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ISSN: 1682-9115 | NR.<strong>64</strong> 2016| PREIS: 7 EURO<br />
etcetera<br />
Bildträger<br />
L i t e r a t u r u n d s o w e i t e r
2<br />
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Inhalt<br />
Editorial<br />
03 Vorwort/Impressum<br />
Heftkünstler/Interview<br />
04 Birgit und Peter Kainz: Ein Ausverkauf der Bilder<br />
hat begonnen ….<br />
Interviews<br />
16 Nina Maron<br />
18 Michael Ziegelwagner<br />
Berichte<br />
09 Franz Wallner von Hadmar Lichtenwallner<br />
10 Chagall bis Malewitsch: Der Kampf gegen die<br />
Schwerkraft. Albertina/von Gertraud Artner<br />
12 Rückblick Leipziger Buchmesse 2016 von C.Stahl<br />
14 70 Jahre DEFA- Vom Filmaktiv zum Staatsbetrieb<br />
41 Reinhard Wegerth: Bilder aus den 70ern<br />
58 Thomas Northoff: Graffiti<br />
Essays<br />
06 Carl Aigner: Photographie und Gedächtnis<br />
20 Caspar Jenny: Stoff der in die Bilder zwingt<br />
23 Gerhard Benigni: Bildungsferne Jugendschutzbril-<br />
lenträger<br />
24 Werner Stangl: Bildträger<br />
Prosa<br />
26 Heinz Zitta: Der Bildträger und die Kunst des Re-<br />
genbogens<br />
28 Margit Heumann: Wenn wir in Gruppen ziellos<br />
30 Constantin Schwab: Selbstbild<br />
31 Orla Wolf: Erkundung eines Parks u.a.<br />
36 Evelin Juen: Der alte Mann und das Mädchen<br />
40 Klaus Daniel: Unbebaute Grundstücke<br />
43 Isabella Krainer: Katzensilber<br />
45 Annemarie Andre: U1 Südtiroler Platz/Haupbahnhof<br />
46 Thomas Losch: Wien bei Nacht 1978<br />
49 Andi Pianka: Der Bilderrahmen/Wie man dem To-<br />
ten Hasen die Bilder erklärt...<br />
54 HansPeter Ausserhofer: Im Café Wortspiel<br />
Lyrik<br />
34 Angelica Seithe: Dank an die Droste u.a.<br />
35 Jan-Eike Hornauer: Das Dritte Reich im Zeitalter<br />
der Casting-Shows u.a.<br />
42 Claudia Kohlus: trughummel u.a.<br />
46 Martin Piekar: Schau nicht so. Ihr nackter Arsch.<br />
Morgenlicht u.a.<br />
47 Ingrid Messing: Was bleibt<br />
50 Richard Weihs: Einbildung, Die Beule u.a.<br />
52 Manfred Pricha: verfilmte verfremdung u.a.<br />
56 Janus Zeitstein: Dauer-Spuren, Gedacht<br />
Vereinsleben<br />
60 Rückschau und Präs. etcetera 63 Alles Theater<br />
61 Osterspaziergang der LitGes am Karsamstag 2016<br />
62 16. Poetry Slam der LitGes in St.Pölten<br />
Rezensionen<br />
<strong>64</strong> Renate Sattler: Risse im Gesicht<br />
<strong>64</strong> Romana M. Jäger: Wasch mich, aber mach mich<br />
nicht nass! Yoga für Unerleuchtete<br />
<strong>64</strong> Gertraud Klemm: Muttergehäuse<br />
65 I. Breier & H. Pregesbauer (Hg): Wir sind Frauen.<br />
Wir sind viele. Wir haben die Schnauze voll<br />
65 K. Kumersberger & W. Vogel: Wunderland Korrek-<br />
turrand<br />
65 Friedemann Derschmidt: Sag Du es Deinem Kinde!<br />
66 Christian Katt: lebend.maske. Cut (2)!<br />
66 Barbara Wolflingseder: Lust & Laster im alten Wien<br />
66 Synke Köhler: Kameraübung. Erzählungen<br />
67 Klaus Kufeld: Das Singen der Schwäne<br />
67 Wolfg. Kühn/HG/Bilder Irena Rácek: Anthologie<br />
Mein Weinviertel<br />
67 Caspar Jenny: Der Waran. Roman<br />
Birgit&Peter Kainz<br />
Cover und Rückseite ©Birgit&Peter Kainz Wien_Nacht
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
3<br />
Liebe Leserinnen, Liebe Leser!<br />
Sie tragen wohl auch einen Stapel BILDER in sich. Somit sind sie BILDTRÄGER und für Sie haben wir dieses<br />
Heft gemacht!<br />
Schildern Sie uns, wie und wohin wir Sie mit unseren Beiträgen und Bildern treffen, welche zündenden<br />
Gedanken oder halbleeren Grinser wir in Ihnen hervorrufen! Denn mittlerweile ist es das 50. „etcetera“,<br />
das ich mit dem Redaktionsteam herausgeben & und dem ich meine persönliche Note ein-, aufprägen darf.<br />
Rückmeldungen von der Basis bergen immer zündende Erkenntnisse und wir lieben diese, auch wenn es<br />
keine satten Lacher & Lobe sind!<br />
Und weil die LitGes eine lebhafte Plattform und keine leere Schablone ist, seit 30 Jahren eine eigene Zeitschrift herausgibt, feiern wir<br />
mit Ihnen!<br />
Ihre Eva Riebler-Ü<br />
Impressum<br />
etcetera erscheint 4x jährlich<br />
ISSN: 1682-9115<br />
Richtung der Zeitschrift: Literarisch-kulturelles<br />
Magazin mit thematischem Schwerpunkt.<br />
Namentlich bezeichnete Beiträge geben<br />
die Meinung der Autorin, bzw. des Autors<br />
wieder und müssen mit der Meinung von<br />
Herausgeberin und Redaktion nicht übereinstimmen!<br />
Herausgeber: Eva Riebler-Übleis<br />
Heftredaktion: Eva Riebler-Übleis und<br />
Cornelia Stahl<br />
Text und Ilustration © bei den Autoren<br />
Cover und Bilder: Birgit&Peter Kainz<br />
Fotos: siehe © Fotonachweis<br />
Gestaltung: G. H. Axmann<br />
Druck: Dockner, Kuffern 87, A-3125<br />
LeserInnerservice<br />
Werden Sie Mitglied der LitGes und erhalten<br />
Sie vierteljährlich etcetera, die Zeitschrift<br />
für Literatur junger bis arrivierter<br />
AutorInnen mit Prosa- und Lyrikbeiträgen,<br />
Essays, Interviews, Rezensionen und<br />
Künstlerporträts sowie Einladungen zu unseren<br />
Veranstaltungen.<br />
Abonnementspreis:<br />
24 Euro/Jahr = 4 Hefte; Einzelpreis 7 Euro<br />
Bestellung = Überweisung an:<br />
Sparkasse NÖ Mitte-West<br />
BLZ 20256, Konto-Nr. 55137<br />
IBAN: AT422025600000055137<br />
BIC: SPSPAT21<br />
Verwendungszweck: „etcetera-Abo“<br />
Bitte, Namen und genaue Anschrift leserlich<br />
auf dem Erlagschein vermerken!<br />
Die nächsten etcetera-Ausgaben:<br />
etcetera 65 HOLZ<br />
Vom Holzkopf, Holzweg, Hinterholz bis ich<br />
gehe ins Holz...<br />
Einsendeschluss: 1. August 2016<br />
an Redaktion@litges.at<br />
Redaktion: Susanne Klinger/E.Riebler-Ü.<br />
etcetera 66 Venedig<br />
Sehnsucht und Untergang<br />
Einsendeschluss: 1. September 2016<br />
an Redaktion@litges.at<br />
Redaktion: Thomas Fröhlich<br />
LitGes Jour-fixe Schreibwerkstätten<br />
8. Juni, 6 Juli 2016 für alle Schreibenden<br />
und ZuhörerInnen!<br />
LitGes Büro, Steinergasse 3, 3100 STP<br />
Home/Info: www.litges.at<br />
Medieninhaber:<br />
Literarische Gesellschaft St. Pölten<br />
HG Eva Riebler-Übleis<br />
Büro Steinergasse 3, 3100 St. Pölten<br />
Home: www.litges.at<br />
E–Mail: redaktion@litges.at<br />
LitGes Hauptstadtlesung mit PODIUM<br />
30 Jahre Haupstadt, 30 Jahre Zeitschrift<br />
der LitGes! Eva Riebler-Übleis gibt das<br />
50. Heft „etcetera” heraus.<br />
Mittwoch 01.06. 2016, 20 Uhr<br />
Cinema Paradiso, Rathausplatz 14, STP<br />
Mit dem Künstlerehepaar Birgit&Peter<br />
Kainz, den Autoren Reinhard Wegerth,<br />
Richard Weihs, Janus Zeitstein und dem<br />
Museumsdirektor Carl Aigner. Eintritt frei!<br />
Die nächsten LitGes Präsentationen:<br />
etcetera 65 HOLZ<br />
12. Okt. 19 Uhr Stadtmuseum STP<br />
Mit Objekten des Bildhauers Gotth. Obholzer<br />
Tagebuchtag der LitGes<br />
19. Okt. 19 Uhr Buchhandlung Schubert<br />
Wienerstr. 6 mit Musik aus den Regalen.<br />
Lesende: Brigitte Pokornik und<br />
Romana M. Jäger<br />
Vorwort/Impressum
4<br />
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Birgit und Peter Kainz<br />
Ein Ausverkauf der Bilder hat begonnen ….<br />
Die Künstler Birgit und Peter Kainz, bekannt geworden durch<br />
ihr länderübergreifendes Projekt „Human“, beschäftigen<br />
sich seit über zwanzig Jahren mit analoger und digitaler Fotografie.<br />
Im Zeitalter des Überflusses spricht Peter Kainz von<br />
einer Inflation der Bilder, in der die Betrachtung eines Bildes<br />
nur Sekunden dauert. Mit faksimile digital- Zentrum für dokumentarische<br />
Fotografie hat das Künstlerehepaar die Möglichkeit<br />
geschaffen, Bilder langfristig aufzubewahren und<br />
einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Cornelia<br />
Stahl befragte beide Künstler in Wien.<br />
erscheint verlockend. Mit der erneuten Reproduktion der<br />
Bilder bzw. der Fotos sind wir an dem Punkt angelangt,<br />
dass diese nicht mehr altern. Dennoch besteht in fast allen<br />
Bereichen nach zehn Jahren der Wunsch, sich zu erneuern.<br />
Sie haben mit faksimile digital ein Zentrum für dokumentarische<br />
Fotografie entwickelt. Welches Motiv<br />
stand dahinter?<br />
Wir haben damals 1995 als eine der ersten mit der Großformat-Fotografie<br />
in Österreich begonnen. Und es bestand<br />
der Wunsch nach Abgrenzung. Durch die rasant fortschreitende<br />
digitale Entwicklung entstand damit aber auch das<br />
Problem der Bilderflut und der damit verbundenen Wahrnehmungsproblematik.<br />
Je mehr Bilder existieren, desto<br />
kürzer wird die Verweildauer beim Betrachten eines Bildes.<br />
Mit faksimile digital- Zentrum für dokumentarische Fotografie<br />
haben wir das Ziel verfolgt, Bilder langfristig aufzubewahren.<br />
Für die Universität für angewandte Kunst Wien<br />
(die Angewandte) haben wir alle künstlerischen Abschlussarbeiten<br />
dokumentiert und öffentlich sichtbar gemacht in<br />
einem Archiv für Bildende Kunst. Durch das Internet hat<br />
nun ein Paradigmenwechsel stattgefunden, da alle Bilder<br />
vermeintlich gratis zur Verfügung stehen.<br />
Interview<br />
©Foto Cornelia Stahl<br />
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte ….............<br />
War das auch das Motto Ihrer künstlerischen Arbeit?<br />
Ein originalgetreues Foto enthält immer eine persönliche<br />
Note und es sagt auch etwas über den Fotografen aus. Wir<br />
wollten diese persönliche Sichtweise in der Dokumentation<br />
besrücksichtigen. Anfangs haben wir für Künstler fotografiert.<br />
Mit Beginn der digitalen Fotografie haben wir gedacht,<br />
alles wird besser, originalgetreuer. Natürlich gibt es mehr<br />
Möglichkeiten innerhalb der Fotografie, auch die Qualität<br />
der Fotos ist gestiegen. Erstmals ist es möglich, die Information<br />
vom Bildträger zu trennen. Die Archivierung und<br />
Vervielfältigungsmöglichkeit ist jedoch mit vielen Pro und<br />
Contras verbunden. Die Gefahr der Manipulation<br />
Wer sind die Nutzer Ihres dokumentarischen Archives?<br />
Die Nutzer sind Künstler/Künstlerinnen bzw. Studenten/<br />
Studentinnen der Angewandten als auch die Öffentlichkeit.<br />
Die Abschlussarbeiten sind dort archiviert und können für<br />
weitere Ideen angesehen werden.<br />
Als Ehepaar Kainz stehen sie stellvertretend für gesellschaftskritische<br />
Fotografie der ersten Stunde.<br />
Welche Themen sind Ihnen wichtig?<br />
2005 starteten wir unser Projekt „identitas“- der 6.Sinn.<br />
Das war damals eng verbunden mit dem 6.Bezirk. Das<br />
sozio-kulturelle Vermittlungsprojekt entstand durch den<br />
Künstler Walter Stach. Dadurch ergab sich eine enge Zusammenarbeit<br />
mit der Beratungsstelle „courage“, die einen<br />
Vorurteilskatalog erstellte, in dem Vorurteile aufgelistet<br />
wurden, unter denen einige Gesellschaftsgruppen zu<br />
leiden haben. Einzelne Vorurteile wurden herausgegriffen<br />
und auf eine menschengroße Rolle geklebt und einzel-
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
5<br />
nen Personen übergestülpt. Die Möglichkeit bestand darin,<br />
dass der Träger jederzeit die Rolle abtreifen und sich<br />
somit den mit der Rolle verbundenen Zuschreibungen<br />
entledigen konnte. Das Projekt war Teil von „Kunst im<br />
öffentlichen Raum“ und hat einige Diskussionen in Gang<br />
gesetzt.<br />
Unter dem Motto „Nachbar in Not“ erstellten Sie<br />
1992 ein Kinderbuch für Flüchtlingsfrauen und deren<br />
Kinder. Planen Sie heuer ein ähnliches Projekt?<br />
Das Buch selbst ist vergriffen, aber es existieren noch die<br />
Vorlagen, sodass man eine Neuauflage starten könnte.<br />
Das wäre reizvoll!<br />
HUMAN ist der Name für eine Reihe von Projekten und<br />
Aktionen, die Sie initiiert und durchgeführt haben.<br />
Welches war aus Ihrer Sicht besonders gut gelungen,<br />
im Sinne von nachhaltig?<br />
2013 haben wir zwischen zwei Partnergemeinden im Grenzgebiet<br />
Österreich/Tschechien ein grenzUNTERSCHREITEN-<br />
DES Projekt veranstaltet. Durch das Versinken des ersten<br />
Wortteiles des Wortes HUM(an) und wieder Auftauchen<br />
des zweiten Teiles MAN konnte man Zusammengehörigkeit<br />
evozieren. Human impliziert die Gleichheit aller Menschen,<br />
ihr Recht auf Entfaltung und Freiheit von Zwängen.<br />
Zunächst hatte sich bei diesem Projekt die Zusammenarbeit<br />
mit den Tschechen als herausfordernd erwiesen, da sie<br />
die Buchstabenreihe in einem entlegenen Teich eintauchen<br />
wollten. Die Idee dahinter, einen Wanderweg dorthin anzulegen,<br />
erwies sich aber als Glücksgriff und wurde von der<br />
Bevölkerung sehr gut angenommen. Gemeinsame Treffen,<br />
bei denen man zum Teich pilgerte, Rast machte, sich gegenseitig<br />
kennenlernte, entwickelten sich zu kleinen Events,<br />
die für alle Beteiligten nachhaltig in Erinnerung blieben.<br />
Welches sind die Schwerpunkte Ihrer zukünftigen<br />
künstlerischen Arbeit?<br />
Die Bespielung einer niederösterreichischen Landschaft<br />
mit großformatigen Fahnen, quer durch das Land, planen<br />
wir für 2017. Wie von uns zu erwarten, wird wiederum HU-<br />
MAN in spielerischer Form der Inhalt sein. „Getragen“ wird<br />
dieses Projekt diesmal nicht nur von vielen Beteiligten, sondern<br />
auch von 30 Maibäumen.<br />
Aber mehr wollen wir noch nicht verraten.<br />
Ich danke Ihnen für das ausführliche Gespräch!<br />
Peter Kainz<br />
Geb. 1961 in Wien; Lithograf, Offsetmontierer und Fotograf. 1995<br />
erster digitaler Fotograf bei der Einführung der digitalen Großformatfotografie<br />
in Österreich. 1995-2008 Lektor an der Universität<br />
für angewandte Kunst Wien für digitale Technologien und Reproduktionstechniken.<br />
Vorträge und Workshops zum Thema Digitalisierung<br />
und Archivierung von Kunstgegenständen. Veröffentlichungen<br />
in Handbüchern, Bereich Bildende Kunst.2011 Diplom M.A. 2008-<br />
2011 Master-Studium in Krems: Bildwissenschaften/Fotografie.<br />
Birgit Kainz<br />
Lehre als Köchin; Weiterbildung in Grafikdesign; Firmengründung<br />
mit Peter Kainz als Grafik- Designerin, Organisation und Koordination<br />
der Projekte. 2009 Abschluss der Akademie für KleinstunternehmerInnen.<br />
1997 Gründung des Studios faksimile digital als<br />
Werkstätte für digitale Fotografie und Bildverwandlung im Kunstbereich.<br />
2005 Gründung der Edition „Collected Works“, Künstlerkataloge,<br />
verbunden mit einem hochauflösendem Langzeitbildarchiv<br />
„Collected Works across Europe“. Seit 2009 HUMAN-Projekte (Birgit<br />
+ Peter Kainz).<br />
Projekte: 1992 Nachbar in Not, Bilderbuch für Flüchtlingsfrauen<br />
und deren Kinder; 2002 OffenSichtlich (gemeinsam mit Walter<br />
Stach) Ein Projekt der Visualisierung zu den Lagerhäusern Weinviertel<br />
Mitte; 2005 Teilnahme am Der 6te Sinn, Wien; 2006 Pixelstau,<br />
Artikel zum Pressehandbuch in der bildenden Kunst, basis-wien;<br />
ab 2006 Fang das Licht: Vermittlungs-Projekt; Angewandten-Kinderuni;<br />
2007 Kunst am Bau (mit Walter Stach) Gestaltungsentwurf<br />
für die Eingangshalle Appartement Towers/Wienerberg City/Wien-<br />
Favoriten. 2007/08 Kunst am Bau Konzept zur Wohnhausanlage<br />
ehem. Wilhelm-Kaserne, Wien Leopoldsdorf (mit Walter Stach).<br />
2009 HUMAN – Das Wort – Eine künstlerische Intervention<br />
2010 HUMAN – Zeichen in einer ökosozialen Landschaft<br />
2011 HUMAN – 10 Finger, 5 Buchstaben, 1 Wort<br />
2011 GNOTHI SEAUTON –Ausstellung in der Karlskirche<br />
2012 HUMAN – Zeichen in Casablanca<br />
2012 HUMAN – Kalender 2013<br />
2013 HUMAN – eine Grenzunterschreitung<br />
2013 HUMAN – Entfesselung im Red Carpet Showroom Karlsplatz<br />
2013 HUMAN - Kalender 2014<br />
2014 FOTOFEHLER – Ausstellung in der Galerie artmark<br />
2014 HUMAN – Rallye von Loosdorf nach Rudice<br />
2015 HUMAN – Kalender 2015<br />
2015 Karlsplatzgaragenausgangsvirtine<br />
Den österreichischen MAECENAS-Preis, gesponsert von der „Initiative<br />
Wirtschaft und Kunst“, erhielten 2014 faksimile digital &<br />
Spenglerei Gepperth für ihr Projekt: HUMAN - eine Grenzunterschreitung<br />
& HUMAN – Rallye.<br />
Interview
6<br />
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Carl Aigner<br />
Photogrpahie und Gedächtnis.<br />
Zum Verhältnis von Bildmaterialität und (>geschichtlicher) Sichtbarkeit, ein Fragment.<br />
Essay<br />
Die GESCHICHTE ist hysterisch: sie nimmt<br />
erst Gestalt an, wenn man sie betrachtet.<br />
Roland Barthes<br />
Anthropologisch ist das Gedächtnis das Materielle des Erinnerns,<br />
während das Erinnern das Ephemere des Gedächtnisses<br />
wohl ist, wiewohl wir es subjektiv genau umgekehrt<br />
„wahrnehmen”. Und je mehr unsere Lernpotentiale sich entwickelt<br />
haben - je mehr wir uns aus dem genetischen Programm<br />
des Bio-logischen absentieren, umso mehr werden<br />
Gedächtnis und Erinnern für den Menschen existentiell. Und<br />
je komplexer anthropologisch soziale Biotope geworden sind,<br />
umso mehr stieg das Bedürfnis nach „Aufschreibesysteme”. 1)<br />
Wiewohl das mündliche „Gedächtnis” als Erinnerung bis heute<br />
gesellschaftliche Praxis, aber zunehmend im Verschwinden<br />
ist (der Biochip in unserem Körper ist schon Realität), finden<br />
sich früh schon Aufzeichnungssysteme, die letztendlich<br />
nichts Anderes als externe „Gedächtnisspeicher” sind. Kurzum:<br />
je mehr wir erfahren, je mehr wir Informationen haben,<br />
umso mehr ist die Externisierung bzw. Deterritorialisierung<br />
des Erinnerns für deren Bewältigung eine immanente gesellschaftliche<br />
Notwendigkeit.<br />
Damit wird der Zusammenhang zwischen Gedächtnis und<br />
materiellem Träger nicht nur in semiologischer Hinsicht äußerst<br />
relevant. In Bezug auf die„techné” des Gedächtnisträgers<br />
wird die Beziehung von Information (als Gedächtnis) und<br />
seinem materiellen Transportmittel erinnerungsenergetisch<br />
virulent (wir hätten eine andere Erinnerung von der Steinzeit,<br />
wenn wir auch schriftliche „Quellen” hätten, nicht nur die<br />
Höhlenmalereien und -zeichnungen). Gedächtnis und Erinnern<br />
sind ein konstitutiver Faktor für das Überleben jedweder<br />
humanen Gesellschaft. In ihrer jeweiligen spezifischen Entwicklung<br />
entstand ein enger Konnex mit dem jeweiligen materiellen<br />
Träger, der in jeder Hinsicht ihre Seinsweise ko-konstituiert<br />
(etwa banal: die Haltbarkeit eines Trägermaterials).<br />
Das heißt zum Beispiel, dass in einer Gesellschaft, in der Bilder<br />
eine zunehmende essentielle Rolle zu spielen begonnen<br />
haben, wie es in der europäischen Gesellschaft spätestens<br />
seit der Renaissance der Fall ist (das Tafelbild als mobiles Gedächtnis,<br />
also das Kernmodell des heutigen Bildbegriffs, ist<br />
eine europäische Intervention, so wie die Universität und das<br />
Museum!) diese auch zu eminenten Gedächtnisspeichern geworden<br />
sind. Wie sehr auch der Buchdruck eine vehemente<br />
Rolle in der Gedächtnispraxis der europäischen Gesellschaften<br />
spielt, die Rolle der Bilder ist dem ebenbürtig, wie<br />
die Entwicklung der Bildergesellschaften mit ihren heutigen<br />
Bilderfluten (erschreckend? 2) ) zeigt. In einer zunehmend bilderbasierten<br />
Gesellschaft (ver-)bildet sich buchstäblich das<br />
Gedächtnis (auch als Trigger von Erinnerungen). Das Bildbedürfnis<br />
einer Gesellschaft verknüpft sich damit unweigerlich<br />
mit dem Gedächtnis- und Erinnerungsbedürfnis: es wird zu<br />
ihrem extensiven Informationsträger.<br />
Der Informationsträger selbst ist ein gesellschaftlicher Effekt.<br />
Analogisierend zur jeweiligen technischen bzw. technologischen<br />
Entwicklung, die wiederum ein Effekt gesellschaftlicher<br />
Bedürfnisentwicklung ist, schafft sich jede Gesellschaft<br />
entsprechend ihrer „intrinsischen” Logik und Notwendigkeit<br />
jene Informationsträger, mit welchen sie ihre „Notwendigkeiten”<br />
und „Bedürfnisse” existentiell gewährleisten kann.<br />
Das bedeutet, dass eine Gesellschaft wie die Europäische,<br />
wo die Bilder in unglaublicher Weise seit dem 18. Jahrhundert<br />
zu perforieren beginnen haben, auch die materielle und<br />
produktionsspezifische Seinsweise der Bilder selbst einer allgemeinen<br />
„Ökonomie” folgen: eine Industriegesellschaft wird<br />
auch ihre Bilder „industrialisieren“ – mit all den Inkredienzen,<br />
welche eine industrialisierte Gesellschaft prägt: schneller sowie<br />
qualitativ und quantitativ effizienter.<br />
Die bildgesellschaftliche Antwort darauf war die Erfindung<br />
der Photographie. Es ist kein Zufall, dass Ende des 18. und<br />
am Beginn des 19. Jahrhunderts die Apparatisierung der Bildproduktion<br />
– analog zur Apparatisierung der Gesellschaft<br />
generell, Stichwort Maschi(e)nenzeitalter, von statten ging.<br />
Die Photographie ist Signum, Synonymität und Teil zugleich<br />
dieser Entwicklungen; in ihr manifestieren sich die neuen gesellschaftlichen<br />
Grundbedürfnisse in exzellenter Weise: Beschleunigung,<br />
neues Realitätsbedürfnis, Massentauglichkeit<br />
und Mobilität. In ihr Verschränken sich das Bedürfnis nach
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
7<br />
Damit wird das Verhältnis von Bild und Gedächtnis neu<br />
konstituiert. Endlich wird der Traum wahr, Geschichtliches<br />
scheinbar wirklich sehen zu können, Geschichte sehen zu<br />
können, denn die neue Bildmaterialität als Trägerschicht<br />
des Gedächtnisses gewissermaßen vollzieht eine semiologische<br />
Revolution: Inhalt und Materialität fallen zusammen,<br />
der Signifikant ist gleichzeitig das Signifikat des Sichtbaren:<br />
Wir glauben, mittels der Photographie direkt auf die darauf<br />
gezeigte Wirklichkeit blicken zu können, ohne jedweden zeichenbasierenden<br />
Vorgang, unverfälscht, wahr, einfach wirklich<br />
(Das Diktum der parallel zur Photographie entstehenden<br />
Geschichtswissenschaft damals war: „Zeigen, wie es gewesen<br />
ist”.<br />
schnellerer Bildproduktion, effizienterer Abbildungsmöglichkeit,<br />
Bildquantität (die Photographie ist auch das erste<br />
Bildmassenmedium in der Geschichte der Bilder) sowie ihre<br />
Transportabilität, also ihre Globalitätsfähigkeit.<br />
Ermöglicht wird dies durch eine neue Bildmaterialität, derer<br />
photochemischen Schicht und deren abbildende Fixierbarkeit.<br />
Das lichtempfindliche Material (Silbersalze im Wesent-<br />
Die erste bekannte Fotografie (Nicéphore Niépce 1826, retuschierte Fassung)<br />
lichen) ermöglicht eine Bildgewinnung ohne manuellen Einsatz<br />
in seinem Entstehungsprozess - wie durch ein analoges<br />
Wunder bilden sich visuelle Wirklichkeiten auf der photochemischen<br />
Trägerschicht ab: noch nie konnten in derartig<br />
kurzer Zeit derart detaillierte pikturale Darstellungen der visuellen<br />
Welt geschaffen werden. Und dies in einer Epoche,<br />
wo infolge der Technisierung immer schneller kein Stein auf<br />
dem anderen blieb. Paul Cézanne hat es um 1900 auf den<br />
Punkt gebracht: „Wir müssen uns beeilen, etwas zu sehen,<br />
alles verschwindet.“<br />
Das photographische Bild ist jedoch auch in anderer Hinsicht<br />
ein absolutes Novum: Es bildet etwas real Existierende nicht<br />
bloß ab, nein, es bestätigt auch das, was es abbildet (ein Eiffelturm<br />
kann nicht photographiert werden, wenn er nicht physisch,<br />
also real existiert!). Das „Wunder” der Photographie ist<br />
die Seinsbestätigung des auf dem Photo gezeigten. Sie schafft<br />
mit ihrer neuen Trägermaterialität einen neuen Realitätsbegriff<br />
in der Geschichte der Bilder. Das ist auch ihr klandestines Vermögen,<br />
welches geistesgeschichtlich ebenfalls ein Signum ihrer<br />
Epoche ist und uns bis heute fasziniert. 3) Jede Gesellschaft<br />
entwickelt im Prozess starker Veränderungen das Empfingen<br />
von Seinsverlust. Genau dies kompensiert die Photograpie mit<br />
ihrem seinbestätigendem Potential, indem sie einfach zeigt:<br />
das was du siehst, existiert wirklich oder hat zumindest im<br />
Moment der photographischen Aufnahme existiert!<br />
Wenn da nicht das Faktum wäre, dass das photographische<br />
Bild einem ästhetischen Prozess unterliegt und das Betrachten<br />
einer Photographie immer eine historische Differenz in<br />
sich birgt: Jeder Akt der Betrachtung einer Photographie,<br />
mag sie noch so alt sein, kann immer nur aus der Gegenwart<br />
des Betrachtens erfolgen. Das impliziert eine ästhetische Differenz,<br />
die gerade im künstlerischen Diskurs in den letzten<br />
Jahren zu einer neuen Aktualität photohistorischer Verfahrensweisen<br />
und damit auch zu einem neuen Verhältnis von<br />
Photographie und Geschichte.<br />
Mit dem Aufkommen neuer Medien ist es spannend zu sehen,<br />
dass traditionelle Möglichkeiten der Bildproduktion oft<br />
eine erstaunliche Aktualität zu gewinnen vermögen. So war<br />
es mit der Erfindung der Photographie, die, entgegen radikaler<br />
Statements vom Ende der Malerei, diese in neuer Weise<br />
stimulierte und etwa in den Impressionismus münden ließ;<br />
in erstaunlicher Parallelität können wir dies in den letzten<br />
beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verfolgen, als im<br />
Windschatten der entstehenden digitalen Bilderwelten, die<br />
analoge Fotografie insbesondere in den deutschsprachigen<br />
Ländern eine bemerkenswerte (künstlerische) Renaissance<br />
erfuhr und in den 1990er Jahren zum Kunstmarktphänomen<br />
schlechthin avancierte.<br />
Ein anderes, ebenso spannendes Phänomen lässt sich in<br />
den letzten eineinhalb Jahrzehnten erkennen: dass sich eine<br />
junge Künstlergeneration völlig ideologielos sogenannte alte<br />
Bildmedien anzueignen begonnen hat und höchst neugierig<br />
und innovativ damit (wieder) experimentiert. Dies gilt nicht<br />
nur für den Holz- und Scherenschnitt, sondern auch für historische<br />
Phototechniken.<br />
Essay
8 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Diese Beschäftigung spiegelt sich auch im jüngsten Ausstellungs-<br />
und Publikationsgeschehen wider: „Ein Gramm Licht”<br />
nennt sich eine Ausstellung bzw. der nämliche Katalog des<br />
Museums Industriekultur der Stadt Nürnberg von 2014 (ein<br />
Fotobuch von Bernhard Wicki von 1960 trug den Titel Zwei<br />
Gramm Licht). Eine zum Teil sehr junge Gruppe von Kunstschaffenden<br />
zeigt eindrucksvoll, wie vital fotohistorische<br />
Bildverfahren wie Kallitypie, fotogenische Zeichnungen, Heliografien,<br />
Cyanotypien oder Ferrotypien noch heute sein können<br />
(in der Schau vertreten sind auch österreichische KünstlerInnen<br />
wie Agnes Prammer, Wolfgang Reichmann, Stefan<br />
Sappert). Hier geht es nicht um nostalgische Rückblicke,<br />
sondern um das Befragen bildnerischer und ästhetischer Potentiale.<br />
„Experiment Analog. Fotografische Handschriften<br />
im Zeitalter des Digitalen” lautet der Titel einer Ausstellung<br />
und Publikation des Wiener Künstlerhauses im Herbst 2014.<br />
Im Zentrum steht die analoge Topographie des Lichtes (oder<br />
Topography of Light, so der Werkserientitel von Tina Lechner).<br />
Karin Mack hat einen aufschlussreichen Parcours von<br />
Arbeiten zusammengestellt, der eindrucksvoll beweist, dass<br />
es keine alten oder neuen Medien gibt, sondern nur eine öde<br />
oder avancierte künstlerische Reflexion und Inbesitznahme<br />
von Bildgewinnungsmöglichkeiten generell.<br />
Dass seit einigen Jahren der Begriff „Vintage” weit über die<br />
Photographie hinaus zu einem zeitgeistigen kulturellen Phänomen<br />
geworden ist, zeigt auch die Aufmerksamkeit, die<br />
wiederum dem Materiellen des künstlerischen Diskurses<br />
gewidmet wird. Die 2015 realisierte Ausstellung „Living in<br />
the Material World“, die sich dem Materiellen im aktuellen<br />
Kunstdiskurs widmete, sondiert den Faktor Werkstoff, der<br />
eine neue „Vintagequalität” zu gewinnen scheint. En passant<br />
sei hier auch auf die bereits 2008 erschienene Publikation<br />
Im Licht der Bilder. Von der Photographie zur Natur und retour<br />
verwiesen (hg. von NöART, St. Pölten), welche anhand von<br />
zwölf fotokünstlerischen Positionen einerseits der Vielfalt<br />
fotografischer Prints, andererseits dem (verschwindenden)<br />
Pluralismus fototechnischer Erzeugungsmöglichkeiten nachspürte.<br />
Zweifellos: Der Rausch des Digitalen, wie wir ihn in<br />
den 1990er Jahren erleben konnten, ist vorüber, das Interesse<br />
gilt zurzeit wieder verstärkt dem Analog-Materiellen. 4)<br />
Ästhetik im ursprünglichen von „wahrnehmen” zeigt, dass<br />
das visuelle Gedächtnis der Photographie eine immateriale<br />
Arbeit benötigt: die Arbeit des Wahrnehmens, durch die niemals<br />
eine Synchronizität von Geschichte und ihrer Wahrnehmung<br />
entstehen kann. Alles, was das Vermächtnis der Photographie<br />
und ihre Epoche betrifft. ist absent. Das Digitale<br />
ist die „Wahrheit” der neuen Bildepoche, die keine realen<br />
Bezüge in Form einer Photo-Graphie benötigt. Es scheint,<br />
dass Geschichte an und für sich zu verschwinden droht, da<br />
in unserem gigantischen Info-Universum Geschichtliches ihre<br />
Ästhetik, also Wahrnehmbarkeit, in einem grundsätzlichen<br />
Sinn zu verlieren im Begriff ist: „Wir sind eine Gesellschaft<br />
geworden, die sich auf dem Experiment gründet und glaubt,<br />
auf Erfahrung verzichten zu können”, heißt es in den 1920er<br />
Jahren einmal bei Ernst Jünger.<br />
1)<br />
Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München, Wilhelm<br />
Fink Verlag 1985<br />
2)<br />
„Schaffen wir die Bilder ab, retten wir das unmittelbare (unvermittelte)<br />
VERLANGEN!“, schreibt äußerst emphatisch Roland Barthes 1980, siehe<br />
Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie,<br />
Frankfurt/M., Suhrkamp 1980, S. 130<br />
3)<br />
Niemand hat das eindringlicher und klarer formuliert wie Roland Barthes<br />
mit seinem Essay „Die helle Kammer“.<br />
4)<br />
mehr zu diesem Thema auch im EIKON 88 (11/2014):„Im Fokus. Eine<br />
Hommage an das Analoge”.<br />
Essay<br />
Carl Aigner<br />
Geb. 1954 in OÖ, lebt in St. Pölten. Studium der Geschichte, Germanistik,<br />
Kunstgeschichte und Publizistik in Salzburg und Paris.<br />
1989 - 2001 Lehrtätigkeit an verschiedenen österreichischen Universitäten<br />
und an der Universität für Angewandte Kunst Wien.1991<br />
gründete Aigner die internationale Kunstzeitschrift für Photographie<br />
und neue Medien EIKON, Wien.1997-2003 Direktor Kunsthalle<br />
Krems. 2000/2001 Projektleitung der Abteilung Kulturwissenschaften<br />
an der Donauuniversität Krems. Seit 2001 Direktor des<br />
Niederösterreichischen Landesmuseums in St. Pölten. 2004 Verleihung<br />
des „Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst“ durch die<br />
Republik Österreich. Jänner 2005: Österreichkommissär Triennale<br />
India - New Delhi 2005. Seit 2006 Künstlerischer Leiter des Ausstellungszyklus<br />
„Nahe Ferne – Gegenwartskunst aus Mitteleuropa<br />
und dem Donauraum“, Stift Lilienfeld. 2005 - 2008 Präsident von<br />
ICOM Österreich (International Council of Museums), seit 2014<br />
Vizepräsident. Seit 2008 Mitglied der Leopold Museum-Privatstiftung<br />
Wien. Seit 2009 Direktor Egon Schiele-Museum Tulln.<br />
Zahlreiche Kuratoren- und Herausgeberschaften sowie Publikationen<br />
zur Bildenden Kunst, Photographie und Medienkunst; seit<br />
vielen Jahren intensive Beschäftigung mit der Entwicklung der österreichischen<br />
internationalen Museumslandschaften.
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
9<br />
Franz Wallner<br />
1929 Krems - 2013 Langenlebarn<br />
Text und © von Hadmar Lichtenwallner<br />
in Wallners skurillem Kosmos etwas ans Licht kommt, was<br />
man als Bild in der Seele trägt, eine Botschaft aus dem Unterbewusstsein?<br />
o.T., kein Datum, Nr.324, 100x100, Leinwand<br />
Dieses und die übrigen 2000 Bilder des 2013 verstorbenen<br />
Künstlers Franz Wallner haben zu seinen Lebzeiten außer<br />
Familienmitgliedern nur wenige Menschen gesehen, denn<br />
er hatte sich - mit einer einzigen Ausnahme - beharrlich geweigert,<br />
Bilder öffentlich zu zeigen. Erst kurz vor seinem Tod<br />
ließ er den Wunsch durchblicken, dass sein Werk doch den<br />
Weg in die Öffentlichkeit finden möge.<br />
Einer der Wenigen, die es vorher schon kennenlernten , ist<br />
OSR Johannes Neuhold. Er organisierte 2015 in Krems eine<br />
kleine Retrospektive und machte Museumschefs mit Wallners<br />
Arbeiten bekannt. Das Feedback war ermutigend: Bemerkenswert,<br />
beeindruckend, interessant, humorvoll, weiter<br />
verfolgenswert... Ähnliches hätte auch Wallner selbst hören<br />
können, warum hat er sich verweigert?<br />
Wollte er, der sein Leben lang die ins Wanken geratenen<br />
Bastionen eines linken Humanismus gegen Auswüchse der<br />
Marktwirtschaft verteidigte, nicht auch noch sein eigenes<br />
Schaffen verteidigen müssen?<br />
Rätselhaft wie seine Verweigerung sind auch seine Bilder; Titel<br />
als Interpretationshilfen fehlen meist. Als hintergründige<br />
und doppeldeutige Vexierbilder bezeichnete sie die Kunsthistorikerin<br />
Beate Rukschcio, narrativen Expressionismus sah<br />
ein anderer Experte. Neben den Expressionisten standen<br />
wohl auch James Ensor, die Surrealisten und überhaupt<br />
das halbe 20. Jahrhundert Pate, und aus der Ferne grüßen<br />
Bosch, Goya, Füssli... Nicht nur deshalb wird man das Gefühl<br />
nicht los, manches schon gesehen zu haben. Ist es, weil<br />
o.T., 2006, Nr. 028, 90x70, Baumwolle<br />
Das mag jeder/jede für sich selbst entscheiden. Bei der Betrachtung<br />
geraten die Bilder durcheinander und der Buddha,<br />
eine alte Frau, die Fantasyfigur Shrek und eine vielarmige<br />
indische Göttin verschmelzen vielleicht zu einer Gestalt.<br />
o.T., 2007, Nr.127, 50x60cm, Leinwand<br />
Hadmar Lichtenwallner<br />
Geb. 1944 in Schärding. Ehem. Lehrer an Pädak Krems.<br />
Bericht
10 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Der Kampf gegen die Schwerkraft. Albertina<br />
Gertraud Artner über „Chagall bis Malewitsch. Die Russischen<br />
Avantgarden“ in der Albertina (bis 26.6.2016).<br />
Es ist die Vielfalt dieser Ausstellung, die in ihrer Gegensätzlichkeit<br />
als Erstes ins Auge sticht. Einerseits die surrealfantastischen<br />
Bildwelten Chagalls, voll Farbenpracht und<br />
Poesie, andererseits die konstruktivistische Malerei von<br />
Rodtschenko und El Lissitzky mit ihren gesellschaftlichen<br />
Anliegen, oder die beschwingten Kompositionen von Kandinsky,<br />
der eigentliche Pionier der Abstraktion, der 1910 das<br />
erste abstrakte Bild überhaupt malte. Und schließlich Malewitsch:<br />
Mit dem Schwarzen und Roten Quadrat schuf er die<br />
Ikonen des Suprematismus, durch die völlige Befreiung vom<br />
Gegenstand von ihm zur höchsten Kunstform geadelt.<br />
oder Picasso blieben nicht ohne Einfluss. Doch ging es den<br />
russischen KünstlerInnen immer auch um den Bezug zur<br />
folkloristischen Bildtradition ihrer Heimat. Auf diese Weise<br />
entwickelten sich in den Jahren zwischen 1910 und 1920 so<br />
unterschiedliche Kunststile wie Neoprimitivismus, Rayonismus,<br />
Kubofuturismus, Suprematismus und Konstruktivismus,<br />
die sich alle souverän zunächst nebeneinander, später<br />
immer mehr im Wettstreit gegeneinander behaupteten.<br />
Wassilij Kandinsky/Auf Weiß 1, 1920/ St. Petersburg, Staatliches Russisches<br />
Museum<br />
Marc Chagall/Der Spaziergang, 1917-1918 St. Petersburg, Staatliches<br />
Russisches Museum | Chagall® | © Bildrecht, Wien | 2016<br />
Bericht<br />
Es gab eben nicht nur eine russische Avantgarde, es gab<br />
viele. Der deutsche Philosoph Ernst Bloch prägte in diesem<br />
Zusammenhang die Begrifflichkeit der Gleichzeitigkeit des<br />
Ungleichzeitigen. In einem engen Zeitfenster von rund 10<br />
Jahren entwickelten sich noch im zaristischen Russland<br />
eine Reihe von Kunstströmungen, die zu den radikalsten<br />
der Moderne zählen und in ihrer Dynamik einzigartig sind.<br />
Wohl diente die westeuropäische Avantgarde zur Orientierung,<br />
neue Ausdrucksformen wie Fauvismus und Kubismus,<br />
Künstlerpersönlichkeiten wie Van Gogh, Matisse<br />
Selbstportrait mit sieben Fingern, 1912-1913/Amsterdam, Stedelijk Museum<br />
| Chagall® | © Bildrecht, Wien, 2016<br />
Bei aller Unterschiedlichkeit hatten die Avantgardisten<br />
doch eine Gemeinsamkeit, das war der Kampf gegen die<br />
Vergangenheit. Klaus Albrecht Schröder, Direktor der
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
11<br />
Albertina, der gemeinsam mit Evgenia Petrova die Ausstellung<br />
kuratierte, auf der Pressekonferenz: “Es ist der<br />
Kampf gegen die Schwerkraft, gegen alles, was uns an die<br />
Vergangenheit bindet.“ Durch die Oktoberrevolution 1917<br />
fühlten sich die KünstlerInnen in ihrem Streben bestätigt<br />
und gestärkt, suchten ihren Platz im Kampf Lenins und<br />
der Bolschewiki als Avantgarde der Arbeiterklasse. Dieses<br />
Bemühen ist in der Ausstellung eindringlich nachvollziehbar,<br />
ebenso das schrittweise Zerbrechen einer so euphorisch<br />
begrüßten Utopie, bis schließlich mit der Machtergreifung<br />
Stalins die Vielfalt der Kunstströmungen selbst<br />
Vergangenheit wurde und es für die nächsten 60 Jahre nur<br />
noch eine Richtung gab: den Sozialistischen Realismus.<br />
In einer großangelegten Schau von 130 Meisterwerken<br />
gelingt es der Albertina in Kooperation mit dem Staatlichen<br />
Russischen Museum in St. Petersburg die dynamische<br />
Vielfalt dieser Kunst in all ihrer Komplexität und<br />
Auch Malewitschs Werdegang ist von radikalen Umbrüchen<br />
gezeichnet. Er, der die völlige Befreiung der Kunst<br />
vom Gegenstand propagierte, leidet besonders an den<br />
wachsenden staatlichen Repressionen, sich wieder der<br />
Natalia Gontscharowa/Radfahrer, 1913/ St. Petersburg, Staatliches Russisches<br />
Museum<br />
Kazimir Malewitsch/Rote Kavallerie, um 1932/Öl auf Leinwand/St. Petersburg,<br />
Staatliches Russisches Museum<br />
Widersprüchlichkeit darzustellen. Das sich zuspitzende<br />
Drama der im Wettstreit stehenden Avantgarden wird in<br />
11 Kapiteln aufbereitet.<br />
Eine führende Rolle spielt Marc Chagall, der - aus Paris<br />
kommend – 1914 seine Heimatstadt Witebsk besucht.<br />
Der Ausbruch des 1. Weltkriegs zwingt ihn, in Russland<br />
zu bleiben. Chagall begeistert sich für die Ziele der Revolution<br />
und wird 1918 zum Kommissar für Kunst und Kultur<br />
für die Region Witebsk und zum Leiter der öffentlichen<br />
Kunstschule ernannt. Er beruft El Lissitzky und Kasimir<br />
Malewitsch als Lehrer an die Schule. Als 1920 Chagalls<br />
StudentInnen geschlossen in die Klasse Malewitschs<br />
wechseln und seinen Stil für altmodisch erklären, geht<br />
er enttäuscht nach Moskau, wo er zunehmend verarmt.<br />
1922 verlässt er Russland in Richtung Westen.<br />
akademischen Gegenständlichkeit zuzuwenden. Mallewitsch<br />
verweigert diesen Weg, legt bis 1926 seine Malerei<br />
nieder. Erst in seinem Spätwerk ist er zum Kompromiss<br />
bereit, er vereint das Unvereinbare: Suprematismus<br />
und Naturalismus. Doch auch diese Bilder entsprechen<br />
nicht der offiziellen Kunstdoktrin unter Stalin. Nach einem<br />
Parteibeschluss, der alle Künstlerverbände und Kunstrichtungen,<br />
die nicht dem Sozialistischen Realismus zuzurechnen<br />
sind, verbietet, kommt es 1935 zur letzten Ausstellung<br />
von Malewitschs Werken in der UdSSR. Im selben<br />
Jahr stirbt Malewitsch mit 57 Jahren an einem Krebsleiden,<br />
50 Jahre vor seinem ehemaligen Kontrahenten Marc<br />
Chagall, der mit 98 Jahren in Südfrankreich 1985 seine<br />
letzte Ruhe findet.<br />
Die tragische Entwicklung der russischen Avantgarden wird<br />
in der Albertina – unterstützt durch Dokumentarfilme- zutiefst<br />
berührend vermittelt. Schließlich ist es das erklärte Ziel<br />
der Ausstellung, die visuellen Spannungen dieser heroischen<br />
Phase russischer Kunst sicht- und erlebbar zu machen.<br />
Die Ausstellung läuft noch bis 26. Juni, ein Katalog ist um 29 Euro<br />
im Shop der Albertina sowie unter www.albertina.at erhältlich.<br />
Gertraud Artner<br />
Geb. 1948 in St.P., Dr. Phil., Akad. d. Bild. Künste (Meisterklasse<br />
Hausner) u. Soziol.,Kunstvermittlerin, im LitGes Vorstand.<br />
Bericht
12 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Rückblick Leipziger Buchmesse 2016<br />
Bericht<br />
©Foto Cornelia Stahl<br />
Nur einen Ausschnitt kann man wahrnehmen, wenn man<br />
einen Tag auf der Leipziger Buchmesse verweilt, die heuer<br />
vom 17.3.-20.3.2016 stattfand. Der Artikel von Cornelia<br />
Stahl bietet einen Einblick und Rückblick zugleich.<br />
So wie Menschen zu Rockkonzerten pilgern, so machen<br />
sich jährlich unzählige Bücherfreunde aus allen europäischen<br />
Ländern auf nach Leipzig, um die dortige Buchmesse<br />
zu besuchen.<br />
Ob Sachbuch, Krimi, Belletristik oder Fantasy- jedes Genre<br />
ist vertreten, und so kommt jeder Besucher auf seine<br />
Kosten, zumal die Buchmesse Gelegenheit bietet, Autoren<br />
hautnah bei Lesungen kennen zu lernen. Mit einem Besucherrekord<br />
von 260 000 Gästen ( 251 000 im Jahr 2015)<br />
ging am 20.03.2016 die Leipziger Buchmesse zu Ende.<br />
In Vorfreude auf das kommende Jahr präsentierte sich Litauen<br />
mit eigens ausgewählter Literatur. 2017 wird das<br />
baltische Land Gastland der Leipziger Buchmesse sein.<br />
Im darauffolgenden Jahr, 2018, wird Rumänien dann den<br />
Platz Litauens einnehmen und sich als Gastland präsentieren.<br />
Eigens dafür reiste der rumänische Kulturminister<br />
Vlad Alexandrescu nach Leipzig und unterzeichnete mit<br />
dem Buchmessedirektor Oliver Zille den Vertrag für den<br />
Gastlandauftritt 2018. Die Leipziger Buchmesser, ein beliebter<br />
Treffpunkt für Verleger, Autoren und Dienstleister,<br />
bot während der Buchmesse ein umfangreiches Fachprogramm<br />
sowie begleitende Lesungen mit Autoren und Autorinnen,<br />
sowohl auf dem Messegelände selbst, als auch<br />
an externen Orten in Leipzig. Auf dem ersten internationalen<br />
Book Pitch präsentierten sich Autoren/Autorinnen<br />
aus Georgien, Slowenien, Tschechien, Rumänien und Ungarn.<br />
Der Stand Neuland 2.0. wagte einen Blick in die Zukunft<br />
der Medienbranche, start-ups präsentierten innovative<br />
Ideen der Vermittlung von Literatur und Medien rund<br />
um´s Buch.<br />
Doch für Autoren gilt: Schreiben allein genügt längst<br />
nicht mehr! Sehen und gesehen werden, lesen und gelesen<br />
werden, hören und gehört werden... darum dreht<br />
sich das jährliche Event der Leipziger Buchmesse. Ja, ein<br />
Event, auf dem Autorinnen und Autorinnen nicht schlichtweg<br />
ihre Texte vortragen, sondern vielmehr, um die Gunst<br />
des Publikums buhlen. Sich in Szene setzen, das kann der<br />
eine mehr oder weniger besser als der andere. Manche<br />
können es schlichtweg sehr schlecht. Aber von der Präsentation<br />
des Autors hängt wesentlich der Verkauf seines<br />
Buches ab! Schon viele Jahre geht es nicht mehr nur um<br />
Inhaltliches, um das Narrativ des Autor/die Autorin. Verlage<br />
sind wirtschaftliche Unternehmen und müssen daher<br />
auf Verkaufszahlen schauen, was verständlich ist!<br />
Erstaunlich, dass Autorinnen/Autorinnen sich davon nicht<br />
abschrecken lassen, weiterhin ihrer Leidenschaft nachzugehen:<br />
dem Schreiben. Guntram Vesper legte sein Tausend<br />
Seiten umfassendes Werk „Frohburg“ vor und erhielt<br />
dafür den Preis der Leipziger Buchmesse. Darin erzählt<br />
er ein Stück deutscher Zeitgeschichte, skizziert einen<br />
kleinen Ort, Frohburg bei Leipzig und seine wechselvolle<br />
Geschichte vom Dritten Reich bis hin zum sozialistischen<br />
SED-Staat. Ein historischer „Schinken“, der Zeit braucht,<br />
um ihn zu lesen und sich der Verbindung zwischen Vergangenheit<br />
und Gegenwart bewusst zu werden. Doch nicht jeder<br />
Autor/jede Autorin schafft es gleich zu einem renommierten<br />
Verlag wie Schöffling & Co., in dem „Frohburg“<br />
von Guntram Vesper jetzt erschien. Glücklicherweise gibt<br />
es unter der Flut der jährlichen Neuerscheinungen auch<br />
Verlage, die mutig genug sind, literarische Aussenseiter in<br />
ihr Verlagsprogramm aufzunehmen, wie zum Beispiel der<br />
Ch. Links Verlag, genauer gesagt, Christoph Links Verlag,
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
13<br />
den die Kurt-Wolff-Stiftung heuer für sein unkonventionelles<br />
Handeln prämierte. Der mit 26 000 Euro dotierte<br />
Preis ging an den Verleger Christoph Links. Den mit 5000<br />
Euro dotierten Förderpreis erhielt der Verlag Vorwerk8.<br />
Alle verliehenen Preise an dieser Stelle aufzuführen, würde<br />
den Rahmen sprengen. Daher konzentriere ich mich<br />
auf die wichtigsten Begegnungen der Leipziger Buchmesse,<br />
die nachhaltig in Erinnerung blieben: Das Interview<br />
mit der Autorin Verena Zeltner. Ihr Buch „Kornblumenkinder“<br />
hatte ich bereits in etcetera vorgestellt. Ihr<br />
überaus großes Engagement für Kinder und Jugendliche<br />
wurde noch einmal deutlich in unserem persönlichen Gespräch<br />
auf der Buchmesse. Das zweite Interview führte<br />
ich mit der Jugendbuchautorin Antje Babendererde, die<br />
durch ihre Themen mit Indigenen Völkern aus der Jugendbuchszene<br />
hervorsticht. Ihr neues Buch „Der Kuss des Raben“<br />
spielt diesmal im heimischen Thüringen und nicht in<br />
den USA wie in ihren vorangegangenen Büchern.<br />
Die Begegnungen und Gespräche mit Verlegern von kleinen,<br />
weniger bekannten Verlagen, wie z.B. mit Werner<br />
Schmid vom Wiesenburg-Verlag, Schweinfurt, Angelika<br />
Bruhn vom BS-Verlag Rostock, Tino Hemmann vom Engelsdorfer-Verlag<br />
Leipzig und Jörg Becken vom Klak-Verlag<br />
Berlin, der so freundlich war, etcetera-Exemplare an<br />
seinem Messestand aufzulegen, machten die weite Anreise<br />
nach Leipzig unbedingt lohnenswert. Ich blicke zurück<br />
auf einen Tag auf der Leipziger Buchmesse, auf dem ich<br />
viele Eindrücke wahrnehmen konnte und mit neuen Ideen<br />
und Leseempehlungen nach Hause fuhr.<br />
Cornelia Stahl<br />
Lebt in Wien, Dipl. Sozialökonomin, Redakteurin „Literaturfenster<br />
Österreich“, Radio Orange, Wien, www.o94.at. Schreibt für „bn-<br />
Bibliotheksnachrichten“ Salzburg, www.biblio.at „Die Alternative“,<br />
„Magdeburg- Kompakt“, „celluloid“, ist Redaktionsmitglied<br />
und Vorstandsmitglied der LitGes.<br />
©Birgit und Peter Kainz/HUMAN_Taschenmesser<br />
Bericht
14 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
70 Jahre DEFA- Vom Filmaktiv zum Staatsbetrieb<br />
Bericht<br />
Vor 70 Jahren, am 17.5.1946, wurde auf dem Gelände der<br />
Althoff-Ateliers die DEFA-Deutsche Film Aktiengesellschaft<br />
in Berlin gegründet. Vorbereitet wurde die Gründung von<br />
einem antifaschistischen Filmaktiv. Der Beitrag gibt Einblicke<br />
in einen Abschnitt deutscher Filmgeschichte und spannt einen<br />
Bogen zwischen den Anfängen der DEFA damals und der<br />
DEFA-Stiftung heute.<br />
Berlin 1945. Kurz nach Ende des Krieges wurden Theater<br />
und Kinos erneut geöffnet und für das Publikum zugänglich<br />
gemacht. Die geteilte Stadt Berlin, die von den Allierten<br />
besetzt war, schrieb kurz nach Kriegsende erneut Filmgeschichte.<br />
In der sowjetischen Besatzungszone war man<br />
daran interessiert, russische Filme wie „Iwan der Schreckliche“<br />
zu zeigen und Filme für Propagandazwecke zu nutzen.<br />
In der Nähe Berlins, in Potsdam-Babelsberg, überreichte<br />
der sowjetische Kulturoffizier Sergej Tulpanow am 17.Mai<br />
1946 die Gründungsurkunde der Deutschen Film Aktiengesellschaft<br />
(DEFA). Anfangs existierte sie zunächst als<br />
sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft. Erst ab dem Jahr<br />
1952 lag die DEFA in der Verantwortung der 1949 gegründeten<br />
Deutschen Demokratischen Republik (DDR). 1950<br />
wurde der Progress-Filmverleih gegründet, der ab 1955 zu<br />
den volkseigenen Betrieben zählte. Mehrere DEFA-Studios<br />
wurden in Folge gegründet, mit jeweils eigenen Bereichen.<br />
Das DEFA-Synchronistaionsstudio war eines von ihnen. Bis<br />
zur Umwandlung in eine Stiftung im Jahr 1992 produzierte<br />
die DEFA ungefähr 700 Spielfilme, 750 Animationsfilme<br />
sowie 2250 Dokumentar- und Kurzfilme. Zirka 8000 Filme<br />
wurden synchronisiert.<br />
Filmschaffende zwischen Euphorie und Antifaschismus<br />
Die Anfangsfilme bekannten sich zum Antifaschismus, der<br />
von der Kulturabteilung des Zentralkomitees der Sozialistischen<br />
Einheitspartei Deutschlands (SED) vorgegebenen<br />
war. Wichtige Nachkriegsfilme, die damals entstanden, waren:<br />
Die Mörder sind unter uns (1946), Irgendwo in Berlin<br />
(1946) und Ehe im Schatten (1947). Wolfgang Staudtes Film<br />
©Hans Klering<br />
Die Mörder sind unter uns startete 1946 mit Hildegard Knef,<br />
in der Rolle als Überlebende eines Konzentrationslagers.<br />
Staudtes Film stand stellvertretend für die Abrechnung mit<br />
dem Faschismus. 1947 folgte Kurt Maetzigs Debüt Ehe im<br />
Schatten. Die Geschichte des Schauspielers Joachim Gottschalk<br />
und seiner Frau, einer Jüdin, nahm Maetzig als Vorlage<br />
für seinen Film. Aus Furcht vor der der Deportation<br />
wählten die Eheleute den Freitod. Unmittelbar involviert<br />
in das Thema Suizid war Maetzig durch den Freitod seiner<br />
Mutter. Im Film bearbeitete er dieses Thema, das ihn<br />
mehrfach berührte und persönlich betraf. Auch die Hochschule<br />
für Film und Fernshehen ( HFF) sowie zahlreiche<br />
Amateurstudios drehten Filme. Der wichtigste Filmproduzent<br />
blieb jedoch die DEFA. 1952 teilte sich die DEFA in<br />
vier Produktionsbereiche auf, eine davon war die Kinderfilmabteilung,<br />
die ab 1953 eigene Filme drehte. Ein Fünftel<br />
der Gesamtproduktion war dem Kinderfilm gewidmet. Zu<br />
den ersten Kinderfilmen zählte der Film Irgendwo in Berlin<br />
(1946), der die Nachkriegsgeschichte Jugendlicher in der<br />
SBZ (Sowjetisch besetzte Zone)skizziert, die die Trümmerberge<br />
als Abenteuerspielplatz nutzen. Die Implikation der<br />
Abrechnung mit dem Faschismus und der Aufarbeitung der<br />
Schuldfrage spürt man auch in diesem Kunstwerk. Lamprecht,<br />
damals bekannt als Bilderpoet, gelang es, die Atmosphäre<br />
des Neuanfangs zu suggerieren . Mit Wolfgang<br />
Staudtes Film Rotation, von 1949, der die Welt eines Kleinbürgers<br />
inmitten politischer Umbrüche darstellt, kündigte<br />
sich der Beginn einer gesellschaftskritischen Wende an.<br />
Amateurfilmstudios als Gegenstück zur staatlichen<br />
verordneten Filmproduktion<br />
1951 gründete der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung<br />
Deutschlands Filmamateurgruppen mit der Aufgabe,<br />
die Entwicklung einer neuen deutschen Filmkunst zu unterstützen.<br />
Unabhängig davon bildeten sich ab 1951 Betriebsfilmstudios<br />
sowie Pionier- und Jugendfilmstudios ( 1951:<br />
Pirna/ bei Dresden). Klubs der Filmamateure und Konsultationsstellen<br />
enstanden parallel in den Kulturhäusern. Eine<br />
Zeit künstlerischen Schaffens brach an, in der Filme öffentlich<br />
gezeigt wurden oder im Untergrund, in Liebhaberkreise<br />
auf Interesse stießen. 1985 gab es 180 Amateurfilmstudios<br />
in Betrieben, Kombinaten, Kulturhäusern und Klubs, 50 Jugendgruppen<br />
in Amateurfilmstudios und 35 Pionier- und<br />
Jugendstudios. Zeitgleich entwickelten sich Bereiche des
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
15<br />
Künstlerischen Experimental- und Undergroundfilms, die<br />
jedoch anderen Herstellungs- und Veröffentlichungsbedingungen<br />
unterlagen. Die ZAG, der Zentralen Arbeitsgemeinschaft<br />
„Junge Künstler“ bewegte sich im nichtöffentlichen<br />
Bereich und zeigte sich offen für Experimentalfilme.<br />
Festival des volksdemokratischen Films – Höhepunkte<br />
aus sozialistischen Ländern<br />
Die Gründung des ersten Jugendfilmstudios 1951, im Pionierhaus<br />
Maxim Gorki, in Pirna, wirkte sich auf die Kurzfilmproduktion<br />
in der DDR aus. Der DEFA-Vorstand beauftragte<br />
die Kurzfilmabteilung, ca. 150 Kurzfilme herzustellen. Im<br />
Mai 1951, auf dem 1.Deutschen Kulturkongress in Leipzig,<br />
trafen sich erstmals Kulturschaffende beider deutscher<br />
Staaten. Kurz darauf fand in West-Berlin das Filmfestival<br />
Berlinale statt. Ostberliner Filmschaffende äußerten Kritik,<br />
denn Laut Urteil eines Grundsatzentscheides wurden Filme<br />
aus sozialistischen Ländern kategorisch ausgeschlossen,<br />
da man ihnen ihre Internationalität absprach. Dennoch<br />
wollten Filmschaffende wie Interessierte am Festival teilnehmen.<br />
Die Sektorengrenzen waren noch passierbar. Ein<br />
Kontingent an verbilligten Karten ermöglichte Ostberlinern,<br />
die Berlinale zu besuchen. Ende Juni 1951 folgte dann in<br />
Ostberlin das sozialistische Film-Festival „Festwoche des<br />
volksdemokratischen Films“. Filmschaffende aus dem sozialistischen<br />
Ausland trafen sich, um polnische, rumänische<br />
und tschechoslowakische Filme zu präsentieren. Wichtig<br />
zu erwähnen sind auch die zahlreichen DEFA-Filme, die als<br />
Koproduktion entstanden, vor allem mit den tschechischen<br />
Barrandov-Filmstudios.<br />
Propaganda, Kinder und Zensur<br />
Wie alle Medien in der DDR, wurde unterlagen auch Filme<br />
der Zensur. DEFA-Filme, die nicht ins ideologische Konzept<br />
der SED passten, mussten in den entsprechenden Szenen<br />
abgeändert werden oder wurden generell verboten. Kreatives<br />
Filmschaffen musste im Einklang mit den Idealen des<br />
Sozialismus erfolgen. Auf dem 11.Plenum des Zentralkomittes<br />
der SED 1965 wurden zahlreiche Filme festgelegt,<br />
die verboten wurden. Allein im Jahr 1965 fielen zehn Filme<br />
der Zensur zum Opfer. 1966 wurde auch Frank Beyers Film<br />
Spur der Steine wegen antisozialistischer Tendenzen verboten.<br />
Erst im Herbst 1989 durfte er erneut gezeigt werden.<br />
Filme über Ernst Thälmann, Karl Liebknecht, Klara Zetkin<br />
etc. waren eher unbeliebtheit bei Filmschaffenden und Zuschauern.<br />
Der ideologisch vorgegebene Kurs der Partei war<br />
vielen Filmschaffenden ein Dorn im Auge. Als Folge dessen<br />
verließen talentierte Filmkünstler die DDR. Trotz Verbot<br />
blieben künstlerisch wertvolle Filme beim Publikum nachhaltig<br />
in Erinnerung. Unter Kindern waren Indianerfilme mit<br />
dem Hauptdarsteller Gojko Mitic sehr beliebt. Anfangsfilme<br />
waren Die Söhne der großen Bärin, 1966 oder Die Spur des<br />
Falken, 1968. Literaturverfilmungen, zum Beispiel Lütt<br />
Matten und die weiße Muschel, 19<strong>64</strong>, und Die Reise nach<br />
Sundevit,1966 (beide nach Benno Pludra) oder Moritz in<br />
der Litfasssäule, 1983, nach dem Kinderbuch von Christa<br />
Kozik, standen in der Beliebtheitsskala an oberster Stelle.<br />
Kultfilme für Erwachsene waren zum Beispiel Berlin-Ecke<br />
Schönhauser, 1957. Nach der Ausbürgerung des Liedermachers<br />
Wolf Biermann entstand 1973 der Film „Die Legende<br />
von Paul und Paula“. Drei Millionen DDR-Bürger sahen<br />
ihn im ersten Jahr. Und Paul und Paula avancierten über<br />
Nacht zu Volkshelden. Die Berlinale 2016 widmete sich verbotenen<br />
DEFA-Filmen in ihrer Retrospektive „Deutschland<br />
1966“. In dem Buch „Verbotene Utopie“ ( 2015) setzen sich<br />
die beiden herausgeber Andreas Kötzing und Ralf Schenk<br />
detalliert mit verbotenen DEFA-Filmen auseinander, die<br />
1965 der kultupolitischen Zäsur der DDR zum Opfer fielen.<br />
Vom Staatsbetrieb zur Stiftung<br />
Ein Jahr nach dem Mauerfall, 1990, wurde der Staatsbetrieb<br />
VEB DEFA-Studio für Spielfilme in DEFA Studio Babelsberg<br />
GmbH umgewandelt. Die Filmproduktion lief bis<br />
1992. Roland Gräf gelang 1990 mit Der Tangospieler eine<br />
authentische Skizze des DDR-Alltags. Herwig Kipping hingegen<br />
rechnete in seinem Film Das Land hinter dem Regenbogen<br />
von 1992/93 mit der sozialistischen Vergangenheit<br />
ab. Filmfreunde können Dank Gründung der DEFA-Stiftung<br />
die filmische Hinterlassenschaft der DEFA erschließen.<br />
Der Progress-Filmverleih verzeichnet in seinem Bestand<br />
alle DEFA-Kinoproduktionen der DDR von 1946 bis 1993,<br />
inklusive aller Ausgaben der Wochenschau „Der Augenzeuge“<br />
und 3.800 Dokumentarfilme aller Genres sowie die<br />
Produktionen der DEFA-Stiftung von 1999 bis 2006. Wer<br />
also neugierig geworden ist, kann das Filmmaterial zu Themen<br />
und Zeitgeschehen ab 1945 aus der ehemaligen SBZ<br />
(Sowjetisch-besetzten-Zone), der DDR oder den neuen Bundesländern<br />
sichten oder sich über Jahrestage informieren,<br />
unter www.progress-film.de<br />
Anmerkung: Der Artikel erschien in modifizierter Fassung<br />
im Filmmagazin celluloid 02/2016, April/Mai 2016.<br />
Bericht
16 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Nina Maron<br />
Interview Nina Maron Artothek 5.3.16, Steiner Landstr. 2,<br />
Krems/Stein. Die Ausstellung ist bis Ende Juni geöffnet, täglich<br />
außer Mo, Die. Auch an Samstagen und Sonntagen. Vernissage<br />
„Ölarbeiten Nina Marons” war anlässlich des Frauentages<br />
2016. Eva Riebler-Übleis sprach vor Ort mit der Künstlerin.<br />
©Fotos Eva Riebler-Übleis<br />
Liebe Nina Maron, Sie beschäftigen sich vor allem mit<br />
Frauenportraits. Ist dies Ihr Leitmotiv?<br />
Ich beschäftige mich auch mit Frauenportraits, ich finde<br />
es wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, was Frauen<br />
schon alles geleistet haben und noch immer leisten.<br />
Wer ist für Sie eine Heldin und wer eine Legende?<br />
Heldinnen und Legenden sind für mich viele Frauen, allen<br />
voran Rosa Luxembourg, Käthe Kollwitz, Irma Schwager,<br />
Alice Schwarzer… Frauen haben im Widerstand immer eine<br />
sehr wichtige Rolle gespielt. Das verengte Verständnis des<br />
Begriffs Widerstand, der sich immer im Wesentlichen nur<br />
auf politische und militärische Aktivitäten bezog, führte<br />
dazu die Form des Widerstandes die Frauen geleistet haben<br />
immer minder zu bewerten. (Aktiver und passiver Widerstand<br />
siehe Ingrid Strobl: Die Angst kam erst danach).<br />
Ich habe dann in meinen Bildserien aber auch Frauen dazu<br />
genommen, die in ihrer Sparte Widerstand (ebenfalls als<br />
erweiterer Begriff) geleistet haben, in Kunst, Literatur usw.<br />
Um zu einer Frau zu kommen, die es Ihrer Ansicht nach<br />
wert ist, abgebildet zu werden, betrieben Sie Recherche<br />
oder…?<br />
Ja ich recherchiere und beschäftige mich auch immer wieder<br />
mit feministischen Texten, zu denen ich dann auch Geschichten<br />
von Frauen lese, die aus meiner Sicht Grossartiges<br />
oder Besonderes geleistet haben.<br />
Sind Anekdoten spannender als Aussagen, Programme<br />
oder Inhalte?<br />
?<br />
Wie transportierten diese Frauen ihre Plotpoints. Programme,<br />
nicht nur die politischen?<br />
Sie treten für ihre Überzeugungen ein und bezahlten zum<br />
Teil mit ihrem Leben.<br />
Interview<br />
Was wollen Sie mit diesen Serien bewirken? Oder: Sehen<br />
Sie sich als aktives Glied der Emanzipation?<br />
In Serien arbeite ich schon seit 1996, begonnen hab ich<br />
damit, weil mir bewusst wurde, dass man inhaltlich und<br />
arbeitstechnisch sich immer wieder mit einem Thema beschäftigen<br />
muss, um auf den Kern der Sache zu kommen<br />
bzw. dass auch für die BetrachterInnen es wichtig ist, das<br />
gleiche Bild immer wieder präsentiert zu bekommen. Der<br />
Inhalt wird dann genauer betrachtet. So sind zumindest<br />
meine Erfahrungswerte. Als aktives Glied der Emanzipation<br />
sehe ich mich nicht, da gibt es wirklich Kämpferinnen, die<br />
man als solche bezeichnen kann. Ich mache meine Kunst,<br />
das ist das, was ich immer wollte und will. Dass ich mich<br />
mit feministischen Themen beschäftige, hat den Grund,<br />
dass für mich Wut ein kreativer Motor ist und ich dann die<br />
Art von Kunst machen kann, die ich gerne möchte. Und das<br />
Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau gibt genug Arbeitsmaterial.<br />
Wenn Sie vor einem Ihrer Bilder stehen und ein Selbstgespräch<br />
führen…. Wie schaut dies aus, wie ist die Essenz?<br />
Ich führe leider immer wieder nicht nur wenn ich vor meinen Bildern<br />
stehe Selbstgespräche. Die Essenz ist: Kommt das Kämpferische<br />
rüber, bin ich zufrieden.
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
17<br />
Fragen zu Ihrer Arbeitsweise/Herangehensweise: Benutzen<br />
Sie stets als Bildträger eher großformatige Leinwand?<br />
Nein sehr unterschiedlich.<br />
Gibt es Klangfarben?<br />
Am liebsten arbeite ich mit den Primärfarben Rot, Blau und<br />
Gelb.<br />
Ich wechsle ab zwischen Comicfiguren und Portraits, das<br />
sind meist meine klassischen BildträgerInnen. Bekannte Comicfiguren<br />
verwende ich gerne, weil ich den Versuch gestartet<br />
habe, die eingeimpften stereotypen Bilder, die man als<br />
Kleinkind schon mit auf den Weg bekommt, in einen anderen<br />
Kontext zu stellen, das Scheuklappendenken soll hier ein wenig<br />
aufgeweicht werden, wenn ich also die Daisy Duck aus<br />
©Nina Maron, Ceci n est pas une muse, 2015 ©Nina Maron, Half Love_LizTaylor, 2015<br />
Verändern sich Ihre Arbeitsweisen oder verändern Sie<br />
Ihre Arbeitsweisen?<br />
Den Versuch starte ich täglich, weil ich nicht immer wieder<br />
das gleiche machen will .<br />
Ihre Zyklen „blind date“ oder „I can`t shoot him anymore“<br />
kommen der visuellen Poesie sehr nahe. Steht hier<br />
der Humor im Vordergrund?<br />
Eigentlich der Zynismus. I cant shoot him anymore stand<br />
aus der Serie zur Katharina Blum.<br />
Ihre Micky Mouse Serie in flashigem Pink war 2013 in<br />
der Liegl Galerie Neulengbach ausgestellt. Die Peanuts<br />
oder Dick und Doof waren für Sie ebenfalls Anlass für<br />
eine Serie. Wie kommen Sie auf diese Protagonisten?<br />
ihrer heilen Comicwelt hole und sie als Domina darstelle,<br />
dann gibt es einen Bruch.<br />
Haben Sie Grundsätze? Strukturierte Wucherungen?<br />
Meine Grundsatz ist: Widerstand zu leisten, wo es geht.<br />
Kondensstreifen am Horizont?<br />
?<br />
Nina Maron<br />
Geb.1973 in Mödling schloss 1998 ihr Diplomstudium an der<br />
Hochschule für angewandte Kunst in Wien bei Prof. Adolf Frohner<br />
ab. Heute arbeitet und lebt die Künstlerin in Wien.<br />
Interview
18 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Michael Ziegelwagner<br />
Anlässlich der Bürgerproduktion 4.0 des Landestheaters NÖ<br />
traf Eva Riebler-Übleis den Satire-, Essay-Schreiber, ehemaligen<br />
LitGes Mitarbeiter, Autor zweier Romane und einer der<br />
sechs AutorInnen der neuen Bürgerproduktion 4.0 des Landestheaters<br />
NÖ im Büro der Litges.<br />
Lieber Michael, Du bist ein Autor, der einen Text für<br />
das heurige Bürgertheater geschrieben hat. Wie kamst<br />
Du auf Deine Idee?<br />
Ich wurde bereits im Sommer gefragt, ob ich mitmachen<br />
möchte, und wir, also die Intendantin Bettina Hering, die<br />
Regisseurin Renate Aichinger und der Dramaturg Matthias<br />
Asboth, einigten uns auf das Thema Landeshauptstadtwerdung.<br />
Mich interessierte der propagandistische Aspekt: mit<br />
welchen Mitteln, Slogans und Parolen die Bürger für eine<br />
Hauptstadt gewonnen werden konnten. Ich wollte die Figur<br />
des Siegfried Ludwig mit seinem Spruch: Ein Land ohne<br />
Hauptstadt ist wie ein Gulasch ohne Saft! behandeln.<br />
Du ließest den Landeshauptmann auftreten?<br />
Nein, ich habe ihn als eine Art Marketingstrategen konzipiert.<br />
Die Idee war, eine Gruppe auftreten zu lassen, die<br />
eine Mischung aus Werbeagentur und Heeresabteilung ist.<br />
Diese Gruppe leitet die Propagandaschlacht um die Hauptstadtwerdung<br />
von St. Pölten und den Abwehrkampf von der<br />
Wiener Herrengasse. Entsprechend militärisch ist auch der<br />
Jargon, der im Stück gesprochen wird...<br />
Warst Du zufrieden mit der Umsetzung Deiner Szene, die<br />
in der Aula der Sparkasse St. Pölten zur Aufführung kam?<br />
Ja, ich war erstaunt, wie die Leute, die ja keine ausgebildeten<br />
Schauspieler sind, diese Rollen hinkriegen! Unglaublich<br />
war für mich, was in der letzten Probewoche noch aus<br />
den Darstellern herausgekitzelt worden ist!<br />
Die Bürgerproduktion des Vorjahres Glanzstoff hatte<br />
ja den Nestroy-Preis bekommen. War dieses tolle Stationentheater<br />
wieder preisverdächtig?<br />
Ich verleihe keine Preise – leider! Wenn ich nur könnte...<br />
Für den direkten Vergleich fehlt mir aber die Kenntnis von<br />
Glanzstoff. Ich habe dieses Stück versäumt, weil ich vor<br />
einem Jahr noch zwischen Frankfurt und Wien gependelt<br />
bin…<br />
Interview<br />
©Fotos Eva Riebler-Übleis<br />
War dies beruflich oder…<br />
Ja, in Frankfurt war ich Redakteur bei der Satirezeitschrift<br />
Titanic.<br />
Und jetzt lebst Du von Luft und Liebe?<br />
Unter anderem! Für die Titanic schreibe ich immer noch.<br />
Außerdem für die Wiener Zeitung – und nicht zuletzt, vor<br />
kurzem, fürs Bürgertheater.<br />
Du schriebst ja auch zwei Romane. Besonders gefiel<br />
mir, weil extrem pointiert und den Bürgern aufs Maul<br />
geschaut, das 2011 herausgegebene Café Anschluss.<br />
Als Österreicher unter Deutschen…<br />
Ich sehe es nicht unbedingt als Roman, sondern eher als<br />
Satire mit romanhaften Elementen. Bei meinem zweiten<br />
Buch, dem Aufblasbaren Kaiser, war es umgekehrt: ein<br />
ernsthafter Roman mit satirischen Elementen.<br />
Anlässlich von Café Anschluss schrieb ich in der Rezension<br />
des Heftes 54, Du sollst wieder nach Wien<br />
kommen, denn das Leid, das Dir die Deutschen sprachlich<br />
antun, ist auf Dauer zu groß…<br />
Dein Wunsch war mir Befehl – ich bin wieder in Österreich!<br />
Das Leid wurde allerdings nicht mir angetan, sondern dem<br />
Protagonisten des Werkes. Und der hat es auch verdient.<br />
Immerhin war er ein deutschenfeindlicher Rassist.
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
19<br />
Im Aufblasbaren Kaiser war eine Monarchistin die<br />
Hauptfigur. Wie kamst Du zu dieser Idee?<br />
Durch ein reales Erlebnis. Zu Beginn meines Studiums<br />
gelangte ich aus Interesse in solch einen Club von Monarchisten:<br />
Ich habe ein Plakat einer monarchistischen Versammlung<br />
gesehen, ging hin und wollte dort anonym aus<br />
einer Ecke heraus beobachten. Leider waren es nur 7-8<br />
Bei der Bürgertheater-Szene, dem Aufschreiben des<br />
Spruches: Ein Land ohne Hauptstadt ist wie ein Gulasch<br />
ohne Saft - wolltest Du da beides verquirlen?<br />
Ja, hier wird schließlich Handlung Sprache: Vier Menschen<br />
sind unter vollem Körpereinsatz damit beschäftigt, die zehn<br />
Wörter eines Slogans zu finden. Und wenn wir schon über<br />
das Thema BILD sprechen: Es war das erste Mal, dass aus<br />
einem Text von mir Bilder wurden!<br />
Trägst Du BILDER der Erinnerung in Dir?<br />
Ich lebe literarisch davon, natürlich. Ohne einen gewissen<br />
Vorrat an Urbildern geht es eigentlich nicht. Was man sich<br />
dann im späteren Leben an neuen Bildern zulegt, das ist ja<br />
eher Recherche als tatsächliche Erfahrung.<br />
Welches BILD machst Du Dir von Dir? (lacht)<br />
Äh, welches machst Du Dir von Dir?<br />
Als Kind suchte ich die Nische des kleinen braven<br />
Mädchens. Ich stellte mich naiv und konnte dadurch<br />
still beobachten…<br />
Das ist auch ein guter satirischer Ansatz: Sich naiv stellen,<br />
ganz harmlos die grundsätzlichen Fragen aufwerfen, sich<br />
klein machen und ins Denkgebäude des Gegenübers –<br />
oder des satirisch zu Behandelnden – tief hineinkriechen …<br />
Leute, unter denen ich sehr schnell aufgefallen bin. Statt<br />
zu beobachten, wurde ich beobachtet, dann ausgefragt<br />
und betrunken gemacht. Ich bin nicht mehr hingegangen<br />
– im Gegensatz zur Protagonistin!<br />
Du meinst, wie die Termite?<br />
Das kleine Tier, das es sich im Baumstamm gemütlich<br />
macht, bis er irgendwann zusammenbricht. Ja. Das Gegenteil<br />
wäre polemische, offensive Satire: Mit der riesengroßen<br />
Axt auf den Baum loszugehen, z B. Das hat natürlich<br />
auch Berechtigung.<br />
Du schreibst so bildlich vorstellbare Szenen, womit<br />
wir beim Thema des Heftes BILD anknüpfen können.<br />
Denkst Du räumlich vorstellbar oder eher sprachlich?<br />
Schwierige Frage... Café Anschluss habe ich als eine<br />
Sammlung von Essays bezeichnet. Die Kapitel befassen<br />
sich u.a. mit der unterschiedlichen Sprache von Deutschen<br />
und Österreichern, der unterschiedlichen Friedhofs-,<br />
Ernährungskultur, und erst allmählich schälte sich<br />
so etwas wie eine Handlung heraus. Die Sprache war also<br />
vor der Handlung da. Beim anderen Werk ist es umgekehrt,<br />
erst der Plot und dann die sprachliche Behandlung.<br />
Trennen kann man das aber nie. So, wie man Form und<br />
Inhalt nicht trennen kann.<br />
Ein kräftiges, eindrucksvolles BILD!<br />
Das wir gemeinsam erstellt haben!<br />
Michael Ziegelwagner<br />
Geb.1983 in St. Pölten, lebt in Wien. Studierte Journalismus, Praktika<br />
bei Presse, Wiener Kurier, Medium Magazin und Fernsehkanal<br />
Okto. Diplom 2008, Autor für das Satiremagazin Titanic, von 2009<br />
bis 2015 als Redakteur. Seit 2014 ist er dort Leiter des Ressorts<br />
„Humorkritik“. Darüber hinaus veröffentlichte er im Standard, der<br />
Wiener Zeitung und der taz. Seit 2015 Kolumnist des Monatsmagazins<br />
Datum. Lesender des Tagebuchtages der LitGes 2014.<br />
Seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis (Longlist) nutzte<br />
Ziegelwagner 2014 für einen Boykottaufruf der Preisverleihung.<br />
Interview
20 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Essay<br />
Caspar Jenny<br />
Stoff der in die Bilder zwingt<br />
Nachdem es über Nacht geschneit hatte, stapfe ich am<br />
anderen Morgen durch den Schnee. Es waren bereits vor<br />
mir Fussgänger unterwegs. Ich sehe den Abdruck ihrer<br />
Sohlen im noch frischen Schnee. Auch ich hinterlasse<br />
mit jedem Schritt, den ich vorwärtsgehe eine Spur: die<br />
Sohle meines Schuhs. Ich kann mich von der Vielfalt der<br />
verschiedenen Schuhabdrücke nicht mehr abwenden,<br />
sie wirken wie Zeichen mit einem tieferen symbolischen<br />
Gehalt, keineswegs banal oder oberflächlich. Mit den<br />
Tagen gefror der Schnee zu Eis. Die Abdrücke überlagern<br />
sich jetzt, da verschiedene Schichten von Schnee<br />
und Eis die jeweils untere Schicht bewahrt hatten. Komplexe<br />
Muster sind jetzt überall zu sehen. Dort die Reifenspur<br />
eines Autos, über die eine Lage konzentrischer<br />
Kreise wandert, hier wellenförmige Linien neben denen<br />
parallel ein Zickzack-Muster verläuft. Von besonderem<br />
Einfallsreichtum scheint ein Schuhabdruck, der einzelne<br />
Stücke eines Musters weiter vorne wiederholt. Ich<br />
kann es mir erklären, denn der Schnee musste durch<br />
das Sohlenmuster ausgestanzt worden sein, und während<br />
der Schuh wieder in die Höhe ging, löste sich der<br />
Schnee als positive Form aus der Sohle und fiel vor sein<br />
negativ. So fange ich an die Entstehungsgeschichte der<br />
raffinierten Muster zu lesen. Die Wege von Menschen,<br />
Fahrzeugen und Tieren haben sich für die Dauer eines<br />
Winters in Schnee und Eis konserviert. Dass diese Bilder<br />
ohne Absicht entstanden sind, erhöhte in meinen Augen<br />
ihren ästhetischen Wert. Niemand dachte an Kunst. Der<br />
Stoff des Schnees hat sich als geeigneter Bildträger erwiesen,<br />
und einen Winter lang erlag ich diesem glücklichen<br />
Zusammentreffen von Natur und Kultur.<br />
Ephemer wie die Bilder, die jeder Winter mit sich bringt,<br />
sind auch die Bilder, die im Himmel entstehen. Die<br />
weissen Kondensstreifen der Flugzeuge, die sich bei besonders<br />
blauem Himmel schön abzeichnen, rühren an<br />
mein ästhetisches Empfinden. Als wäre ein himmlischer<br />
Zeichner am Werk, treffen und kreuzen sich die geraden<br />
Linien im weiten Raum des Himmelsgrunds. Von dieser<br />
Präzision in Staunen versetzt, beobachte ich gerade<br />
noch, wie ein weisser Strich knapp über eine Kirchturmspitze<br />
gezogen wird. Dann werde ich von einem fernen<br />
Donnern überrascht. Von irgendwoher scheint der Himmel<br />
auseinandergerissen zu werden. Eine Flugzeugstaffel<br />
schiesst im Geschwader im Tiefflug vorüber. Hinter<br />
sich lassen sie breite Streifen in rot, weiss und blau,<br />
Farben, mit denen man auch ein Gemälde auf eine Leinwand<br />
malt. Jenseits von dieser gibt es den ausgedehnten<br />
Bildraum, der beinahe grenzenlos zu sein scheint. Kein<br />
Rahmen behindert den Malgrund, wenn es der Himmel<br />
selbst ist, und die Kunstflugstaffel will Bilder in den<br />
Himmel malen, für die Dauer einer Sensation, die das<br />
Publikum in Staunen versetzt. Dann sehe ich, wie zwei<br />
nebenher fliegende Flugzeuge sich voneinander lösen,<br />
als würde jedes von einer anderen Kraft weggezogen.<br />
Erst jetzt sehe ich, dass sie eine symmetrische Schlaufe<br />
in den Himmel malen, während ein drittes Flugzeug in<br />
diese Figur hineinfliegt und ein Herz durchbohrt.<br />
Doch der Himmel wechselt seine Grundierung von Tag<br />
zur Nacht, und wieder werden auf seinem dunklen Grund<br />
Bilder entstehen. In allen Farben aufgehende Blumen<br />
erleuchten den Nachthimmel, in dem glitzernde Girlanden<br />
herunterregnen. Aus der Mitte eines bunt explodierenden<br />
Lichts bricht eine nächste Blüte hervor, als wolle<br />
die folgende die vorhergehende noch überbieten, in<br />
noch grösseren Kreisen sich in den Himmel weiten, und<br />
immer wird mein Auge gieriger, will den einen optischen<br />
Triumph noch übertroffen sehen für diese Dauer eines<br />
kurzen Glücks, bis diese Bilder der Nacht mit einer letzten<br />
aufgehenden Blume, die den Firmament zu durchdringen<br />
scheint zu einem krönenden Abschluss kommt.<br />
Mit dem Verglühen dieses Feuers sinkt die Nacht wieder<br />
in ihr Dunkel zurück, aus der nun mein hellerleuchteter<br />
Schlaf auftaucht. Bilder meines träumenden Unterbewusstseins<br />
entstehen, das am Tag gesehene Dinge neu<br />
zusammensetzt. Ich träume einen Himmel aus Schnee,<br />
ich träume ein Herz aus Eis, das von einer Schuhsohle<br />
bricht. Mein schlafendes Bewusstsein ist jetzt Bildträger<br />
jenes Schöpfers Traum, der ein absichtsloser Künstler<br />
ist, und mich an die Entstehung der Schneebilder<br />
erinnert.<br />
Als ich meine Augen wieder öffne, befinde ich mich in<br />
einem Kreis in einem Getreidefeld. Unter meinen Füssen<br />
liegen abgeknickte Halme. Die Kraft, welche die<br />
Halme niedergedrückt hatte, zog den Kreis präzise bis<br />
an den Rand des unberührten Feldes, wo die Halme<br />
unbeschädigt nach innen abgeknickt liegen. Während<br />
mein Blick den Himmel absucht, wie um mich zu vergewissern,<br />
ob da etwas ist, bleibt mir das Bild verborgen,
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
21<br />
in dem ich drin stehe. Nur von oben lässt sich erkennen,<br />
was in das Kornfeld „gezeichnet“ wurde. Wer mit einem<br />
Flugzeug über die Stelle fliegt, sieht eine komplex angeordnetes<br />
Muster, das sich inmitten eines Feldes befindet.<br />
Von einem Mittelkreis aus gehen drei Spiralen<br />
aus, die wiederum aus kleineren und grösseren Kreisen<br />
bestehen. Die Perfektion des Bildes ist erstaunlich.<br />
Selbst auf einem Blatt Papier dürfte es schwierig sein<br />
diese Kreiskonstruktion zu zeichnen. Als ich später auf<br />
einer Anhöhe auf dieses Bild schaue, in dem ich zuvor<br />
noch gestanden habe, kommt es mir wie ein Traum vor.<br />
Der Bauer, dem das Feld gehört, versichert mir, dass<br />
das Bild über Nacht entstanden war. Wir rätseln darüber,<br />
wer in solch einer kurzen Zeit in der Lage gewesen<br />
sein könnte, die komplexe Kreisfigur in dem Kornfeld<br />
abzubilden. Es gibt keinerlei Spuren, die darauf hindeuten<br />
würden, dass sich Menschen durchs Feld bewegt<br />
hätten, um das Bild anzufertigen. Einzig eine dünne<br />
Linie zieht sich aus dem Mittelkreis bis an den Rand<br />
des Feldes. Es ist meine eigene Spur, als ich aus dem<br />
Kornkreis einen Weg durch das Feld nahm und dabei die<br />
Halme niedertrampelte. Am Rand des Felds stiess ich<br />
dann auf den Bauer, der mich lächelnd begrüsste. Nun<br />
stehen wir beide auf der Anhöhe, blicken in den klaren<br />
Himmel hoch, und irgendwo am Himmelsrand verblasst<br />
der Kondensstreifen eines Flugzeugs, diese Spur einer<br />
uns vertrauten Zivilisation. Doch was wir in dem golden<br />
glänzenden Feld sehen, das durch die niedergedrückten<br />
Halme hell erscheinende Muster, scheint nicht von dieser<br />
Welt.<br />
Jede gestalterische Kraft sucht sich den Träger aus, den<br />
er für sein Bild geeignet hält. Wenn im Dunkeln liegt,<br />
wer der Schöpfer war, wie im Fall der Kornkreise, wird<br />
das Bild zu einem Mysterium, das an eine göttliche<br />
Urheberschaft denken lässt. Diese transzendierende<br />
Kraft, die von Bildern ausgehen kann, ist wahrscheinlich<br />
der Grund, weshalb Menschen immer schon Bilder<br />
angefertigt haben, sei es auf einem Stück Knochen,<br />
auf einer Höhlenwand, im Sand, auf Felsen und letztlich<br />
auch auf dem Menschenkörper selbst. Indem der<br />
Mensch zum Träger von Bildern wird, vermag er sich selber<br />
zu transzendieren. Selbst der Biss eines Krokodils<br />
kann in einem Initiationsritus in den Körper eingezeichnet<br />
werden. In einer schmerzvollen Prozedur beisst sich<br />
das Haupttier einer Schöpfungsmythologie in den Körper<br />
hinein, indem man die Haut aufschneidet, die blutenden<br />
Wunden mit Schmutz einreibt, damit sie Narben<br />
bilden. Das entstandene Narbenmuster auf dem Körper<br />
des Initianten ist der Biss des Krokodils. Mit der Einzeichnung<br />
eines göttlichen Tiers in den menschlichen<br />
Körper ist dieser selber zu einem Träger dieser Gottheit<br />
geworden. Auch in der der christlichen Religion ist der<br />
Menschenkörper ein Träger göttlicher Zeichen. Nachdem<br />
Kain seinen Bruder Abel aus Eifersucht erschlug,<br />
weil Gott nur auf das Opfer seines Bruders sah, und auf<br />
seines nicht, glaubte er sich vogelfrei. Doch Gott versah<br />
Kain mit einem Zeichen, damit ihn keiner erschlüge.<br />
Das „Kainszeichen“ aus dem ersten Buch Mose kann<br />
als eine Urform der Tätowierung angesehen werden.<br />
Der so stigmatisierte Körper erzählt von einer eigenen<br />
Geschichte, die gewollt oder ungewollt auf den Körper<br />
gebannt wurde. Mit der Idee der Nichtauslöschbarkeit<br />
stehen Tätowierungen für mehr als was sie repräsentieren,<br />
sie bedingen den Träger bis in seine Seele hinein.<br />
Auf der menschlichen Haut existiert das Bild solange<br />
der Bildträger am Leben ist. Mit dem Tod des Bildträgers<br />
geht auch das Bild unter. Der vergängliche Bildträger<br />
übt eine besondere Faszination aus, auch die unbeschädigten<br />
Halme der Kornmuster richten sich nach einer<br />
gewissen Zeit wieder auf oder werden abgemäht, die<br />
Abdrücke im Schnee vergehen mit der ersten Wärme,<br />
und der sterbliche Bildträger Mensch nimmt normalerweise<br />
seine Tätowierung mit ins Grab. Das Paradox des<br />
sowohl vergänglichen als auch lebendigen Bildträgers<br />
hat der Meister des makabren Humors Roald Dahl in<br />
seiner Kurzgeschichte „Skin“ von 1952 ausgelotet. In<br />
seinen Jugendjahren kommt einem Berufstätowierer im<br />
Atelier seines Freundes (der Maler Chaim Soutine) die<br />
Idee, das Portrait seiner ebenso anwesenden Frau vom<br />
Kunstmaler auf seinen Rücken tätowieren zu lassen. In<br />
einer hochkonzentrierten Sitzung tätowiert der Maler<br />
das Portrait der Frau auf den Rücken seines Freundes.<br />
Jahrzehnte später steht der verarmte Tätowierer (seine<br />
Frau ist bereits verstorben) vor dem Schaufenster<br />
einer Galerie in Paris, in dem ein Gemälde seines nun<br />
berühmt gewordenen Freundes ausgestellt ist. Er geht<br />
in die Galerie und als man ihn wieder hinauswerfen will,<br />
entblösst er seinen Rücken vor einem in Staunen geratenen<br />
Publikum. Nachdem er einem verführerischen<br />
Angebot eines Sammlers nachgibt, geht er mit dem<br />
Fremden weg. Einige Zeit später taucht in einer Galerie<br />
das Bild eines verschollenen Meisterwerks des Malers<br />
Essay
22 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Chaim Soutine auf, bei dem es sich offenbar um das<br />
tätowierte Bild der Frau handelt.<br />
Erst mit der Tötung des lebendigen Teils des Bildträgers,<br />
konnte der so mortifizierte Bildteil, die Haut, von<br />
seinem Träger abgezogen, konserviert und auf einen<br />
Rahmen gespannt werden. Das Bild hat somit seinen<br />
Träger im wahrsten Sinn „überlebt“, seinem Träger gar<br />
einen gewaltsamen Tod beschert. Der Wert des Bildes<br />
hat den Lebenswert seines Trägers in einer Weise übertroffen,<br />
dass der Sammler den menschlichen Teil für<br />
wertlos hielt. Der lebendige Träger wurde auf eine absurde<br />
Weise zu einem unerwünschten Hindernis, das<br />
entfernt werden musste, um an das Bild zu gelangen.<br />
So gesehen ist die menschliche Haut eine Extremform<br />
eines Bildträgers, der unweigerlich an seinen menschlichen<br />
Träger gebunden ist. Auch Tierhäute wurden zu<br />
Pergament verarbeitet, und der Gedanke lässt sich nicht<br />
mehr verscheuchen, ob man die schönen Illuminationen<br />
nicht vielleicht auch auf Menschenhaut gemalt hatte.<br />
Mein vergängliches Leben trotzt diesen ewigen Bildträgern,<br />
die mich überdauern werden, und damit wende ich<br />
mich gerne auch wieder dem vergänglichen Bildträger<br />
zu. Schon jetzt freue ich mich auf den nächsten Winter,<br />
wenn noch ausgefallenere Sohlenmuster den Schnee<br />
bebildern werden.<br />
Caspar Jenny<br />
Geb. 1971 in Basel. Aufgewachsen in Griechenland und im Tessin.<br />
Studium der Philosophie, Germanistik und Ethnologie. Arbeiten<br />
als Postler, Kunstmaler, Asylbeobachter und Lektor. Gedichte und<br />
Essays in Krautgarten, etcetera und Der Dreischneuss. 2012 Gedichtband<br />
„Im Rückstoss des Tages“. 2015 Veröffentlichung des<br />
Romans „Der Waran“ (killroy media Verlag). Schreibt an einem<br />
Roman mit dem Titel „Die Gezeiten der Stadt“.<br />
Essay<br />
©Birgit&Peter Kainz HUMAN-U-Bahnspinne_2016
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
23<br />
Gerhard Benigni<br />
Bildungsferne Jugendschutzbrillenträger<br />
Auszug aus dem Kärntner Jugendschutzgesetz, Paragraf<br />
11, Absatz 6 Jugendgefährdende Medien, Gegenstände und<br />
Dienstleistungen:<br />
Die Kennzeichnung der Freigabe für Kinder und Jugendliche<br />
insgesamt oder ab einem bestimmten Alter hat auf fälschungssichere<br />
Weise deutlich sichtbar auf dem Bildträger<br />
und auf dessen Umhüllung zu erfolgen. Bei auf sonstigem<br />
elektronischen Weg zugänglichen Bildträgern ist die Kennzeichnung<br />
so abzuspeichern, dass sie unmittelbar vor dem<br />
Programm auf die Dauer von zehn Sekunden aufscheint.<br />
10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1... Cola Zero. Jugend forscht. Ich<br />
glaub’, ich bin im Bild. Ich glaub’, ich bin im Bild. Träger<br />
Beginn. Hosenträger. Würdenträger. Bauträger. Briefträger.<br />
Skiträger. Ideenträger. Keimträger. Stahlträger. Datenträger.<br />
Sargträger. Massenweise Träger. Träge Masse. Immerhin<br />
jede Menge Bilder. Nicht im Kopf. Am Handy. Selfies mit<br />
Selbstauslöser. Ein Sittenbild der jungen Gesellschaft. Immer<br />
träger werden wir. Waffenträger. Uniformträger. Flugzeugträger.<br />
Trägerraketen. Immer mehr Kriege. Das Ende<br />
der Friedensnobelpreisträger. Gut gefüllte Kriegskassen<br />
klingeln. Humanitäre Sanitätsmaßnahmen. Krankenträger.<br />
Verbandelte Sozialversicherungsträger. Zahnlose Prothesenträger<br />
machen bissige Bemerkungen. In die Enge getriebene<br />
Rechtsträger als unerwartete Linksausleger.<br />
Verklemmte Gepäcksträger hier, radikalisierte Kofferträger<br />
dort. Sie bilden gemeinsam einen Sprengsatz. Das sprengt<br />
den grammatikalischen Rahmen. Lizenzträger to kill. Amtierende<br />
Amtsträger in Amsterdam grachten ihrer Ämter,<br />
während sich Brüsseler Spitzen als schweigsame Geheimnisträger<br />
entpuppen. Flämische Fackelträger beschwören<br />
transfette Fritten als bombastische Geschmacksträger.<br />
Was bleibt: Bartträger und Kopftuchträgerinnen als Feindbild.<br />
Dazu Livebilder im Fernsehen.<br />
Früher. Ohne HD. Da war das Bild auch noch träger. Keine<br />
400 Hertz. Keine 200. Nicht einmal 100. Hertzflimmern.<br />
Und Sendeschluss. Bundeshymne. Fahnenträger. Flauschige<br />
Deckenträger vor den Kisten. Von namhaften Namensträgern<br />
als reklamierende Werbeträger angestrahlt.<br />
Lauter Sympathieträger. Jedenfalls träger Informationsaustausch.<br />
Einseitig. Der Konsument als geweihter Hornträger,<br />
vielmehr als gehörnter Geweihträger. Es gilt das<br />
Trägheitsprinzip: „Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe<br />
oder der gleichförmigen Translation, sofern er nicht durch<br />
einwirkende Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen<br />
wird.“ Ehemalige Einkaufskorbträger mutieren online<br />
alsbald zu Hauptumsatzträgern der Konsumgesellschaft.<br />
Zugleich demonstrieren sie Geschlossenheit vor Ort. Konsumleichenträger<br />
arbeiten im Akkord.<br />
Ob der Doppel-T-Träger mir wohl auch einen einfachen<br />
Espresso serviert? Sicher nicht. Schließlich ist auch nicht<br />
jeder Speisenträger ein Spaghettiträger. Nudelsieb. Siebträger.<br />
Herr Ober, zahlen! Zu blöd auch. Trägerwechsel.<br />
Nachkommende Erbträger entschlüpfen Kinderausträgerinnen.<br />
Windelträger. Hoffnungsträger. Laternenträger.<br />
Angehende Leistungsträger. Leistungsdruck. Während<br />
das Geschäft der Möbelträger schleppend läuft, nicht zu<br />
verwechseln mit Schleppenträgern, werden töpfernde Tonträger<br />
nicht müde, zu betonen: „Scheiben bringen Glück!“<br />
Eines ist jedenfalls sicher: Querträger sind dick.<br />
Kraftlose Energieträger. Überleitende Wärmeträger. Betrübte<br />
Wasserträger. Endlich gefunden: den gemeinen Bildträger.<br />
Deutschlands gebildete Zeitungsausträger. Und bei<br />
uns: heimische Bildungsmisere. Schwankende Entscheidungsträger.<br />
Professorische Titelträger. Bedenkenträger.<br />
Vermeidende Risikoträger. Störrische Lastträger. Vor allem<br />
aber Scheuklappenträger. Und alles nur zum Schutz der Jugend.<br />
Träger wird’s nimmer. Der Textträger ist müde. Bachmannpreisträger<br />
wird man damit nicht. Das Trägermaterial<br />
ist erschöpft. Pictures in the dark.<br />
Gerhard Benigni<br />
Geb. 1973, lebt, arbeitet und schreibt in Villach. Viele seiner Kurzgeschichten<br />
sind in Literaturzeitschriften und Anthologien sowie<br />
in seinen ersten beiden Büchern „Fertigteilparkettboden. Im Niedrigenergiereihenhaus“<br />
und „Der Usambaraveilchenstreichler auf<br />
dem Weg zum Südpol“ erschienen.<br />
Essay
24 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Werner Stangl<br />
Bildträger<br />
Wikipedia: Als Bildträger wird in der bildenden Kunst<br />
der Untergrund eines Bildes bezeichnet. In der Tafelmalerei<br />
besteht der Bildträger üblicherweise aus Holz.<br />
Textile Bildträger werden als Leinwand bezeichnet, obwohl<br />
diese Bezeichnung eigentlich nur für Textilien aus<br />
Flachs zutrifft. Weitere Bildträger sind Karton oder Papier,<br />
seltener Blech, Glas, Keramik und andere Materialien.<br />
In der Wandmalerei können Felsen oder jede andere<br />
Architekturoberfläche, z. B. Wände oder Decken mit<br />
oder ohne Putz auf Mauerwerk, als Bildträger dienen.<br />
Jugendschutzgesetz (§ 1 Abs. 2): Bildträger sind gegenständliche<br />
Träger von Texten, Bildern oder Tönen, die zur<br />
Weitergabe geeignet, zur unmittelbaren Wahrnehmung<br />
bestimmt oder in einem Vorführ- oder Spielgerät eingebaut<br />
sind oder mit Hilfe dieser Vorführ- oder Spielgeräte<br />
dargestellt werden können. Bildträger müssen, wenn<br />
sie in der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden,<br />
mit einerAltersfreigabe der Obersten Landesjugendbehörden<br />
oder einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle,<br />
i.d.R. der „Freiwilligen Selbstkontrolle der<br />
Filmwirtschaft“und der „Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle“<br />
gekennzeichnet sein. Bildträger, die indiziert<br />
bzw. mit „Keine Jugendfreigabe“ oder überhaupt nicht<br />
gekennzeichnet sind, dürfen Kindern und Jugendlichen<br />
nicht angeboten, überlassen oder zugänglich gemacht<br />
werden.<br />
“Love”und “Hate” auf seinen Fingern stehen hat, sind<br />
bei Flatz am Daumenansatz die Worte “Give”und “Take”<br />
eintätowiert. Nach seinem Ableben will er seine Haut in<br />
einem Auktionshaus meistbietend versteigern lassen,<br />
wodurch sie zum verfügbaren Kunstwerk und überleben<br />
wird.<br />
Mädchenportrait (The Metropolitan Museum of Art,<br />
New York): Gemälde, Öl auf Leinwand, Höhe: 110 cm,<br />
datiert 1869. Beschädigung des Bildträgers durch einen<br />
Türgriff beim Handling einer Umzugsfirma.<br />
Digitale Bildverarbeitung: Ein Bildträger ist charakterisiert<br />
durch eine Punktmenge P, eine Nachbarschaftsrelation<br />
N für die Punkte von P und durch eine zyklische<br />
Ordnung Z für die Nachbarschaften der Punkte.<br />
Mein Bildträger: Das Herz.<br />
Essay<br />
Flatz - die Haut als Bildträger (Marktstr. 33, 6850 Dornbirn):<br />
Im Gefolge von Valie Export und Timm Ulrichs<br />
begab sich Flatz in den 1980er Jahren auf die Suche<br />
nach Ausdrucksformen außerhalb der konventionellen<br />
Bildmittel und wurde bei seinem Körper fündig. 1985 signierte<br />
Flatz sich selbst durch ein Tattoo auf dem Schulterblatt,<br />
drei Jahre später folgte ein Barcode auf dem<br />
linken Oberarm. Über die Jahre kamen weitere großflächige<br />
Beschriftungen der Haut: “Physical Sculpture” auf<br />
dem Rücken, die altgriechische Redewendung “Molon<br />
Labe” (Komm und hol sie dir!) am Bauchansatz, die vertikalen<br />
Schriftzüge “Mut tut gut” und Ciceros “Dum spiro<br />
spero”(Solange ich atme, hoffe ich) auf den Armen. Und<br />
analog zum Film “Die Nacht des Jägers” (1955), in dem<br />
Robert Mitchum als falscher Gefängnispriester die Worte<br />
Werner Stangl<br />
Geb. 1947 in Wien, lehrte 36 Jahre an der Johannes Kepler<br />
Universität Linz Psychologie, Veröffentlichung von Gedichten,<br />
Kurzgeschichten und Theaterstücken („neue wege“, „facetten“,<br />
„erostepost“, „sterz“, „Landstrich“, „Die Rampe“). Drama „Die<br />
Vorladung“ (Landestheater Linz, Wien). WWW: http://literatur.<br />
stangl.eu/
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
25<br />
©Birgit&Peter Kainz Karlskirche_24_6_09 und Karlskirche_Lutherbibel1-3<br />
Karlskirche
26 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Heinz Zitta<br />
Der Bildträger und die Kunst des Regenbogens<br />
Prosa<br />
Ich bin jetzt ein Bildträger. Früher habe ich mit Büchern<br />
statt mit Bildern gearbeitet. Ich hatte einen erfüllenden Job<br />
als Buchstütze in einer Bibliothek. Aber die Bibliothek wurde<br />
aus Lesermangel geschlossen und die Buchhandlungen<br />
brauchen keine Buchstützen mehr. Sie verkürzen die Regale,<br />
sodass kein freier Platz mehr bleibt und somit nicht<br />
länger Bedarf an Buchstützen besteht. Und die E-Books, die<br />
brauchen erst recht keine Buchstützen. Ich wollte aber unbedingt<br />
wieder im kulturellen oder künstlerischen Bereich<br />
arbeiten. Als in meiner Stadt eine Galerie neu eröffnet wurde,<br />
witterte ich meine Chance und bewarb mich als Bildträger.<br />
Ich kam gerade rechtzeitig in die Galerie, als der Galerist<br />
Bilder für seine erste Ausstellung aufhängen wollte. Als<br />
ich ihn alleine mit Maßband, Wasserwaage, Bleistift, Nägeln<br />
und Hammer hantieren sah, war mir sofort klar: Dem<br />
Mann muss geholfen werden. Der braucht einen Bildträger.<br />
Als Neuankömmling in der Galerie wollte ich nicht gleich<br />
mit der Tür ins Haus fallen und beobachtete eine Weile aus<br />
sicherer Entfernung, wie der Mann die gerahmten Bilder<br />
zuerst im Raum anordnete, an die Wand lehnte und die<br />
richtige Höhe zum Aufhängen abschätzte. Er wirkte dabei<br />
hektisch und planlos, machte erst einen Bleistiftstrich in<br />
Kopfhöhe, dann etwas höher, dann wieder niedriger. Er<br />
fuchtelte wild mit dem Maßband herum und erschien mir<br />
irgendwie überfordert. Das sollte einem erfahrenen Galeristen<br />
nicht passieren, aber dafür bin ja ich nun da. Ich<br />
machte mich mit einem Räuspern bemerkbar und sprach<br />
ihn an: „Entschuldigung, Herr …, brauchen Sie vielleicht<br />
einen Bildträger? Ich kann Ihnen gerne zur Hand gehen.“<br />
Der Maßbandfuchtler ließ sich durch meine Anwesenheit<br />
aber nicht beeindrucken, machte weiterhin wirre Striche<br />
auf die Wand und begann jetzt auch noch, die Reihenfolge<br />
der Bilder zu vertauschen. Er fing mit dem größten links<br />
an und fädelte die restlichen dann in der Größe absteigend<br />
auf, wie beim Aufstellen einer Mannschaft beim Sport. Ich<br />
versuchte es nochmals, diesmal etwas lauter: „Soll ich Ihnen<br />
helfen, mit der Anordnung der Bilder? Ich habe damit<br />
Erfahrung. Ich bin ein geprüfter Bildträger.“<br />
Das mit dem „geprüft“ war zwar schamlos übertrieben,<br />
aber man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen.<br />
Und bevor der Galerist mich wieder ignorieren konnte,<br />
nahm ich kurz entschlossen ein kleines Bild von der rechten<br />
Seite und trug es auf die linke Seite. Dann schnappte<br />
ich mir aus der Mitte ein Bild und trug es nach rechts. Mit<br />
diesem Überraschungsangriff hatte der Herr Bildaufhänger<br />
wohl nicht gerechnet. Verdutzt schaute er mir zu, ließ mir<br />
aber die Freiheit, noch ein weiteres Bilderpaar umzugruppieren.<br />
„Gar nicht einmal so schlecht“, gab er plötzlich seine Meinung<br />
kund. „Sie können das anscheinend. Sind Sie ein Bildträger?“<br />
Diese rasche Auffassungsgabe des Galeristen tat meinem<br />
Ego gut. Ja, ich bin ein Bildträger, und dass der Galerist das<br />
so schnell erkannt hatte, zeigte, dass auch er vom Fach ist.<br />
„Gestatten, Bernhard Bildträger“, trat ich nun zu ihm und<br />
streckte ihm zur Begrüßung meine Hand entgegen.<br />
„Willkommen im Team! Ich bin Georg, der Galeriebetreiber“,<br />
erwiderte er auf meinen Gruß und drückte dabei meine<br />
Hand etwas zu kräftig. Besonders angesichts des Nagels,<br />
den er immer noch in der Hand hielt.<br />
„Ich bin heute etwas im Stress“, wurde Georg auf einmal<br />
gesprächig. „Morgen wird die neue Ausstellung eröffnet<br />
und gerade heute hat sich mein Mitarbeiter krankgemeldet.<br />
So muss ich jetzt alleine alle Bilder anordnen und aufhängen<br />
und ich kann mich so schwer entscheiden. Soll ich<br />
sie der Helligkeit nach anordnen? Oder der Größe nach?<br />
Oder alphabetisch, dem Bildtitel nach? Was meinen Sie?“<br />
Diese Ansage von Georg gefiel mir. Er hatte mich offensichtlich<br />
schon akzeptiert und in sein Team aufgenommen.<br />
„Das muss man einfach ausprobieren“, tat ich nun sehr<br />
geschäftig und ordnete schnell und wahllos noch ein paar<br />
Bilder um. Alphabetisch, das wäre auch ein Ansatz, warum<br />
nicht? Aber dann erkannte ich das Dilemma: Gut die Hälfte<br />
der Bilder war mit „Ohne Titel“ betitelt. Also eben nicht<br />
betitelt. Da hat der Künstler wohl geschlampt. Dafür gibt’s<br />
einen Punkte-, einen Preisabzug.<br />
„Der Künstler ist gleich nach Anlieferung der Bilder in die<br />
Galerie auf Urlaub gefahren“, erklärte mir Georg die Sachlage.<br />
„Er wird den Käufern die Titel auf Anfrage nachliefern,<br />
portofrei.“<br />
Das half uns jetzt aber auch nicht weiter. Ein alphabetisches<br />
Anordnen der Werke fiel damit aus. Schwierig, schwierig.<br />
Als Bildträger fühlte ich mich heillos überfordert. Im Bilder-
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
27<br />
tragen war ich fit. Wenn mir jemand sagte, wohin ich die<br />
Bilder tragen sollte, dann war das ein Kinderspiel für mich.<br />
Bilderanordnen war eine gänzlich andere Sache. Aber diese<br />
Unsicherheit durfte ich mir gegenüber Georg nicht anmerken<br />
lassen. Er vertraute mir jetzt, er verließ sich auf mich.<br />
Georg zündete sich gerade eine Zigarette an. Darf er das?<br />
Er durfte, es war ja seine Galerie. Er lümmelte an einem<br />
Stehtisch und sah mir zu, wie ich die Bilder hin und her<br />
trug. Ich wartete auf eine Eingebung, nach welchen Kriterien<br />
ich die Bilder anordnen könnte. Wer macht das üblicherweise<br />
in einer Galerie? Das ist doch ein Job für einen<br />
Kurator, nicht für einen Bildträger. Doch woher so schnell<br />
einen Kurator nehmen? Also blieb diese Aufgabe doch an<br />
mir hängen.<br />
Ich schaute mir die Bilder genauer an. Was hat der Künstler<br />
eigentlich gemalt? Ich konnte nichts Konkretes erkennen,<br />
nur abstrakte Pinselstriche, geometrische Formen und<br />
Farbspritzer. Sehr bunt. Rot, orange, gelb … Die Farben gefielen<br />
mir. Ich hatte es gerne bunt. Die Farben erinnerten<br />
mich an einen Regenbogen. Regenbogen? Ja, das wäre<br />
doch ein Ordnungskriterium. Die Farben des Regenbogens.<br />
Wie waren die noch gleich? Das hatte ich mal in der Schule<br />
gelernt, im Physikunterricht. Vom Professor Newton. Nein,<br />
nicht Newton, Müller hieß mein Prof. Aber der selige Newton<br />
hat sie entdeckt, die Regenbogenfarben. Mit einem<br />
Prisma. Rot, Orange … wie geht’s weiter? Rot, Orange,<br />
Gelb, Grün … Hellblau, Dunkelblau … Violett. Ja, so könnte<br />
es gehen.<br />
er kein Anhänger von Goethe. Von Goethe, dem Maler?<br />
Nein, Goethe, der Dichter, ist gemeint. Der hat sich auch<br />
mit Naturwissenschaft beschäftigt und sich seine eigene<br />
Meinung über die Farben gebildet. Und diese hat er niedergeschrieben,<br />
in seiner Farbenlehre. Mit dieser Farbenlehre<br />
hätte Newton wiederum keine Freude gehabt. Goethe war<br />
halt kein Physiker und hat sich nicht so gut ausgekannt<br />
bei den Farben. Er akzeptierte es nicht, dass Newton das<br />
weiße Licht mit einem Prisma in die Regebogenfarben zerlegte.<br />
Weiß ist eine reine Farbe, die kann man nicht zerlegen,<br />
meinte Goethe. Beim Schreiben hat er sich besser<br />
ausgekannt, der Goethe, als in der Physik der Farben. Heute<br />
weiß jedes Kind, dass ein Farbfernseher, ein Computerbildschirm<br />
und auch ein Smartphone ein RGB-Display hat.<br />
Das heißt, Rot, Grün und Blau werden zusammengemischt,<br />
um Weiß darzustellen. Zu Goethes Zeiten gab es noch keine<br />
Farbfernseher, deshalb wollen wir ihm diesen Fehler in<br />
seiner Farbenlehre verzeihen. Ich schweife ab. Auf was will<br />
ich hier hinaus? Ach so, der Regenbogen. Der funktioniert<br />
mit Newtons Prima oder einfach mit ein bisschen Regen.<br />
Und man braucht auch Sonne dazu, die von der richtigen<br />
Seite in den Regen hineinscheint, um einen Regenbogen zu<br />
sehen. Die Maler haben es hier leichter. Die brauchen nicht<br />
warten, bis es gleichzeitig regnet und die Sonne scheint,<br />
um einen Regenbogen zu erschaffen. Die kaufen einfach<br />
die passenden Farben und pinseln sie auf ihre Leinwände.<br />
Rot, Orange, Gelb, Grün, Hellblau, Dunkelblau, Violett. Das<br />
funktioniert mit Ölfarben, mit Acryl oder als Aquarell. Und<br />
ich, Bernhard, der Bildträger, hab’s richtig erkannt und richtig<br />
angeordnet. Ganz alleine und ohne Kurator!<br />
Ich trug die Bilder jetzt den Farben nach zusammen, zuerst<br />
die roten, dann die mit viel Orange, dann die überwiegend<br />
gelben. Danach kam Grün dran. Wo sind die grünen Bilder?<br />
Keine dabei? Hat er wohl wieder geschlampt, der Herr<br />
Künstler. Kennt sich wohl nicht aus mit dem Regenbogen.<br />
Hat er den Physikunterricht geschwänzt? Grün fiel also aus,<br />
mit Blau ging’s weiter. Hell- oder Dunkelblau? Egal. Violett?<br />
Violette Bilder gab’s auch keine. Da stellen wir einen Strauß<br />
Veilchen hin, als Abschluss. Sonst ist der Regenbogen nicht<br />
komplett.<br />
Georg, der Galerist, war begeistert. Meine farbphysikalische<br />
Anordnung gefiel ihm. Dem Newton hätte sie auch<br />
gefallen. Ich hoffe, der Künstler kann sich mit dieser Auslegung<br />
seiner Bilder ebenfalls anfreunden. Hoffentlich ist<br />
Kommen Sie in die Galerie Georg! Morgen ist Vernissage.<br />
Sekt gibt’s da auch. Aber nur Orange, keinen Rosé. Die Farbe<br />
kommt im Regenbogen nun mal nicht vor.<br />
Heinz Zitta<br />
Geb. 1950, lebt in Villach/Österreich und arbeitete als Entwicklungs-Ingenieur<br />
in der Elektronik-Industrie. Kreatives Schreiben<br />
ist für ihn ein willkommener Ausgleich zu den exakten Anforderungen<br />
seines technischen Berufs. Seine literarischen Interessen<br />
umfassen Kurzgeschichten, Satire und Reiseberichte.<br />
Prosa
28 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Prosa<br />
Margit Heumann<br />
Wenn wir in Gruppen ziellos<br />
Auch wenn es schon eine Weile her ist, dass ich ein<br />
Neuankömmling war, erkenne ich euch überall und<br />
sofort. Ich erkenne euch an der Resignation in eurem<br />
Schritt, an der schicksalsergebenen Haltung, an der Kapitulation<br />
im Blick. Der Flüchtling steht euch ins Gesicht<br />
geschrieben und in euren Augen spiegelt sich meine eigene<br />
Heimatlosigkeit.<br />
Wir haben die Heimat verloren, aber ihre Zerrbilder<br />
schleppen wir mit uns herum, wenn wir in Gruppen ziellos<br />
durch die Stadt schlendern, an einer Straßenecke<br />
stehen, am Bahnhof die Zeit tot schlagen. Wir sind Bildträger<br />
unserer entstellten Heimat und leiden unter ihrer<br />
Last, doch wir murren nicht, wir jammern nicht, alle Tränen<br />
sind längst geweint. Nach den Gräueln des Gestern,<br />
tun wir uns schwer mit dem Heute und wissen nichts<br />
von Morgen. Ich, jünger an Jahren, doch als Flüchtling<br />
der Ältere, gebe mich souverän, als hätte ich Lösungen<br />
für jedes Problem parat, wenn das Handy aussetzt, das<br />
Essen fremd schmeckt, die Zimmerkollegen schnarchen<br />
und einer aufschreit im Schlaf und ein anderer weint,<br />
jede Nacht. Es sind die immer gleichen Geschichten,<br />
meine, eure, die der anderen, in denen das Wesentliche<br />
verschleiert und das Wichtige ungesagt bleibt. Mag<br />
sein, dieser Anschein und Unterton wird nur für unsereinen<br />
deutlich, die wir alle so reden und alle so hören und<br />
alle so fühlen, weil wir dem gleichen Umstand zum Opfer<br />
gefallen sind, dem Umstand der verlorenen Heimat.<br />
Dass der Umstand schmerzhaft ist, überrascht uns<br />
nicht. Wohl aber, dass er uns Schuldgefühle verursacht,<br />
obwohl wir keine Wahl hatten. Er lässt nicht zu, dass wir<br />
uns loskaufen, obwohl wir teuer dafür bezahlt haben. Er<br />
macht uns zu traumatisierten Bildträgern, randvoll mit<br />
Erinnerungsansichten, zum Platzen voll, und gleichzeitig<br />
versiegelt er uns die Lippen, sodass wir nichts sagen<br />
können. Zumindest nicht das, was gesagt werden will.<br />
Die Bilder in unseren Köpfen drängen nach Ausdruck,<br />
aber unsere Zungen gehorchen ihnen nicht, die Stimmbänder<br />
verweigern ihren Dienst, der Kehlkopf streikt.<br />
Um nicht an dem Ungesagten zu ersticken, reden wir<br />
uns selbst gut zu, irgendwann wird das, was jetzt in uns<br />
brennt, nicht mehr weh tun, irgendwann werden wir uns<br />
daran gewöhnen, dass das, wovon wir für immer Teil<br />
sein wollten, nicht mehr zu uns gehört.<br />
Wenn wir so in Gruppen ziellos durch die Stadt schlendern,<br />
an einer Straßenecke stehen, am Bahnhof die Zeit<br />
tot schlagen, kommt unweigerlich der Moment, wo Lider<br />
flackern, Lippen zittern und einer von uns sich innerlich<br />
verabschiedet, magisch angezogen von dem schwarzen<br />
Loch, an dessen Rand wir Heimatlosen alle von Zeit zu<br />
Zeit entlang taumeln. Stumm holt ein anderer ein Päckchen<br />
Filterlose aus der Tasche, sucht umständlich nach<br />
dem Feuerzeug, das Anzünden reihum dauert, schweigend<br />
paffen und inhalieren und blasen wir Rauch in die<br />
Luft, bis der Sog nachlässt und die Augen zurückkehren<br />
ins Hier und Heute. Nach dem Blick in den Abgrund sind<br />
die Themen andere, wir erörtern das karge Leben syrischer<br />
Landwirte, den kriegsbedingten Rückgang des<br />
Tourismus, die Einzigartigkeit unserer antiken Stätten,<br />
die Wichtigkeit der Erdgasproduktion, und es ist abgemacht,<br />
dass alles Erzählte im Allgemeinen und ohne<br />
persönlichen Bezug bleibt, auf leerer Bühne stattfindet,<br />
vor bereinigter Kulisse, ohne Hintergrund, im luftleeren<br />
Raum. Weil wir den Himmel über Syrien lange<br />
nicht mehr blau oder grau gesehen haben, sondern viel<br />
zu oft feuerrot, weil ganze Distrikte IS-Gebiet sind und<br />
die Täler nicht mehr Viehweiden, sondern Kriegsgebiet,<br />
die Städte und Dörfer nicht mehr voller Leben, sondern<br />
Geisterorte und die Wüsten nicht mehr Wüsten, sondern<br />
Schlachtfelder.<br />
Auch ich habe die Schießereien, die Bomben, die Gewalt,<br />
die zerstörten Häuser, die vergewaltigten Frauen,<br />
die weinenden Kinder hinter mir gelassen. Ich habe alles<br />
hinter mir gelassen, was nicht mehr Heimat ist. Ich<br />
habe mich auf den Weg gemacht, bei Nacht und Nebel,<br />
in Eiseskälte und brütender Hitze, über die Berge, über<br />
grüne Grenzen, ich habe mich in Wäldern versteckt, in<br />
Zelten gefroren, in Lagern gehungert, ich habe Schlepper<br />
gesucht und gefunden, Geld bezahlt, um auf einem<br />
maroden Kahn übers Meer zu fahren, ich bin mit Vielen<br />
aufgebrochen, mit Wenigen weitergezogen, mit einer<br />
Handvoll in Österreich gelandet. Angekommen bin ich<br />
noch lange nicht.<br />
Am Ende der Flucht bin ich gestrandet in einem Zwischenreich,<br />
registriert, fotografiert, administriert und
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
29<br />
eingeschlossen in eine Blase aus Fluchtursachen,<br />
Flüchtlingsströmen, Massenflucht, Flüchtlingskrise,<br />
Fluchtzielen, Flüchtlingshilfe. Nichts anderes existiert<br />
mehr, und ich agiere, wenn ich überhaupt agiere und<br />
nicht nur sprach- und stimmlos fremdgesteuert werde,<br />
in dieser Fluchtblase, die ebenso blankgefegt ist wie die<br />
hinter uns gelassenbereinigte Heimatbühne. Mit dem<br />
einen Unterschied: Hier fallen keine Bomben, hier ist<br />
keine unmittelbare Lebensgefahr. Frieden ist trotzdem<br />
nicht. Hier toben Kleinkriege um ein Bett in der Flüchtlingsunterkunft,<br />
um Schlaf im Chor der Schnarcher im<br />
Sechser-Zimmer, um einen Platz in der Schlange vor<br />
dem Amt, um Legal Advice im Asylverfahren, um die Zulassung<br />
zum Deutschunterricht.<br />
Deutsch fällt mir schwer. Das liegt nicht daran, dass<br />
ich nicht will, auch nicht daran, dass Deutsch schwierig<br />
ist oder meine Sprechwerkzeuge sich nicht eignen<br />
oder ich zu dumm bin. Es fällt mir schwer, weil meine<br />
Muttersprache das Letzte ist, das ich, im Gegensatz<br />
zur zerstörten Heimat, mehr oder weniger unversehrt<br />
im Gepäck habe und in dem ich mich noch heimisch<br />
fühle. Es ist diese sanfte Tonfolge des Arabischen, in<br />
dem meine Vergangenheit unauslöschlich konserviert<br />
ist und die sich unversehens und zu ungewissen Anlässen<br />
in eine Bilderreihe verwandelt, einen Film, den ich<br />
weder abrufen noch zurückweisen kann. Der häufig im<br />
Zeitraffer abgespielt wird, bisweilen in Zeitlupe dahin<br />
kriecht und manchmal zu einem Standbild wird, das mir<br />
den Blick auf eine belebte und beseelte Heimatbühne<br />
gönnt: Mit dem Vater beim Ziegenhüten. Die Wüste. Der<br />
Nachthimmel über dem Feuer. Fruchtbare Weizenfelder.<br />
Die Großeltern vor ihrem Lehmhaus. Das moderne Damaskus.<br />
Dicke Teppiche unter nackten Füßen. Mutters<br />
Essen. Die Koranschule, wo man im Chor rezitiert, was<br />
man nur ansatzweise begreift.<br />
Im Deutschkurs geht es um Bedeutung. Immer um Bedeutung.<br />
Fremde Zeichen unter farbigen Zeichnungen<br />
bedeuten Mann, Frau, Kind, Wasser, Brot. Stockend<br />
spreche ich nach: Mann. Frau. Kind. Wasser. Brot. Die<br />
Begriffe kommen mir nur zäh über die Lippen. Ich lerne<br />
Buchstaben: A wie Asyl, das kannte ich schon vorher,<br />
Ausweis, Amt und – ganz wichtig – Adresse. Ich lese die<br />
A-Wörter: Asyl. Ausweis. Amt. Adresse. Es fällt schwer,<br />
weil ich befürchte, mit jedem deutschen Wort ein arabisches<br />
zu verraten. Eines Tages stehen Wörter unter<br />
dem Bild einer österreichischen Landschaft: Berg, Tal,<br />
لبج Fluss, Himmel. Während ich Berg sage, erinnere ich<br />
[dʒabal] und die schneebedeckten Golanhöhen. Bei Tal<br />
lese ich داو [waːdin/iː] und sehe die fruchtbare Dschazira<br />
vor mir. Im Wort Fluss rauscht mit رهن [nahr] auch<br />
der Euphrat durchs Bild. Und während mein Mund Himmel<br />
ausspricht und mein Gehirn ءامس [saˈmaːʔ] denkt,<br />
gehen der österreichische und der syrische Himmel ineinander<br />
über und werden ein gemeinsamer, grenzenloser.<br />
So verbinden sich fremde Laute mit vertrauten<br />
Erinnerungen und österreichische Landschaft mit<br />
arabischer Sprache, und mit diesen sich gegenseitig<br />
überblendenden Bildern im Kopf scheint es nicht mehr<br />
unmöglich, hier eine neue Heimat zu finden ohne die<br />
frühere zu verraten.<br />
Und wenn ich mit dieser Erkenntnis gegen eure<br />
Resignation anrede, während wir ziellos durch die Stadt<br />
schlendern, an einer Straßenecke stehen, am Bahnhof<br />
die Zeit tot schlagen, schaut ihr ungläubig, doch in eure<br />
Augen – ich sehe es genau – stiehlt sich ein Fünkchen<br />
Hoffnung, dass man mit Syrien im Herzen nach vorn<br />
schauen und sich auf Österreich einlassen kann.<br />
Margit Heumann<br />
Geb. und aufgewachsen in Vorarlberg, verheiratet, lebt und<br />
schreibt in Wien und Bayern. Freie Mitarbeiterin bei großen Zeitschriftenverlagen.<br />
Redaktionsmitglied bei Asphaltspuren. Seit<br />
2007 Einzelveröffentlichungen in Print und E-Book sowie zahlreiche<br />
Publikationen in Literaturzeitschriften und Anthologien.<br />
www.margitheumann.com<br />
Prosa
30 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Prosa<br />
Constantin Schwab<br />
Selbstbild<br />
Sie saß am Küchentisch und rauchte, als er nach Hause<br />
kam; die Weinflasche schon beinah leer. Seine Rufe im Flur<br />
blieben unerwidert, nur das zischende Geräusch des Zigarettenstumpens,<br />
der ins Wasserglas fiel. Er trat in die Küche,<br />
den Mantel noch an, starrte auf ihren Rücken, schnüffelte.<br />
„Du rauchst?“<br />
Sie schwieg.<br />
„Ich dachte, wir rauchen nicht mehr im Haus. Ist Leonie<br />
schon im Bett?“<br />
Sein Blick fiel auf die Weinflasche, die aufgelösten Stumpen<br />
im Wasser, das lädierte Kuvert daneben.<br />
„Wie kann man nur dermaßen dumm sein.“<br />
„Bitte?“<br />
„Wie lange geht dieser kranke Spaß schon?“<br />
„Ich weiß nicht, was du meinst, Schatz.“<br />
„Heute Vormittag war der Bildträger da“, sagte sie. „Anscheinend<br />
konnte er ein paar Bilder nicht zustellen. Sie kamen<br />
zurück an den Absender. An dich.“<br />
Sie strich mit ihren Fingerkuppen über das Kuvert.<br />
„Ach, wirklich? Nun, da muss es sich wohl um ein Missverständnis<br />
bei der Adresse handeln, ich habe die letzten Tage<br />
keine Bilder verschick –“<br />
Plötzlich ihre Faust auf den Tisch, die Weinflasche zitternd.<br />
Er verstummte.<br />
„Schluss mit den Lügen. Ich hab die Bilder gesehen.“<br />
„Du hast was?“<br />
„Du perverses Schwein. Wie kannst du nur solche Bilder<br />
von dir machen und sie irgendeiner Schlampe schicken?“<br />
„Schatz, bitte, ich hab doch schon gesagt … hier muss<br />
ein Missverständnis herrschen. Der Bildträger hat etwas<br />
durcheinander gebracht. Das können unmöglich meine Bilder<br />
sein.“<br />
Er stand wie verloren in der Gegend, den Mantel immer<br />
noch an, ungelenk, grob in seinen Gesten. Ihr entfuhr ein<br />
schiefes Lachen.<br />
„Du kannst es noch hundertmal bestreiten, aber nach vier<br />
Jahren Ehe erkenne ich deinen Schwanz.“<br />
Sie griff zur nächsten Zigarette, flammte ein Streichholz<br />
auf; tiefe, schnelle Züge in das nächste Schweigen. Er zog<br />
seinen Mantel endlich aus, strich ihn glatt, legte ihn behutsam<br />
in die Armbeuge. Er zögerte. Sie weinte.<br />
„Hör zu …“, fing er langsam an, „das Ganze ist … Ich meine<br />
… Ich wollte nicht, dass du es auf diesem Weg erfährst. Ich<br />
hatte schon länger vor, es dir zu sagen, ganz ehrlich, ich<br />
wollte es dir in aller Vernunft erklären, damit wir uns so<br />
etwas hier ersparen, ich meine … Verdammt, warum greifst<br />
du auch ein Kuvert an, auf dem mein Name steht? Wieso<br />
machst du Bilder auf, die dich nichts angehen?!“<br />
„Das hab ich gar nicht.“<br />
„Ach, nein? Und wer sonst, bitteschön? Wer außer dir hätte<br />
die Bilder geöffnet, hm?“<br />
„Deine Tochter.“<br />
„Was?“<br />
„Leonie hat das Kuvert entdeckt. Sie hat deinen Namen<br />
gelesen und es aufgemacht.“<br />
Er begriff es nicht sofort; erst nach Sekunden überfiel ihn<br />
die Scham, die Angst, das Verständnis.<br />
„Und sie … Wo ist sie?“<br />
„Sie ist bereits bei ihrer Tante, wo sie vorerst auch bleiben<br />
wird. Ihren Vater wird sie allerdings für sehr lange Zeit nicht<br />
mehr sehen. Und ich auch nicht.“<br />
Sie blies den Rauch in die Luft, während er langsam den<br />
Kopf senkte, still und resigniert. Ihr Blick auf das Kuvert.<br />
Sein Blick in der Mantelfalte. Und keine Worte, keine Bewegung,<br />
nur der zischende Klang von Asche, die auf Wasser<br />
trifft.<br />
Constantin Schwab<br />
Geb. 1988, aufgewachsen in Berlin und Kärnten. Diplomstudium<br />
der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien. Schreibt<br />
Filmbeiträge (celluloid), Kurzprosa, Theaterstücke. Preisträger<br />
beim LitArena Wettbewerb 2015 (2. Platz). Veröffentlichungen<br />
in Anthologien und Literaturzeitschriften (DUM, die Anstalten,<br />
Erostepost, etcetera, &radieschen). Seit 2015 Zusammenarbeit<br />
mit dem Theaterverlag CoCo Speyer. Kontakt: c-schwab@gmx.at
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
31<br />
Orla Wolf<br />
Erkundung eines Parks<br />
Ich hatte lange auf der anderen Seite des Kanals gewohnt.<br />
Heute beschloss ich, hinüberzusetzen. Am Ufer<br />
angekommen, folgte ich einem gepflasterten Weg. Er<br />
führte direkt in einen Park. Dort betrachtete ich die Bäume.<br />
Und verweilte lange an einem Tulpenbeet. Als ich<br />
weiterging, fand ich an einer Wegbiegung einen Handschuh.<br />
Ich setzte mich auf eine Parkbank und zog ihn an.<br />
Er passte. Der Handschuh begann, sich zu bewegen. Er<br />
umgriff, hielt, schob. Und warf. Ich schloss meine Augen.<br />
Und spürte, wie ich einen Hund streichelte. Und dann<br />
jemanden an die Hand nahm. Ich zog den Handschuh<br />
aus. Und meine Hand ruhte sogleich reglos in meinem<br />
Schoß. Ich ließ den Handschuh auf der Bank zurück. Und<br />
ging weiter. Ich näherte mich nun einem Brunnen. Als ich<br />
an ihn herantrat, sah ich, dass das Wasser darin gefroren<br />
war. Und sich eine dicke Eisschicht gebildet hatte.<br />
Von links und rechts begann man jetzt, etwas auf der<br />
Eisfläche aufzubauen. Schon stand dort eine festlich geschmückte<br />
Tafel. Stühle wurden dazugestellt. Und Karaffen<br />
gefüllt. Ich wurde aufgefordert, Platz zu nehmen. Auf<br />
einem Beistelltisch stand ein Gerät. Es war ein Fernseher<br />
alter Bauart. Seine Bilder schwarz-weiß. Ich saß auf<br />
einem Stuhl, trank ein dunkelrotes Getränk, das köstlich<br />
schmeckte und rückte näher an das Gerät. Der Film hieß<br />
„Das Zugezogene“. Ich sah auf einen Vorhang. Und wartete.<br />
Doch nichts geschah. Er blieb geschlossen. Jetzt<br />
ist Sommer. Und ich schaue. Noch immer. Ich werde gut<br />
versorgt. Und irgendwann wird es sich zeigen. Hier. Am<br />
Brunnen.<br />
Live-Installation<br />
Datenspur<br />
Ich gehe spazieren. An einem Fluss entlang. Und dann sehe<br />
ich auf dem Boden etwas liegen. Ich hebe es auf. Es ist eine<br />
Kassette. Zu Hause habe ich ein Gerät, mit dem ich sie abspielen<br />
kann. Und ich gehe nach Hause. Säubere die Kassette.<br />
Lege sie ein. Und tatsächlich: Sie läuft. Leiernd zwar.<br />
Aber ich lausche. Und höre Bruchstücke. Musik. Satzfetzen.<br />
Zwei, nein, sogar drei verschiedene Stimmen. Die miteinander<br />
sprechen. Über eine Laubenkolonie. In der sie sich<br />
gerade befinden. Sie haben gesät. Ihre Stiefel ausgezogen.<br />
Und sitzen jetzt beisammen. Zwei Männer. Und eine Frau.<br />
Sie reden vom Schachspielen. Ich kenne mich damit nicht<br />
aus. Die drei hingegen schon. Sehr sogar. Es klingt jedenfalls<br />
professionell. In meinen Ohren: Offene Linien. Angriffsfelder.<br />
Raumvorteil. Ich höre heraus, dass die drei planen, die Strategie<br />
des Spiels auch auf andere Bereiche anzuwenden. Sie<br />
versprechen sich einen hohen Nutzen und satte Gewinne.<br />
Und sie spielen das durch. Mit verteilten Rollen. Und entwickeln<br />
ihr Drehbuch dabei. Die Dialoge werden festgelegt. Sie<br />
werden einen Streit haben. Vor einer vierten Person. Die sie<br />
zunächst unter einem Vorwand freundlich einladen. Die Aufnahme<br />
endet hier. In dieser Nacht träume ich von Spuren.<br />
Denen ich folge. Von Füßen. Stiefeln. Und Abdrücken. Die<br />
mich durch Parks, Wohngegenden und Büroviertel führen.<br />
Von der Frage getrieben: Wer ist diese Person? Heute Morgen<br />
gehe ich wieder spazieren. Mein Weg führt mich durch<br />
eine Laubenkolonie. Im zweiten Gang bleibe ich vor eine Parzelle<br />
stehen. Das Tor steht offen. Direkt dahinter: Drei Paar<br />
Gummistiefel. Auf der Veranda steht ein Tisch. Mit vier Stühlen.<br />
Darauf ein Schachbrett. Ein Mann kommt heraus. Mit<br />
einer einladenden Geste deutet er in Richtung Schachbrett:<br />
Wir haben Sie schon erwartet. Jetzt Sie.<br />
Reigen<br />
Ich lebe. In einer Drehtür. Seit Jahren schon. Die Drehtür<br />
ist ein Labyrinth, das aus einer einzigen Bewegung besteht.<br />
Einem Kreis. Die Leute sagen: Sie bewegen sich<br />
so schön. Ich selbst sehe das anders. Mit der Zeit hat<br />
mein Gang etwas Taumeliges bekommen. Das kann ich<br />
beobachten. In den Glasscheiben. Um mich herum. Ich<br />
laufe. Weiter. Und heute sind sie wieder da. Diese Gedanken:<br />
Geh rückwärts! Oder: Bleib einfach stehen! Ich<br />
wüsste. Nicht weiter.<br />
Als ich am Tisch Platz nahm, fiel mein Blick sogleich auf<br />
das Bild an der Wand gegenüber. Es war ein Kupferstich.<br />
Und zeigte Menschen, die auf einer Waldlichtung im Kreis<br />
um einen Baum tanzen. Jemand hatte oberhalb des Bildes<br />
Federn hinter den Rahmen gesteckt. Schwarz gesprenkelt.<br />
Auf olivbraunem Grund. Vielleicht die eines Fasans. Dann<br />
hörte ich Laute. Von Vögeln. Und ein leichter Wind ging<br />
durch den Raum. Die Menschen um den Baum gerieten in<br />
Bewegung. Ihr Tanz wurde schneller. Und schneller. Dann<br />
Prosa
32 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
war da nur noch ein dunkler Ring. Und ich schloss die Augen,<br />
weil mir schwindelig wurde. Als ich sie wieder öffnete,<br />
stand die Gruppe ganz still. Ihre Blicke richteten sich nach<br />
oben. In Richtung der Federn. Alle reckten sich. Und öffneten<br />
ihre Lippen. Dann fielen die Federn hinab. Direkt in<br />
ihre Münder. Jetzt kam die Gastgeberin mit einer Teekanne<br />
herein, schenkte uns nach und blickte dann suchend in<br />
Richtung Bild. Federn, die in Münder fallen, sang sie leise.<br />
Und sah mich versonnen an.<br />
Solipsistische Interviews II:<br />
Streifen<br />
Mein erster Gedanke: Ich gehe eine Treppe hinunter. Zur<br />
U-Bahn. Zum Beispiel. Es ist sehr voll auf der Treppe. Und<br />
mein Mantel, mein Ärmel, streift eine andere Person.<br />
Dieses Streifen ist mehr als nur eine kurze Berührung, ein<br />
kurzer Kontakt: Es ist vielmehr etwas, das sich in einer<br />
Bewegung vollzieht. Ein Gleiten. Aneinander. Ich stelle mir<br />
vor, Kreide an meinem Mantelärmel zu haben. Dann würde<br />
ich das sehen. An dem Gestreiften. Dieses Streifen. Diese<br />
Streifen. Irgendetwas bleibt zurück. Irgendetwas bleibt<br />
haften. Ein Rückstand eben. Es wäre vielleicht ganz interessant,<br />
wenn alle Menschen Kreidemäntel trügen. Nicht<br />
alle. Jeder Zweite vielleicht. Und die Anderen hätten etwas<br />
Dunkles an. Um es sehen zu können. Dieses Streifen. Diese<br />
Streifen. All die Markierungen auf der Kleidung. Die sich<br />
auch zählen ließen. Und die Ergebnisse würden Fragen aufwerfen.<br />
Man würde Kategorien bilden. Und weitere Untersuchungen<br />
durchführen. In Stadien, Fußgängerzonen, auf<br />
Flughäfen. Und dann geschieht etwas: Die Streifen nehmen<br />
zu. Sie werden an Hauswänden, Bäumen und an Stränden<br />
gesichtet. Schließlich auch auf Kinoleinwänden. Im Fell von<br />
Tieren. Und dann am Himmel. Man kommt mit dem Zählen<br />
kaum noch nach. Die Kreidemäntel sind längst aus der<br />
Mode gekommen. Stattdessen trägt man jetzt Ringe. Oder<br />
Reifen. Um den Körper. Gegen das Streifen.<br />
Prosa<br />
Orla Wolf<br />
Geb. 1971 in Düsseldorf. Lebt als Autorin (Lyrik, Prosa, Drama,<br />
Drehbuch) und Filmemacherin in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen<br />
in Literaturzeitschriften und Anthologien. Einzeltitel: Protokoll<br />
eines Nachtfalters– Gedichte (Klingenberg/2010). Schwebende<br />
Architekturen– Gedichte und Fotografien (Wien/ 2015).<br />
Eigener Literaturblog zuckerauge (www.zuckerauge.blogspot.de).<br />
©Birgit&Peter Kainz 2013_09_17_HUMANCarpet_11
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
33<br />
Lyrik
34 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Angelica Seithe<br />
Dank an die Droste<br />
Hindurchsehen<br />
Lyrik<br />
Wieder vor ihrem Bildnis im Park<br />
Und aus dem ältlichen<br />
Fräulein von damals mit hängenden<br />
Locken im Netz, ist eine<br />
junge Frau geworden, schön plötzlich auch<br />
in der Nische ihrer heimlichen Büsche<br />
Hier pflückte ich einmal<br />
Duft für den Schreibtisch<br />
nicht an den Zahlen, nicht<br />
am Buchstabenholz zu<br />
ersticken<br />
Es blüht mir bis heute der Kopf<br />
Mit dir zu Abend<br />
Du hattest Forelle bestellt.<br />
Auch mir brachte der Kellner<br />
den Fisch, etwas kleiner, mit erhobenem Kopf<br />
und einem nicht mehr gesprochenen Wort<br />
im geöffneten Maul.<br />
Du trenntest die Flossen ab und den Schwanz<br />
legtest den Kopf, die Gräten und schillernde Haut<br />
auf den Teller beiseite.<br />
Ich sah dir zu, während<br />
du Antwort gabst auf meine<br />
verhaltene Frage und folgte<br />
mit einer kleinen Entschlossenheit<br />
deinem Beispiel<br />
legte die Flossen zu deinen<br />
das Rückgrat des Tieres, die Haut<br />
und den bläulichen Kopf.<br />
Als ich es sah<br />
war’s schon geschehen:<br />
Die Überreste unsrer Fische lagen lebendig<br />
beieinander<br />
ganz nah<br />
verschlungen und<br />
Kopf an Kopf<br />
Frühling im Buchenwald.<br />
Um uns<br />
silberne Netze.<br />
Einmal ein Wind -<br />
Die braunen Blätter am Boden<br />
laufen auf uns zu.<br />
Wie eine Schar Küken.<br />
Wie im Krieg Soldaten auf der Flucht,<br />
sagst du.<br />
Hintergründig<br />
Vor hellem Himmel siehst du<br />
das weiße Segel kaum, wie es am<br />
Horizont erscheint mit seiner<br />
Freude an Bord<br />
Auf tintentraurigem Meer vor<br />
schwarzer Wolke leuchtet es<br />
hebt es sich ab, gleitet es dir<br />
in die Herzbucht<br />
Züge<br />
Überhaupt<br />
ist es immer der andere<br />
Bahnsteig<br />
auf dem mein Zug gerade steht<br />
Angelica Seithe<br />
Lebt in Wettenberg bei Gießen und in München, tätig als Psychotherapeutin,<br />
Dozentin und Autorin. Zuletzt erschien ihr Gedichtband<br />
„Regenlicht“ (2013). Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften.<br />
– Ausgezeichnet u. a. mit dem Sonderpreis Lyrik beim<br />
Wettbewerb um den Nordhessischen Autorenpreis 2009 und dem<br />
Hauptpreis beim Hildesheimer Lyrikwettbewerb 2012 & 2014. -<br />
www.angelica-seithe.de
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
35<br />
Jan-Eike Hornauer<br />
Das Dritte Reich im Zeitalter der Casting-Shows<br />
Wollt ihr den totalen Krieg?<br />
Diese Frage dröhnt<br />
immer wiederaus meinem TV-Gerät.<br />
Was mich irritiert,<br />
nie ist der Hinweiseingeblendet:<br />
Bitte nicht mehr anrufen,<br />
Wiederholung!<br />
Doch dann fällt mir endlich auf:<br />
Es ist ja auch gar keineNummer angegeben.<br />
Wohl weil Telefon<br />
unüblich war damals.<br />
Na, dann braucht’s den<br />
Hinweis auch nicht.<br />
Antwort eines mit dem Autor nichtidentischen lyrischen<br />
Ichs auf eine Frage aus dem Bereich der verkitschten<br />
Romantik<br />
Trüg’ ich stets Dein Bild im Herzen,<br />
schlüg’ es wohl nicht mehr.<br />
Und das Bild wär’ ganz zerknittert,<br />
machte nichts mehr her.<br />
Deshalb liegt Dein Bild auch hübsch<br />
–mir kannst Du vertrauen!–<br />
dort in meinem Nachttisch drin<br />
–gern kannst Du auch schauen!–,<br />
aufbewahrt bei den Portraits<br />
all der andern Frauen.<br />
Jan-Eike Hornauer:<br />
Geb. 1979 in Lübeck, leidenschaftlicher Textzüchter (freier Lektor,<br />
Texter, Autor, Herausgeber), wohnt in München. Studium der<br />
Germanistik und Soziologie in Würzburg. Veröffentlichungen in<br />
Literaturzeitschriften und Anthologien, u. a. DASGEDICHT, etcetera,<br />
Versnetze, Poesiealbumneu, Dichtungsring, Schreibkräfte.<br />
Im Juni erscheint sein Gedichtband »Das Objekt ist beschädigt–<br />
zumeist komische Gedichte aus einer brüchigen Welt« im muc<br />
Verlag.www.textzuechterei.de<br />
Lyrik
36 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Evelin Juen<br />
Der alte Mann und das Mädchen<br />
Prosa<br />
Das Wasser fließt träge dahin und leckt die Ufer des<br />
Flusses mit sanfter Gleichmäßigkeit.<br />
Die großen Ahornbäume strecken ihre Wurzeln aus dem<br />
Erdreich, graben mit steter Langsamkeit nach neuem Boden,<br />
unbeirrbar, klar und eindeutig.<br />
Als der Morgen anbricht, überflutet er die Landschaft<br />
ringsum mit silbernem, kühlen Glanz. Spiegelt sich funkelnd<br />
in der Feuchtigkeit der zurückweichenden Nacht.<br />
Die Ruhe ist vollkommen, Innehalten, stilles Universum<br />
in der Welt.<br />
Dann das Atmen aus moosüberwachsenen Steinen, der<br />
Tag lässt Nebel zwischen den Hügeln aufsteigen, das Reh<br />
weicht zurück.<br />
Rotbraun. Vorsichtiger, wachsamer Blick aus unschuldigen,<br />
großen Augen. Schon verschmolzen mit dem Wald,<br />
mit dunklem Gehölz, mit letzten Rufen der Dunkelheit.<br />
Die Schatten verlassen das Tal, machen Platz, geben Geheimnisse<br />
preis.<br />
Die Ecken bröckeln zu formlosen Wunden aus, fallen als<br />
vergessene Relikte in den Garten, in dem Brennnessel<br />
zu großen Stauden wuchert. Zwischen den Heckenrosen<br />
schimmert die Unsichtbarkeit, leuchtet das spinngewebte<br />
Lichterspiel.<br />
Das Dach lässt sich schwach und gebrechlich auf den<br />
weiß getünchten Steinmauern nieder, stöhnt im Wind,<br />
viele Jahre schon.<br />
Ein gelbes Fahrrad tropft in das Bild, bringt Frische und<br />
Leben, bringt Nell und ihr schwirrendes Lachen.<br />
Hinein mit dir! ruft sie, es ist kalt.<br />
Sein starrer Körper dehnt sich, gewinnt an Volumen.<br />
Hemd und Augen von einem tiefen Blau, ein Mann vom<br />
Meer. Irgendwann war das Alter gekommen, hatte ihn erschreckt<br />
beim Anblick im Spiegel, ist geblieben auf einen<br />
langen Augenblick.<br />
Seine Stimme lässt ihn nicht im Stich, fest und sicher,<br />
trotz des klopfenden Herzens.<br />
Sie steht schon bei ihm, erhitzt von der Anstrengung.<br />
Ihr warmer Körper dampft, er riecht ihren Schweiß. Sie<br />
dreht leicht den Kopf seitwärts, eine bezaubernde, fast<br />
unmerkliche Bewegung.<br />
Lass uns hinein gehen, sie drängt ihn mit sanfter Stimme,<br />
kommt ihm dabei nahe.<br />
Er weicht zurück, spürt schmerzhaft seinen Rücken. Rehaugen<br />
blicken in die seinen, er sieht alles an ihr. Das<br />
kleine Muttermal, Insel im weichen Flaum, hebt sich.<br />
Sie lächelt.<br />
Das Wesen mit den langen, schlanken Beinen. Jungenbeine,<br />
hat sie anfangs gescherzt. Sie, deren Haar im Dunkel<br />
des Vordaches matt glänzt. Er spürt ihre Hand, ein<br />
Streifzug nur, dann gehen sie zusammen ins Haus. Die<br />
Morgenluft macht ihn frösteln.<br />
Im Inneren zucken die Flammen, der Raum atmet lebendiges<br />
Feuer. Begierig saugt sie nach dem Duft des<br />
Holzes, schnüffelt mit geblähten, zarten Nüstern. Licht<br />
fällt dünn und geschwächt durch die staubigen Fenster<br />
herein, schafft Dämmerung am Beginn des Tages. Er legt<br />
ihr ein Kissen auf den Stuhl, beginnt, Frühstück zuzubereiten.<br />
Sie hat darauf bestanden, dass er sich eine Jacke überzieht.<br />
Nun sitzt sie da, zufrieden wartend, ab und zu ein<br />
Nicken, während er redet.<br />
Über die Wipfel der Bäume geht ein Rauschen, ein fließendes<br />
Raunen, das so lange andauert, bis die Angst erwacht.<br />
Dann ist es wieder ruhig.<br />
Die Wildrosensträucher locken die Amseln mit ihren letzten<br />
Früchten, begieriges Schnappen und Schlucken, wirrer<br />
Taumel.<br />
Bald wird das Fest vorbei sein, das Mahl beendet. Sie haben<br />
sich zurückgelehnt, satt und vertraut still, sitzen, bis<br />
die Sonne gegen Mittag den Raum durchflutet.<br />
Lass uns beginnen, damit sich der Kreis schließen kann,<br />
murmelt er.<br />
Sie ist nackt. Nie zuvor in seinem Leben, hat sich ihm<br />
Weiblichkeit so natürlich dargeboten. Ihr vollkommenes<br />
Entblößt sein. Wenn sich der Hals zu einem Bogen formt,
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
37<br />
die Kehle offen liegt. Das Schweben und Fließen ihrer<br />
Silhouette, ein warmer Strom, der ihn mit sich nimmt.<br />
Grelle Helligkeit liegt auf ihrem linken Bein. Steigt auf zu<br />
dem flaumüberzogenen Hügel ihrer Scham, macht einen<br />
Schwung das Becken hinauf. Fällt hinunter auf die linke<br />
Brust, schmiegt sich hinauf zum breit geschwungenen<br />
Mund und ergießt sich schließlich mit ihrem Haar zu Boden.<br />
Er lächelt. Findet mit seinen Blicken die Höhlen, findet<br />
die Schatten.<br />
Deine Dunkelheit ist ebenso lockend wie dein Licht. Bleib<br />
so, nicht bewegen -<br />
Bin ich schön? Leise Worte, ausgesprochen von einem<br />
Bild, einer Komposition.<br />
Aber er ist schon fort.<br />
Wenn sie so regungslos verharrt, ihn betrachtet, wie er<br />
immer wieder von ihr zur Staffelei, dann wieder aus dem<br />
Fenster blickt, weit entfernt, in einer anderen Wirklichkeit,<br />
fragt sie sich, was er sieht. Welche Menschen er<br />
dort trifft, ob es jemanden gibt, dem er vertraut.<br />
Manchmal, selten, erzählt er. Dann verlieren sich die<br />
Stunden und sie fährt erst spätabends zurück. Die Geschichten<br />
sind bunt und voller Gerüche. Bruchstücke<br />
eines Lebens, dessen Teil sie geworden ist, seit er begonnen<br />
hat, sie zu malen.<br />
Seine Phantasie lässt ihren Körpers neu entstehen, sie<br />
ahnt, er stillt an ihr seine Sehnsucht, findet die Heimat<br />
seiner Kindheit. Die weiß getünchten Häuser, das Salz<br />
auf den Lippen. Alles ist Erinnerung. Spuren überlappen<br />
sich, schieben sich ineinander zu einem verwirrenden<br />
Netz, das die Gegenwart trägt.<br />
Aphrodite, du bist mir Vertrautheit an einem fremden<br />
Ort, hatte er damals geflüstert und sie hat sich auf die<br />
Verwandlung eingelassen. Damals, in einem anderen Leben.<br />
Die Hitze des Hochsommers hatte sie zu dem kleinen<br />
Waldweiher geführt, die Mücken tanzten und ließen<br />
sich kreisend von der aufsteigenden Luft nach oben tragen.<br />
Und das leerstehende, alte Haus war plötzlich kein<br />
verlassener Ort mehr.<br />
Er war da.<br />
Langsam hebt sich sein Arm. Die Landschaft ihrer Formen<br />
ist ein Wiedererkennen, bringen ihm Jugend und<br />
Wärme und er entgleitet in die Erinnerung - :<br />
Die Klippen leuchten weiß in dem unendlichen Reichtum<br />
an Blau. Es ist heiß, auch wenn der Wind auf dem Meer<br />
vibriert, kräuselt und zupft, das glatte Bild des Spiegels<br />
verwischend. Seemöwen kreischen in Schwärmen, stoßen<br />
hinab, fallen aus dem Himmel mit atemberaubendem Mut,<br />
er träumt davon, immer wieder. Das Wasser küssen nur,<br />
dann, ohne die Harmonie der Bewegungen zu stören, wieder<br />
davon segeln.<br />
Abstand gewinnen.Im Sonnenlicht erwachen die Farben<br />
zum Leben, legen sich zueinander, wachsen im gegenseitigen<br />
Glanz. Pastose Üppigkeit, kraftvolle Linien. Dann, mit<br />
unendlicher Sorgfalt und Zartheit, die Vögel.<br />
Später wird er zum Strand hinunter laufen, das reinigende<br />
Ritual am Ende des Tages, das ihn zurückholt in den feucht<br />
pulsierenden Leib. Mit offenen Augen am Rücken liegend<br />
treibt er,Ebbe und Flut, sich vergessend zwischen den Gezeiten.<br />
Komm, flüstert ihre Stimme, von jenseits der Wellen getragen<br />
und er kehrt aus der Vergangenheit zurück. Sieht<br />
sich orientierungslos im Zimmer um, fremder Raum,<br />
fremdes Haus, fremdes Land. Dann dringt der vertraute<br />
Geruch der Ölfarbe in sein Bewusstsein.<br />
Das Bild ist fertig, nicht? Sag mir, ist es jetzt vorbei?, fragt<br />
sie und steht langsam auf. Gleitende Bewegungen, seine<br />
Augen hypnotisch fixierend, während sie näher kommt.<br />
Ihre Schönheit blendet ihn und durchströmt den müden<br />
Körper wie Tausende von Glühwürmchen, die sein Innerstes<br />
mit ihrem Licht wärmen. Wie er es genießt, wenn<br />
seine Poren die Lebendigkeit ihres Seins aufsaugen –<br />
Vorbei, sagt er traurig und lässt sich in die Farbe ihrer<br />
Augen fallen.<br />
Dann ist sie neben der Staffelei und senkt den Kopf. Die<br />
Verbindung reißt, ihr Gesicht wird zum Profil.<br />
Zwei Monate. Zufällig oder vielleicht auch nicht. Sie hat<br />
viel darüber nachgedacht.<br />
Nun ist es zu Ende. Marc und ihre Freundin Lea wollten<br />
wissen, was der Fremde von ihr will. Was er redet, wer er<br />
ist. Sie bedrängten sie. Warum sie sich verändert.<br />
Keiner versteht, am allerwenigsten sie selbst.<br />
Die tiefen Furchen, die sein Gesicht durchziehen. Mehr<br />
und mehr Wege, auf denen sie sich heimlich entlang getastet<br />
hat, entzückt über jede Abzweigung.<br />
Er schien es nicht zu merken. Wollte nicht erkennen. All<br />
die ungezählten Stunden, versunken in seine Malerei.<br />
Prosa
38 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Prosa<br />
Ich liebe ihn, würde sie antworten, auf eine Frage, die allen<br />
zu absurd schien, um gestellt zu werden.<br />
Das Meer hat mich herumgewirbelt, mitgerissen und in<br />
eine andere Welt gespuckt, sagt er.<br />
Seine Antworten, immer Geschichten in der Geschichte,<br />
mochten Wahrheit in sich tragen oder Lügen sein. Dennoch<br />
gibt er ihr Nähe, für die sie keine Worte hat.<br />
Sie schlägt die Augen auf, dreht sich zum Bild.<br />
Dann, als er hinter ihr steht und seine Hände über ihren<br />
Schultern schweben, sich in der Luft hebend und senkend<br />
mit ihrem Atem, riecht er an ihrem Haar. Salbei und Minze.<br />
Die Stille im Raum ist ein silbern glänzender, spiegelglatter<br />
See, der die Welt auf den Kopf stellt. Gedanken<br />
zerfließen an den Rändern, verwischen die Momente der<br />
Angst, überschreiten Grenzen.<br />
Zum erstenmal berührt er sie. Erschauert, kostet aus.<br />
Lässt zu, dass vertrocknete Finger auf samtweicher Haut<br />
verweilen. Ruhig liegen bleiben, Kraft schöpfen.<br />
Als es dunkler wird, alle Farben vollgesogen mit Grau,<br />
Schatten zwischen Schatten, lösen sich ihre Blicke vom<br />
Gemälde. Sie erwachen aus der Bewegungslosigkeit, regen<br />
sich, sind verwirrt.<br />
Aphrodite, flüstert er immer noch dicht hinter ihr stehend.<br />
Sie nickt leicht, er kann fühlen wie sich ihre Muskeln anspannen.<br />
Morgen werde ich nicht mehr hier sein, murmelt er, während<br />
er zögernd seine Hände von ihren Schultern hebt,<br />
einen Schritt zurückweicht.
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
39<br />
©Birgit&Peter Kainz Wien_Tag<br />
Das Vakuum rieselt als eisiger Schauder über ihren Rücken,<br />
sie schwankt leicht, konzentriert sich auf ihr pulsierendes,<br />
forderndes Zentrum, findet zum Gleichgewicht.<br />
Dann etwas Kaltes, Glattes in ihrer Hand.<br />
Seine rauen Lippen hauchen nahe am linken Ohr und ihr<br />
Atem wird heftiger.<br />
Tu es! flüstert er. Nur du und ich und ein Geheimnis.<br />
Ihre Hand zittert, als sie den Widerstand der Leinwand<br />
spürt, dann beginnt die Klinge schon breite Wunden zu<br />
schlagen. Risse klaffen, Körper und Landschaft ineinander<br />
verschlungen, Farben zu Farben.<br />
Entstanden und vergangen. Dem grenzenlosen Fließen<br />
geschenkt.<br />
Die Sterne funkeln, eine kalte, klare Nacht. Ein gelbes<br />
Fahrrad, wehende Haare.<br />
Ein alter Mann am Fenster.<br />
Evelin Juen<br />
Geb.19<strong>64</strong>. Studium der Kunstgeschichte und Archäologie. Als<br />
Autorin, Bildende Künstlerin und Musikerin (singer/songwriter)<br />
tätig. Diese Tätigkeiten verbinden sich synergetisch und ermöglichen<br />
das kreative Ganze. Viele Reisen in Europa und mehrere<br />
längere Aufenthalte in Asien, Südamerika und Afrika.Zahlreiche literarische<br />
Publikationen, Preise und internationale Ausstellungen.<br />
www.evelinjuen.at<br />
Prosa
40 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Daniel Klaus<br />
Unbebaute Grundstücke<br />
Prosa<br />
Gegenüber von meinem Stammbäcker ist eine Baulücke.<br />
Es ist eines dieser unbebauten Grundstücke in der Stadt,<br />
die immer weniger werden, bis es sie irgendwann überhaupt<br />
nicht mehr geben wird. Das Grundstück ist nicht<br />
mehr als ein leerer Platz zwischen zwei Häusern. Trotzdem<br />
wird es von einem zwei Meter hohen Bretterzaun wie<br />
eine Kostbarkeit bewacht, und es gibt nirgendwo Astlöcher,<br />
durch die man hindurchschauen könnte, weil der<br />
komplette Zaun mit Plakaten zugeklebt ist.<br />
Der Mann, der einen hellbraunen Hut aus Cordstoff auf<br />
dem Kopf trug, stellte sich auf die Zehenspitzen, um über<br />
den Zaun zu schauen, aber er war einfach zu klein. Und<br />
er war alt. Er war richtig alt. Er hätte ein Jugendfreund<br />
meines Großvaters sein können. Ich blieb stehen und sah<br />
ihm bei seinen Bemühungen zu.<br />
„Ich bin einfach zu klein“, sagte er, als er mich bemerkte<br />
und klopfte mit seinem Stock traurig gegen den Zaun.<br />
„Was ist denn hinter diesem Zaun?“, fragte ich.<br />
„Ich habe da mit meinen Eltern gewohnt“, sagte er. „Im<br />
vierten Stock.“ Er zeigte mit dem Finger in den Himmel.<br />
Ich folgte seinem Finger mit den Augen und sah zwei<br />
Spatzen, die in der Luft Pirouetten drehten. Vielleicht war<br />
genau an dieser Stelle sein Kinderzimmer gewesen, dachte<br />
ich.<br />
„Ich würde gerne wissen, wie es jetzt dort aussieht“,<br />
sagte er.<br />
Ich sah ihn wieder an. Sein Gesicht war ein Mosaik aus<br />
faszinierenden Falten. Ich dachte nach. „Ich kann Ihnen<br />
helfen“, sagte ich schließlich.<br />
Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Bretterwand<br />
und schränkte meine Handflächen ineinander. Eine klassische<br />
Räuberleiter.<br />
Er sah auf meine Hände. „Meinen Sie wirklich?“<br />
„Na los“, sagte ich. „Wofür gehe ich sonst zwei Mal in<br />
der Woche ins Fitnessstudio? Außerdem habe ich Handschuhe<br />
an. Sie werden mir nicht wehtun.“<br />
Er zögerte einen kleinen Moment, aber dann lehnte er<br />
seinen Stock an die Wand und stieg vorsichtig mit dem<br />
linken Fuß auf meine Handflächen. Er hielt sich mit den<br />
Händen an meinen Schultern fest, und dann fuhr ich ihn<br />
wie ein Fahrstuhl einen halben Meter nach oben.<br />
„Es funktioniert“, sagte er über mir. „Ich kann über den<br />
Zaun sehen.“ Seine Stimme klang warm und aufgeregt.<br />
„Und was sehen Sie?“, fragte ich. Ich musste ein wenig<br />
keuchen. Ich trainierte im Fitnessstudio zwar alle möglichen<br />
Muskelpartien, aber die Muskeln in den Handflächen<br />
gehörten anscheinend nicht dazu.<br />
„Na ja“, sagte er. „Aufgeworfene Erde, Steine, ein paar<br />
Disteln. Aber darum geht es nicht.“ Er machte eine Pause.<br />
„Ich erinnere mich.“<br />
Wir schwiegen beide eine Weile, während ich ihn weiter<br />
festhielt und er über den Zaun in seine Kindheit blickte.<br />
Ich dachte an das sechshundert Kilometer entfernte Haus<br />
meiner Eltern. Es war das letzte in der Straße und dahinter<br />
begannen die Felder. Wenn im Sommer der Weizen hoch<br />
stand, hatte ich darin mit meinem Bruder Verstecken gespielt.<br />
Und einige Jahre später hatte mir Verena dort auch<br />
meinen ersten Zungenkuss gegeben. Ich war schon lange<br />
nicht mehr dort gewesen.<br />
„Sie können mich jetzt wieder herunterlassen“, sagte der<br />
Mann über mir.<br />
Ich nickte. „Halten Sie sich fest“, sagte ich. Dann fuhr ich<br />
ihn mit meinem Einpersonenlift langsam zurück in die Gegenwart.<br />
„Dankeschön“, sagte er, als er wieder festen Boden unter<br />
den Füßen hatte. Er reichte mir seine Hand. „Das war sehr<br />
nett von Ihnen.“<br />
Daniel Klaus<br />
Geb. 1972 in Wiesbaden, lebt heute in Berlin. Walter-Serner-<br />
Preisträger, Literaturförderpreis Ruhrgebiet, Alfred-Döblin-Stipendium.<br />
Literarische Kolumnen u.a. für die taz, derFreitag und<br />
die Stuttgarter Zeitung. Mehr unter www.danielklaus.com<br />
Reinhard Wegerth<br />
Geb. 1950 in Neudorf bei Staaz, lebt in Mödling. Pseudonym Leidergott.<br />
lässt die Dinge reden: Stimmenroman 2010 "damals und<br />
dort" Sisyphus, "Frpher und hier" 2013 und "Als es geschah" 2014.<br />
Veröffentlungen im Augustin, etcetera ..
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
41<br />
Reinhard Wegerth<br />
Bilder aus den 70ern<br />
In den 70ern war vieles möglich, über das man heute<br />
staunt – das zeigt (neben der aktuellen Ausstellung auf der<br />
Schallaburg) wohl auch dieses Bild, aufgenommen am 15.<br />
September 1977 im Bundeskanzleramt in Wien: Der Bursche<br />
links bin ich, damals 27 Jahre alt und Redakteur des<br />
Literaturmagazins „Frischfleisch“, der Herr rechts ist der<br />
Kanzler höchstpersönlich, damals 66 und offenbar ohne<br />
Berührungsängste gegenüber langhaarigen alternativen Typen.<br />
Anlass war ein Interview zum Atomkraftwerk Zwentendorf,<br />
über dessen Inbetriebnahme Kreisky und ich konträrer<br />
Ansicht waren (weshalb wir uns auch nicht anstrahlen).<br />
Literarisch verarbeitet habe ich dieses Interview später in<br />
einer Episode meines Buchs „Damals und dort“, das ich<br />
vor ein paar Jahren auch bei einer LitGes-Veranstaltung im<br />
Stadtmuseum St. Pölten vorstellen durfte. Dort lief passenderweise<br />
gerade eine Ausstellung zum hundertsten Geburtstag<br />
von Kreisky… Das hier erstmals abgedruckte Bild<br />
(geknipst von Nils Jensen) ist übrigens die schwarzweiße<br />
Originalfassung aus den 70ern.<br />
Apropos Schallaburg: Dort war ich zum ersten Mal ein<br />
knappes Jahr später, am 9. September 1978, eingeladen<br />
von Radio Niederösterreich zu einem „Dichterwettstreit“.<br />
Ausstellung gab es damals meiner Erinnerung nach keine,<br />
schon gar nicht eine über die 70er – statt in die Gegenwart<br />
schaute man offenbar lieber zurück ins Mittelalter, mit<br />
entsprechend kostümiertem Personal und einem ganzen<br />
Ochsen am Spieß im Arkadenhof. Zum „Dichterwettstreit“<br />
habe ich zwei Fotos gefunden: Das eine zeigt (v. l.) die Juroren<br />
Hans Heinz Hahnl, Rudolf Henz, Hans Weigel, Johannes<br />
Twaroch und rechts mich, gerade lesend; auf dem anderen<br />
sitze ich mit den Kollegen (v. l.) Helmut Peschina, Nils<br />
Jensen und Wilhelm Pellert an einem Tisch im Arkadenhof<br />
(geknipst hat mein mitgereister Bruder).<br />
©Nils Jensen<br />
Bericht
42 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Claudia Kohlus<br />
es war eine trughummel die in mir platz nahm und eine<br />
fahne schwang schneeweiß tunkte sie ihre fühler in meinen<br />
leib wir lachten über die wetterwechsel (oder waren<br />
es stimmungen?) jedenfalls sonntags gaben wir uns den<br />
sahnepegel und warfen ein auge auf die weitere auslage<br />
die roten backen waren äpfel nirgends lungerte der wolf<br />
selbst großmutter trug siebenmeilenstiefel und fühlte sich<br />
erhaben mittlerweile schlug sie nur noch ihre kissen mit<br />
der handkante<br />
es waren zerstörte prinzen sie marschierten im kreis die<br />
hände an der hosennaht als wüssten sie etwas vom krieg<br />
(den sie doch nur vom hörensagen kannten) und niemand<br />
von ihnen träumte er ginge aus dem zirkel barfuß übers<br />
gelbe feld (die hosenbeine hochgekrempelt im mundwinkel<br />
eine ähre des protests)<br />
und plötzlich hängt es von der dosierung ab wie sich der<br />
tag anfühlt wie rasend sich alles durch die körperbahnen<br />
zieht oder sich hinter den eingeweiden zur ruhe legt damit<br />
keiner etwas merkt weil keiner etwas merken soll nur ab<br />
und zu hebt hier ein pillenclown seinen kopf und balanciert<br />
auf zittrigen nervenseilen auf denen wir verkrampft versuchen<br />
alles zu ignorieren was sich unterschwellig in unsere<br />
welten tanzt wir wünschten wir hätten allen schon längst<br />
das du entzogen und diese tänze hätten ein ende denn<br />
dann könnten wir stattdessen ins dunkel schlüpfen und<br />
hüpfen (am liebsten vom eiffelturm mit flügeln so groß wie<br />
fußballfelder auf denen man nicht tanzen sondern rennen<br />
soll so schnell) so schnell hat der pillenclown im neontreiben<br />
seine beine verloren seine arme und unseren verstand<br />
wir ahnten es und wissen um dieses abkommen denn<br />
schon am nächsten morgen stecken wir uns eine neue fata<br />
morgana in den mund<br />
da war etwas in jenem sommer das wir nicht zusammenzählen<br />
mussten das nicht im minus stand oder einen gemeinsamen<br />
nenner suchte wir fragten großmutter wohin<br />
der sommer ginge und ob er einen namen trüge sie nannte<br />
ihn glück und erzählte er hinge in bäumen und an uns selbst<br />
wenn wir auf dem sofa saßen wagten wir nicht den dingen<br />
auf den grund zu gehen stattdessen saßen wdort und<br />
knabberten am schweigen wie an mürben keksen (güterzüge<br />
mit gedankenschrott rasten durch unsere schädel) wann<br />
eigentlich begannen wir an unserem zusammensein zu<br />
kränkeln und wann hatten wir (zwei ausgestopfte paradekissen<br />
umgeben von dieser totenstille) uns gar nicht mehr<br />
bemerkt auf diesem sofa sitzend tranken wir den kaffee in<br />
kleinen schlucken und blickten zum fenster hinaus welch<br />
glück ein kuckuck kam stündlich zu besuch<br />
Claudia Kohlus<br />
Geb. 1972 in West-Berlin, lebt in Salzburg. Zahlreiche Veröffentlichungen<br />
in Literaturzeitschriften und Anthologien. 2010<br />
erschien ihr Gedichtband blumenmob in der Reihe Lesehefte<br />
bei Fixpoetry. 2015 märchenstundung in der Reihe Weiße<br />
Hefte bei Edition Schultz & Stellmacher.<br />
©Birgit&Peter Kainz Kai_Human_Flug2009_29
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
43<br />
Isabella Krainer<br />
Katzensilber<br />
Fotoalben hatten wir nie. So eine Familie sind wir nicht.<br />
Sollte es allerdings einen Stoff geben, ein Element, das in<br />
der Lage ist, etwas zusammenzuhalten, von dem man gar<br />
nicht ahnt, dass es überhaupt da ist, besteht es wohl aus<br />
jenen Momenten, die Zahnreihen aufblitzen lassen. Lustig<br />
ist es bei uns trotzdem nicht. Eher klassisch. Wenn wir<br />
genug davon haben, uns einander zu verdienen und nicht<br />
mehr auskommen, mit dem, was wir sind, schnappen wir<br />
nach dem Außenfeind. Und warum auch nicht. Wir sind die<br />
Mittelschicht. Wir sind bedroht.<br />
Mein Name ist übrigens Felix. Ich bin fünfzehn Jahre alt,<br />
wohne am Arsch der Welt und obwohl ich noch nie umgezogen<br />
bin, lebe ich neuerdings in einer dieser Großgemeinden.<br />
Wenn mich die Schulpsychologin fragt, ob ich<br />
habe, was ich brauche, lehne ich mich zurück und schaue<br />
ihr so lange ins Gesicht, bis sie rot wird. Funktioniert immer.<br />
Akne. Ist mir trotzdem langweilig, senke ich einfach<br />
den Blick und fingere unbeholfen an meinem Kapuzenpulli<br />
herum. Sie hält mich für ambivalent.<br />
Die nervöse Englischlehrerin, also die, die mit Sicherheit<br />
dafür bezahlt wird, unser „Aufmerksamkeitsdefizit“ durch<br />
in die Luft gezeichnete Anführungsstriche zu „kompensieren“,<br />
nennt die Gemeindezusammenlegung übrigens<br />
„Ka-Ching!“. Das Rufzeichen habe ich mir selbst dazu gedacht.<br />
Mit Pop hat das aber nichts zu tun. Pop ist unter<br />
meiner Würde. Apropos, seit wir im Englischunterricht über<br />
„urban legends“ gesprochen haben, hält sich das Gerücht<br />
über diesen Landjugendtrottel, also den, der angeblich ein<br />
„Statement“ gegen die Gemeindezusammenlegung gesetzt<br />
haben soll, in Wahrheit aber nur zu blau war, um die neue<br />
Ortstafel nicht umzunieten, recht hartnäckig. Hätte er es<br />
nicht getan, würde meine Oma sicher wieder „Verrat“ brüllen.<br />
Tja. Seit das leerstehende Kurhaus im Nachbardorf als<br />
Flüchtlingsunterkunft herhalten muss, hat sie eben Angst.<br />
Überfremdung und so. Ansonsten gibt es nicht viel zu<br />
erzählen. Außer vielleicht, dass ich mich insgeheim Felix<br />
nenne und im Unterschied zur Englischlehrerin immer noch<br />
flach bin, wie ein Brett.<br />
Ich heiße übrigens Felizitas. Der Rest stimmt. Meine Oma,<br />
die wohl der Meinung ist, dass ich langsam ins heiratsfähige<br />
Alter komme, hat mir gestern geraten, meine zu klein geratenen<br />
Titten mit Hühnerdreck einzuschmieren. Idiotisch.<br />
Hätte die Schulpsychologin noch Platz in ihren zeitlich, örtlich<br />
und situativ desorientierten Schubladen, würde meine<br />
Oma vielleicht auch wieder Anschluss finden. Ich meine,<br />
ihre BDM-Sprüche sind ja ganz witzig. Habe neulich einen<br />
davon auf Facebook gepostet. 103 Gefällt mir. Rekord! Nur<br />
gut, dass die Schulpsychologin nicht auf soziale Netzwerke<br />
steht. Ich glaube, die kann mit sowas nicht umgehen. Oder<br />
sie will nicht, dass sich irgendwer gezwungen fühlt, ihre Aknenarben<br />
zu liken. Wobei, mit dem richtigen Posting dazu,<br />
könnte sogar das funktionieren. Innere Schönheit und<br />
so. Seit ein paar Wochen, soll die jetzt auch noch bei den<br />
Flüchtlingen arbeiten. Verständigt sich dort wahrscheinlich<br />
mit Händen und Füßen. Oder auf Englisch. „Ka-Ching!“.<br />
Wenn ich meine Oma im Heim besuche, schauen wir uns<br />
immer Videos an. Youtube. Kann sie nicht aussprechen,<br />
das Wort. Jedenfalls sehen wir uns immer diese Familienstories<br />
an, also die, die von Playmobilfiguren gespielt<br />
werden. Familie Hauser bekommt eine Katze, gefällt ihr<br />
am Besten. Wenn der Vater sagt, dass sie jetzt als erstes<br />
ein Katzenklo herrichten, muss meine Oma immer lachen.<br />
Dass mir die fleischfarbenen Playmobilkinder irgendwie unheimlich<br />
sind, findet sie auch lustig. Und obwohl ich mich<br />
schon frage, wer auf die Idee kommt, sein eigenes Kind so<br />
einen Scheiß synchronisieren zu lassen, ertappe ich mich<br />
manchmal dabei, mein Leben mit Plastik tauschen zu wollen.<br />
Isabella Krainer<br />
Geb. 1974, in der Steiermark, lebt und arbeitet in Tirol & Vorarlberg.<br />
Abschluss des Studiums der Erziehungswissenschaften 2011. Studium<br />
der Europäischen Ethnologie seit 2016. Zahlreiche Publikationen<br />
in Magazinen, Zeitschriften und Onlinemedien, verfasst Lyrik,<br />
Prosa und journalistische Arbeiten. Beim Aphorismen-Wettbewerb<br />
2016, veranstaltet vom Förderverein DAphA (Deutsches Aphorismus-Archiv)<br />
Hattingen. www.isabellakrainer.com<br />
Prosa
44 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
©Birgit&Peter Kainz 2013_09_17_HUMANCarpet_01, 18, 26, 13-2
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
45<br />
Annemarie Andre<br />
U1 Südtiroler Platz/<br />
Hauptbahnhof<br />
Im Sommer sah meine Facebook-Timeline anders aus.<br />
Brot, Bananen, Schuhe, Decken zum Hauptbahnhof. Äpfel,<br />
Kekse, Trockenfrüchte zum Westbahnhof. Aufnahmestopp<br />
Kleidung. Eine Stunde später: Regen. Regenplanen überallhin.<br />
Ich habe nicht oft etwas hingebracht, manchmal unterwegs,<br />
denn beim Westbahnhof musste ich sowieso umsteigen.<br />
Einmal habe ich am Hauptbahnhof mitgeholfen. Heute<br />
bin ich nur hier, weil es Sonntag ist und ich nichts mehr<br />
zu Hause habe. Ich trage die Lebensmittel und das Klopapier<br />
zur Haltestelle. Wenn ich jetzt auf den O-Wagen warte,<br />
dann ohne das Gefühl in einem Schlafzimmer zu stehen.<br />
Im Sommer war der Bürgersteig ein großes Schlafzimmer.<br />
Ein Bürgersteig für Menschen, die hier keine Bürger werden<br />
sollen, die man nirgends einbürgern will.<br />
Als ich im Sommer da war, wo ich jetzt gemütlich auf die<br />
Bim warte, trugen wir alle Mundschutz. Die Stadträtin für<br />
Soziales war da und desinfizierte sich die Hände. Bald wurden<br />
uns allen die Hände desinfiziert. Es hieß, es kommen<br />
mehr Leute von Ungarn hoch, mit Magen-Darm Grippen,<br />
Unterkühlungen und Fäkalien an den Schuhen.<br />
Achtung es wird kälter. Männerschuhe und Decken zum<br />
Hauptbahnhof.<br />
Der O-Wagen kommt, ich steige ein, aber er zockelt nur<br />
ein bisschen nach vorne. Dorthin wo ich mit anderen Liegen<br />
desinfiziert habe. Beim Raustragen der Liegen gingen<br />
die Plastikteile auseinander und man musste sie draußen<br />
mit viel Kraft wieder zusammenstecken. Liegen desinfizieren,<br />
trocknen lassen, reintragen, eng aneinander stellen.<br />
Männer kamen mit ihren Frauen und Kindern zu uns. Nebenan<br />
gab es den einzigen Raum nur für Frauen. Meistens<br />
brachten wir die Frauen mit ihren Kindern zum Orga-Team.<br />
Private Duschgelegenheiten wurden organisiert. In der Zwischenzeit<br />
kamen die Männer mehrere Male und fragten<br />
nach ihrer Familie. Sie wollten nicht glauben, dass es tatsächlich<br />
so lang dauerte. Wir brauchten die Dolmetscher,<br />
um zu vermitteln, dass nichts passiert sei. Wir suchten.<br />
Wonach wussten wir nicht. Wir hatten den Überblick verloren.<br />
Eine Frau mit vier Kindern. Der Hauptbahnhof war<br />
voll von Frauen mit vier Kindern. Wir konnten nur warten<br />
und beruhigen.<br />
Niemand weinte. Es ist als hätte man ihnen gesagt: andri<br />
Zähnd zambeißen. Einige Männer beteten auf dem dreckigen<br />
Boden. Eine Frau wurde mir von einem anderen<br />
Freiwilligen in den Arm gedrückt mit der Bitte sie zum<br />
Frauenraum zu begleiten, denn sie hatte einen Verband am<br />
Fuß. Sie wollte Schlafplätze für sich und ihre Schwester.<br />
Ich sagte, ich reserviere zwei Liegen. Die Frau weinte. Wir<br />
gingen an den anderen Leuten auf dem Bürgersteig vorbei.<br />
Ich wusste nicht, was ich tun soll.<br />
Zugstopp nach Deutschland.<br />
Immer mehr Männer kamen mit ihrer Frau und den Töchtern.<br />
Aber der Raum für Frauen – eine Fahrradgarage ohne<br />
Fenster – war voll. Aufnahmestopp.<br />
Noch mehr Decken und Essen zum Hauptbahnhof.<br />
Meine zwei Liegen waren noch frei, aber ich sagte, es wäre<br />
voll. Der Schichtleiter meinte, wir könnten nicht ewig reservieren,<br />
wenn so viele Menschen ankämen.<br />
Der O-Wagen fährt ein Stück weiter und bleibt wieder stehen.<br />
Wenn ich mich umdrehe, kann ich den Hauptbahnhof<br />
noch sehen. Aber es ist kein Ort, wo beim Hinschauen sofort<br />
Erinnerungen wachwerden. Wenn ich an die Geräusche<br />
und an den Geruch denke, dann denke ich an den Ort. Aber<br />
dieser Ort sieht nicht aus wie der Hauptbahnhof.<br />
Die Straßenbahn holt ihr normales Tempo ein und fährt<br />
mich nach Hause.<br />
Kein Post mehr.<br />
Annemarie Andre<br />
Geb. 1994 in Waidhofen/Ybbs, lebt derzeit in Wien. Veröffentlichung<br />
in den Anthologien „Flügelschlag“ und „Bodenhaftung“ (Forum<br />
Land Literaturpreis). 3. Platz bei der LitArena VII der LitGes.<br />
Finaleinzug bei den Poetry Slam Meisterschaften 2015 als Team<br />
„Die Bahnhofspoeten“.<br />
Prosa
46 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Thomas Losch<br />
Wien bei Nacht 1978<br />
Clarissa verschwand.<br />
Da ich nicht alleine sein konnte, bastelte ich mir die 4 lebensgroßen<br />
Nachbarinnen. Aufgabe der Nachbarinnen war<br />
es, aus meinen vier Fenstern zu schauen. Allerdings nur im<br />
Sommer.<br />
Im Winter habe ich die Fenster geschlossen.<br />
Der einzige Satz, den diese Sprechpuppen sprechen können<br />
lautet: „ wo wolln’s denn hin?“<br />
Da die 4 Sprechpuppen den Satz immer gleichzeitig sprechen,<br />
ertönt die Frage im Chor.<br />
Die Folge ist, dass ich in der Nacht nicht schlafen kann. Alle<br />
fünf Minuten ertönt ziemlich laut die Frage: „ wo wolln’s<br />
denn hin?“<br />
Die Nachbarin gegenüber von mir starrt nun ihrerseits unentwegt<br />
aus dem Fenster.<br />
Sogar des Nachts, wenn ich aufs Clo gehe,<br />
sehe ich im Mondlicht das gespenstische Weiß ihrer Haare<br />
schimmern.<br />
Martin Piekar<br />
Schau nicht so. Ihr nackter<br />
Arsch. Morgenlicht.<br />
- zu Excursion into Philosophy, Edward Hopper, Öl auf Leinwand,<br />
1959<br />
Ein Buch als Spiegel des Liebenden?<br />
Ich hatte auch Nächte. Sie in meinem Schatten.<br />
Sind wir abgewandt<br />
Vor den Mond gerückt.<br />
Gräbst du die Philosophie um<br />
Nach dir? Willst du<br />
Ein Ejakulat der Wahrheit?<br />
Ein Buch. Ein Liebender. Einseitiger Schlaf.<br />
Frag dich bitte,<br />
Ob dir Sex reicht. Denn<br />
Auch der Sex<br />
Steht auf der Seite der Zukunft<br />
Exerzierst du oder exorzierst du ihn,<br />
Nun gut.<br />
Ihr Schlaf des Befriedens.<br />
Wärmebeladene Luft.<br />
Deine Raserei in Buchform.<br />
Reiche nach ihr,<br />
Man ist viel häufiger<br />
Beieinander als beisammen.<br />
Prosa/Lyrik<br />
Thomas Losch<br />
Geb. 1943 in Mumbai/Indien, wohin seine Mutter aus Berlin mit<br />
ihrem ersten jüdischen Mann geflohen war. Lebt seit seinem 6.<br />
Lebensjahr in Wien, 19<strong>64</strong> bis 1969 in Stockholm. Hier fing er zu<br />
schreiben an. Sein erster unveröffentlichter Roman behandelt<br />
das Thema des Fremdseins und die Ermordung der „Fremden”<br />
in den KZs des dritten Reichs, die noch immer ausschließlich als<br />
Juden, „Zigeuner” oder Homosexuelle bezeichnet werden, um<br />
einmal „a bissl” Abstand zu diesen „Leuten” zu schaffen. Die<br />
gehören mit solchen ausgrenzenden Benennungen also sowieso<br />
nicht zu „uns”. Verlust der Identität und Rückzug ins Private.<br />
Schließlich 2005 Veröffentlichung des vom Kulturamt der Stadt<br />
Wien geförderten Wien- Romans „Besucher einsamer Herzen”.<br />
Kein Schlaf.<br />
Die Zweifelhaft.<br />
Wirst keinen Rat finden.<br />
Erfinde bitte<br />
Eine eigene Sprache,<br />
Darin mit ihr.<br />
Ich bin unbegabt für solch<br />
Lange Rast.<br />
Ich schreibe Gedichte<br />
(vielleicht deshalb).
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
47<br />
Nicht wie eine Sanduhr, die<br />
man umdreht<br />
- zu: Die Metamorphose des Narziß, Salvador Dalí, Öl auf<br />
Leinwand, 1937<br />
Wie du dich aus deiner Zwiebelwurzel pellst<br />
Blute Blüte<br />
Im Fluss gespiegelt. Du gehst tiefer.<br />
Dich,<br />
In deiner Hand. In deinem Rücken<br />
Die Nackten, die Tänzer. Fernab.<br />
Und nur<br />
Der Sieger bleibt dem Schachbrett<br />
Erhalten. Allein. Wenn du<br />
Dich selber liebst, Kannst du<br />
Nicht siegen,<br />
Wärst ebenso Verlierer.<br />
Kelch in der Brandung deiner<br />
Psyche. Was brauchst du Menschen,<br />
Was Berge, was Spiele? Einen Spiegel<br />
Der Lust brauchst du;<br />
Schau nicht zu tief ins<br />
Flussbett.<br />
Ingrid Messing<br />
Was bleibt<br />
Er trug das Bild von sich vor sich her. Immer, zu jeder Zeit.<br />
Jeder versteht das, die kleine Tochter sollte immer das Bild<br />
vor Augen haben.<br />
Kleine Tochter wird große Tochter, rüttelt am Bild. Er trägt<br />
weiterhin, krampft die Hände fester um den Rahmen,<br />
schiebt es noch näher Richtung Tochter.<br />
Große Tochter will keine Tochter mehr sein. Er läuft mit<br />
dem Bild hinter ihr her.<br />
Wirf das Bild von dir weg, keucht Tochter.<br />
Welches Bild?, fragt er.<br />
Ich will dich in echt sehen, sagt Tochter.<br />
Hier, sagt er und hält das Bild vor ihre Nase. Tochter nimmt<br />
ihm das Bild ab, trägt es unter dem Arm zu sich nach Hause.<br />
Sie nimmt das kleine spitze Messer und kratzt an dem Firnis.<br />
Der ganze Arm rauf und runter tut weh, aber es gibt<br />
kein Halten mehr.<br />
Das Messer trägt ab, Schicht für Schicht, bis es kein Bild<br />
mehr gibt.<br />
Tochter geht zu ihm, um ihn wirklich zu sehen.<br />
Er ist nicht mehr da.<br />
Das Bild auch nicht.<br />
Der Rahmen ist noch da.<br />
Wo du Abgründe küssen lernst.<br />
War niemand sonst für dich<br />
Da?<br />
Die Zeit steht<br />
Still. Für dich.<br />
Deine Beziehung blüht stagnierend schön.<br />
Für Franzy<br />
Martin Piekar<br />
Geb.1990, Student der Philosophie und der Geschichte an der<br />
Goethe-Uni in Frankfurt am Main. 2012 Lyrikpreisträger beim 20.<br />
Open Mike. 2015 Preisträger des jungen Literaturforums Hessen-<br />
Thüringen und hr2-Literaturpreisträger. Sein erster Gedichtband<br />
„Bastard Echo“ erschien im Frühjahr 2014 im Verlagshaus Berlin.<br />
Ingrid Messing<br />
Geb.1949 in Metzlingen/Deutschland, pensionierte Lehrerin, lebt<br />
seit drei Jahren in Niederösterreich. Veröffentlichungen in verschiedenen<br />
Literaturzeitschriften und Anthologien. Treue Jour-fix<br />
Teilnehmerin der LitGes<br />
Lyrik/Prosa
48 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
©Birgit&Peter Kainz B_87607
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
49<br />
Andi Pianka<br />
Der Bilderrahmen<br />
im ursprung war der bilderrahmen. und der bilderrahmen war<br />
bei den hohepriestern. und die hohepriester bildeten den bilderrahmen.<br />
und als er, der bilderrahmen, fertig gebildet war,<br />
bildete er weitere bilderrahmen, die wiederum ihrerseits weitere<br />
bilderrahmen bildeten, denn es mußten viele bilderrahmen<br />
gebildet werden, da jedes gemalte bild einen bilderrahmen benötigte,<br />
um vor zu viel freiheit geschützt zu werden. eines tages<br />
kam eine junge malerin in einen keller, in dem viele berahmte<br />
bilder hingen. dort traf sie auf andere junge maler, die gekommen<br />
waren, um sich an den an nägeln aufgehängten bildern zu<br />
ergötzen und, sich an diesen orientierend, selber neue bilder<br />
zu malen. die jungen maler vertieften sich bei dieser gelegenheit<br />
untereinander in tiefgründige gespräche, in denen sie sich<br />
gründlich über grundlegendes austauschten, das unergründete<br />
zu ergründen versuchten, das bereits ergründete zu begründen,<br />
die gleichnisse des vergänglichen aufzulösen, die ereignisse<br />
des unzulänglichen zu deuten, um schließlich auf das getane<br />
unbeschreibliche anzustoßen. es herrschte einigkeit darüber,<br />
daß man auf eben diese weise den sachen auf den grund gehen<br />
mußte, denn alle sachen bräuchten einen grund, genauso wie<br />
fässer ihre böden, und die bilder ihre bilderrahmen. so lehrten<br />
es seit urzeiten die weisen hohepriester. die junge malerin allerdings<br />
wollte diese weisen sichtweisen nicht teilen und so fehlte<br />
ihren bildern des öfteren ein bilderrahmen, denn sie wollte<br />
in ihre bilder mehr freiheit einfließen lassen, damit sie fließen<br />
können, die bilder, um am ende mit reichem vollem schwalle<br />
zu einem wilden ungezügelten meer zusammenzufließen. doch<br />
es gelang ihr nicht, die anderen jungen maler zu einem bade in<br />
ihrer nicht stromlinienförmigen strömung mitzureißen. sie stieß<br />
mit ihrem herunterstoßen wollen der rahmen in deren köpfen<br />
auf kopfschütteln und unverständnis, ihr anstoß wurde als zu<br />
anstößig empfunden, weil sie es wagte, die weisen weisen der<br />
weisen umzustoßen, und da sie sich von den jungen malern<br />
ausgestoßen fühlte,<br />
bevor die glut<br />
verließ sie<br />
in ihr erlosch,<br />
den keller,<br />
und ging ins zentrum ihrer leidenschaft<br />
zurück.<br />
sie bahnte sich ihren eigenen weg.<br />
Wie man dem Toten Hasen<br />
die Bilder erklärt...<br />
Was Sucht Ihr Den Lebenden Bei Den Toten? Bei Dem Totem?<br />
Bei dem totemtier? wie man dem toten hasen die bilder<br />
erklärt, wußten ja nicht mal die drei weisen aus dem<br />
morgenland, ja, sie wußten nicht einmal, daß sie als drei<br />
weise gleichzeitig auch sechs halbweise sind, denn das<br />
war der weisheit letzter schluß. und letzte schlüsse können<br />
auch mal nach hinten losgehen. dann gehen sie die laufbahn<br />
auch endlich im uhrzeigersinn ab, anstatt sie, wie die<br />
leichtathleten, immer gegen den uhrzeigersinn abzulaufen.<br />
wem bitte bringt das was? dadurch wird man auch nicht<br />
jünger und kann die letzte zeitumstellung auch nicht mehr<br />
rückgängig machen. wenn man die zeit dauernd umstellen<br />
würde, würden sich fuchs und hase eines tages nicht mehr<br />
gute nacht, sondern stattdessen auf einmal high noon<br />
sagen. und das würde einer der beiden dann wohl kaum<br />
überleben. da wird’s für einen der beiden das lied vom tod<br />
spielen. und wenn dann joseph beuys dem toten hasen die<br />
bilder erklärt, dann weiß man, daß reineke fuchs der überlebende<br />
dieses duells war. so einfach ist das. wäre ja noch<br />
schöner, wenn es zweifach wäre. dann wäre es nämlich<br />
ein doppelmord, was dem sinn eines duells widersprechen<br />
würde. denn wer wäre dann der sieger? wobei es der hase<br />
ohnehin sehr schwer hat, denn bevor er sich mit dem fuchs<br />
duellierte, lief er gegen den igel um die wette. auch da mußte<br />
er sterben. erinnert ja schon fast an kenny aus south<br />
park. dabei ist ja der hase das symbol von ostern, also der<br />
auferstehung. auferstanden aus ruinen und der zukunft zugewandt,<br />
laß uns dir zum guten dienen. denn es muß immer<br />
einen dienenden teil geben, damit es auch einen führenden<br />
teil gibt. also die führer und verführer und entführer. hauptsache,<br />
führer, dann gibt es auch den schein dazu. denn was<br />
ist schon das sein gegen den schein, also das sein gegen<br />
das haben? wir sind ja schließlich alle haberer von irgendwem<br />
und ganz sicher keine seierer. denn das würde sich<br />
wie reiherer anhören – und wer möchte schon reihern,<br />
wenn er auch kotzen, speiben, erbrechen und sich übergeben<br />
kann? da hat uns gott so viele möglichkeiten übergeben,<br />
unsere ansichten über die gesellschaft kundzutun, da<br />
kann man sich doch nicht nur auf eine einzige beschränken.<br />
beschränkt sind nur bahnübergänge – und auch da ist der<br />
übergang manchmal ein fließender, vor allem, wenn er ein<br />
aquädukt ist. denn was haben uns denn die römer gebracht?<br />
die sanitären einrichtungen, man muß sich ja schließlich<br />
Prosa
50 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Prosa/Lyrik<br />
einrichten, wenn man wo seßhaft werden möchte. außer<br />
auf der toilette, da ist man zwar seßhaft, aber da muß man<br />
jetzt nicht mit sack und pack einziehen. denn das wäre ein<br />
einziehungsauftrag und den müßte man als lastschrift auf<br />
einen lastesel verladen und das wäre tierquälerei. da doch<br />
lieber dem toten hasen die bilder erklären, denn da hat er<br />
wenigstens intellektuell etwas davon. aber gut, mittlerweile<br />
gibt es ja auch straßen, die haben uns die römer natürlich<br />
ebenfalls gebracht, da fällt dem esel so ein ritt von A<br />
nach B schon leichter. ist ja nur ein buchstabe abstand,<br />
das geht schon. ob im schritt, im trab oder im galopp, ist<br />
da einerlei, in der spanischen hofreitschule lernt der esel<br />
jeden schritt, auch den rücktritt. außer natürlich, wenn der<br />
esel ein politiker ist, da geht so ein rücktritt nicht, denn das<br />
wäre ein abgang. und abgehen, also hinabgehen, wird er<br />
nicht wollen, weil es in seinem keller zu dunkel ist. das sollen<br />
gefälligst die römer tun, schließlich haben sie uns den<br />
wein gebracht. das sollte man erwähnen, denn sonst heißt<br />
es wieder, es gäbe nur leichen im keller. nein, es gibt dort<br />
auch einen wein! sonst hätte ja jesus das letzte abendmahl<br />
nicht feiern können und hätte es auf den nächsten donnerstag<br />
verlegen müssen. unterdessen hätte er den wein<br />
importiert – und das wäre ihm so teuer gekommen, daß er<br />
die versandkosten auf alle seine zwölf gäste aufteilen hätte<br />
müssen. na, wie hätte das dann ausgesehen? einladung zur<br />
vortodesparty und die gäste müssen zahlen? da wäre nicht<br />
nur judas vorzeitig gegangen, sondern auch alle anderen.<br />
vermutlich zum gegen-event von den römern, denn die haben<br />
uns schließlich alles gebracht, sogar das schulwesen.<br />
und das ist doch wesentlich! da erzieht man die kinder zu<br />
braven und gehorsamen staatsbürgern. und das ist so, wie<br />
wenn man dem toten hasen die bilder erklärt. sehr lehrreich.<br />
denn nur ein leerer geist, der stets bejaht, ist ein<br />
geist, der stets das gute will und stets das böse schafft. so<br />
bildet ihr euch ein, ihr toten, die ihr euch für die lebenden<br />
hält, daß es für ein genügend genügt, dem toten hasen die<br />
bilder des toten hasen zu zeigen, dem man seinerseits die<br />
bilder des toten hasen erklärt hat...<br />
Andi Pianka<br />
Geb. 1978 in Katowice (Polen), lebt seit 1983 in Wien, schreibt<br />
seit 2001 vorwiegend Lyrik und Kurzprosa. Mit-Organisator von<br />
kulturellen Veranstaltungen für junge Menschen (›führdichauf‹<br />
seit 2005, ›lesereihe‹ in der Arena seit 2006). Teilnehmer an Poetry<br />
Slams;1. Preis des LitGes Slams 2016. Literarische Veröffentlichungen<br />
in Zeitschriften und Anthologien seit 2007.<br />
Richard Weihs<br />
Einbildung<br />
Es war einmal ein Bildträger,<br />
der trug ein trügerisches Bild<br />
tief in sich.<br />
Es war ein völlig falsches Bild,<br />
das er sich da gemacht hatte<br />
von sich selbst.<br />
Das Bild, es wurde immer schräger,<br />
sein Träger aber immer träger<br />
innerlich.<br />
Wegen dieser schweren Schwäche<br />
erschien er nicht mehr auf der Bildfläche<br />
und verschwand.<br />
Die Beule<br />
Wenn man in Wien wo demonstriert,<br />
kann’s sein, daß man geprügelt wird<br />
Mir ist’s vor’m Parlament passiert -<br />
dort wurde ich am Kopf blessiert<br />
Ein Kieberer mit seiner Keule<br />
schlug mir eine Riesenbeule,<br />
worauf ich ganz benommen lehne<br />
zu Füßen der Pallas Athene<br />
Hoch über mir auf einer Säule<br />
saß eine weise Wiener Eule<br />
Sie musterte mich int’tressiert<br />
und sprach zu mir dann sehr versiert:<br />
„Woat nua a klane Wäule,<br />
nochhea geht die Beule beule!“<br />
Die Eule hat sich nicht geirrt:<br />
Bald drauf ist die Beule beulisiert!<br />
Die schwarze Warze<br />
Eines Morgens vor dem Spiegel<br />
krieg ich einen Riesenschreck:<br />
Am Ohr wächst mir ein böser Nigl
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
51<br />
und den krieg’ ich nicht mehr weg!<br />
Ob ich quetsche, ob ich quarze,<br />
ob ich mit der Grille parze -<br />
ständig wächst die schwarze Warze...<br />
Auf der Straße, im Kaffeehaus<br />
schau’n die Leut’ mich seltsam an:<br />
Gar kein Wunder, denn ich seh’ aus,<br />
als wüchse mir ein halber Walk-Man!<br />
Ob ich knurre, ob ich knarrze,<br />
ob ich mir die Zisse narze -<br />
ständig wächst die schwarze Warze...<br />
Ich konsultierte viele Ärzte,<br />
alle war’n sie sehr verdutzt<br />
Obwohl mich manche Kur sehr schmerzte,<br />
keine hat etwas genutzt<br />
Ob ich hackte, ob ich harzte,<br />
ob ich mich jetzt selbst verarzte -<br />
es wächst und wächst die schwarze Warze...<br />
Ich seh noch einen letzten Ausweg<br />
und heure einen Killer an<br />
Gerade geh’ ich von zuhaus’ weg,<br />
da legt der Dillo auf mich an<br />
Doch wie mir plötzlich klar war,<br />
was ich für ein Narr war,<br />
schrei ich: „Halt! Das ist doch eine Farce!“<br />
Doch da trifft er schon in’s Schwarze...<br />
Überdosis<br />
Überfressen unter Geiern<br />
durch die Wüste taumeln<br />
Angesoffen an den Eiern<br />
überm Abgrund baumeln<br />
Schwitzend stier nach vorne starrend<br />
des Stieres spitzen Hornes harrend<br />
Fürwahr – dies sind prekäre Lagen<br />
und ausgesprochen schwere Plagen!<br />
Doch was ist das alles im Vergleich<br />
zu einer Überdosis Österreich!<br />
Höhnst über alles neue Schöne<br />
Krönst Kretins durch höchste Löhne<br />
Frönst erst ständig tiefster Blödheit<br />
Stöhnst dann wendig wegen Ödheit<br />
Du bist Europas schönste Leich:<br />
Voll verlog’nes Österreich!<br />
Was Besseres<br />
Aber natürlich sind wir etwas Besseres<br />
auch wenn wir ein wenig über unsere Verhältnisse leben<br />
Wir haben uns haushoch erhoben<br />
über die dunklen Kellergewölbe unserer Ängste<br />
Wir schreiten stolz und unnahbar vorbei<br />
an der Hausmeisterwohnung der Kleinbürgerlichkeit<br />
Wir blicken verächtlich hinab<br />
auf die Belletage des schnöden Materialismus<br />
Wir stehen fest auf dem Boden unserer intellektuellen<br />
Realitäten<br />
und den geistigen Plafond der unter unserem Niveau<br />
Angesiedelten<br />
treten wir genüsslich mit Füßen<br />
Natürlich wird uns manchmal schmerzlich bewusst,<br />
dass auch über unseren Köpfen noch Höhere zu Gange<br />
sind<br />
aber immerhin halten wir uns doch auf respektablem Level<br />
zumindest solange wir nicht den Boden unter den Füßen<br />
verlieren<br />
und das Dach über dem Kopf<br />
Eine österreichische Karriere<br />
Zuerst: Made in Austria<br />
Dann: Engerling für Europa<br />
Jetzt: Wurm von Welt<br />
Genährt von Lurch und Rauch,<br />
Versteckt hinterm Urinstein funkeln salzige Kristalle<br />
Zum Klang von Löffeln und Schalen,<br />
Wenn der Dampf der Kaffeemaschine wieder mit voller<br />
Kraft<br />
Die Zukunft weiter in die Ferne schiebt.<br />
Heimat bist du großer Töne<br />
Heimat bist du großer Töne,<br />
rühmst dich gerne großer Söhne<br />
Richard Weihs<br />
Geb. 1956 in Wels. Autor, Musiker und Kabarettist. Beschäftigt<br />
sich mit den Abgründigkeiten des Wienerischen, hat zahlreiche<br />
Lieder und Gedichte im Wiener Dialekt verfasst.<br />
Lyrik
52 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Manfred Pricha<br />
verfilmte verfremdung<br />
die gegenwart wird fließend exzessiv verfilmt<br />
während die erinnerung regelmäßig verblaßt<br />
implodiert in der leere für selbstbegegnung<br />
bilder die sich mehr zu null als eins neigen<br />
den stand der dinge zu schnell gemacht<br />
in der flüchtigkeit verbrannt zu asche verflacht<br />
verschluckt sich die zeit an ihrer bedeutung<br />
selbst festgehalten verliert sie an erlebniswert<br />
ein schlund in dem der rausch der ereignisse<br />
verschwindet in der fehlenden lebenskunst<br />
überlagert die hektik die muße zum original<br />
in der bilanz von doppelgängern verfremdet<br />
hinter dem vorbild<br />
ein vorbild<br />
muß hergezeigt werden<br />
prominent darstellbar<br />
mit fleiß gewebt<br />
einfache retter<br />
sind schnell vergessen<br />
im nachhaltigen<br />
liegt das heldentum<br />
die ikone<br />
von allen ein grauer star<br />
verdirbt nicht<br />
die leuchtende imagination<br />
im übergang<br />
der aussparungen<br />
wie im verschluß der offenen kamera<br />
einen augenblick die zeit vergessen<br />
die blendung des lebens ausschalten<br />
der kunsttod als lautloser krampfschrei<br />
prustet schemen im entwicklungsbad<br />
entwertete schlangenlinien verschliert<br />
das sprunghafte erlebt den neustart<br />
vom absturz des farbbands getrieben<br />
flecken im fenster der zeit schneiden<br />
aus sich den schleichenden übergang<br />
unvorhergesehen<br />
im rückwärtsgang<br />
im rückwärtsgang des films<br />
werden tote zum leben erweckt<br />
seilen sie sich aus dem meer an land<br />
fliegen vom tal auf den gipfel<br />
das zerknüllte entblättert sich<br />
das verschüttete entrümpelt sich<br />
das eingestürzte baut sich wieder auf<br />
mit einem klick laufender bilder<br />
windet sich die realität ins gestern<br />
wird unbekanntes zurückerinnert<br />
bis die ursachen ins blickfeld kommen<br />
ungeschnitten wie im richtigen leben<br />
hinter dem vorbild<br />
ein vorbild<br />
muß hergezeigt werden<br />
prominent darstellbar<br />
mit fleiß gewebt<br />
einfache retter<br />
sind schnell vergessen<br />
im nachhaltigen<br />
liegt das heldentum<br />
die ikone<br />
von allen ein grauer star<br />
verdirbt nicht<br />
die leuchtende imagination<br />
betrachtung<br />
Lyrik<br />
im schluckauf verschließender atmung<br />
aussetzer der bildfolge bemächtigt<br />
als ob ich jeden tag<br />
in den spiegel schaue
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
53<br />
will ich mich gar nicht<br />
sehen so gegenüber<br />
mein suchbild von mir<br />
ein image unbearbeitet<br />
nicht gemeißelt in stein<br />
die statue zum vergessen<br />
trete ich auf der stelle<br />
ohne gesichtsverlust<br />
vom doppelten trunken<br />
finde ich nichts an mir<br />
anno dazumal<br />
Bildstörung<br />
Um sich ein Bild zu machen<br />
von der Störung der Wahrnehmung<br />
legte er die Kamera an<br />
drückte auf den Auslöser<br />
Auf dem Display erschien eine schwarze Fläche<br />
wie ein Gemälde von Mark Rothko<br />
in verkleinerter Form<br />
Er versuchte es noch mal und noch mal<br />
kam immer wieder zum selben Ergebnis<br />
Seine Augen sahen nichts anderes<br />
was er sich schon ausgemalt hatte<br />
herrliche urlaubsfotos<br />
mit der neuen kamera geschossen<br />
berg und tal meer und strand<br />
ein glückliches paar unter der sonne<br />
beneidet von den daheimgebliebenen<br />
und den reizvollen kindern damals<br />
heute beäugen sie neue geräte<br />
kleben die minikameras zu<br />
jeder für sich mit dem zweifel<br />
wer noch einblick auf sie wirft heimlich<br />
von außen ferngesteuert<br />
zeig mal was du auf der haut trägst<br />
fahndungsdouble<br />
phantombilder<br />
wie gerädert<br />
nach einer langen autobahnfahrt<br />
die rücklichter nur noch im blick<br />
erfundener virtualität<br />
bei geschlossenen augen rot irrend<br />
ein teufelskreis der laufenden phantombilder<br />
tanz zu dunkler entzückung<br />
einfach weiterfahren<br />
in viraler bewertung<br />
der zuckenden blitze im sekundentakt<br />
der schlaf am nahenden ende<br />
schaltet das licht aus<br />
du bist nicht der auf dem bild<br />
das sie sich von dir machen<br />
landauf landab in echtzeit fotografiert<br />
bist du das original nicht die fälschung dein<br />
doppelgänger auf der festplatte<br />
der sich nicht um sein image schert<br />
verfolgt dich mehr als du glaubst<br />
während du dich offen verschenkst<br />
auf den ersten blick nicht verliebt<br />
lieben sie es unter deine zweite haut<br />
zu schlüpfen und sich einzunisten<br />
wie ein ei dem anderen als zwillingspaar<br />
sie stellen dich aus dem netz frei<br />
und schneiden dich ein gekreist<br />
Manfred Pricha<br />
Geb. 1954 in Altötting (D), Studium der Wirtschafts- und<br />
Geschichtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum.<br />
Autor, Wissenschaftlicher Dokumentar und Historiker,<br />
lebt und arbeitet in Bochum, schreibt Lyrik und Prosa.<br />
Lyrik
54 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
HansPeter Ausserhofer<br />
Im Café Wortspiel<br />
„Glaub mir HP, ein Bild sagt mehr als 1000 Worte.“<br />
Ich sitze mit Ed im Café Wortspiel, und er versucht mir die Bildsprache<br />
zu erklären. Ed ist Fotograf, Maler und mein Freund.<br />
Ich bin HP, Literat und Poet.<br />
„ Sie sagen mehr als 1000 Worte? SagenHaft! Aber, wenn Bilder<br />
so gesprächig sind, warum schweigen mich dann so Bilder an?“<br />
„Die schweigen nicht HP, du hörst nur schlecht. Geh mal zum<br />
Augenarzt, der soll dir eine Hörbrille verschreiben.“<br />
„Ed? Ed, kann es sein, daß manche Bilder gar keine Stimme<br />
haben, weil vielleicht der Farbton nicht stimmt?“<br />
Er schweigt, und blättert in der Bild.<br />
„Die Bild soll einen neuen Investor haben.“, sag ich zu ihm, „<br />
einen schwerreichen Düngemittelhersteller. Ein gewisser Freiherr<br />
von Santo. In der Bild steckt mehr BilDUNG als man ahnt.“<br />
Ed schnuppert an der Zeitung, und legt sie beiseite, mit der<br />
Schlagzeile nach oben.<br />
Und mein Daumen zeigt nach unten. Die Boulevardpresse –<br />
mit den Schlagzeilen verprügeln sie ihre eigenen Berichte.<br />
Das Café Wortspiel liegt auf der Anhöhe des Bilderberges.<br />
Sanft erhebt er sich aus der Tiefebene der flachen Bildschirme.<br />
Der Bilderberg ist der Nabel der Bilderwelt, hier treffen sich die<br />
Bildgestalter und die Bildträger. Die Einen erschaffen Bilder, die<br />
Anderen tragen sie weiter.<br />
Architekten arbeiten an Stadtbildern, Landwirte an Landschaftsbildern,<br />
Bühnenbauer an Bühnenbildern, Power Pointer<br />
an Lichtbildern, Banken an Scheinbildern, Bodybilder an Trugbildern,<br />
Modeschöpfer an Spiegelbildern, Prediger verkünden<br />
Glaubensbilder, Musiker komponieren Klangbildern, Philosophen<br />
ersinnen Weltbilder, Vorbilder verkaufen Abziehbilder,<br />
Kriegstreiber und Feldherren erstellen Blutbilder, Mannsbilder<br />
verführen Weibsbilder, Kindsköpfe malen Sinnbilder, und das<br />
Sandmännchen Traumbilder.<br />
Bilder sind etwas Wunderbares, denn es gibt Dinge, die kann<br />
man nicht beschreiben.<br />
Aber es gibt auch Dinge, die sind unsichtbar.<br />
Prosa<br />
HansPeter Ausserhofer<br />
Geb. Ja! Wohnt und arbeitet: hier bei mir! Auszeichnungen? Null!<br />
©Birgit&Peter Kainz HUMAN_Cello-Kinsky_final
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
55<br />
Prosa
56 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Janus Zeitstein<br />
Dauer – Spuren<br />
Ihr, die Ihr nicht Untertanen einer Majestät!<br />
Ihr, die Ihr Gefolgsleute der Handybetreiber!<br />
Ihr, die Ihr Ritter der Energiekonzerne seid,<br />
die Ihr Strom freßt und in die Sterne schaut,<br />
Ihr, die Ihr freie Bürger zu sein glaubt;<br />
dunkle Gedanken begleiteten mich<br />
entlang schwach gezackter Spuren<br />
zu einer weißen Wellenlinie -<br />
in Stein geätzt.<br />
Geätzt in Stein.<br />
Exkarniert, bar allen Fleisches,<br />
fand sich dort ein Skelett aus Gedenken<br />
in den Felsen geschrieben,<br />
geschrieben in Fels<br />
ein menschliches Gesicht.<br />
Lyrik<br />
die Willkür und Staatsgewalt nie zu spüren meinen,<br />
Ihr Subjekte, Egos und Meineigenen,<br />
Euch widme ich diese Worte:<br />
Was anderes als eine beschriebene Schiefertafel<br />
ist das menschliche Hirn?<br />
Ewige Schichten von Ideen und Bildern,<br />
Gefühlen gleich einer Schneedecke,<br />
die immer wieder alles verhüllt und entschmilzt?<br />
Nichts, keine Erinnerung,<br />
kein Telefonat,<br />
keine e-mail<br />
wird jemals ausgelöscht sein,<br />
wird ewig sichtbar bleiben<br />
auf der scheinbar gelöschten Schiefertafel!<br />
Lamm, Kaminkehrer,<br />
Keim des Glücks, Dauerspuren,<br />
Beständigkeit!<br />
Gedacht<br />
In heller Mondnacht vor einem trüben Tag<br />
exhumierte ich die graue Erinnerung,<br />
schabte frei düsteres Andenken<br />
mit spitzem Meißel.<br />
Mit scharfer Klinge<br />
löste ich schmutzig-weiße Schuppen,<br />
Schuppen schmutzig und weiß!<br />
Aus der heiligen Vorstellung<br />
lösten sich freigebig Bilder,<br />
ein aufbauender Geist trat ins Zwielicht,<br />
im Zwielicht öffnete der Geist<br />
den Blick auf Wahrheit und Ordnung,<br />
in Ketten lagen Lüge und Chaos<br />
Chaos und Lüge in Ketten!<br />
Hinter meinem Verstand lief meine Zunge,<br />
lief dem Verstand hinterher,<br />
löste mit Worten die entfleischten Knochen vom Kiesel<br />
versuchte Verwichenes zurückzurufen.<br />
Zurückzurufen das Verwichene!<br />
Mir entfielen Fäustel und Eisen,<br />
die zornigen Zerstörer, angesichts des Enterdigten,<br />
was da aus tiefer Lage an die Oberfläche gebracht,<br />
aus tiefer Lage gebracht.<br />
Mir froren die Lippen, es erstarrte mein Blick,<br />
es verschlug meine Rede<br />
ob des einst Gedachten.<br />
Des einst Gedachten.<br />
Das linke Ohr war halb abgerissen,<br />
fast abgerissen das linke Ohr<br />
ich versuchte das Gespinst,<br />
diesen übelriechenden Gast, in den Busch zu jagen,<br />
in den Busch zu jagen diesen übelriechenden Gast.<br />
doch hatte es bereits von meinem Innern Besitz ergriffen,<br />
reichte über mein Rückgrat hinab bis in die Spitzen der<br />
Zehen,<br />
bis in die Zehen hinab.<br />
Schwamm in meinen Körperflüssigkeiten.
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
57<br />
Ich versuchte die Erinnerung hinauszurotzen,<br />
hinauszurotzen die Erinnerung,<br />
diese jahrtausendalte Beihilfe aller Geborenen<br />
aus dem Schädel zu schlagen,<br />
zu schlagen aus dem Kopf,<br />
mit der Unmöglichkeit des Beschreibens,<br />
mit dem Fehlen einer Idee, dem Verkennen fertig zu<br />
werden.<br />
Fertig zu werden mit dem Verkennen.<br />
Doch alle Empörung führte zurück<br />
zurück führte alle Empörung<br />
an den Ort der Geschichte,<br />
in meine Gedichte,<br />
in das Gedachte.<br />
Das Gedachte<br />
In meine Gedichte.<br />
Vollenden mit Kraft.<br />
Steigen ins Bild<br />
stellen Himmel dar.<br />
Wenn sie Verhältnisse erkennen<br />
verwirklichen sie kaum die Bewegung.<br />
Doch sie bezeichnen die Zeit<br />
Und bedingen Betrachtung.<br />
Was bewirken Macht<br />
Und Erreichen?<br />
Die Wirkung bereitet<br />
die Menschenwelt vor,<br />
auf das was ihr Hemmen<br />
dem Wesen verbirgt.<br />
In ein Bild gestiegen<br />
Schicksal und Mensch<br />
Gehen hinter Zeichen<br />
Wirken in zügigen Strichen<br />
die Ströme der Urkraft.<br />
Übertragen ihre Natur,<br />
Um zu zeigen die Schwäche<br />
die sie schauen als Eigenschaft.<br />
Janus Zeitstein<br />
Mitte der 50iger Jahr doppelwaagig geboren und nach der Geburt<br />
verwechselt. Humanisiert und romantisch verseucht<br />
an der Sill und vom Föhn. Ab Mitte der 70iger Jahre erste Lesungen<br />
zwischen mittelalterlichen Mauern und neuer Autobahn.<br />
Schule für Dichtung bei Anne Tardos und Ide Hintze. Seit 1990<br />
literarische Beiträge für diverse Druckmittel in und um Wien<br />
(u.a. DUM, etcetera, Morgenschtean) sowie graphische Beiträge<br />
für poetische Londoner Veröffentlichungen. Lesungen im Radio,<br />
Literaturhaus Wien, in Prag und St. Pölten und andernorts.<br />
Seit 25 Jahren lebhaft in Wien.<br />
©Birgit&Peter Kainz Humana Austria Kainz
58 BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
Thomas Northoff<br />
Thomas Northoff<br />
Geb. 1947 in Wien. Lebt ebenda als Schriftsteller und Kulturwissenschaftler.<br />
Baut seit 1983 das "Österreichische Graffiti Archiv<br />
für Literatur, Kunst und Forschung" auf. Reflektiert in beiden<br />
Arbeitsbereichen sprachliche Tabuzonen und gesellschaftliche<br />
Grauslichkeiten. Mehrere Fotoausstellungen. Konzept und Organisation<br />
von internationalen WortGraffiti-Symposien (1992, 1993,<br />
1998) sowie von literarischen Veranstaltungen. Letzte Buchpublikationen:<br />
LUST.IG VERLIEREN (herbstpresse 2004). Graffiti. Die<br />
Sprache an den Wänden (Löcker 2005).<br />
Graffitis
BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
59<br />
Graffitis
60 BILDTRÄGER|Juni 2016 Vereinsleben<br />
Rückschau und Präsentation etcetera 63 Alles Theater<br />
©Fotos Doris Paweronschitz<br />
Als Hausherr begrüßte Museumsdirektor Mag. Thomas<br />
Pulle und SR Renate Gamsjäger das zahlreich gekommene<br />
Publikum, SR Ulrike Nesslinger und die beiden Redakteure<br />
Joh. Schmid & Eva Riebler-Übleis (siehe Foto).<br />
Nachdem Heftkünstler Walter Berger aus St. P./Wien im<br />
Gespräch vorgestellt worden war, las der aus Kärnten angereiste<br />
Autor Egyd Gstättner aus seinem nunmehr 9. oder<br />
10. Roman satirisch Entblätterndes über die Klagenfurter<br />
Errungenschaft – das Stadion. Diese Kärntner Silberschüssel<br />
und die österreichische Seele sind wiederum der<br />
Schauplatz des Absurden. Wie bereits die sprechenden<br />
Titel seiner Romane „Der Mensch kann nicht fliegen“, „Untergang<br />
des Morgenlandes“, „Absturz aus dem Himmel“,<br />
„Ein Endsommernachtsalbtraum“, „Das Geisterschiff“, „Am<br />
Fuß des Wörthersees“ 2014, (alle bei Picus) zeugen, ist der<br />
humorvolle Zynismus die Erzählspur.<br />
Die Unterhaltung war somit großartig auf feinem Niveau<br />
und wurde durch die z.T. selbst verbrochenen Lieder des<br />
Ehepaars B.U.G.L. = Beinahe Unter der Gürtel-Linie mit Gitarre<br />
und Gesang lebhaft unterstützt.<br />
Mit diesem Heft „etcetera“ <strong>64</strong> BiLDTRÄGER geht nun das<br />
30. Jahr, das die Literarische Gesellschaft mit dem Bestehen<br />
ihrer Zeitschrift feiert, zu Ende. Sie wurde als Nachfolgeprojekt<br />
der literarischen Publikation „das pult“ von<br />
Klaus Sandler und der Zeitschrift „Limes“ und „Edition<br />
Limes“ 1985/86 gegründet. Unter der Obfrau Dr. Doris<br />
Kloimstein (1998) und dem Team Mag. Susanne Helmreich,<br />
Renate Kienzl und Mag. Ernst Kienzl als Layouter wurde die<br />
großformatige Zeitschrift „literarisch kulturellen Magazin<br />
etcetera“ den St. Pöltnern vorgestellt. Dr. Doris Kloimstein<br />
verlieh den Präsentationen der jeweils aktuellen Ausgaben<br />
den Charakter von Events und baute ein Netzwerk von und<br />
für Literatinnen und Literaten auf. Regelmäßiger Treffpunkt<br />
für Literaturinteressierte, die Jour-fixe, die LitArena-Lounge<br />
mit dem 1. St.P. - und auch zeitgleich mit dem 1. Wiener<br />
- Poetry Slam wurden gegründet. Als Doris Kloimstein ab<br />
2003 aus beruflichen Gründen ausschied, wurde Mag. Eva<br />
Riebler als Germanistin nun Obfrau und arbeitete mit Vizeobmann<br />
Alfred Koch als Layouter bis 2005/06 zusammen.<br />
Seither kommt das Layout des nunmehr farbigen und<br />
auf meist 72 Seiten starken „etcetera“ Magazines aus der<br />
Hand von Gerhard Axmann. Der auf Anregung Thomas Havliks<br />
ins Leben gerufene LitArena Literaturwettbewerb für<br />
literarischen Nachwuchs, hat 2015 beim 7. LitArena-Heft<br />
Dipl. Soz. Ök. Cornelia Stahl übernommen. Den von Thomas<br />
Fröhlich initiierten Poetry Slam „LitArena LitGes Lounge“<br />
für unkonventionelle Literaturvermittlung übernahm<br />
bis 2014 Thomas Havlik und übergab nun an Andi Goreis.<br />
Ingrid Reichel war von 2004 bis 2013 nicht nur erfolgreiche<br />
Redakteurin, Rezensentin und Kassierin, sondern organisierte<br />
ab 2006 eine neue Litges-Homepage und Webauftritte<br />
im Online-Forum sowie den Newsletter, der seit dem<br />
Weggang von Theresia Punz als Kassierin (2013-2015) neu<br />
in den Händen von Karin Eibel geparkt ist.
Vereinsleben BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
61<br />
©Fotos Alfred Nagel<br />
Osterspaziergang der LitGes am Karsamstag 2016<br />
Der Osterspaziergang der literarischen Gesellschaft St. Pölten<br />
am Ostersamstag hat schon Tradition.<br />
2000 wurde er von der damaligen Obfrau Doris Kloimstein<br />
als Lese-Spaziergang entlang der Traisen ins Leben gerufen.<br />
Seit 2003 führt ihn Obfrau Eva Riebler im Kaiserwald mit<br />
Lesestationen und Eierpecken durch. Seit 2009 gings dann<br />
immer um den Viehofner See mit einem Picknick, wenn es<br />
das Wetter erlaubte oder gleich in die „Seedose“, wenn es<br />
regnete, kalt war oder schneite.<br />
Gelesen wurden oft Frühlingsgedichte; z.B. Fausts Osterspaziergang<br />
von Friedericke Mayer, Auferstehungstexte von<br />
Manfred Lagler oder früher welche von Alois Eder und nun<br />
von Eva Jancak mit St. Pölten Bezug, z.B. das „Sommer am<br />
Wasser“ oder die „Frequencygeschichte“ oder Aufmüpfiges<br />
oder Kompromitierendes von Ingrid Reichel.<br />
Das Publikum wechselt, Ruth Asböck und Robert Eglhofer<br />
sind verschwunden. Maria Seitz und Manfred Lagler, Gertraud<br />
Artner etc. immer noch dabei und neu kamen Ingrid<br />
Messing, Punz Theresia, Elfriede Starkl, Milena Zuser, Romana<br />
Maria Jäger, Erna Geiger (Fotos letzte Reihe v. l.n. r.).
62 BILDTRÄGER|Juni 2016 Vereinsleben<br />
16. Poetry Slam der LitGes in St.Pölten<br />
Der Poetry Slam ist so alt wie die Hauptstadt!<br />
Die LitGes war in St.Pölten seit dem Jahr 2000 federführend<br />
in Sachen Slam, gleichzeitig mit Wien und verteilte<br />
damals wie heute immer noch international anerkannte<br />
Slampunkte.<br />
Bis 2003 wurde er im Kellergewölbe des Kulturbeisls<br />
EGON von Thomas Havlik und Thomas Fröhlich abgehalten.<br />
Sieger waren unter anderem die 16-Jährige Vea Kaiser<br />
der Mari Award Schule, die heute mit ihrem Roman<br />
„Austropop“ bekannt ist oder die damals über 70-Jährige<br />
Schmid-Schmidsfelden aus Wilhelmsburg. Auch Jesica<br />
Am 14.4.2016 hielt die LitGes mit dem neuen Slammaster<br />
Andi aus Wien ihren Poetry Slam im Cinema ab.<br />
Gekommen waren der erfahrene Andi Pianka, der gleich<br />
in rhetorischer Schärfe den ersten Platz abräumte, ex<br />
equo am 2. Platz Simon Tomaz und Thomas, knapp dahinter<br />
D.Hannibal Deutsch, die alle auch schon im Vorjahr<br />
auf der Bühne des Cinemas standen.<br />
Jeweils zwei qualitativ äußerst spannende witzige – spritzige<br />
Texte wurden dem zahlreichen Publikum vorgestellt.<br />
Aus dem Publikum stammte auch die 6-köpfige vor ort<br />
gewählte Jury, deren Benotungen um den höchsten und<br />
v.l.n.r. 1. Platz Andi Pianka, Slammaster Andi, Eva Riebler-Übleis, Frau Deutsch, 2.Platz ex equo Simon Tomaz und Thomas.<br />
Lind, Milena Flashar und Cornelia Travnicek waren unter<br />
den Gewinnern. Als berühmte Slam-Einpeitscherin war<br />
in St.Pölten Mieze Medusa, die 2015 im Milena Verlag<br />
„Meine Fußpflegerin stellt Fragen an das Universum“<br />
herausgegeben hat, oder Tschif Windisch, der in Krems<br />
heuer den 7. Kremser Poetry Slam organisierte, von der<br />
LitGes geladen.<br />
niedrigsten Wert vermindert, jeweils zusammengerechnet<br />
wurden.<br />
Der Poetry Slam feiert heuer international sein 30ig jähriges<br />
Bestehen. Man kann ihn als literarischen Vortragswettbewerb<br />
bezeichnen. In Europa stehen im Durchschnitt<br />
5 Minuten Redezeit zur Verfügung. Bewertet wird nicht nur<br />
die Qualität des Textes sondern auch die des Vortrags.
Vereinsleben BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
63<br />
Es wird rhythmisch, schnell, laut bis schreiend und auf<br />
alle Fälle pointiert und das Publikum für sich einnehmend<br />
vorgetragen.<br />
Vielleicht könnte man ihn mit dem spät-mittelalterlichen<br />
Dichterwettstreit a`la Hans Sachs vergleichen, allerdings<br />
natürlich vollkommen frei in Gestik, Metrik, Strophe<br />
und Reim!<br />
Er kam aus Amerika zu uns, u. zwar aus Chicago. Vor<br />
allem beim jungen Publikum ist er sehr beliebt und wirkt<br />
rhetorisch motivierend und lehrt kreativ mit dem Material<br />
Sprache umzugehen.<br />
Die Besucherzahlen belaufen sich bis zu 15.000 z.B.<br />
beim German international Poetry Slam 2011 in Hamburg,<br />
davon alleine 8.000 beim Finale in der 02-Arena.<br />
Somit wurde der Poetry Slam zu einem international anerkannten<br />
Literaturgenre, aus dessen Szene so mancher<br />
Kabarettist (Paul Pizzeria, Didi Sommer, Bernie Wagner<br />
oder so manche Kabarettistin (Lisa Eckart) stammen.<br />
Auch die Gewinnerin des Bachmannpreises 2015 Nora<br />
Gomringer hat ihre Wurzeln nicht nur in der Sprachgewandtheit<br />
ihres Vaters, des Da-Da-isten Eugen Gomringers,<br />
sondern kommt aus der Poetry-Szene.<br />
Eva Riebler-Übleis
<strong>64</strong> BILDTRÄGER|Juni 2016 Rezensionen<br />
Renate Sattler:<br />
Risse im Gesicht.<br />
Lich/Hessen: Edition AV<br />
2016; 201 Seiten.<br />
ISBN: 978-3-86841-157-7<br />
Romana M. Jäger:<br />
Wasch mich, aber mach<br />
mich nicht nass!<br />
Yoga f. Unerleuchtete.<br />
Selbstverlag, 2014; 154 S.<br />
ISBN 978-3-9503929-0-6<br />
Gertraud Klemm:<br />
Muttergehäuse<br />
Wien: Kremayr & Scheriau,<br />
2016, 160 S.<br />
ISBN 978-3-218-01023-8<br />
Geheimnisse um Großvaters Grab. Jahrzehnte<br />
dauerndes Schweigen beeinflusst Marions Leben, Protagonistin<br />
in Renate Sattlers Buch „Risse im Gesicht“. In<br />
der Schule und zu Freunden darf sie nicht über Großvaters<br />
Grab sprechen, da seine Geschichte bis zum Ende<br />
der DDR ein Tabu berührt. Nachdem Marion in den 70er<br />
Jahren am Grab des Großvaters war, sucht sie es 2008<br />
noch einmal auf.<br />
Erzählt wird die Familiengeschichte dreier Generationen<br />
aus der Sicht der Marions. Aufgewachsen mit Mutter<br />
und Großmutter, erfährt sie von zurückliegenden Familienereignissen.<br />
In den Jahren verordneter Deutsch-<br />
Sowjetischer-Freundschaft, während der DDR-Zeit,<br />
blieben dunkle Seiten der Roten Armee ein Tabu. Ohne<br />
Grund wurden Männer im Mai 1945 in Kriegsgefangenenlager<br />
und schließlich in die Sowjetunion zum Wiederaufbau<br />
verschleppt. Ein Friedhof der Namenlosen,<br />
auf dem Großvater beerdigt wurde, darf nicht aufgelöst<br />
wurde. Zeitzeugengespräche bringen 2008 erstmals<br />
konkrete Hinweise zur Geschichte des Großvaters.<br />
Zeitzeugengespräche schließen Lücken: Spätestens an<br />
dieser Stelle vermischen sich im Roman Fiktion mit biographischen<br />
Daten der Autorin. Dank Unterstützung der<br />
Märkischen Oderzeitung und der Magdeburger Volksstimme<br />
konnten Zeitzeugen ausfindig gemacht werden.<br />
Mit ihren Erzählungen konnten sie Lücken im Lebenslauf<br />
des Großvaters schließen. Zahlreiche Schicksale der<br />
Verschleppung durch sowjetische Soldaten 1945 sind<br />
bis heute ungeklärt.<br />
Die Autorin hat wichtige Aufklärungsarbeit geleistet!<br />
Renate Sattler, geboren 1961 in Magdeburg, Studium<br />
Kulturwissenschaft, ist seit 2007 freiberufliche Autorin,<br />
seit 2011 Vorsitzende des Landesverbandes deutscher<br />
Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Sachsen-Anhalt.<br />
2010 erschien „Sandgemälde“, 2013 „Das Schweigen<br />
des Quetzals“. 2008 erhielt sie ein Stipendium der<br />
Kunststiftung Sachsen-Anhalt für ihr Buch „Risse im<br />
Gesicht“. Unbedingt lesen!<br />
Cornelia Stahl<br />
Bildcollagen und Tipps. Die Autorin hat nun in ihrer<br />
Funktion als Yogalehrerin, Lebensberaterin und Trainerin<br />
in St.P. ihre Tipps und Tricks in Buchform herausgegeben.<br />
Unernst, mit einem Augenzwinkern und doch sehr wirksam<br />
und konzentriert, sind ihre Ratschläge und Anweisungen.<br />
Es geht um die richtige Körperhaltung (Knochen<br />
nach unten, Fleisch nach oben…) nicht nur beim Yoga,<br />
sondern auch im Alltag. Sie selbst hat sich mit dem Wäschekorb<br />
oder - dem zweiten Lieblingsobjekt jeglicher<br />
Hausfrau, - der Kaffeetasse am Kopf vor dem Wäscheständer<br />
in richtiger Körperspannung abgebildet. Es geht<br />
ja um nichts Geringeres als die Bewältigung des Alltags.<br />
Vielleicht ist Zuckerbrot & Peitsche von Nöten. Dazu der<br />
Rat der Autorin: „… überlassen Sie dem Körper das Kommando.<br />
Machen Sie immer nur das Nötigste …“ S. 63.<br />
Alte Dinge soll man neu tun und raus aus der Bude, um<br />
neue Menschen zu treffen! Das Zirkeltraining ist recht<br />
und gut, aber wer will schon schwitzen! Da ist eher das<br />
richtige Hinsetzen, gerade nach unten, V-förmig zur Körpermitte<br />
und das Anfüllen von Pausen mit Gefühlen sowie<br />
Ressourcen, oder das richtige Atmen von oben nach<br />
ganz unten gefragt.<br />
Diese einfachen Dinge sind es, die wir dem Buch entnehmen<br />
können, um den Körper fit und ent- wie gespannt zu<br />
halten. Ihre selbst angefertigten Collagen, aus Zeitungen<br />
gerissen, geschnipselt, an- und übereinander gefügt,<br />
bringen Witz und eine Brise Hintergründiges mit sich.<br />
Genauso inspirierend sind die eingefügten Sprüche, z.B.<br />
„Gefühle sind gespeicherte reale Erlebnisse. Gedanken<br />
sind Interpretation“. – oder - Denken & Fühlen. „Trennen<br />
Sie Ihre Gefühle von den Gedanken! Fühlen Sie, ohne darüber<br />
(nach) zu denken!“<br />
Also greifen Sie (ohne darüber nachzudenken) zu diesem<br />
Buch, auch wenn Sie es nur einmal pro Tag willkürlich irgendwo<br />
kurz aufschlagen. Vielleicht erweckt Sie „Turnen<br />
bis zur Urne“ oder „Schmerz ist dein Meister“ und erkennen,<br />
Schmerz ist vermeidbar oder eben nötig!<br />
Ein wirklich brauchbares Ratgeber-Buch! Eva Riebler-Ü.<br />
Von Mutterrolle und Mutterbild. Nach der Innenschau<br />
in die weibliche Seele im sehr empfehlenswerten<br />
Roman „Aberland“ 2015 Kremayr & Scheriau, setzt Gertraud<br />
Klemm, 1971 in Wien geb., Brotberuf bis 2006<br />
Biologin und seither Autorin, nun diese Thematik fort.<br />
Genauso authentisch und ehrlich nimmt sie ihre eigenen<br />
Gedanken aufs Korn und verarbeitete und aktualisiert 40<br />
Abschnitte eines quasi Tagebuches aus 2010. Mitgedacht<br />
und eingebracht ist die jeweilige Reflexion in der und zur<br />
Gesellschaf. Oft sind es formulierte Träume, Ängste und<br />
das Berichten vom und über das Scheitern, die einem<br />
Leser, eher einer Leserin, den Rücken stärken oder wie<br />
ein hilfreicher Rat wirken. “Nicht jeder feministische Roman<br />
muss eine Heldin ausspucken“, meinte die Autorin<br />
treffend im Sonntagvormittags-Interview auf Ö1 am<br />
Muttertag.<br />
Dieser Röntgen-Blick auf die Unsicherheit einer jungen<br />
Frau punkto Kinderwunsch oder anstrengender Mutterschaft<br />
und somit auf die gängigen Meinungen der Society<br />
macht das Werk wirklich spannend!<br />
Warum die Mutterbürde 24 Stunden am Tag dauert und<br />
eine Geschlechterrolle ist, dass das Frauenbild in jeder<br />
Gesellschaft von der Religion diskreditiert und diffamiert<br />
wird, braucht die Autorin ja gar nicht polemisch hervorzuheben.<br />
Ihr Werk wirkt auch ohne Anklage in Form von Fragen:<br />
Ist es ein Versagen als junge Ehefrau kein Kind zu bekommen?<br />
Warum reden alle Freundinnen nur mehr über<br />
Pampers oder den ersten Milchzahn? Warum bekommt<br />
eine Freundin das dritte Kind, wenn sie doch beim ersten<br />
schon meinte - ihr größter Feind sei ihr Mann - ? Warum<br />
gibt es kein wirklich lesenswertes Buch über alternative<br />
Elternschaft? Muss ich mir das erst selber schreiben?<br />
– Ja! Genauso ist es, möchte man/frau der Autorin beipflichten,<br />
und ist nun glücklich und zufrieden, dass sie<br />
das in Angriff genommen hat!<br />
Ihre Reflexionen zwischen Kind – Frau – Mann sind genussvoll,<br />
ohne Vorwürfe und wirklich gelungen, federleicht<br />
und niveauvoll! Gratulation! Eva Riebler-Übleis
Rezensionen BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
65<br />
I. Breier & H. Pregesbauer (Hg):<br />
Wir sind Frauen. Wir sind viele.<br />
Wir haben die Schnauze voll.<br />
Wien: Edition fabrik.transit,<br />
2015, 116S.<br />
ISBN: 978-3-9504068-0-1<br />
K. Kumersberger & W.<br />
Vogel:<br />
Wunderland Korrekturrand<br />
Wien: Holzbaum<br />
2016, 62 S.<br />
ISBN 978-3-902980-41-0<br />
Friedemann Derschmidt:<br />
Sag Du es Deinem Kinde!<br />
Sachbuch<br />
Wien: Löcker Verlag<br />
2015, 336S.<br />
ISBN: 978-3-8540-97<strong>64</strong>-8<br />
Frauen der Zweiten Österreichischen Frauenbewegung<br />
ergreifen das Wort Platz da! Wir<br />
schleppen ein Schiff-Join & help us! lautete am 8.März<br />
2016 das Motto der Linzer Frauentagsdemo. Auch in Wien<br />
verschaffen sich jährlich Frauen mit öffentlichen Aktionen<br />
Gehör. 2015 lasen die Autorinnen Juliane Adler, Isabella<br />
Breier, Regina Hilber, Ilse Kilic, Beatrix Kramlowsky,<br />
Annett Krendlesberger, Helga Pregesbauer, Eva Schörkhuber,<br />
Gerda Sengstbratl und Eleonore Weber. Ihre Texte sind<br />
nun in der Anthologie Wir sind Frauen. Wir sind viele. Wir<br />
haben die Schnauze voll. gebündelt. Trotz ihrer Verschiedenheit<br />
haben sie eines gemeinsam: Sie drücken Unmut<br />
über prekäre Arbeitsbedingungen, ungleiche Bezahlung<br />
von Frauen bei gleicher Qualifikation und über die jahrhundertealte<br />
Tragfähigkeit von Männernetzwerken aus.<br />
In Österreich galt das Frauenwahlrecht erst ab 1918, in<br />
Manchester bereits 1866. Viele Frauenrechte verdanken<br />
wir damaligen Revolutionärinnen. Die Forderung nach<br />
finanzieller Gleichstellung bleibt heute, 150 Jahre später,<br />
aufrecht. Themen wie Ungleichbehandlung, Bedingungsloses<br />
Grundeinkommen, Kreativität und Wettbewerb<br />
spiegeln sich in den Texten der zehn Autorinnen wider.<br />
Ilse Kilic ergründet Ursachen der Ungleichbehandlung in<br />
ihrem Text „Soll man das Y verbrennen“. Ist der genetische<br />
Unterschied an allem schuld? Von Alltagsbeobachtungen<br />
und Solidarität untereinander erfahren wir in Juliane Adlers<br />
Texten. Eva Schörkhuber thematisiert in ihrem Roman<br />
„Quecksilbertage“ prekäre Arbeitsbedingungen. Beatrix<br />
Kramlovsky erzählt vom Ausbleiben der Liebe, und der Invasion<br />
der Wünsche, dem gleichnamigen Romanauszug.<br />
Annett Krendlesberger postuliert Bewegung statt „Ziellos“<br />
als Mittel zur Veränderung. Von der Notwendigkeit,<br />
etwas in Bewegung zu setzen, spricht Helga Pregesbauer<br />
im Nachwort.<br />
Frauenstimmen hörbar machen, bleibt als Forderung<br />
aufrecht, weltweit: von Nepal bis Vietnam, Eritrea bis zur<br />
Ukraine!<br />
Cornelia Stahl<br />
Kummer & Vogel. Ja, dieses Werk bereitet wirklichen<br />
Kummer! Ist es doch eine Sammlung von sprachlichen<br />
Pannen, die aus 30 Jahren Schulerfahrung stammen<br />
und der zweite Band nach der Stilblütensammlung<br />
2014 „Ein Geräusch klopft an die Tür“. Was Schüler so<br />
schreiben, ist meist kein „Hopala-Irrtum“, sondern lässt<br />
in ihr Innerstes blicken und stellt ihr Niveau klar und<br />
deutlich dar! Da brauchen wir keine Pisa-Studie mehr,<br />
um zu sehen, wie tief die Bildung gesunken ist. Dieses<br />
Werk macht es uns deutlich.<br />
Leider, muss man feststellen, dass die beiden Autoren<br />
wohl in der Oberstufe Deutsch unterrichten und diese<br />
bonnes mots sammeln, da sie beide Germanistik studiert<br />
haben; denn diese Sprach- und Schreibpannen<br />
würde ich gerne in die Unterstufe einordnen, da sie wirklich<br />
peinlich sind: Z.B. S. 49 Tommy gelangt aufgrund<br />
seiner Schläfrigkeit auf ein Auswanderungsschiff nach<br />
Amerika. Mit drei Pence in der Tasche erreicht er Sydney.<br />
– oder – Seine Identität bleibt bis zum Anfang hin ungeklärt<br />
… Natürlich geht es oft nicht um sprachliche<br />
Mängel, sondern auch um die Vorstellungskraft: Z.B. Sie<br />
fahren zu einer Schlucht, die über ein Flussbett führt. –<br />
oder komischer Weise wie die Texte oben beim Kapitel<br />
Literarischen Splitter & Scherben eingeordnet: Wo genau<br />
das Buch spielt, ist nicht wirklich bekannt, ich schätze<br />
aber in Preußen, weil es relativ nah an Rom liegt. – oder<br />
bei der Inhaltsangabe von Schillers „Räubern“: Am Ende<br />
endet alles in einem Drama!<br />
Ob es sinnvoll ist, solche Schülerzitate zum Schmunzeln<br />
zu sammeln und herauszugeben, oder dies beschämt<br />
zu beenden, um nicht den Bildungsnotstand ausrufen<br />
zu müssen, sei mit dem letzten Zitat dahingestellt: „Ernüchterndes<br />
Fazit einer Schülerin über Lessings Ringparabel:<br />
Ich persönlich finde, dass jeder an das glauben soll,<br />
woran er will. Und da mir die so genannte Ringparabel<br />
nicht mehr sagt, als dass sie wie ein mathematisches Paradoxon<br />
klingt, hat es nicht viel Sinn hier weiterzuschreiben.“<br />
In diesem Sinne!<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Vererbte Ideologien. Dass im dritten Reich die Eugenik<br />
(Erbgesundheitslehre) ein fester Bestandteil der<br />
Ideologie des Nationalsozialismus war, zeigte sich nicht<br />
nur in der Ermordung von millionen „rassisch minderwertiger“<br />
Menschen und Vernichtung „lebensunwerten<br />
Lebens“. Auch galt es, das, was als rassisch wertvoll<br />
angesehen wurde, entsprechend zu kultivieren. Der<br />
deutschen/österreichischen Familie und vor allem der<br />
Frau musste klar sein, dass sie durch eine kinderreiche<br />
Familie ihren Beitrag gegenüber der Volksgemeinschaft<br />
zu leisten hatte. Der österreichische Autor und Filmemacher<br />
Friedemann Derschmidt, Urenkel des bekannten<br />
Eugenikers Prof. Dr. Heinrich Reichel, geht in seinem<br />
Buch Sag Du es Deinem Kinde! Nationalsozialismus in der<br />
eigenen Familie der Frage nach, was jenseits der Gene<br />
noch vererbt wird.<br />
Als Grundlage hierfür begibt sich Derschmidt auf eine<br />
Reise durch die eigene Familiengeschichte. Doch Ziel ist<br />
es nicht, seine Vorfahren und Verwandten für ihr Mitwirken<br />
am Nationalsozialismus anzuklagen, sondern<br />
aufzuzeigen, wie Teile dieser Ideologie bis heute präsent<br />
sind und in abgewandelter Form weitergegeben<br />
werden.<br />
So findet sich selbst in der nächsten Generation neben<br />
dem Mitleid für die Opfer oft ein versteckter Täterstolz<br />
und das Gefühl, auch wenn die Ereignisse schrecklich<br />
waren, Teil von etwas Großem gewesen zu sein, das es<br />
familiär zu pflegen gilt.<br />
Als Gegenüberstellung und Ergänzung dienen vor allem<br />
die Beiträge des Autors Shimon Lev, der in seinen Arbeiten<br />
die Auswirkungen der Shoa auf seine Familiengeschichte<br />
thematisiert.<br />
Sag Du es Deinem Kinde! ist nicht nur für die Leserinnen<br />
und Leser eine Bereicherung, deren Eltern oder Großeltern<br />
selbst am Nationalsozialismus beteiligt waren,<br />
sonder auch für jene, die ein generelles Interesse an der<br />
Geschichte der Menschen in Österreich haben.<br />
Alexander Franz Artner
66 BILDTRÄGER|Juni 2016 Rezensionen<br />
Christian Katt:<br />
lebend.maske.<br />
Cut (2)!<br />
Graz: academic-publishers.<br />
2015, 340 S.<br />
ISBN: 978-3-901519-33-8<br />
Barbara Wolflingseder:<br />
Lust & Laster im alten Wien<br />
Sachbuch<br />
Wien: Pichler Verlag<br />
2015, 208S.<br />
ISBN: 978-3-8543-1708-1<br />
Synke Köhler:<br />
Kameraübung. Erzählungen<br />
Wien: Kremayr & Scheriau<br />
2016, 126 S.<br />
ISBN 9-783218-010245<br />
Bilderpoet und Beobachtungskünstler, Christian<br />
Katt, geboren 1960 in Wien, ist ähnlich wie Ludwig Laher,<br />
ein Meister der Beobachtung.<br />
In seinem 332 Seiten starken Buch lebend.maske. Cut<br />
(2)!, dem zweiten voninsgesamt drei Lyrikbänden, versammelt<br />
der Autor lyrische Texte, Bilder und Notate aus<br />
den Jahren 1987-2012.<br />
Von Begegnungen ist da die Rede, von Erfahrungen und<br />
Brüchigkeiten, die sich in der Sprache selbst spiegeln,<br />
im Gegenüber oder auf Reisen. Präzise Beobachtungsskizzen<br />
und Reflexionsmomente sind Ausgangspunkt<br />
für verdichtete Textminiaturen, wie zum Beispiel: „die<br />
leserin im zugabteil schweigt mir ins nichtgesprochene<br />
Wort“ (S.7) oder „nicht mehr in wärme sich zitternd/<br />
kein lidschluss gelingt ihm offenen auges“(S.80). Katts<br />
gesellschaftskrische Motive fördern Komposita zutage,<br />
wie „Konkurrenzvernichtungsvorbereitungsvoraussetzungen“,<br />
und „fließbandspekulationen in weltenräume<br />
verschossene vorgefertigte visionen“, lassen Konsumkritik<br />
nicht außen vor.<br />
Seine Arbeitsweise wirkt asketisch. Die Texte sind extrem<br />
verdichtet, auf das Wichtigste reduziert und pointiert.<br />
Das spürt der Leser in Gedichten, wie z.B. zeit abzutreten<br />
aber was/ doch ist da noch einiges ins reinere<br />
ungetrübtere zu bringen (…). Der Lyriker verwendet<br />
durchweg Kleinschreibung, rückt Wörter und Zeilen an<br />
ihren jeweils passenden Ort.<br />
2002 war der Autor Dozent an der Schule für Dichtung<br />
Wien ( www.sfd.at), betreute dort die online-Klasse.<br />
Christian Katts Sprachminiaturen lassen sich nicht mühelos<br />
konsumieren, erschließen sich durch genauer<br />
durch Zweit-oder Drittlektüre. Der skeptische Grundton<br />
der Gedichte lädt zum Verweilen ein und belohnt am<br />
Ende: „Unter dem alten baum schlagen wir neue wurzeln“.<br />
Eingefügte Bilder und Fotos ergänzen die Texte<br />
idealerweise. Ein Ausnahmekünstler!<br />
Sehr empfehlenswert!<br />
Cornelia Stahl<br />
Wien ist anders. Aber inwiefern? Was genau<br />
hat es mit der Stadt auf sich? Dass diese Fragen Radiojournalistin<br />
und Wien-Kennerin Barbara Wolfingseder<br />
schon seit längerem beschäftigen, wird klar, wirft man<br />
einen kurzen Blick auf die Bücher der Autorin. Dunkle<br />
Geschichten aus dem alten Wien, Wiener Taxigeschichten,<br />
aber auch verschiedene Hörspiele, in denen sie die Geschichte<br />
einzelner Wiener Bezirke veranschaulicht, sind<br />
von der Autorin erschienen.<br />
Der delikaten Frage des neugierigen Wien-Interessierten,<br />
wie es denn nun eigentlich um das Liebesleben<br />
in der österreichischen Weltmetropole bestellt war,<br />
widmet sich ihr neues Buch Lust & Laster im alten Wien.<br />
Epochenübergreifend wirft Wolfingseder einen Blick auf<br />
die sexuellen Kuriositäten und Sonderlichkeiten, die den<br />
Wienerinnen und Wienern eigen waren.<br />
So wird zum Beispiel von der mittelalterlichen Vorhautmystik<br />
berichtet, die sich mit der Frage nach dem Verbleib<br />
der hochheiligen Vorhaut Christi befasste. Als die<br />
Schilderungen einer jungen Nonne in Umlauf kamen,<br />
die von der tiefen Verzückung und Süßigkeit berichtete,<br />
die sie erfuhr, als ihr die Vorhaut des Erlösers erschien,<br />
beschloss die Kirche, dem Thema langsam einen Riegel<br />
vorzuschieben.<br />
Doch die Lust in Wien blühte vor allem in den Straßen<br />
und in einschlägigen Lokalen. Hier traf man auf Männer<br />
wie Giacomo Casanova, aber auch politische Größen wie<br />
Napoleon Bonaparte haben ihren festen Platz in der lasterhaften<br />
Geschichte Wiens.<br />
Sei es die Gründung der ersten Hippiekommune Wiens<br />
1893 durch Karl Wilhelm Diefenbach und die damit<br />
verbundenen sexuellen Ausschweifungen oder die<br />
berüchtigten Badeanstalten Wiens in denen Männern<br />
vom anderem Ufer ihren Leidenschaften frönten, Lust &<br />
Laster im alten Wien bietet dem Leser einen anderen und<br />
teils sehr humoristischen Blick auf die geschichtsträchtige<br />
Stadt und macht Lust aufs Lesen.<br />
Alexander Franz Artner<br />
Synke Köhler, geb. 1970 in Dresden, hat, nachdem sie<br />
für die erste Erzählung in diesem Band „Nachbild“ den<br />
Newcomer-Preis des Literaturwettbewerbs Wartholz<br />
nun ihr Prosadebüt vorgelegt.<br />
Alltagsmomente, Begegnungen und Befindlichkeiten<br />
sowie Gedanken der Protagonisten werden von ihr systematisch<br />
wie mit der Linse der Kamera festgehalten.<br />
Objektiv wie durch ein Objektiv ist ihre Erzählweise.<br />
Keine Deutungen oder philosophischen Hintergründe<br />
werden eingefügt – es ist, wie und was es ist!<br />
Und wenn es nur ein Angler, der ohne Angel in der kleinen<br />
Bucht sitzt, ist – oder ein gegenseitiges Verpassen<br />
von Mutter und Vater bei einer Bergtour mit den Kindern<br />
ist. Auch das Auftauchen und wieder Verschwinden<br />
eines hungrigen Fremden, oder eines kleinen Jungen<br />
kann das Hauptereignis einer Erzählung bilden.<br />
Auf alle Fälle wird realistisch, minutiös geschildert,<br />
was passiert, wobei meistens fast nichts passiert. Und<br />
darum geht es ja – die Aufmerksamkeit des Lesers wird<br />
durch die geringe Handlungsdichte gesteigert oder erst<br />
hervorgerufen. Er fühlt mit, er setzt sich in die Gedanken<br />
eines Anglers ohne Angel, eines Landstreichers oder<br />
kleinen Jungen, der sich stets als Außenseiter fühlt oder<br />
in die eines anderen Außenseiters, eines Inselbewohners,<br />
der im Tourismusgebiet vom Vermieten lebt und<br />
trotzdem das Meer zu hassen vorgibt.<br />
Kleine Gegensätze wie diese stehen als Thema da.<br />
Und das ist die Kunst, die Erzählkunst der Autorin, mit<br />
Beobachtung und einfacher lakonischer Umgangssprache<br />
Gefühle zu schildern und auszudrücken, mehr als<br />
die handelnden Personen selbst wahrnehmen. Oft ist<br />
die Sprache poetisch und leicht. Z.B. S. 80 „Ein Lächeln<br />
gleitet an den Balkonblumen entlang. Ihre Füße hinterlassen<br />
einen vorsichtigen Eindruck im frisch gefallenen<br />
Sommerlichschnee. Glitzern.“<br />
Ein Band mit unerwarteten Erzählungen, leisen Beobachtungen<br />
ohne Action oder Surrealismus und trotzdem<br />
sehr spannend!<br />
Eva Riebler-Übleis
Rezensionen BILDTRÄGER|Juni 2016<br />
67<br />
Klaus Kufeld:<br />
Das Singen der Schwäne.<br />
Über den Tod und das Glück.<br />
Wien: Edition Splitter.<br />
2015, 80 S.<br />
ISNB: 978-3-901190-21-6<br />
Wolfg. Kühn/HG<br />
Bilder Irena Rácek:<br />
Anthologie<br />
Mein Weinviertel<br />
St. Pölten: Literaturedition<br />
NÖ, 2016, 340 S.<br />
ISBN 978-3-902717-32-0<br />
Caspar Jenny:<br />
Der Waran. Roman<br />
Ludwigsburg:<br />
Killroy media Verlag,<br />
2015, 225 S.<br />
ISBN 978-3-931140-15-1<br />
Eine Hommage an das Leben. Was hat das Singen<br />
der Schwäne gemeinsam mit dem Tod? Diese Frage<br />
stellt sich vielleicht beim ersten Lesen. Im Schwanengesang<br />
ist vom letzten Gesang die Rede, den Schwäne<br />
vor ihrem eigentlichen Tod zelebrieren. Er steht<br />
stellvertretend für einen magischen oder auch Zwischenzustand,<br />
der ein Ende erahnen lässt. Ein letztes<br />
Aufbegehren drückt sich in ihm aus und ist zugleich<br />
ein Abschiednehmen von der Welt. Ähnlich im Bardo-<br />
Dialog des Tibetischen Buddhismus, der einen Zwischenzustand<br />
festhält, einen Zustand zwischen Leben<br />
und Tod.<br />
Klaus Kufeld hat Undenkbares möglichgemacht: Am<br />
Sterbebett seiner Mutter entwickelt er einen fiktiven<br />
Dialog mit der Verstorbenen, der versucht, die Grenzen<br />
des Schwebens zwischen dem noch-am-Leben-sein<br />
und dem Hinübergleiten in den Tod aufzuheben. Ein<br />
Schwebezustand sozusagen.<br />
Kufeld entlehnt Gedankengänge des Naturphilosophen<br />
Friedrich Wilhelm J. Schelling aus dem 18.Jahrhundert.<br />
Schelling erregte damals Aufsehen durch sein Werk<br />
„Von der Weltseele“, das vor allem Goethe begeisterte.<br />
Im Versuch einer Antwort auf das Verhältnis von Natur<br />
und Geist fragt Schelling nach dem Ich, das der denkende<br />
Mensch in sich wahrnimmt. Knüpfen wir an<br />
dieser Stelle an Kufelds Überlegungen aus dem Tibetanischen<br />
Totenbuch an: „Das Final ist noch im Flusse...<br />
und es gehört zu ihrer Entscheidung des Sterbens: dass<br />
zuvor noch unsere Gedankengänge wie Parallelen …<br />
sich treffen. … aber es gibt hier einen letzten Raum<br />
… wo … Tod und Glück anfangen (S.24).<br />
Klaus Kufeld, Autor, Essayist, Kulturmanager, seit 1997<br />
Gründungsdirektor des Ernst-Bloch-Zentrums Ludwigshafen/Deutschland,<br />
verfasste Bücher über das<br />
Reisen. „Das Singen der Schwäne“ ist eine Hommage<br />
an das Leben.<br />
Anspruchsvollen Lesern unbedingt empfohlen!<br />
Cornelia Stahl<br />
Bildträger Weinviertel. Viele tragen ein Bild, seien<br />
es Erinnerungs-, Sehnsuchts- oder Zustandsbilder, des<br />
Weinviertels in sich. Mit über 20 Autorentexten bestückte<br />
der HG Wolfg. Kühn nach dem Band Wald- und<br />
Mostviertel nun diese dritte Anthologie und wählte die<br />
Malerin Irena als Illustratorin aus. Sie übermalt mit in<br />
ihrem Atelier in Sitzendorf/Schmida selbst gemischten<br />
Erdfarben ihre Zeichnungen oder Monotypien. Als<br />
Motive zeigt sie stets heimische oder archaische Landschaften.<br />
Zur Gestaltung kann man ihr nur gratulieren!<br />
Der Band vereint viele Gedanken, so z.B. den von Gerhard<br />
Jaschke: Wann kann ich sagen MEIN Weinviertel?<br />
Dann, wenn Lieblingsorte, befreundete Menschen, Festivitäten,<br />
Berufe und Berufungen einen binden? Oderheißt<br />
die Welt, in und aus der ich schreibe, Weinviertel?<br />
Haimo L. Handl hingegen übertitelt: das Weinviertel<br />
wird MEINES und zeigt das Misstrauen der Einheimischen<br />
gegenüber Fremden = Gästen oder die Hemmschwelle<br />
auch seiten von Lehrern oder Schulen gegenüber<br />
Kultureinrichtungen = Verlag oder Bibliothek. Er<br />
beleuchtet die Kultur des Viertels und meint u.a. auch<br />
hier gibt es Schwätzer, aber viele Kunstverständige und<br />
begrüßenswerte Events, nicht nur Kellergassenfest und<br />
Vernissagen wie den Tag der offenen Ateliers des Landes<br />
NÖ. Seit 2008 gründete er den Bildungs- und Kulturverein<br />
mit dem Literaturverlag DRIESCH in Drösing, gibt die<br />
anspruchsvolle Zeitschrift für Literatur & Kultur „Drisch“<br />
heraus. Was hier wohl schwierig ist, ist die Ausdünnung,<br />
die Verstreutheit des potentiellen Publikums und<br />
das Einüben, dass alte Einrichtungen verständig genutzt<br />
werden, meint er. Die Autorin Silke Hassler hingegen<br />
berichtet über Unbill und nette Nachbarschaftshilfe bei<br />
der Restaurierung eines kleinen bäuerlichen Hofes im<br />
nördlichen Weinviertel. Regina Hilber beginnt bei der<br />
Schilderung des Duftes und …..<br />
Aber vertiefen sie sich selber in die jeweils völlig anders<br />
gearteten Plaudereien aus dem Weinviertel. Spannend<br />
und abwechslungsreich!<br />
E. Riebler-Übleis<br />
Ein grauenhaftes Familienbild und KZ-Lager-<br />
Szenario. „Wollen Sie das Buch kaufen? Es ist ein<br />
schrecklich“, sagte …. Und so ist es auch mit diesem Werk.<br />
Einfach schrecklich! Schrecklich gut!<br />
Es geht um den tödlichen Biss des Warans, der zu Beginn<br />
des Romans die alte Mutter ist. Sie ist die personifizierte<br />
Vernichtung, tötet zwei ihrer Töchter und vererbt diesen<br />
Tötungswillen an die dritte Tochter R. Deren Sohn Ran<br />
wird später der Rächer. Der brutale Bestseller Autor A.<br />
wird der Ehemann von R. und gemeinsam feiern die<br />
beiden ihre Vereinigung mit der Tötung ihrer Tochter,<br />
die noch in der Wiege liegt. S 172. Nichts mehr würde<br />
sich zwischen sie stellen. … Zum ersten Male hatte A. die<br />
Freiheit erlebt, als er Flüchtlinge erschossen hatte … Der<br />
Autor A. hat dem blutrünstigen, berüchtigten SS- Lagerarzt<br />
Dr. Jos, der einen Waran und einen Gehilfen aus den<br />
Sümpfen beschäftigt und mit Menschen füttert, ein Opfer<br />
versprochen. Und dieses Opfer soll nun sein Stiefsohn Ran<br />
sein. Dieser findet jedoch Kraft sich zu widersetzen durch<br />
den Willen seine ermordete kleine Schwester zu rächen<br />
und durch die Ruhe am wilden, ungepflegten Friedhof<br />
der armen im Lager getöteten Seelen.<br />
Die vielen Schrecklichkeiten, z.B. die Tötung eigener<br />
Kinder, die brutalen Vorgänge in den Zellen und Folterkammern<br />
des Kriegslagers sind dermaßen sprachlich<br />
untermauert, dass man die Grässlichkeiten nicht um des<br />
Schauerns willen liest, sondern weiß, dass es um das Begreifen<br />
geht. Das Begreifen, dass es wirklich Menschen<br />
gab oder gibt, die eine Welt gestalten und erschaffen<br />
wollen, die jede Vorstellungskraft sprengte. Zitat S. 150:<br />
Das Ziel war eine vollkommene Plastik des Bösen, die alle<br />
Elemente der Grausamkeiten zu einem Ganzen zusammenführte.<br />
Also Folter und Tod nicht aus Blutrünstigkeit, sondern als<br />
Gestaltungswillen und Parallele zur Kunst an und für sich:<br />
Zitat S.150 ff: Am liebsten hätte A. seine Bücher mit dem<br />
Blut seiner Opfer geschrieben. Seine Feder in die offenen<br />
Wunden getaucht …. Hervorragend! E.Riebler-Ü.
www.litges.at