum St. Pölten vorstellen durfte. Dort lief passenderweise<br />

gerade eine Ausstellung zum hundertsten Geburtstag<br />

von Kreisky… Das hier erstmals abgedruckte Bild<br />

(geknipst von Nils Jensen) ist übrigens die schwarzweiße<br />

Originalfassung aus den 70ern.<br />

Apropos Schallaburg: Dort war ich zum ersten Mal ein<br />

knappes Jahr später, am 9. September 1978, eingeladen<br />

von Radio Niederösterreich zu einem „Dichterwettstreit“.<br />

Ausstellung gab es damals meiner Erinnerung nach keine,<br />

schon gar nicht eine über die 70er – statt in die Gegenwart<br />

schaute man offenbar lieber zurück ins Mittelalter, mit<br />

entsprechend kostümiertem Personal und einem ganzen<br />

Ochsen am Spieß im Arkadenhof. Zum „Dichterwettstreit“<br />

habe ich zwei Fotos gefunden: Das eine zeigt (v. l.) die Juroren<br />

Hans Heinz Hahnl, Rudolf Henz, Hans Weigel, Johannes<br />

Twaroch und rechts mich, gerade lesend; auf dem anderen<br />

sitze ich mit den Kollegen (v. l.) Helmut Peschina, Nils<br />

Jensen und Wilhelm Pellert an einem Tisch im Arkadenhof<br />

(geknipst hat mein mitgereister Bruder).<br />

©Nils Jensen<br />

Bericht


42 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Claudia Kohlus<br />

es war eine trughummel die in mir platz nahm und eine<br />

fahne schwang schneeweiß tunkte sie ihre fühler in meinen<br />

leib wir lachten über die wetterwechsel (oder waren<br />

es stimmungen?) jedenfalls sonntags gaben wir uns den<br />

sahnepegel und warfen ein auge auf die weitere auslage<br />

die roten backen waren äpfel nirgends lungerte der wolf<br />

selbst großmutter trug siebenmeilenstiefel und fühlte sich<br />

erhaben mittlerweile schlug sie nur noch ihre kissen mit<br />

der handkante<br />

es waren zerstörte prinzen sie marschierten im kreis die<br />

hände an der hosennaht als wüssten sie etwas vom krieg<br />

(den sie doch nur vom hörensagen kannten) und niemand<br />

von ihnen träumte er ginge aus dem zirkel barfuß übers<br />

gelbe feld (die hosenbeine hochgekrempelt im mundwinkel<br />

eine ähre des protests)<br />

und plötzlich hängt es von der dosierung ab wie sich der<br />

tag anfühlt wie rasend sich alles durch die körperbahnen<br />

zieht oder sich hinter den eingeweiden zur ruhe legt damit<br />

keiner etwas merkt weil keiner etwas merken soll nur ab<br />

und zu hebt hier ein pillenclown seinen kopf und balanciert<br />

auf zittrigen nervenseilen auf denen wir verkrampft versuchen<br />

alles zu ignorieren was sich unterschwellig in unsere<br />

welten tanzt wir wünschten wir hätten allen schon längst<br />

das du entzogen und diese tänze hätten ein ende denn<br />

dann könnten wir stattdessen ins dunkel schlüpfen und<br />

hüpfen (am liebsten vom eiffelturm mit flügeln so groß wie<br />

fußballfelder auf denen man nicht tanzen sondern rennen<br />

soll so schnell) so schnell hat der pillenclown im neontreiben<br />

seine beine verloren seine arme und unseren verstand<br />

wir ahnten es und wissen um dieses abkommen denn<br />

schon am nächsten morgen stecken wir uns eine neue fata<br />

morgana in den mund<br />

da war etwas in jenem sommer das wir nicht zusammenzählen<br />

mussten das nicht im minus stand oder einen gemeinsamen<br />

nenner suchte wir fragten großmutter wohin<br />

der sommer ginge und ob er einen namen trüge sie nannte<br />

ihn glück und erzählte er hinge in bäumen und an uns selbst<br />

wenn wir auf dem sofa saßen wagten wir nicht den dingen<br />

auf den grund zu gehen stattdessen saßen wdort und<br />

knabberten am schweigen wie an mürben keksen (güterzüge<br />

mit gedankenschrott rasten durch unsere schädel) wann<br />

eigentlich begannen wir an unserem zusammensein zu<br />

kränkeln und wann hatten wir (zwei ausgestopfte paradekissen<br />

umgeben von dieser totenstille) uns gar nicht mehr<br />

bemerkt auf diesem sofa sitzend tranken wir den kaffee in<br />

kleinen schlucken und blickten zum fenster hinaus welch<br />

glück ein kuckuck kam stündlich zu besuch<br />

Claudia Kohlus<br />

Geb. 1972 in West-Berlin, lebt in Salzburg. Zahlreiche Veröffentlichungen<br />

in Literaturzeitschriften und Anthologien. 2010<br />

erschien ihr Gedichtband blumenmob in der Reihe Lesehefte<br />

bei Fixpoetry. 2015 märchenstundung in der Reihe Weiße<br />

Hefte bei Edition Schultz & Stellmacher.<br />

©Birgit&Peter Kainz Kai_Human_Flug2009_29


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

43<br />

Isabella Krainer<br />

Katzensilber<br />

Fotoalben hatten wir nie. So eine Familie sind wir nicht.<br />

Sollte es allerdings einen Stoff geben, ein Element, das in<br />

der Lage ist, etwas zusammenzuhalten, von dem man gar<br />

nicht ahnt, dass es überhaupt da ist, besteht es wohl aus<br />

jenen Momenten, die Zahnreihen aufblitzen lassen. Lustig<br />

ist es bei uns trotzdem nicht. Eher klassisch. Wenn wir<br />

genug davon haben, uns einander zu verdienen und nicht<br />

mehr auskommen, mit dem, was wir sind, schnappen wir<br />

nach dem Außenfeind. Und warum auch nicht. Wir sind die<br />

Mittelschicht. Wir sind bedroht.<br />

Mein Name ist übrigens Felix. Ich bin fünfzehn Jahre alt,<br />

wohne am Arsch der Welt und obwohl ich noch nie umgezogen<br />

bin, lebe ich neuerdings in einer dieser Großgemeinden.<br />

Wenn mich die Schulpsychologin fragt, ob ich<br />

habe, was ich brauche, lehne ich mich zurück und schaue<br />

ihr so lange ins Gesicht, bis sie rot wird. Funktioniert immer.<br />

Akne. Ist mir trotzdem langweilig, senke ich einfach<br />

den Blick und fingere unbeholfen an meinem Kapuzenpulli<br />

herum. Sie hält mich für ambivalent.<br />

Die nervöse Englischlehrerin, also die, die mit Sicherheit<br />

dafür bezahlt wird, unser „Aufmerksamkeitsdefizit“ durch<br />

in die Luft gezeichnete Anführungsstriche zu „kompensieren“,<br />

nennt die Gemeindezusammenlegung übrigens<br />

„Ka-Ching!“. Das Rufzeichen habe ich mir selbst dazu gedacht.<br />

Mit Pop hat das aber nichts zu tun. Pop ist unter<br />

meiner Würde. Apropos, seit wir im Englischunterricht über<br />

„urban legends“ gesprochen haben, hält sich das Gerücht<br />

über diesen Landjugendtrottel, also den, der angeblich ein<br />

„Statement“ gegen die Gemeindezusammenlegung gesetzt<br />

haben soll, in Wahrheit aber nur zu blau war, um die neue<br />

Ortstafel nicht umzunieten, recht hartnäckig. Hätte er es<br />

nicht getan, würde meine Oma sicher wieder „Verrat“ brüllen.<br />

Tja. Seit das leerstehende Kurhaus im Nachbardorf als<br />

Flüchtlingsunterkunft herhalten muss, hat sie eben Angst.<br />

Überfremdung und so. Ansonsten gibt es nicht viel zu<br />

erzählen. Außer vielleicht, dass ich mich insgeheim Felix<br />

nenne und im Unterschied zur Englischlehrerin immer noch<br />

flach bin, wie ein Brett.<br />

Ich heiße übrigens Felizitas. Der Rest stimmt. Meine Oma,<br />

die wohl der Meinung ist, dass ich langsam ins heiratsfähige<br />

Alter komme, hat mir gestern geraten, meine zu klein geratenen<br />

Titten mit Hühnerdreck einzuschmieren. Idiotisch.<br />

Hätte die Schulpsychologin noch Platz in ihren zeitlich, örtlich<br />

und situativ desorientierten Schubladen, würde meine<br />

Oma vielleicht auch wieder Anschluss finden. Ich meine,<br />

ihre BDM-Sprüche sind ja ganz witzig. Habe neulich einen<br />

davon auf Facebook gepostet. 103 Gefällt mir. Rekord! Nur<br />

gut, dass die Schulpsychologin nicht auf soziale Netzwerke<br />

steht. Ich glaube, die kann mit sowas nicht umgehen. Oder<br />

sie will nicht, dass sich irgendwer gezwungen fühlt, ihre Aknenarben<br />

zu liken. Wobei, mit dem richtigen Posting dazu,<br />

könnte sogar das funktionieren. Innere Schönheit und<br />

so. Seit ein paar Wochen, soll die jetzt auch noch bei den<br />

Flüchtlingen arbeiten. Verständigt sich dort wahrscheinlich<br />

mit Händen und Füßen. Oder auf Englisch. „Ka-Ching!“.<br />

Wenn ich meine Oma im Heim besuche, schauen wir uns<br />

immer Videos an. Youtube. Kann sie nicht aussprechen,<br />

das Wort. Jedenfalls sehen wir uns immer diese Familienstories<br />

an, also die, die von Playmobilfiguren gespielt<br />

werden. Familie Hauser bekommt eine Katze, gefällt ihr<br />

am Besten. Wenn der Vater sagt, dass sie jetzt als erstes<br />

ein Katzenklo herrichten, muss meine Oma immer lachen.<br />

Dass mir die fleischfarbenen Playmobilkinder irgendwie unheimlich<br />

sind, findet sie auch lustig. Und obwohl ich mich<br />

schon frage, wer auf die Idee kommt, sein eigenes Kind so<br />

einen Scheiß synchronisieren zu lassen, ertappe ich mich<br />

manchmal dabei, mein Leben mit Plastik tauschen zu wollen.<br />

Isabella Krainer<br />

Geb. 1974, in der Steiermark, lebt und arbeitet in Tirol & Vorarlberg.<br />

Abschluss des Studiums der Erziehungswissenschaften 2011. Studium<br />

der Europäischen Ethnologie seit 2016. Zahlreiche Publikationen<br />

in Magazinen, Zeitschriften und Onlinemedien, verfasst Lyrik,<br />

Prosa und journalistische Arbeiten. Beim Aphorismen-Wettbewerb<br />

2016, veranstaltet vom Förderverein DAphA (Deutsches Aphorismus-Archiv)<br />

Hattingen. www.isabellakrainer.com<br />

Prosa


44 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

©Birgit&Peter Kainz 2013_09_17_HUMANCarpet_01, 18, 26, 13-2


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

45<br />

Annemarie Andre<br />

U1 Südtiroler Platz/<br />

Hauptbahnhof<br />

Im Sommer sah meine Facebook-Timeline anders aus.<br />

Brot, Bananen, Schuhe, Decken zum Hauptbahnhof. Äpfel,<br />

Kekse, Trockenfrüchte zum Westbahnhof. Aufnahmestopp<br />

Kleidung. Eine Stunde später: Regen. Regenplanen überallhin.<br />

Ich habe nicht oft etwas hingebracht, manchmal unterwegs,<br />

denn beim Westbahnhof musste ich sowieso umsteigen.<br />

Einmal habe ich am Hauptbahnhof mitgeholfen. Heute<br />

bin ich nur hier, weil es Sonntag ist und ich nichts mehr<br />

zu Hause habe. Ich trage die Lebensmittel und das Klopapier<br />

zur Haltestelle. Wenn ich jetzt auf den O-Wagen warte,<br />

dann ohne das Gefühl in einem Schlafzimmer zu stehen.<br />

Im Sommer war der Bürgersteig ein großes Schlafzimmer.<br />

Ein Bürgersteig für Menschen, die hier keine Bürger werden<br />

sollen, die man nirgends einbürgern will.<br />

Als ich im Sommer da war, wo ich jetzt gemütlich auf die<br />

Bim warte, trugen wir alle Mundschutz. Die Stadträtin für<br />

Soziales war da und desinfizierte sich die Hände. Bald wurden<br />

uns allen die Hände desinfiziert. Es hieß, es kommen<br />

mehr Leute von Ungarn hoch, mit Magen-Darm Grippen,<br />

Unterkühlungen und Fäkalien an den Schuhen.<br />

Achtung es wird kälter. Männerschuhe und Decken zum<br />

Hauptbahnhof.<br />

Der O-Wagen kommt, ich steige ein, aber er zockelt nur<br />

ein bisschen nach vorne. Dorthin wo ich mit anderen Liegen<br />

desinfiziert habe. Beim Raustragen der Liegen gingen<br />

die Plastikteile auseinander und man musste sie draußen<br />

mit viel Kraft wieder zusammenstecken. Liegen desinfizieren,<br />

trocknen lassen, reintragen, eng aneinander stellen.<br />

Männer kamen mit ihren Frauen und Kindern zu uns. Nebenan<br />

gab es den einzigen Raum nur für Frauen. Meistens<br />

brachten wir die Frauen mit ihren Kindern zum Orga-Team.<br />

Private Duschgelegenheiten wurden organisiert. In der Zwischenzeit<br />

kamen die Männer mehrere Male und fragten<br />

nach ihrer Familie. Sie wollten nicht glauben, dass es tatsächlich<br />

so lang dauerte. Wir brauchten die Dolmetscher,<br />

um zu vermitteln, dass nichts passiert sei. Wir suchten.<br />

Wonach wussten wir nicht. Wir hatten den Überblick verloren.<br />

Eine Frau mit vier Kindern. Der Hauptbahnhof war<br />

voll von Frauen mit vier Kindern. Wir konnten nur warten<br />

und beruhigen.<br />

Niemand weinte. Es ist als hätte man ihnen gesagt: andri<br />

Zähnd zambeißen. Einige Männer beteten auf dem dreckigen<br />

Boden. Eine Frau wurde mir von einem anderen<br />

Freiwilligen in den Arm gedrückt mit der Bitte sie zum<br />

Frauenraum zu begleiten, denn sie hatte einen Verband am<br />

Fuß. Sie wollte Schlafplätze für sich und ihre Schwester.<br />

Ich sagte, ich reserviere zwei Liegen. Die Frau weinte. Wir<br />

gingen an den anderen Leuten auf dem Bürgersteig vorbei.<br />

Ich wusste nicht, was ich tun soll.<br />

Zugstopp nach Deutschland.<br />

Immer mehr Männer kamen mit ihrer Frau und den Töchtern.<br />

Aber der Raum für Frauen – eine Fahrradgarage ohne<br />

Fenster – war voll. Aufnahmestopp.<br />

Noch mehr Decken und Essen zum Hauptbahnhof.<br />

Meine zwei Liegen waren noch frei, aber ich sagte, es wäre<br />

voll. Der Schichtleiter meinte, wir könnten nicht ewig reservieren,<br />

wenn so viele Menschen ankämen.<br />

Der O-Wagen fährt ein Stück weiter und bleibt wieder stehen.<br />

Wenn ich mich umdrehe, kann ich den Hauptbahnhof<br />

noch sehen. Aber es ist kein Ort, wo beim Hinschauen sofort<br />

Erinnerungen wachwerden. Wenn ich an die Geräusche<br />

und an den Geruch denke, dann denke ich an den Ort. Aber<br />

dieser Ort sieht nicht aus wie der Hauptbahnhof.<br />

Die Straßenbahn holt ihr normales Tempo ein und fährt<br />

mich nach Hause.<br />

Kein Post mehr.<br />

Annemarie Andre<br />

Geb. 1994 in Waidhofen/Ybbs, lebt derzeit in Wien. Veröffentlichung<br />

in den Anthologien „Flügelschlag“ und „Bodenhaftung“ (Forum<br />

Land Literaturpreis). 3. Platz bei der LitArena VII der LitGes.<br />

Finaleinzug bei den Poetry Slam Meisterschaften 2015 als Team<br />

„Die Bahnhofspoeten“.<br />

Prosa


46 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Thomas Losch<br />

Wien bei Nacht 1978<br />

Clarissa verschwand.<br />

Da ich nicht alleine sein konnte, bastelte ich mir die 4 lebensgroßen<br />

Nachbarinnen. Aufgabe der Nachbarinnen war<br />

es, aus meinen vier Fenstern zu schauen. Allerdings nur im<br />

Sommer.<br />

Im Winter habe ich die Fenster geschlossen.<br />

Der einzige Satz, den diese Sprechpuppen sprechen können<br />

lautet: „ wo wolln’s denn hin?“<br />

Da die 4 Sprechpuppen den Satz immer gleichzeitig sprechen,<br />

ertönt die Frage im Chor.<br />

Die Folge ist, dass ich in der Nacht nicht schlafen kann. Alle<br />

fünf Minuten ertönt ziemlich laut die Frage: „ wo wolln’s<br />

denn hin?“<br />

Die Nachbarin gegenüber von mir starrt nun ihrerseits unentwegt<br />

aus dem Fenster.<br />

Sogar des Nachts, wenn ich aufs Clo gehe,<br />

sehe ich im Mondlicht das gespenstische Weiß ihrer Haare<br />

schimmern.<br />

Martin Piekar<br />

Schau nicht so. Ihr nackter<br />

Arsch. Morgenlicht.<br />

- zu Excursion into Philosophy, Edward Hopper, Öl auf Leinwand,<br />

1959<br />

Ein Buch als Spiegel des Liebenden?<br />

Ich hatte auch Nächte. Sie in meinem Schatten.<br />

Sind wir abgewandt<br />

Vor den Mond gerückt.<br />

Gräbst du die Philosophie um<br />

Nach dir? Willst du<br />

Ein Ejakulat der Wahrheit?<br />

Ein Buch. Ein Liebender. Einseitiger Schlaf.<br />

Frag dich bitte,<br />

Ob dir Sex reicht. Denn<br />

Auch der Sex<br />

Steht auf der Seite der Zukunft<br />

Exerzierst du oder exorzierst du ihn,<br />

Nun gut.<br />

Ihr Schlaf des Befriedens.<br />

Wärmebeladene Luft.<br />

Deine Raserei in Buchform.<br />

Reiche nach ihr,<br />

Man ist viel häufiger<br />

Beieinander als beisammen.<br />

Prosa/Lyrik<br />

Thomas Losch<br />

Geb. 1943 in Mumbai/Indien, wohin seine Mutter aus Berlin mit<br />

ihrem ersten jüdischen Mann geflohen war. Lebt seit seinem 6.<br />

Lebensjahr in Wien, 19<strong>64</strong> bis 1969 in Stockholm. Hier fing er zu<br />

schreiben an. Sein erster unveröffentlichter Roman behandelt<br />

das Thema des Fremdseins und die Ermordung der „Fremden”<br />

in den KZs des dritten Reichs, die noch immer ausschließlich als<br />

Juden, „Zigeuner” oder Homosexuelle bezeichnet werden, um<br />

einmal „a bissl” Abstand zu diesen „Leuten” zu schaffen. Die<br />

gehören mit solchen ausgrenzenden Benennungen also sowieso<br />

nicht zu „uns”. Verlust der Identität und Rückzug ins Private.<br />

Schließlich 2005 Veröffentlichung des vom Kulturamt der Stadt<br />

Wien geförderten Wien- Romans „Besucher einsamer Herzen”.<br />

Kein Schlaf.<br />

Die Zweifelhaft.<br />

Wirst keinen Rat finden.<br />

Erfinde bitte<br />

Eine eigene Sprache,<br />

Darin mit ihr.<br />

Ich bin unbegabt für solch<br />

Lange Rast.<br />

Ich schreibe Gedichte<br />

(vielleicht deshalb).


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

47<br />

Nicht wie eine Sanduhr, die<br />

man umdreht<br />

- zu: Die Metamorphose des Narziß, Salvador Dalí, Öl auf<br />

Leinwand, 1937<br />

Wie du dich aus deiner Zwiebelwurzel pellst<br />

Blute Blüte<br />

Im Fluss gespiegelt. Du gehst tiefer.<br />

Dich,<br />

In deiner Hand. In deinem Rücken<br />

Die Nackten, die Tänzer. Fernab.<br />

Und nur<br />

Der Sieger bleibt dem Schachbrett<br />

Erhalten. Allein. Wenn du<br />

Dich selber liebst, Kannst du<br />

Nicht siegen,<br />

Wärst ebenso Verlierer.<br />

Kelch in der Brandung deiner<br />

Psyche. Was brauchst du Menschen,<br />

Was Berge, was Spiele? Einen Spiegel<br />

Der Lust brauchst du;<br />

Schau nicht zu tief ins<br />

Flussbett.<br />

Ingrid Messing<br />

Was bleibt<br />

Er trug das Bild von sich vor sich her. Immer, zu jeder Zeit.<br />

Jeder versteht das, die kleine Tochter sollte immer das Bild<br />

vor Augen haben.<br />

Kleine Tochter wird große Tochter, rüttelt am Bild. Er trägt<br />

weiterhin, krampft die Hände fester um den Rahmen,<br />

schiebt es noch näher Richtung Tochter.<br />

Große Tochter will keine Tochter mehr sein. Er läuft mit<br />

dem Bild hinter ihr her.<br />

Wirf das Bild von dir weg, keucht Tochter.<br />

Welches Bild?, fragt er.<br />

Ich will dich in echt sehen, sagt Tochter.<br />

Hier, sagt er und hält das Bild vor ihre Nase. Tochter nimmt<br />

ihm das Bild ab, trägt es unter dem Arm zu sich nach Hause.<br />

Sie nimmt das kleine spitze Messer und kratzt an dem Firnis.<br />

Der ganze Arm rauf und runter tut weh, aber es gibt<br />

kein Halten mehr.<br />

Das Messer trägt ab, Schicht für Schicht, bis es kein Bild<br />

mehr gibt.<br />

Tochter geht zu ihm, um ihn wirklich zu sehen.<br />

Er ist nicht mehr da.<br />

Das Bild auch nicht.<br />

Der Rahmen ist noch da.<br />

Wo du Abgründe küssen lernst.<br />

War niemand sonst für dich<br />

Da?<br />

Die Zeit steht<br />

Still. Für dich.<br />

Deine Beziehung blüht stagnierend schön.<br />

Für Franzy<br />

Martin Piekar<br />

Geb.1990, Student der Philosophie und der Geschichte an der<br />

Goethe-Uni in Frankfurt am Main. 2012 Lyrikpreisträger beim 20.<br />

Open Mike. 2015 Preisträger des jungen Literaturforums Hessen-<br />

Thüringen und hr2-Literaturpreisträger. Sein erster Gedichtband<br />

„Bastard Echo“ erschien im Frühjahr 2014 im Verlagshaus Berlin.<br />

Ingrid Messing<br />

Geb.1949 in Metzlingen/Deutschland, pensionierte Lehrerin, lebt<br />

seit drei Jahren in Niederösterreich. Veröffentlichungen in verschiedenen<br />

Literaturzeitschriften und Anthologien. Treue Jour-fix<br />

Teilnehmerin der LitGes<br />

Lyrik/Prosa


48 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

©Birgit&Peter Kainz B_87607


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

49<br />

Andi Pianka<br />

Der Bilderrahmen<br />

im ursprung war der bilderrahmen. und der bilderrahmen war<br />

bei den hohepriestern. und die hohepriester bildeten den bilderrahmen.<br />

und als er, der bilderrahmen, fertig gebildet war,<br />

bildete er weitere bilderrahmen, die wiederum ihrerseits weitere<br />

bilderrahmen bildeten, denn es mußten viele bilderrahmen<br />

gebildet werden, da jedes gemalte bild einen bilderrahmen benötigte,<br />

um vor zu viel freiheit geschützt zu werden. eines tages<br />

kam eine junge malerin in einen keller, in dem viele berahmte<br />

bilder hingen. dort traf sie auf andere junge maler, die gekommen<br />

waren, um sich an den an nägeln aufgehängten bildern zu<br />

ergötzen und, sich an diesen orientierend, selber neue bilder<br />

zu malen. die jungen maler vertieften sich bei dieser gelegenheit<br />

untereinander in tiefgründige gespräche, in denen sie sich<br />

gründlich über grundlegendes austauschten, das unergründete<br />

zu ergründen versuchten, das bereits ergründete zu begründen,<br />

die gleichnisse des vergänglichen aufzulösen, die ereignisse<br />

des unzulänglichen zu deuten, um schließlich auf das getane<br />

unbeschreibliche anzustoßen. es herrschte einigkeit darüber,<br />

daß man auf eben diese weise den sachen auf den grund gehen<br />

mußte, denn alle sachen bräuchten einen grund, genauso wie<br />

fässer ihre böden, und die bilder ihre bilderrahmen. so lehrten<br />

es seit urzeiten die weisen hohepriester. die junge malerin allerdings<br />

wollte diese weisen sichtweisen nicht teilen und so fehlte<br />

ihren bildern des öfteren ein bilderrahmen, denn sie wollte<br />

in ihre bilder mehr freiheit einfließen lassen, damit sie fließen<br />

können, die bilder, um am ende mit reichem vollem schwalle<br />

zu einem wilden ungezügelten meer zusammenzufließen. doch<br />

es gelang ihr nicht, die anderen jungen maler zu einem bade in<br />

ihrer nicht stromlinienförmigen strömung mitzureißen. sie stieß<br />

mit ihrem herunterstoßen wollen der rahmen in deren köpfen<br />

auf kopfschütteln und unverständnis, ihr anstoß wurde als zu<br />

anstößig empfunden, weil sie es wagte, die weisen weisen der<br />

weisen umzustoßen, und da sie sich von den jungen malern<br />

ausgestoßen fühlte,<br />

bevor die glut<br />

verließ sie<br />

in ihr erlosch,<br />

den keller,<br />

und ging ins zentrum ihrer leidenschaft<br />

zurück.<br />

sie bahnte sich ihren eigenen weg.<br />

Wie man dem Toten Hasen<br />

die Bilder erklärt...<br />

Was Sucht Ihr Den Lebenden Bei Den Toten? Bei Dem Totem?<br />

Bei dem totemtier? wie man dem toten hasen die bilder<br />

erklärt, wußten ja nicht mal die drei weisen aus dem<br />

morgenland, ja, sie wußten nicht einmal, daß sie als drei<br />

weise gleichzeitig auch sechs halbweise sind, denn das<br />

war der weisheit letzter schluß. und letzte schlüsse können<br />

auch mal nach hinten losgehen. dann gehen sie die laufbahn<br />

auch endlich im uhrzeigersinn ab, anstatt sie, wie die<br />

leichtathleten, immer gegen den uhrzeigersinn abzulaufen.<br />

wem bitte bringt das was? dadurch wird man auch nicht<br />

jünger und kann die letzte zeitumstellung auch nicht mehr<br />

rückgängig machen. wenn man die zeit dauernd umstellen<br />

würde, würden sich fuchs und hase eines tages nicht mehr<br />

gute nacht, sondern stattdessen auf einmal high noon<br />

sagen. und das würde einer der beiden dann wohl kaum<br />

überleben. da wird’s für einen der beiden das lied vom tod<br />

spielen. und wenn dann joseph beuys dem toten hasen die<br />

bilder erklärt, dann weiß man, daß reineke fuchs der überlebende<br />

dieses duells war. so einfach ist das. wäre ja noch<br />

schöner, wenn es zweifach wäre. dann wäre es nämlich<br />

ein doppelmord, was dem sinn eines duells widersprechen<br />

würde. denn wer wäre dann der sieger? wobei es der hase<br />

ohnehin sehr schwer hat, denn bevor er sich mit dem fuchs<br />

duellierte, lief er gegen den igel um die wette. auch da mußte<br />

er sterben. erinnert ja schon fast an kenny aus south<br />

park. dabei ist ja der hase das symbol von ostern, also der<br />

auferstehung. auferstanden aus ruinen und der zukunft zugewandt,<br />

laß uns dir zum guten dienen. denn es muß immer<br />

einen dienenden teil geben, damit es auch einen führenden<br />

teil gibt. also die führer und verführer und entführer. hauptsache,<br />

führer, dann gibt es auch den schein dazu. denn was<br />

ist schon das sein gegen den schein, also das sein gegen<br />

das haben? wir sind ja schließlich alle haberer von irgendwem<br />

und ganz sicher keine seierer. denn das würde sich<br />

wie reiherer anhören – und wer möchte schon reihern,<br />

wenn er auch kotzen, speiben, erbrechen und sich übergeben<br />

kann? da hat uns gott so viele möglichkeiten übergeben,<br />

unsere ansichten über die gesellschaft kundzutun, da<br />

kann man sich doch nicht nur auf eine einzige beschränken.<br />

beschränkt sind nur bahnübergänge – und auch da ist der<br />

übergang manchmal ein fließender, vor allem, wenn er ein<br />

aquädukt ist. denn was haben uns denn die römer gebracht?<br />

die sanitären einrichtungen, man muß sich ja schließlich<br />

Prosa


50 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Prosa/Lyrik<br />

einrichten, wenn man wo seßhaft werden möchte. außer<br />

auf der toilette, da ist man zwar seßhaft, aber da muß man<br />

jetzt nicht mit sack und pack einziehen. denn das wäre ein<br />

einziehungsauftrag und den müßte man als lastschrift auf<br />

einen lastesel verladen und das wäre tierquälerei. da doch<br />

lieber dem toten hasen die bilder erklären, denn da hat er<br />

wenigstens intellektuell etwas davon. aber gut, mittlerweile<br />

gibt es ja auch straßen, die haben uns die römer natürlich<br />

ebenfalls gebracht, da fällt dem esel so ein ritt von A<br />

nach B schon leichter. ist ja nur ein buchstabe abstand,<br />

das geht schon. ob im schritt, im trab oder im galopp, ist<br />

da einerlei, in der spanischen hofreitschule lernt der esel<br />

jeden schritt, auch den rücktritt. außer natürlich, wenn der<br />

esel ein politiker ist, da geht so ein rücktritt nicht, denn das<br />

wäre ein abgang. und abgehen, also hinabgehen, wird er<br />

nicht wollen, weil es in seinem keller zu dunkel ist. das sollen<br />

gefälligst die römer tun, schließlich haben sie uns den<br />

wein gebracht. das sollte man erwähnen, denn sonst heißt<br />

es wieder, es gäbe nur leichen im keller. nein, es gibt dort<br />

auch einen wein! sonst hätte ja jesus das letzte abendmahl<br />

nicht feiern können und hätte es auf den nächsten donnerstag<br />

verlegen müssen. unterdessen hätte er den wein<br />

importiert – und das wäre ihm so teuer gekommen, daß er<br />

die versandkosten auf alle seine zwölf gäste aufteilen hätte<br />

müssen. na, wie hätte das dann ausgesehen? einladung zur<br />

vortodesparty und die gäste müssen zahlen? da wäre nicht<br />

nur judas vorzeitig gegangen, sondern auch alle anderen.<br />

vermutlich zum gegen-event von den römern, denn die haben<br />

uns schließlich alles gebracht, sogar das schulwesen.<br />

und das ist doch wesentlich! da erzieht man die kinder zu<br />

braven und gehorsamen staatsbürgern. und das ist so, wie<br />

wenn man dem toten hasen die bilder erklärt. sehr lehrreich.<br />

denn nur ein leerer geist, der stets bejaht, ist ein<br />

geist, der stets das gute will und stets das böse schafft. so<br />

bildet ihr euch ein, ihr toten, die ihr euch für die lebenden<br />

hält, daß es für ein genügend genügt, dem toten hasen die<br />

bilder des toten hasen zu zeigen, dem man seinerseits die<br />

bilder des toten hasen erklärt hat...<br />

Andi Pianka<br />

Geb. 1978 in Katowice (Polen), lebt seit 1983 in Wien, schreibt<br />

seit 2001 vorwiegend Lyrik und Kurzprosa. Mit-Organisator von<br />

kulturellen Veranstaltungen für junge Menschen (›führdichauf‹<br />

seit 2005, ›lesereihe‹ in der Arena seit 2006). Teilnehmer an Poetry<br />

Slams;1. Preis des LitGes Slams 2016. Literarische Veröffentlichungen<br />

in Zeitschriften und Anthologien seit 2007.<br />

Richard Weihs<br />

Einbildung<br />

Es war einmal ein Bildträger,<br />

der trug ein trügerisches Bild<br />

tief in sich.<br />

Es war ein völlig falsches Bild,<br />

das er sich da gemacht hatte<br />

von sich selbst.<br />

Das Bild, es wurde immer schräger,<br />

sein Träger aber immer träger<br />

innerlich.<br />

Wegen dieser schweren Schwäche<br />

erschien er nicht mehr auf der Bildfläche<br />

und verschwand.<br />

Die Beule<br />

Wenn man in Wien wo demonstriert,<br />

kann’s sein, daß man geprügelt wird<br />

Mir ist’s vor’m Parlament passiert -<br />

dort wurde ich am Kopf blessiert<br />

Ein Kieberer mit seiner Keule<br />

schlug mir eine Riesenbeule,<br />

worauf ich ganz benommen lehne<br />

zu Füßen der Pallas Athene<br />

Hoch über mir auf einer Säule<br />

saß eine weise Wiener Eule<br />

Sie musterte mich int’tressiert<br />

und sprach zu mir dann sehr versiert:<br />

„Woat nua a klane Wäule,<br />

nochhea geht die Beule beule!“<br />

Die Eule hat sich nicht geirrt:<br />

Bald drauf ist die Beule beulisiert!<br />

Die schwarze Warze<br />

Eines Morgens vor dem Spiegel<br />

krieg ich einen Riesenschreck:<br />

Am Ohr wächst mir ein böser Nigl


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

51<br />

und den krieg’ ich nicht mehr weg!<br />

Ob ich quetsche, ob ich quarze,<br />

ob ich mit der Grille parze -<br />

ständig wächst die schwarze Warze...<br />

Auf der Straße, im Kaffeehaus<br />

schau’n die Leut’ mich seltsam an:<br />

Gar kein Wunder, denn ich seh’ aus,<br />

als wüchse mir ein halber Walk-Man!<br />

Ob ich knurre, ob ich knarrze,<br />

ob ich mir die Zisse narze -<br />

ständig wächst die schwarze Warze...<br />

Ich konsultierte viele Ärzte,<br />

alle war’n sie sehr verdutzt<br />

Obwohl mich manche Kur sehr schmerzte,<br />

keine hat etwas genutzt<br />

Ob ich hackte, ob ich harzte,<br />

ob ich mich jetzt selbst verarzte -<br />

es wächst und wächst die schwarze Warze...<br />

Ich seh noch einen letzten Ausweg<br />

und heure einen Killer an<br />

Gerade geh’ ich von zuhaus’ weg,<br />

da legt der Dillo auf mich an<br />

Doch wie mir plötzlich klar war,<br />

was ich für ein Narr war,<br />

schrei ich: „Halt! Das ist doch eine Farce!“<br />

Doch da trifft er schon in’s Schwarze...<br />

Überdosis<br />

Überfressen unter Geiern<br />

durch die Wüste taumeln<br />

Angesoffen an den Eiern<br />

überm Abgrund baumeln<br />

Schwitzend stier nach vorne starrend<br />

des Stieres spitzen Hornes harrend<br />

Fürwahr – dies sind prekäre Lagen<br />

und ausgesprochen schwere Plagen!<br />

Doch was ist das alles im Vergleich<br />

zu einer Überdosis Österreich!<br />

Höhnst über alles neue Schöne<br />

Krönst Kretins durch höchste Löhne<br />

Frönst erst ständig tiefster Blödheit<br />

Stöhnst dann wendig wegen Ödheit<br />

Du bist Europas schönste Leich:<br />

Voll verlog’nes Österreich!<br />

Was Besseres<br />

Aber natürlich sind wir etwas Besseres<br />

auch wenn wir ein wenig über unsere Verhältnisse leben<br />

Wir haben uns haushoch erhoben<br />

über die dunklen Kellergewölbe unserer Ängste<br />

Wir schreiten stolz und unnahbar vorbei<br />

an der Hausmeisterwohnung der Kleinbürgerlichkeit<br />

Wir blicken verächtlich hinab<br />

auf die Belletage des schnöden Materialismus<br />

Wir stehen fest auf dem Boden unserer intellektuellen<br />

Realitäten<br />

und den geistigen Plafond der unter unserem Niveau<br />

Angesiedelten<br />

treten wir genüsslich mit Füßen<br />

Natürlich wird uns manchmal schmerzlich bewusst,<br />

dass auch über unseren Köpfen noch Höhere zu Gange<br />

sind<br />

aber immerhin halten wir uns doch auf respektablem Level<br />

zumindest solange wir nicht den Boden unter den Füßen<br />

verlieren<br />

und das Dach über dem Kopf<br />

Eine österreichische Karriere<br />

Zuerst: Made in Austria<br />

Dann: Engerling für Europa<br />

Jetzt: Wurm von Welt<br />

Genährt von Lurch und Rauch,<br />

Versteckt hinterm Urinstein funkeln salzige Kristalle<br />

Zum Klang von Löffeln und Schalen,<br />

Wenn der Dampf der Kaffeemaschine wieder mit voller<br />

Kraft<br />

Die Zukunft weiter in die Ferne schiebt.<br />

Heimat bist du großer Töne<br />

Heimat bist du großer Töne,<br />

rühmst dich gerne großer Söhne<br />

Richard Weihs<br />

Geb. 1956 in Wels. Autor, Musiker und Kabarettist. Beschäftigt<br />

sich mit den Abgründigkeiten des Wienerischen, hat zahlreiche<br />

Lieder und Gedichte im Wiener Dialekt verfasst.<br />

Lyrik


52 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Manfred Pricha<br />

verfilmte verfremdung<br />

die gegenwart wird fließend exzessiv verfilmt<br />

während die erinnerung regelmäßig verblaßt<br />

implodiert in der leere für selbstbegegnung<br />

bilder die sich mehr zu null als eins neigen<br />

den stand der dinge zu schnell gemacht<br />

in der flüchtigkeit verbrannt zu asche verflacht<br />

verschluckt sich die zeit an ihrer bedeutung<br />

selbst festgehalten verliert sie an erlebniswert<br />

ein schlund in dem der rausch der ereignisse<br />

verschwindet in der fehlenden lebenskunst<br />

überlagert die hektik die muße zum original<br />

in der bilanz von doppelgängern verfremdet<br />

hinter dem vorbild<br />

ein vorbild<br />

muß hergezeigt werden<br />

prominent darstellbar<br />

mit fleiß gewebt<br />

einfache retter<br />

sind schnell vergessen<br />

im nachhaltigen<br />

liegt das heldentum<br />

die ikone<br />

von allen ein grauer star<br />

verdirbt nicht<br />

die leuchtende imagination<br />

im übergang<br />

der aussparungen<br />

wie im verschluß der offenen kamera<br />

einen augenblick die zeit vergessen<br />

die blendung des lebens ausschalten<br />

der kunsttod als lautloser krampfschrei<br />

prustet schemen im entwicklungsbad<br />

entwertete schlangenlinien verschliert<br />

das sprunghafte erlebt den neustart<br />

vom absturz des farbbands getrieben<br />

flecken im fenster der zeit schneiden<br />

aus sich den schleichenden übergang<br />

unvorhergesehen<br />

im rückwärtsgang<br />

im rückwärtsgang des films<br />

werden tote zum leben erweckt<br />

seilen sie sich aus dem meer an land<br />

fliegen vom tal auf den gipfel<br />

das zerknüllte entblättert sich<br />

das verschüttete entrümpelt sich<br />

das eingestürzte baut sich wieder auf<br />

mit einem klick laufender bilder<br />

windet sich die realität ins gestern<br />

wird unbekanntes zurückerinnert<br />

bis die ursachen ins blickfeld kommen<br />

ungeschnitten wie im richtigen leben<br />

hinter dem vorbild<br />

ein vorbild<br />

muß hergezeigt werden<br />

prominent darstellbar<br />

mit fleiß gewebt<br />

einfache retter<br />

sind schnell vergessen<br />

im nachhaltigen<br />

liegt das heldentum<br />

die ikone<br />

von allen ein grauer star<br />

verdirbt nicht<br />

die leuchtende imagination<br />

betrachtung<br />

Lyrik<br />

im schluckauf verschließender atmung<br />

aussetzer der bildfolge bemächtigt<br />

als ob ich jeden tag<br />

in den spiegel schaue


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

53<br />

will ich mich gar nicht<br />

sehen so gegenüber<br />

mein suchbild von mir<br />

ein image unbearbeitet<br />

nicht gemeißelt in stein<br />

die statue zum vergessen<br />

trete ich auf der stelle<br />

ohne gesichtsverlust<br />

vom doppelten trunken<br />

finde ich nichts an mir<br />

anno dazumal<br />

Bildstörung<br />

Um sich ein Bild zu machen<br />

von der Störung der Wahrnehmung<br />

legte er die Kamera an<br />

drückte auf den Auslöser<br />

Auf dem Display erschien eine schwarze Fläche<br />

wie ein Gemälde von Mark Rothko<br />

in verkleinerter Form<br />

Er versuchte es noch mal und noch mal<br />

kam immer wieder zum selben Ergebnis<br />

Seine Augen sahen nichts anderes<br />

was er sich schon ausgemalt hatte<br />

herrliche urlaubsfotos<br />

mit der neuen kamera geschossen<br />

berg und tal meer und strand<br />

ein glückliches paar unter der sonne<br />

beneidet von den daheimgebliebenen<br />

und den reizvollen kindern damals<br />

heute beäugen sie neue geräte<br />

kleben die minikameras zu<br />

jeder für sich mit dem zweifel<br />

wer noch einblick auf sie wirft heimlich<br />

von außen ferngesteuert<br />

zeig mal was du auf der haut trägst<br />

fahndungsdouble<br />

phantombilder<br />

wie gerädert<br />

nach einer langen autobahnfahrt<br />

die rücklichter nur noch im blick<br />

erfundener virtualität<br />

bei geschlossenen augen rot irrend<br />

ein teufelskreis der laufenden phantombilder<br />

tanz zu dunkler entzückung<br />

einfach weiterfahren<br />

in viraler bewertung<br />

der zuckenden blitze im sekundentakt<br />

der schlaf am nahenden ende<br />

schaltet das licht aus<br />

du bist nicht der auf dem bild<br />

das sie sich von dir machen<br />

landauf landab in echtzeit fotografiert<br />

bist du das original nicht die fälschung dein<br />

doppelgänger auf der festplatte<br />

der sich nicht um sein image schert<br />

verfolgt dich mehr als du glaubst<br />

während du dich offen verschenkst<br />

auf den ersten blick nicht verliebt<br />

lieben sie es unter deine zweite haut<br />

zu schlüpfen und sich einzunisten<br />

wie ein ei dem anderen als zwillingspaar<br />

sie stellen dich aus dem netz frei<br />

und schneiden dich ein gekreist<br />

Manfred Pricha<br />

Geb. 1954 in Altötting (D), Studium der Wirtschafts- und<br />

Geschichtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum.<br />

Autor, Wissenschaftlicher Dokumentar und Historiker,<br />

lebt und arbeitet in Bochum, schreibt Lyrik und Prosa.<br />

Lyrik


54 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

HansPeter Ausserhofer<br />

Im Café Wortspiel<br />

„Glaub mir HP, ein Bild sagt mehr als 1000 Worte.“<br />

Ich sitze mit Ed im Café Wortspiel, und er versucht mir die Bildsprache<br />

zu erklären. Ed ist Fotograf, Maler und mein Freund.<br />

Ich bin HP, Literat und Poet.<br />

„ Sie sagen mehr als 1000 Worte? SagenHaft! Aber, wenn Bilder<br />

so gesprächig sind, warum schweigen mich dann so Bilder an?“<br />

„Die schweigen nicht HP, du hörst nur schlecht. Geh mal zum<br />

Augenarzt, der soll dir eine Hörbrille verschreiben.“<br />

„Ed? Ed, kann es sein, daß manche Bilder gar keine Stimme<br />

haben, weil vielleicht der Farbton nicht stimmt?“<br />

Er schweigt, und blättert in der Bild.<br />

„Die Bild soll einen neuen Investor haben.“, sag ich zu ihm, „<br />

einen schwerreichen Düngemittelhersteller. Ein gewisser Freiherr<br />

von Santo. In der Bild steckt mehr BilDUNG als man ahnt.“<br />

Ed schnuppert an der Zeitung, und legt sie beiseite, mit der<br />

Schlagzeile nach oben.<br />

Und mein Daumen zeigt nach unten. Die Boulevardpresse –<br />

mit den Schlagzeilen verprügeln sie ihre eigenen Berichte.<br />

Das Café Wortspiel liegt auf der Anhöhe des Bilderberges.<br />

Sanft erhebt er sich aus der Tiefebene der flachen Bildschirme.<br />

Der Bilderberg ist der Nabel der Bilderwelt, hier treffen sich die<br />

Bildgestalter und die Bildträger. Die Einen erschaffen Bilder, die<br />

Anderen tragen sie weiter.<br />

Architekten arbeiten an Stadtbildern, Landwirte an Landschaftsbildern,<br />

Bühnenbauer an Bühnenbildern, Power Pointer<br />

an Lichtbildern, Banken an Scheinbildern, Bodybilder an Trugbildern,<br />

Modeschöpfer an Spiegelbildern, Prediger verkünden<br />

Glaubensbilder, Musiker komponieren Klangbildern, Philosophen<br />

ersinnen Weltbilder, Vorbilder verkaufen Abziehbilder,<br />

Kriegstreiber und Feldherren erstellen Blutbilder, Mannsbilder<br />

verführen Weibsbilder, Kindsköpfe malen Sinnbilder, und das<br />

Sandmännchen Traumbilder.<br />

Bilder sind etwas Wunderbares, denn es gibt Dinge, die kann<br />

man nicht beschreiben.<br />

Aber es gibt auch Dinge, die sind unsichtbar.<br />

Prosa<br />

HansPeter Ausserhofer<br />

Geb. Ja! Wohnt und arbeitet: hier bei mir! Auszeichnungen? Null!<br />

©Birgit&Peter Kainz HUMAN_Cello-Kinsky_final


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

55<br />

Prosa


56 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Janus Zeitstein<br />

Dauer – Spuren<br />

Ihr, die Ihr nicht Untertanen einer Majestät!<br />

Ihr, die Ihr Gefolgsleute der Handybetreiber!<br />

Ihr, die Ihr Ritter der Energiekonzerne seid,<br />

die Ihr Strom freßt und in die Sterne schaut,<br />

Ihr, die Ihr freie Bürger zu sein glaubt;<br />

dunkle Gedanken begleiteten mich<br />

entlang schwach gezackter Spuren<br />

zu einer weißen Wellenlinie -<br />

in Stein geätzt.<br />

Geätzt in Stein.<br />

Exkarniert, bar allen Fleisches,<br />

fand sich dort ein Skelett aus Gedenken<br />

in den Felsen geschrieben,<br />

geschrieben in Fels<br />

ein menschliches Gesicht.<br />

Lyrik<br />

die Willkür und Staatsgewalt nie zu spüren meinen,<br />

Ihr Subjekte, Egos und Meineigenen,<br />

Euch widme ich diese Worte:<br />

Was anderes als eine beschriebene Schiefertafel<br />

ist das menschliche Hirn?<br />

Ewige Schichten von Ideen und Bildern,<br />

Gefühlen gleich einer Schneedecke,<br />

die immer wieder alles verhüllt und entschmilzt?<br />

Nichts, keine Erinnerung,<br />

kein Telefonat,<br />

keine e-mail<br />

wird jemals ausgelöscht sein,<br />

wird ewig sichtbar bleiben<br />

auf der scheinbar gelöschten Schiefertafel!<br />

Lamm, Kaminkehrer,<br />

Keim des Glücks, Dauerspuren,<br />

Beständigkeit!<br />

Gedacht<br />

In heller Mondnacht vor einem trüben Tag<br />

exhumierte ich die graue Erinnerung,<br />

schabte frei düsteres Andenken<br />

mit spitzem Meißel.<br />

Mit scharfer Klinge<br />

löste ich schmutzig-weiße Schuppen,<br />

Schuppen schmutzig und weiß!<br />

Aus der heiligen Vorstellung<br />

lösten sich freigebig Bilder,<br />

ein aufbauender Geist trat ins Zwielicht,<br />

im Zwielicht öffnete der Geist<br />

den Blick auf Wahrheit und Ordnung,<br />

in Ketten lagen Lüge und Chaos<br />

Chaos und Lüge in Ketten!<br />

Hinter meinem Verstand lief meine Zunge,<br />

lief dem Verstand hinterher,<br />

löste mit Worten die entfleischten Knochen vom Kiesel<br />

versuchte Verwichenes zurückzurufen.<br />

Zurückzurufen das Verwichene!<br />

Mir entfielen Fäustel und Eisen,<br />

die zornigen Zerstörer, angesichts des Enterdigten,<br />

was da aus tiefer Lage an die Oberfläche gebracht,<br />

aus tiefer Lage gebracht.<br />

Mir froren die Lippen, es erstarrte mein Blick,<br />

es verschlug meine Rede<br />

ob des einst Gedachten.<br />

Des einst Gedachten.<br />

Das linke Ohr war halb abgerissen,<br />

fast abgerissen das linke Ohr<br />

ich versuchte das Gespinst,<br />

diesen übelriechenden Gast, in den Busch zu jagen,<br />

in den Busch zu jagen diesen übelriechenden Gast.<br />

doch hatte es bereits von meinem Innern Besitz ergriffen,<br />

reichte über mein Rückgrat hinab bis in die Spitzen der<br />

Zehen,<br />

bis in die Zehen hinab.<br />

Schwamm in meinen Körperflüssigkeiten.


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

57<br />

Ich versuchte die Erinnerung hinauszurotzen,<br />

hinauszurotzen die Erinnerung,<br />

diese jahrtausendalte Beihilfe aller Geborenen<br />

aus dem Schädel zu schlagen,<br />

zu schlagen aus dem Kopf,<br />

mit der Unmöglichkeit des Beschreibens,<br />

mit dem Fehlen einer Idee, dem Verkennen fertig zu<br />

werden.<br />

Fertig zu werden mit dem Verkennen.<br />

Doch alle Empörung führte zurück<br />

zurück führte alle Empörung<br />

an den Ort der Geschichte,<br />

in meine Gedichte,<br />

in das Gedachte.<br />

Das Gedachte<br />

In meine Gedichte.<br />

Vollenden mit Kraft.<br />

Steigen ins Bild<br />

stellen Himmel dar.<br />

Wenn sie Verhältnisse erkennen<br />

verwirklichen sie kaum die Bewegung.<br />

Doch sie bezeichnen die Zeit<br />

Und bedingen Betrachtung.<br />

Was bewirken Macht<br />

Und Erreichen?<br />

Die Wirkung bereitet<br />

die Menschenwelt vor,<br />

auf das was ihr Hemmen<br />

dem Wesen verbirgt.<br />

In ein Bild gestiegen<br />

Schicksal und Mensch<br />

Gehen hinter Zeichen<br />

Wirken in zügigen Strichen<br />

die Ströme der Urkraft.<br />

Übertragen ihre Natur,<br />

Um zu zeigen die Schwäche<br />

die sie schauen als Eigenschaft.<br />

Janus Zeitstein<br />

Mitte der 50iger Jahr doppelwaagig geboren und nach der Geburt<br />

verwechselt. Humanisiert und romantisch verseucht<br />

an der Sill und vom Föhn. Ab Mitte der 70iger Jahre erste Lesungen<br />

zwischen mittelalterlichen Mauern und neuer Autobahn.<br />

Schule für Dichtung bei Anne Tardos und Ide Hintze. Seit 1990<br />

literarische Beiträge für diverse Druckmittel in und um Wien<br />

(u.a. DUM, etcetera, Morgenschtean) sowie graphische Beiträge<br />

für poetische Londoner Veröffentlichungen. Lesungen im Radio,<br />

Literaturhaus Wien, in Prag und St. Pölten und andernorts.<br />

Seit 25 Jahren lebhaft in Wien.<br />

©Birgit&Peter Kainz Humana Austria Kainz


58 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

Thomas Northoff<br />

Thomas Northoff<br />

Geb. 1947 in Wien. Lebt ebenda als Schriftsteller und Kulturwissenschaftler.<br />

Baut seit 1983 das "Österreichische Graffiti Archiv<br />

für Literatur, Kunst und Forschung" auf. Reflektiert in beiden<br />

Arbeitsbereichen sprachliche Tabuzonen und gesellschaftliche<br />

Grauslichkeiten. Mehrere Fotoausstellungen. Konzept und Organisation<br />

von internationalen WortGraffiti-Symposien (1992, 1993,<br />

1998) sowie von literarischen Veranstaltungen. Letzte Buchpublikationen:<br />

LUST.IG VERLIEREN (herbstpresse 2004). Graffiti. Die<br />

Sprache an den Wänden (Löcker 2005).<br />

Graffitis


BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

59<br />

Graffitis


60 BILDTRÄGER|Juni 2016 Vereinsleben<br />

Rückschau und Präsentation etcetera 63 Alles Theater<br />

©Fotos Doris Paweronschitz<br />

Als Hausherr begrüßte Museumsdirektor Mag. Thomas<br />

Pulle und SR Renate Gamsjäger das zahlreich gekommene<br />

Publikum, SR Ulrike Nesslinger und die beiden Redakteure<br />

Joh. Schmid & Eva Riebler-Übleis (siehe Foto).<br />

Nachdem Heftkünstler Walter Berger aus St. P./Wien im<br />

Gespräch vorgestellt worden war, las der aus Kärnten angereiste<br />

Autor Egyd Gstättner aus seinem nunmehr 9. oder<br />

10. Roman satirisch Entblätterndes über die Klagenfurter<br />

Errungenschaft – das Stadion. Diese Kärntner Silberschüssel<br />

und die österreichische Seele sind wiederum der<br />

Schauplatz des Absurden. Wie bereits die sprechenden<br />

Titel seiner Romane „Der Mensch kann nicht fliegen“, „Untergang<br />

des Morgenlandes“, „Absturz aus dem Himmel“,<br />

„Ein Endsommernachtsalbtraum“, „Das Geisterschiff“, „Am<br />

Fuß des Wörthersees“ 2014, (alle bei Picus) zeugen, ist der<br />

humorvolle Zynismus die Erzählspur.<br />

Die Unterhaltung war somit großartig auf feinem Niveau<br />

und wurde durch die z.T. selbst verbrochenen Lieder des<br />

Ehepaars B.U.G.L. = Beinahe Unter der Gürtel-Linie mit Gitarre<br />

und Gesang lebhaft unterstützt.<br />

Mit diesem Heft „etcetera“ <strong>64</strong> BiLDTRÄGER geht nun das<br />

30. Jahr, das die Literarische Gesellschaft mit dem Bestehen<br />

ihrer Zeitschrift feiert, zu Ende. Sie wurde als Nachfolgeprojekt<br />

der literarischen Publikation „das pult“ von<br />

Klaus Sandler und der Zeitschrift „Limes“ und „Edition<br />

Limes“ 1985/86 gegründet. Unter der Obfrau Dr. Doris<br />

Kloimstein (1998) und dem Team Mag. Susanne Helmreich,<br />

Renate Kienzl und Mag. Ernst Kienzl als Layouter wurde die<br />

großformatige Zeitschrift „literarisch kulturellen Magazin<br />

etcetera“ den St. Pöltnern vorgestellt. Dr. Doris Kloimstein<br />

verlieh den Präsentationen der jeweils aktuellen Ausgaben<br />

den Charakter von Events und baute ein Netzwerk von und<br />

für Literatinnen und Literaten auf. Regelmäßiger Treffpunkt<br />

für Literaturinteressierte, die Jour-fixe, die LitArena-Lounge<br />

mit dem 1. St.P. - und auch zeitgleich mit dem 1. Wiener<br />

- Poetry Slam wurden gegründet. Als Doris Kloimstein ab<br />

2003 aus beruflichen Gründen ausschied, wurde Mag. Eva<br />

Riebler als Germanistin nun Obfrau und arbeitete mit Vizeobmann<br />

Alfred Koch als Layouter bis 2005/06 zusammen.<br />

Seither kommt das Layout des nunmehr farbigen und<br />

auf meist 72 Seiten starken „etcetera“ Magazines aus der<br />

Hand von Gerhard Axmann. Der auf Anregung Thomas Havliks<br />

ins Leben gerufene LitArena Literaturwettbewerb für<br />

literarischen Nachwuchs, hat 2015 beim 7. LitArena-Heft<br />

Dipl. Soz. Ök. Cornelia Stahl übernommen. Den von Thomas<br />

Fröhlich initiierten Poetry Slam „LitArena LitGes Lounge“<br />

für unkonventionelle Literaturvermittlung übernahm<br />

bis 2014 Thomas Havlik und übergab nun an Andi Goreis.<br />

Ingrid Reichel war von 2004 bis 2013 nicht nur erfolgreiche<br />

Redakteurin, Rezensentin und Kassierin, sondern organisierte<br />

ab 2006 eine neue Litges-Homepage und Webauftritte<br />

im Online-Forum sowie den Newsletter, der seit dem<br />

Weggang von Theresia Punz als Kassierin (2013-2015) neu<br />

in den Händen von Karin Eibel geparkt ist.


Vereinsleben BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

61<br />

©Fotos Alfred Nagel<br />

Osterspaziergang der LitGes am Karsamstag 2016<br />

Der Osterspaziergang der literarischen Gesellschaft St. Pölten<br />

am Ostersamstag hat schon Tradition.<br />

2000 wurde er von der damaligen Obfrau Doris Kloimstein<br />

als Lese-Spaziergang entlang der Traisen ins Leben gerufen.<br />

Seit 2003 führt ihn Obfrau Eva Riebler im Kaiserwald mit<br />

Lesestationen und Eierpecken durch. Seit 2009 gings dann<br />

immer um den Viehofner See mit einem Picknick, wenn es<br />

das Wetter erlaubte oder gleich in die „Seedose“, wenn es<br />

regnete, kalt war oder schneite.<br />

Gelesen wurden oft Frühlingsgedichte; z.B. Fausts Osterspaziergang<br />

von Friedericke Mayer, Auferstehungstexte von<br />

Manfred Lagler oder früher welche von Alois Eder und nun<br />

von Eva Jancak mit St. Pölten Bezug, z.B. das „Sommer am<br />

Wasser“ oder die „Frequencygeschichte“ oder Aufmüpfiges<br />

oder Kompromitierendes von Ingrid Reichel.<br />

Das Publikum wechselt, Ruth Asböck und Robert Eglhofer<br />

sind verschwunden. Maria Seitz und Manfred Lagler, Gertraud<br />

Artner etc. immer noch dabei und neu kamen Ingrid<br />

Messing, Punz Theresia, Elfriede Starkl, Milena Zuser, Romana<br />

Maria Jäger, Erna Geiger (Fotos letzte Reihe v. l.n. r.).


62 BILDTRÄGER|Juni 2016 Vereinsleben<br />

16. Poetry Slam der LitGes in St.Pölten<br />

Der Poetry Slam ist so alt wie die Hauptstadt!<br />

Die LitGes war in St.Pölten seit dem Jahr 2000 federführend<br />

in Sachen Slam, gleichzeitig mit Wien und verteilte<br />

damals wie heute immer noch international anerkannte<br />

Slampunkte.<br />

Bis 2003 wurde er im Kellergewölbe des Kulturbeisls<br />

EGON von Thomas Havlik und Thomas Fröhlich abgehalten.<br />

Sieger waren unter anderem die 16-Jährige Vea Kaiser<br />

der Mari Award Schule, die heute mit ihrem Roman<br />

„Austropop“ bekannt ist oder die damals über 70-Jährige<br />

Schmid-Schmidsfelden aus Wilhelmsburg. Auch Jesica<br />

Am 14.4.2016 hielt die LitGes mit dem neuen Slammaster<br />

Andi aus Wien ihren Poetry Slam im Cinema ab.<br />

Gekommen waren der erfahrene Andi Pianka, der gleich<br />

in rhetorischer Schärfe den ersten Platz abräumte, ex<br />

equo am 2. Platz Simon Tomaz und Thomas, knapp dahinter<br />

D.Hannibal Deutsch, die alle auch schon im Vorjahr<br />

auf der Bühne des Cinemas standen.<br />

Jeweils zwei qualitativ äußerst spannende witzige – spritzige<br />

Texte wurden dem zahlreichen Publikum vorgestellt.<br />

Aus dem Publikum stammte auch die 6-köpfige vor ort<br />

gewählte Jury, deren Benotungen um den höchsten und<br />

v.l.n.r. 1. Platz Andi Pianka, Slammaster Andi, Eva Riebler-Übleis, Frau Deutsch, 2.Platz ex equo Simon Tomaz und Thomas.<br />

Lind, Milena Flashar und Cornelia Travnicek waren unter<br />

den Gewinnern. Als berühmte Slam-Einpeitscherin war<br />

in St.Pölten Mieze Medusa, die 2015 im Milena Verlag<br />

„Meine Fußpflegerin stellt Fragen an das Universum“<br />

herausgegeben hat, oder Tschif Windisch, der in Krems<br />

heuer den 7. Kremser Poetry Slam organisierte, von der<br />

LitGes geladen.<br />

niedrigsten Wert vermindert, jeweils zusammengerechnet<br />

wurden.<br />

Der Poetry Slam feiert heuer international sein 30ig jähriges<br />

Bestehen. Man kann ihn als literarischen Vortragswettbewerb<br />

bezeichnen. In Europa stehen im Durchschnitt<br />

5 Minuten Redezeit zur Verfügung. Bewertet wird nicht nur<br />

die Qualität des Textes sondern auch die des Vortrags.


Vereinsleben BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

63<br />

Es wird rhythmisch, schnell, laut bis schreiend und auf<br />

alle Fälle pointiert und das Publikum für sich einnehmend<br />

vorgetragen.<br />

Vielleicht könnte man ihn mit dem spät-mittelalterlichen<br />

Dichterwettstreit a`la Hans Sachs vergleichen, allerdings<br />

natürlich vollkommen frei in Gestik, Metrik, Strophe<br />

und Reim!<br />

Er kam aus Amerika zu uns, u. zwar aus Chicago. Vor<br />

allem beim jungen Publikum ist er sehr beliebt und wirkt<br />

rhetorisch motivierend und lehrt kreativ mit dem Material<br />

Sprache umzugehen.<br />

Die Besucherzahlen belaufen sich bis zu 15.000 z.B.<br />

beim German international Poetry Slam 2011 in Hamburg,<br />

davon alleine 8.000 beim Finale in der 02-Arena.<br />

Somit wurde der Poetry Slam zu einem international anerkannten<br />

Literaturgenre, aus dessen Szene so mancher<br />

Kabarettist (Paul Pizzeria, Didi Sommer, Bernie Wagner<br />

oder so manche Kabarettistin (Lisa Eckart) stammen.<br />

Auch die Gewinnerin des Bachmannpreises 2015 Nora<br />

Gomringer hat ihre Wurzeln nicht nur in der Sprachgewandtheit<br />

ihres Vaters, des Da-Da-isten Eugen Gomringers,<br />

sondern kommt aus der Poetry-Szene.<br />

Eva Riebler-Übleis


<strong>64</strong> BILDTRÄGER|Juni 2016 Rezensionen<br />

Renate Sattler:<br />

Risse im Gesicht.<br />

Lich/Hessen: Edition AV<br />

2016; 201 Seiten.<br />

ISBN: 978-3-86841-157-7<br />

Romana M. Jäger:<br />

Wasch mich, aber mach<br />

mich nicht nass!<br />

Yoga f. Unerleuchtete.<br />

Selbstverlag, 2014; 154 S.<br />

ISBN 978-3-9503929-0-6<br />

Gertraud Klemm:<br />

Muttergehäuse<br />

Wien: Kremayr & Scheriau,<br />

2016, 160 S.<br />

ISBN 978-3-218-01023-8<br />

Geheimnisse um Großvaters Grab. Jahrzehnte<br />

dauerndes Schweigen beeinflusst Marions Leben, Protagonistin<br />

in Renate Sattlers Buch „Risse im Gesicht“. In<br />

der Schule und zu Freunden darf sie nicht über Großvaters<br />

Grab sprechen, da seine Geschichte bis zum Ende<br />

der DDR ein Tabu berührt. Nachdem Marion in den 70er<br />

Jahren am Grab des Großvaters war, sucht sie es 2008<br />

noch einmal auf.<br />

Erzählt wird die Familiengeschichte dreier Generationen<br />

aus der Sicht der Marions. Aufgewachsen mit Mutter<br />

und Großmutter, erfährt sie von zurückliegenden Familienereignissen.<br />

In den Jahren verordneter Deutsch-<br />

Sowjetischer-Freundschaft, während der DDR-Zeit,<br />

blieben dunkle Seiten der Roten Armee ein Tabu. Ohne<br />

Grund wurden Männer im Mai 1945 in Kriegsgefangenenlager<br />

und schließlich in die Sowjetunion zum Wiederaufbau<br />

verschleppt. Ein Friedhof der Namenlosen,<br />

auf dem Großvater beerdigt wurde, darf nicht aufgelöst<br />

wurde. Zeitzeugengespräche bringen 2008 erstmals<br />

konkrete Hinweise zur Geschichte des Großvaters.<br />

Zeitzeugengespräche schließen Lücken: Spätestens an<br />

dieser Stelle vermischen sich im Roman Fiktion mit biographischen<br />

Daten der Autorin. Dank Unterstützung der<br />

Märkischen Oderzeitung und der Magdeburger Volksstimme<br />

konnten Zeitzeugen ausfindig gemacht werden.<br />

Mit ihren Erzählungen konnten sie Lücken im Lebenslauf<br />

des Großvaters schließen. Zahlreiche Schicksale der<br />

Verschleppung durch sowjetische Soldaten 1945 sind<br />

bis heute ungeklärt.<br />

Die Autorin hat wichtige Aufklärungsarbeit geleistet!<br />

Renate Sattler, geboren 1961 in Magdeburg, Studium<br />

Kulturwissenschaft, ist seit 2007 freiberufliche Autorin,<br />

seit 2011 Vorsitzende des Landesverbandes deutscher<br />

Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Sachsen-Anhalt.<br />

2010 erschien „Sandgemälde“, 2013 „Das Schweigen<br />

des Quetzals“. 2008 erhielt sie ein Stipendium der<br />

Kunststiftung Sachsen-Anhalt für ihr Buch „Risse im<br />

Gesicht“. Unbedingt lesen!<br />

Cornelia Stahl<br />

Bildcollagen und Tipps. Die Autorin hat nun in ihrer<br />

Funktion als Yogalehrerin, Lebensberaterin und Trainerin<br />

in St.P. ihre Tipps und Tricks in Buchform herausgegeben.<br />

Unernst, mit einem Augenzwinkern und doch sehr wirksam<br />

und konzentriert, sind ihre Ratschläge und Anweisungen.<br />

Es geht um die richtige Körperhaltung (Knochen<br />

nach unten, Fleisch nach oben…) nicht nur beim Yoga,<br />

sondern auch im Alltag. Sie selbst hat sich mit dem Wäschekorb<br />

oder - dem zweiten Lieblingsobjekt jeglicher<br />

Hausfrau, - der Kaffeetasse am Kopf vor dem Wäscheständer<br />

in richtiger Körperspannung abgebildet. Es geht<br />

ja um nichts Geringeres als die Bewältigung des Alltags.<br />

Vielleicht ist Zuckerbrot & Peitsche von Nöten. Dazu der<br />

Rat der Autorin: „… überlassen Sie dem Körper das Kommando.<br />

Machen Sie immer nur das Nötigste …“ S. 63.<br />

Alte Dinge soll man neu tun und raus aus der Bude, um<br />

neue Menschen zu treffen! Das Zirkeltraining ist recht<br />

und gut, aber wer will schon schwitzen! Da ist eher das<br />

richtige Hinsetzen, gerade nach unten, V-förmig zur Körpermitte<br />

und das Anfüllen von Pausen mit Gefühlen sowie<br />

Ressourcen, oder das richtige Atmen von oben nach<br />

ganz unten gefragt.<br />

Diese einfachen Dinge sind es, die wir dem Buch entnehmen<br />

können, um den Körper fit und ent- wie gespannt zu<br />

halten. Ihre selbst angefertigten Collagen, aus Zeitungen<br />

gerissen, geschnipselt, an- und übereinander gefügt,<br />

bringen Witz und eine Brise Hintergründiges mit sich.<br />

Genauso inspirierend sind die eingefügten Sprüche, z.B.<br />

„Gefühle sind gespeicherte reale Erlebnisse. Gedanken<br />

sind Interpretation“. – oder - Denken & Fühlen. „Trennen<br />

Sie Ihre Gefühle von den Gedanken! Fühlen Sie, ohne darüber<br />

(nach) zu denken!“<br />

Also greifen Sie (ohne darüber nachzudenken) zu diesem<br />

Buch, auch wenn Sie es nur einmal pro Tag willkürlich irgendwo<br />

kurz aufschlagen. Vielleicht erweckt Sie „Turnen<br />

bis zur Urne“ oder „Schmerz ist dein Meister“ und erkennen,<br />

Schmerz ist vermeidbar oder eben nötig!<br />

Ein wirklich brauchbares Ratgeber-Buch! Eva Riebler-Ü.<br />

Von Mutterrolle und Mutterbild. Nach der Innenschau<br />

in die weibliche Seele im sehr empfehlenswerten<br />

Roman „Aberland“ 2015 Kremayr & Scheriau, setzt Gertraud<br />

Klemm, 1971 in Wien geb., Brotberuf bis 2006<br />

Biologin und seither Autorin, nun diese Thematik fort.<br />

Genauso authentisch und ehrlich nimmt sie ihre eigenen<br />

Gedanken aufs Korn und verarbeitete und aktualisiert 40<br />

Abschnitte eines quasi Tagebuches aus 2010. Mitgedacht<br />

und eingebracht ist die jeweilige Reflexion in der und zur<br />

Gesellschaf. Oft sind es formulierte Träume, Ängste und<br />

das Berichten vom und über das Scheitern, die einem<br />

Leser, eher einer Leserin, den Rücken stärken oder wie<br />

ein hilfreicher Rat wirken. “Nicht jeder feministische Roman<br />

muss eine Heldin ausspucken“, meinte die Autorin<br />

treffend im Sonntagvormittags-Interview auf Ö1 am<br />

Muttertag.<br />

Dieser Röntgen-Blick auf die Unsicherheit einer jungen<br />

Frau punkto Kinderwunsch oder anstrengender Mutterschaft<br />

und somit auf die gängigen Meinungen der Society<br />

macht das Werk wirklich spannend!<br />

Warum die Mutterbürde 24 Stunden am Tag dauert und<br />

eine Geschlechterrolle ist, dass das Frauenbild in jeder<br />

Gesellschaft von der Religion diskreditiert und diffamiert<br />

wird, braucht die Autorin ja gar nicht polemisch hervorzuheben.<br />

Ihr Werk wirkt auch ohne Anklage in Form von Fragen:<br />

Ist es ein Versagen als junge Ehefrau kein Kind zu bekommen?<br />

Warum reden alle Freundinnen nur mehr über<br />

Pampers oder den ersten Milchzahn? Warum bekommt<br />

eine Freundin das dritte Kind, wenn sie doch beim ersten<br />

schon meinte - ihr größter Feind sei ihr Mann - ? Warum<br />

gibt es kein wirklich lesenswertes Buch über alternative<br />

Elternschaft? Muss ich mir das erst selber schreiben?<br />

– Ja! Genauso ist es, möchte man/frau der Autorin beipflichten,<br />

und ist nun glücklich und zufrieden, dass sie<br />

das in Angriff genommen hat!<br />

Ihre Reflexionen zwischen Kind – Frau – Mann sind genussvoll,<br />

ohne Vorwürfe und wirklich gelungen, federleicht<br />

und niveauvoll! Gratulation! Eva Riebler-Übleis


Rezensionen BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

65<br />

I. Breier & H. Pregesbauer (Hg):<br />

Wir sind Frauen. Wir sind viele.<br />

Wir haben die Schnauze voll.<br />

Wien: Edition fabrik.transit,<br />

2015, 116S.<br />

ISBN: 978-3-9504068-0-1<br />

K. Kumersberger & W.<br />

Vogel:<br />

Wunderland Korrekturrand<br />

Wien: Holzbaum<br />

2016, 62 S.<br />

ISBN 978-3-902980-41-0<br />

Friedemann Derschmidt:<br />

Sag Du es Deinem Kinde!<br />

Sachbuch<br />

Wien: Löcker Verlag<br />

2015, 336S.<br />

ISBN: 978-3-8540-97<strong>64</strong>-8<br />

Frauen der Zweiten Österreichischen Frauenbewegung<br />

ergreifen das Wort Platz da! Wir<br />

schleppen ein Schiff-Join & help us! lautete am 8.März<br />

2016 das Motto der Linzer Frauentagsdemo. Auch in Wien<br />

verschaffen sich jährlich Frauen mit öffentlichen Aktionen<br />

Gehör. 2015 lasen die Autorinnen Juliane Adler, Isabella<br />

Breier, Regina Hilber, Ilse Kilic, Beatrix Kramlowsky,<br />

Annett Krendlesberger, Helga Pregesbauer, Eva Schörkhuber,<br />

Gerda Sengstbratl und Eleonore Weber. Ihre Texte sind<br />

nun in der Anthologie Wir sind Frauen. Wir sind viele. Wir<br />

haben die Schnauze voll. gebündelt. Trotz ihrer Verschiedenheit<br />

haben sie eines gemeinsam: Sie drücken Unmut<br />

über prekäre Arbeitsbedingungen, ungleiche Bezahlung<br />

von Frauen bei gleicher Qualifikation und über die jahrhundertealte<br />

Tragfähigkeit von Männernetzwerken aus.<br />

In Österreich galt das Frauenwahlrecht erst ab 1918, in<br />

Manchester bereits 1866. Viele Frauenrechte verdanken<br />

wir damaligen Revolutionärinnen. Die Forderung nach<br />

finanzieller Gleichstellung bleibt heute, 150 Jahre später,<br />

aufrecht. Themen wie Ungleichbehandlung, Bedingungsloses<br />

Grundeinkommen, Kreativität und Wettbewerb<br />

spiegeln sich in den Texten der zehn Autorinnen wider.<br />

Ilse Kilic ergründet Ursachen der Ungleichbehandlung in<br />

ihrem Text „Soll man das Y verbrennen“. Ist der genetische<br />

Unterschied an allem schuld? Von Alltagsbeobachtungen<br />

und Solidarität untereinander erfahren wir in Juliane Adlers<br />

Texten. Eva Schörkhuber thematisiert in ihrem Roman<br />

„Quecksilbertage“ prekäre Arbeitsbedingungen. Beatrix<br />

Kramlovsky erzählt vom Ausbleiben der Liebe, und der Invasion<br />

der Wünsche, dem gleichnamigen Romanauszug.<br />

Annett Krendlesberger postuliert Bewegung statt „Ziellos“<br />

als Mittel zur Veränderung. Von der Notwendigkeit,<br />

etwas in Bewegung zu setzen, spricht Helga Pregesbauer<br />

im Nachwort.<br />

Frauenstimmen hörbar machen, bleibt als Forderung<br />

aufrecht, weltweit: von Nepal bis Vietnam, Eritrea bis zur<br />

Ukraine!<br />

Cornelia Stahl<br />

Kummer & Vogel. Ja, dieses Werk bereitet wirklichen<br />

Kummer! Ist es doch eine Sammlung von sprachlichen<br />

Pannen, die aus 30 Jahren Schulerfahrung stammen<br />

und der zweite Band nach der Stilblütensammlung<br />

2014 „Ein Geräusch klopft an die Tür“. Was Schüler so<br />

schreiben, ist meist kein „Hopala-Irrtum“, sondern lässt<br />

in ihr Innerstes blicken und stellt ihr Niveau klar und<br />

deutlich dar! Da brauchen wir keine Pisa-Studie mehr,<br />

um zu sehen, wie tief die Bildung gesunken ist. Dieses<br />

Werk macht es uns deutlich.<br />

Leider, muss man feststellen, dass die beiden Autoren<br />

wohl in der Oberstufe Deutsch unterrichten und diese<br />

bonnes mots sammeln, da sie beide Germanistik studiert<br />

haben; denn diese Sprach- und Schreibpannen<br />

würde ich gerne in die Unterstufe einordnen, da sie wirklich<br />

peinlich sind: Z.B. S. 49 Tommy gelangt aufgrund<br />

seiner Schläfrigkeit auf ein Auswanderungsschiff nach<br />

Amerika. Mit drei Pence in der Tasche erreicht er Sydney.<br />

– oder – Seine Identität bleibt bis zum Anfang hin ungeklärt<br />

… Natürlich geht es oft nicht um sprachliche<br />

Mängel, sondern auch um die Vorstellungskraft: Z.B. Sie<br />

fahren zu einer Schlucht, die über ein Flussbett führt. –<br />

oder komischer Weise wie die Texte oben beim Kapitel<br />

Literarischen Splitter & Scherben eingeordnet: Wo genau<br />

das Buch spielt, ist nicht wirklich bekannt, ich schätze<br />

aber in Preußen, weil es relativ nah an Rom liegt. – oder<br />

bei der Inhaltsangabe von Schillers „Räubern“: Am Ende<br />

endet alles in einem Drama!<br />

Ob es sinnvoll ist, solche Schülerzitate zum Schmunzeln<br />

zu sammeln und herauszugeben, oder dies beschämt<br />

zu beenden, um nicht den Bildungsnotstand ausrufen<br />

zu müssen, sei mit dem letzten Zitat dahingestellt: „Ernüchterndes<br />

Fazit einer Schülerin über Lessings Ringparabel:<br />

Ich persönlich finde, dass jeder an das glauben soll,<br />

woran er will. Und da mir die so genannte Ringparabel<br />

nicht mehr sagt, als dass sie wie ein mathematisches Paradoxon<br />

klingt, hat es nicht viel Sinn hier weiterzuschreiben.“<br />

In diesem Sinne!<br />

Eva Riebler-Übleis<br />

Vererbte Ideologien. Dass im dritten Reich die Eugenik<br />

(Erbgesundheitslehre) ein fester Bestandteil der<br />

Ideologie des Nationalsozialismus war, zeigte sich nicht<br />

nur in der Ermordung von millionen „rassisch minderwertiger“<br />

Menschen und Vernichtung „lebensunwerten<br />

Lebens“. Auch galt es, das, was als rassisch wertvoll<br />

angesehen wurde, entsprechend zu kultivieren. Der<br />

deutschen/österreichischen Familie und vor allem der<br />

Frau musste klar sein, dass sie durch eine kinderreiche<br />

Familie ihren Beitrag gegenüber der Volksgemeinschaft<br />

zu leisten hatte. Der österreichische Autor und Filmemacher<br />

Friedemann Derschmidt, Urenkel des bekannten<br />

Eugenikers Prof. Dr. Heinrich Reichel, geht in seinem<br />

Buch Sag Du es Deinem Kinde! Nationalsozialismus in der<br />

eigenen Familie der Frage nach, was jenseits der Gene<br />

noch vererbt wird.<br />

Als Grundlage hierfür begibt sich Derschmidt auf eine<br />

Reise durch die eigene Familiengeschichte. Doch Ziel ist<br />

es nicht, seine Vorfahren und Verwandten für ihr Mitwirken<br />

am Nationalsozialismus anzuklagen, sondern<br />

aufzuzeigen, wie Teile dieser Ideologie bis heute präsent<br />

sind und in abgewandelter Form weitergegeben<br />

werden.<br />

So findet sich selbst in der nächsten Generation neben<br />

dem Mitleid für die Opfer oft ein versteckter Täterstolz<br />

und das Gefühl, auch wenn die Ereignisse schrecklich<br />

waren, Teil von etwas Großem gewesen zu sein, das es<br />

familiär zu pflegen gilt.<br />

Als Gegenüberstellung und Ergänzung dienen vor allem<br />

die Beiträge des Autors Shimon Lev, der in seinen Arbeiten<br />

die Auswirkungen der Shoa auf seine Familiengeschichte<br />

thematisiert.<br />

Sag Du es Deinem Kinde! ist nicht nur für die Leserinnen<br />

und Leser eine Bereicherung, deren Eltern oder Großeltern<br />

selbst am Nationalsozialismus beteiligt waren,<br />

sonder auch für jene, die ein generelles Interesse an der<br />

Geschichte der Menschen in Österreich haben.<br />

Alexander Franz Artner


66 BILDTRÄGER|Juni 2016 Rezensionen<br />

Christian Katt:<br />

lebend.maske.<br />

Cut (2)!<br />

Graz: academic-publishers.<br />

2015, 340 S.<br />

ISBN: 978-3-901519-33-8<br />

Barbara Wolflingseder:<br />

Lust & Laster im alten Wien<br />

Sachbuch<br />

Wien: Pichler Verlag<br />

2015, 208S.<br />

ISBN: 978-3-8543-1708-1<br />

Synke Köhler:<br />

Kameraübung. Erzählungen<br />

Wien: Kremayr & Scheriau<br />

2016, 126 S.<br />

ISBN 9-783218-010245<br />

Bilderpoet und Beobachtungskünstler, Christian<br />

Katt, geboren 1960 in Wien, ist ähnlich wie Ludwig Laher,<br />

ein Meister der Beobachtung.<br />

In seinem 332 Seiten starken Buch lebend.maske. Cut<br />

(2)!, dem zweiten voninsgesamt drei Lyrikbänden, versammelt<br />

der Autor lyrische Texte, Bilder und Notate aus<br />

den Jahren 1987-2012.<br />

Von Begegnungen ist da die Rede, von Erfahrungen und<br />

Brüchigkeiten, die sich in der Sprache selbst spiegeln,<br />

im Gegenüber oder auf Reisen. Präzise Beobachtungsskizzen<br />

und Reflexionsmomente sind Ausgangspunkt<br />

für verdichtete Textminiaturen, wie zum Beispiel: „die<br />

leserin im zugabteil schweigt mir ins nichtgesprochene<br />

Wort“ (S.7) oder „nicht mehr in wärme sich zitternd/<br />

kein lidschluss gelingt ihm offenen auges“(S.80). Katts<br />

gesellschaftskrische Motive fördern Komposita zutage,<br />

wie „Konkurrenzvernichtungsvorbereitungsvoraussetzungen“,<br />

und „fließbandspekulationen in weltenräume<br />

verschossene vorgefertigte visionen“, lassen Konsumkritik<br />

nicht außen vor.<br />

Seine Arbeitsweise wirkt asketisch. Die Texte sind extrem<br />

verdichtet, auf das Wichtigste reduziert und pointiert.<br />

Das spürt der Leser in Gedichten, wie z.B. zeit abzutreten<br />

aber was/ doch ist da noch einiges ins reinere<br />

ungetrübtere zu bringen (…). Der Lyriker verwendet<br />

durchweg Kleinschreibung, rückt Wörter und Zeilen an<br />

ihren jeweils passenden Ort.<br />

2002 war der Autor Dozent an der Schule für Dichtung<br />

Wien ( www.sfd.at), betreute dort die online-Klasse.<br />

Christian Katts Sprachminiaturen lassen sich nicht mühelos<br />

konsumieren, erschließen sich durch genauer<br />

durch Zweit-oder Drittlektüre. Der skeptische Grundton<br />

der Gedichte lädt zum Verweilen ein und belohnt am<br />

Ende: „Unter dem alten baum schlagen wir neue wurzeln“.<br />

Eingefügte Bilder und Fotos ergänzen die Texte<br />

idealerweise. Ein Ausnahmekünstler!<br />

Sehr empfehlenswert!<br />

Cornelia Stahl<br />

Wien ist anders. Aber inwiefern? Was genau<br />

hat es mit der Stadt auf sich? Dass diese Fragen Radiojournalistin<br />

und Wien-Kennerin Barbara Wolfingseder<br />

schon seit längerem beschäftigen, wird klar, wirft man<br />

einen kurzen Blick auf die Bücher der Autorin. Dunkle<br />

Geschichten aus dem alten Wien, Wiener Taxigeschichten,<br />

aber auch verschiedene Hörspiele, in denen sie die Geschichte<br />

einzelner Wiener Bezirke veranschaulicht, sind<br />

von der Autorin erschienen.<br />

Der delikaten Frage des neugierigen Wien-Interessierten,<br />

wie es denn nun eigentlich um das Liebesleben<br />

in der österreichischen Weltmetropole bestellt war,<br />

widmet sich ihr neues Buch Lust & Laster im alten Wien.<br />

Epochenübergreifend wirft Wolfingseder einen Blick auf<br />

die sexuellen Kuriositäten und Sonderlichkeiten, die den<br />

Wienerinnen und Wienern eigen waren.<br />

So wird zum Beispiel von der mittelalterlichen Vorhautmystik<br />

berichtet, die sich mit der Frage nach dem Verbleib<br />

der hochheiligen Vorhaut Christi befasste. Als die<br />

Schilderungen einer jungen Nonne in Umlauf kamen,<br />

die von der tiefen Verzückung und Süßigkeit berichtete,<br />

die sie erfuhr, als ihr die Vorhaut des Erlösers erschien,<br />

beschloss die Kirche, dem Thema langsam einen Riegel<br />

vorzuschieben.<br />

Doch die Lust in Wien blühte vor allem in den Straßen<br />

und in einschlägigen Lokalen. Hier traf man auf Männer<br />

wie Giacomo Casanova, aber auch politische Größen wie<br />

Napoleon Bonaparte haben ihren festen Platz in der lasterhaften<br />

Geschichte Wiens.<br />

Sei es die Gründung der ersten Hippiekommune Wiens<br />

1893 durch Karl Wilhelm Diefenbach und die damit<br />

verbundenen sexuellen Ausschweifungen oder die<br />

berüchtigten Badeanstalten Wiens in denen Männern<br />

vom anderem Ufer ihren Leidenschaften frönten, Lust &<br />

Laster im alten Wien bietet dem Leser einen anderen und<br />

teils sehr humoristischen Blick auf die geschichtsträchtige<br />

Stadt und macht Lust aufs Lesen.<br />

Alexander Franz Artner<br />

Synke Köhler, geb. 1970 in Dresden, hat, nachdem sie<br />

für die erste Erzählung in diesem Band „Nachbild“ den<br />

Newcomer-Preis des Literaturwettbewerbs Wartholz<br />

nun ihr Prosadebüt vorgelegt.<br />

Alltagsmomente, Begegnungen und Befindlichkeiten<br />

sowie Gedanken der Protagonisten werden von ihr systematisch<br />

wie mit der Linse der Kamera festgehalten.<br />

Objektiv wie durch ein Objektiv ist ihre Erzählweise.<br />

Keine Deutungen oder philosophischen Hintergründe<br />

werden eingefügt – es ist, wie und was es ist!<br />

Und wenn es nur ein Angler, der ohne Angel in der kleinen<br />

Bucht sitzt, ist – oder ein gegenseitiges Verpassen<br />

von Mutter und Vater bei einer Bergtour mit den Kindern<br />

ist. Auch das Auftauchen und wieder Verschwinden<br />

eines hungrigen Fremden, oder eines kleinen Jungen<br />

kann das Hauptereignis einer Erzählung bilden.<br />

Auf alle Fälle wird realistisch, minutiös geschildert,<br />

was passiert, wobei meistens fast nichts passiert. Und<br />

darum geht es ja – die Aufmerksamkeit des Lesers wird<br />

durch die geringe Handlungsdichte gesteigert oder erst<br />

hervorgerufen. Er fühlt mit, er setzt sich in die Gedanken<br />

eines Anglers ohne Angel, eines Landstreichers oder<br />

kleinen Jungen, der sich stets als Außenseiter fühlt oder<br />

in die eines anderen Außenseiters, eines Inselbewohners,<br />

der im Tourismusgebiet vom Vermieten lebt und<br />

trotzdem das Meer zu hassen vorgibt.<br />

Kleine Gegensätze wie diese stehen als Thema da.<br />

Und das ist die Kunst, die Erzählkunst der Autorin, mit<br />

Beobachtung und einfacher lakonischer Umgangssprache<br />

Gefühle zu schildern und auszudrücken, mehr als<br />

die handelnden Personen selbst wahrnehmen. Oft ist<br />

die Sprache poetisch und leicht. Z.B. S. 80 „Ein Lächeln<br />

gleitet an den Balkonblumen entlang. Ihre Füße hinterlassen<br />

einen vorsichtigen Eindruck im frisch gefallenen<br />

Sommerlichschnee. Glitzern.“<br />

Ein Band mit unerwarteten Erzählungen, leisen Beobachtungen<br />

ohne Action oder Surrealismus und trotzdem<br />

sehr spannend!<br />

Eva Riebler-Übleis


Rezensionen BILDTRÄGER|Juni 2016<br />

67<br />

Klaus Kufeld:<br />

Das Singen der Schwäne.<br />

Über den Tod und das Glück.<br />

Wien: Edition Splitter.<br />

2015, 80 S.<br />

ISNB: 978-3-901190-21-6<br />

Wolfg. Kühn/HG<br />

Bilder Irena Rácek:<br />

Anthologie<br />

Mein Weinviertel<br />

St. Pölten: Literaturedition<br />

NÖ, 2016, 340 S.<br />

ISBN 978-3-902717-32-0<br />

Caspar Jenny:<br />

Der Waran. Roman<br />

Ludwigsburg:<br />

Killroy media Verlag,<br />

2015, 225 S.<br />

ISBN 978-3-931140-15-1<br />

Eine Hommage an das Leben. Was hat das Singen<br />

der Schwäne gemeinsam mit dem Tod? Diese Frage<br />

stellt sich vielleicht beim ersten Lesen. Im Schwanengesang<br />

ist vom letzten Gesang die Rede, den Schwäne<br />

vor ihrem eigentlichen Tod zelebrieren. Er steht<br />

stellvertretend für einen magischen oder auch Zwischenzustand,<br />

der ein Ende erahnen lässt. Ein letztes<br />

Aufbegehren drückt sich in ihm aus und ist zugleich<br />

ein Abschiednehmen von der Welt. Ähnlich im Bardo-<br />

Dialog des Tibetischen Buddhismus, der einen Zwischenzustand<br />

festhält, einen Zustand zwischen Leben<br />

und Tod.<br />

Klaus Kufeld hat Undenkbares möglichgemacht: Am<br />

Sterbebett seiner Mutter entwickelt er einen fiktiven<br />

Dialog mit der Verstorbenen, der versucht, die Grenzen<br />

des Schwebens zwischen dem noch-am-Leben-sein<br />

und dem Hinübergleiten in den Tod aufzuheben. Ein<br />

Schwebezustand sozusagen.<br />

Kufeld entlehnt Gedankengänge des Naturphilosophen<br />

Friedrich Wilhelm J. Schelling aus dem 18.Jahrhundert.<br />

Schelling erregte damals Aufsehen durch sein Werk<br />

„Von der Weltseele“, das vor allem Goethe begeisterte.<br />

Im Versuch einer Antwort auf das Verhältnis von Natur<br />

und Geist fragt Schelling nach dem Ich, das der denkende<br />

Mensch in sich wahrnimmt. Knüpfen wir an<br />

dieser Stelle an Kufelds Überlegungen aus dem Tibetanischen<br />

Totenbuch an: „Das Final ist noch im Flusse...<br />

und es gehört zu ihrer Entscheidung des Sterbens: dass<br />

zuvor noch unsere Gedankengänge wie Parallelen …<br />

sich treffen. … aber es gibt hier einen letzten Raum<br />

… wo … Tod und Glück anfangen (S.24).<br />

Klaus Kufeld, Autor, Essayist, Kulturmanager, seit 1997<br />

Gründungsdirektor des Ernst-Bloch-Zentrums Ludwigshafen/Deutschland,<br />

verfasste Bücher über das<br />

Reisen. „Das Singen der Schwäne“ ist eine Hommage<br />

an das Leben.<br />

Anspruchsvollen Lesern unbedingt empfohlen!<br />

Cornelia Stahl<br />

Bildträger Weinviertel. Viele tragen ein Bild, seien<br />

es Erinnerungs-, Sehnsuchts- oder Zustandsbilder, des<br />

Weinviertels in sich. Mit über 20 Autorentexten bestückte<br />

der HG Wolfg. Kühn nach dem Band Wald- und<br />

Mostviertel nun diese dritte Anthologie und wählte die<br />

Malerin Irena als Illustratorin aus. Sie übermalt mit in<br />

ihrem Atelier in Sitzendorf/Schmida selbst gemischten<br />

Erdfarben ihre Zeichnungen oder Monotypien. Als<br />

Motive zeigt sie stets heimische oder archaische Landschaften.<br />

Zur Gestaltung kann man ihr nur gratulieren!<br />

Der Band vereint viele Gedanken, so z.B. den von Gerhard<br />

Jaschke: Wann kann ich sagen MEIN Weinviertel?<br />

Dann, wenn Lieblingsorte, befreundete Menschen, Festivitäten,<br />

Berufe und Berufungen einen binden? Oderheißt<br />

die Welt, in und aus der ich schreibe, Weinviertel?<br />

Haimo L. Handl hingegen übertitelt: das Weinviertel<br />

wird MEINES und zeigt das Misstrauen der Einheimischen<br />

gegenüber Fremden = Gästen oder die Hemmschwelle<br />

auch seiten von Lehrern oder Schulen gegenüber<br />

Kultureinrichtungen = Verlag oder Bibliothek. Er<br />

beleuchtet die Kultur des Viertels und meint u.a. auch<br />

hier gibt es Schwätzer, aber viele Kunstverständige und<br />

begrüßenswerte Events, nicht nur Kellergassenfest und<br />

Vernissagen wie den Tag der offenen Ateliers des Landes<br />

NÖ. Seit 2008 gründete er den Bildungs- und Kulturverein<br />

mit dem Literaturverlag DRIESCH in Drösing, gibt die<br />

anspruchsvolle Zeitschrift für Literatur & Kultur „Drisch“<br />

heraus. Was hier wohl schwierig ist, ist die Ausdünnung,<br />

die Verstreutheit des potentiellen Publikums und<br />

das Einüben, dass alte Einrichtungen verständig genutzt<br />

werden, meint er. Die Autorin Silke Hassler hingegen<br />

berichtet über Unbill und nette Nachbarschaftshilfe bei<br />

der Restaurierung eines kleinen bäuerlichen Hofes im<br />

nördlichen Weinviertel. Regina Hilber beginnt bei der<br />

Schilderung des Duftes und …..<br />

Aber vertiefen sie sich selber in die jeweils völlig anders<br />

gearteten Plaudereien aus dem Weinviertel. Spannend<br />

und abwechslungsreich!<br />

E. Riebler-Übleis<br />

Ein grauenhaftes Familienbild und KZ-Lager-<br />

Szenario. „Wollen Sie das Buch kaufen? Es ist ein<br />

schrecklich“, sagte …. Und so ist es auch mit diesem Werk.<br />

Einfach schrecklich! Schrecklich gut!<br />

Es geht um den tödlichen Biss des Warans, der zu Beginn<br />

des Romans die alte Mutter ist. Sie ist die personifizierte<br />

Vernichtung, tötet zwei ihrer Töchter und vererbt diesen<br />

Tötungswillen an die dritte Tochter R. Deren Sohn Ran<br />

wird später der Rächer. Der brutale Bestseller Autor A.<br />

wird der Ehemann von R. und gemeinsam feiern die<br />

beiden ihre Vereinigung mit der Tötung ihrer Tochter,<br />

die noch in der Wiege liegt. S 172. Nichts mehr würde<br />

sich zwischen sie stellen. … Zum ersten Male hatte A. die<br />

Freiheit erlebt, als er Flüchtlinge erschossen hatte … Der<br />

Autor A. hat dem blutrünstigen, berüchtigten SS- Lagerarzt<br />

Dr. Jos, der einen Waran und einen Gehilfen aus den<br />

Sümpfen beschäftigt und mit Menschen füttert, ein Opfer<br />

versprochen. Und dieses Opfer soll nun sein Stiefsohn Ran<br />

sein. Dieser findet jedoch Kraft sich zu widersetzen durch<br />

den Willen seine ermordete kleine Schwester zu rächen<br />

und durch die Ruhe am wilden, ungepflegten Friedhof<br />

der armen im Lager getöteten Seelen.<br />

Die vielen Schrecklichkeiten, z.B. die Tötung eigener<br />

Kinder, die brutalen Vorgänge in den Zellen und Folterkammern<br />

des Kriegslagers sind dermaßen sprachlich<br />

untermauert, dass man die Grässlichkeiten nicht um des<br />

Schauerns willen liest, sondern weiß, dass es um das Begreifen<br />

geht. Das Begreifen, dass es wirklich Menschen<br />

gab oder gibt, die eine Welt gestalten und erschaffen<br />

wollen, die jede Vorstellungskraft sprengte. Zitat S. 150:<br />

Das Ziel war eine vollkommene Plastik des Bösen, die alle<br />

Elemente der Grausamkeiten zu einem Ganzen zusammenführte.<br />

Also Folter und Tod nicht aus Blutrünstigkeit, sondern als<br />

Gestaltungswillen und Parallele zur Kunst an und für sich:<br />

Zitat S.150 ff: Am liebsten hätte A. seine Bücher mit dem<br />

Blut seiner Opfer geschrieben. Seine Feder in die offenen<br />

Wunden getaucht …. Hervorragend! E.Riebler-Ü.


www.litges.at

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