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ISSN: 1682-9115 | NR.<strong>65</strong> 2016| PREIS: 7 EURO<br />
<strong>etcetera</strong><br />
HOLZ<br />
L i t e r a t u r u n d s o w e i t e r
2<br />
Holz|Oktober 2016<br />
Editorial<br />
03 Vorwort/Impressum<br />
Heftkünstler<br />
04 Gotthard Obholzer<br />
Interviews<br />
06 Wolfgang Kühn<br />
10 Andreas Priesching<br />
Essay<br />
12 Wolfgang und Florian Mayer König: Gedichte und<br />
Erzählungen aus Holz – Die poetik des holzes<br />
Lyrik<br />
8 Wolfgang Kühn: WOIDVIERTLER u.a.<br />
28 Wolfgang Mayer König: Aus gutem Holz<br />
30 Said: furchtsame götzen<br />
30 Bernadette Sarman: Das Fleisch der Erde<br />
31 Alexander Estis : Einheit, Wärme<br />
31 Klaus Roth: nacht, am dorfrand<br />
33 Andreas Schumacher: Reinholds Gewalttaten<br />
33 Eli S. Solaris: E/INGEHOLZTES ZELT u.a.<br />
46 Jan-Eike Hornauer: Moritat vom kaputten Holzbal-<br />
ken, Logischer Verdacht, Glücklicher Zufall<br />
47 Brigitta Höpler: Das Holzbrett, aus den Flammen<br />
gefallen<br />
47 Daniel Grummt: Stirnholz<br />
Berichte<br />
16 Stefan Balkenhol: Den Holzweg verlassen!<br />
18 All I need is jazz! Int. Jazzfestival Saalfelden<br />
20 Jazz im Hof, 16. - 18. Aug. 2016 St.P<br />
Vereinsleben<br />
54 Schreibwerkstätte im Schloss Drosendorf<br />
Prosa<br />
21 Dine Petrik: Auf dem Holzweg<br />
22 Mario Vötsch: Unter uns<br />
24 Peter Schwendele: Stallleben<br />
26 Stefan Reiser: Warum mein Freund Alexander das<br />
Funkhaus verkauft<br />
27 Doris Kloimstein: Dünnbrettbohrer<br />
32 Kovanda Nicole: Waldrauschen<br />
35 Marco Frohberger: Symptome<br />
38 Falk Andreas Funke: Der Ofen<br />
43 neutro: Splitter<br />
44 Renate Katzer: Die Türe<br />
48 Jörn Birkholz: Waidmannsheil (Auszug)<br />
50 Susanne Klinger: Mein Vater, der Holzarbeiter<br />
51 Gerhard Benigni: Und die Säge, die hat Zähne...<br />
53 Heinz Zitta: Der Resonanzboden<br />
Rezensionen<br />
<strong>65</strong> Manfred Chobot: Doktor Mord & Das Killerphan-<br />
tom. Minikrimis<br />
<strong>65</strong> Jan-Eike Hornauer: Das Objekt ist beschädigt. Zu-<br />
meist komische Gedichte aus einer brüchigen Welt<br />
<strong>65</strong> Max Porter: Trauer ist das Ding mit Federn<br />
66 A. Kötzing/R.Schenk (Hg): Verbotene Utopie<br />
Die SED, die DEFA und das 11.Plenum<br />
66 Gerhard Loibelsberger: Der Henker von Wien<br />
66 Richard Wall: Achill. Verse vom Rande Europas<br />
67 tomer gardi: broken german<br />
67 Susanne Scholl: Warten auf Gianni<br />
67 Barbara Neuwirth: Charin Cross Station London<br />
Inhalt<br />
Cover: Klangbaum Ulme©Gotthard Obholzer
Holz|Oktober 2016<br />
3<br />
Liebe Leserin, lieber Leser!<br />
Holz ist ein breitgefächertes Thema. Verwendbar als Baustoff, Werkstück oder Skulptur, erlebbar<br />
im Wald oder Garten, in der Allee oder im Dickicht, benutzbar als Schuh, Boot, Badekabine, Steg<br />
oder Brücke … Der Holzweg, ist Aufbringungsweg und führt meist nicht weit und die Holzmaske<br />
zeigt auch so wenig wie möglich. Somit ist Holz positiv gesehen, Rohstoff im eigentlichen, materiellen<br />
Sinn - auch für Gedankengänge - oder eben das Gegenteil: die Abwesenheit, der Mangel,<br />
die Fehlleitung.<br />
Ich wünsche Ihnen viele interessante Entdeckungen beim Lesen und Durchstöbern dieses Heftes!<br />
Ihre Eva Riebler-Übleis<br />
Impressum<br />
<strong>etcetera</strong> erscheint 4x jährlich<br />
ISSN: 1682-9115<br />
Richtung der Zeitschrift: Literarisch-kulturelles<br />
Magazin mit thematischem Schwerpunkt.<br />
Namentlich bezeichnete Beiträge geben<br />
die Meinung der Autorin, bzw. des Autors<br />
wieder und müssen mit der Meinung von<br />
Herausgeberin und Redaktion nicht übereinstimmen!<br />
Herausgeber: Eva Riebler-Übleis<br />
Heftredaktion: Susanne Klinger und<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Text und Ilustration © bei den Autoren<br />
Cover und Bilder:<br />
Fotos: siehe © Fotonachweis<br />
Gestaltung: G. H. Axmann<br />
Druck: Dockner, Kuffern 87, A-3125<br />
Medieninhaber:<br />
Literarische Gesellschaft St. Pölten<br />
HG Eva Riebler-Übleis<br />
Büro Steinergasse 3, 3100 St. Pölten<br />
Home: www.litges.at<br />
E–Mail: redaktion@litges.at<br />
LeserInnerservice<br />
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Sie vierteljährlich <strong>etcetera</strong>, die Zeitschrift<br />
für Literatur junger bis arrivierter<br />
AutorInnen mit Prosa- und Lyrikbeiträgen,<br />
Essays, Interviews, Rezensionen und<br />
Künstlerporträts sowie Einladungen zu unseren<br />
Veranstaltungen.<br />
Abonnementspreis:<br />
24 Euro/Jahr = 4 Hefte; Einzelpreis 7 Euro<br />
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Bitte, Namen und genaue Anschrift leserlich<br />
auf dem Erlagschein vermerken!<br />
<strong>etcetera</strong> 66 Venedig<br />
6. Dez. 20 Uhr Cinema Paradiso St.P.<br />
Aus dem Heft liest Schauspieler Alex Kuchar.<br />
Moderation Red. Thomas Fröhlich.<br />
Concerto grosso: Italienische Renaissancemusik<br />
mit dem excellenten Quartett<br />
"Die Tandler" aus St.Pölten von und mit<br />
Dr. Adam!<br />
Ausnahmsweise Eintritt 5 Euro für Mitglieder<br />
& 7 Euro für Gäste!<br />
Die nächsten <strong>etcetera</strong>-Ausgaben:<br />
etcetra 67 DRACHE<br />
Vom Weibsteufel zum Papierdrachen, vom<br />
Hl. Georg bis zum Siegfried und ...<br />
Einsendeschluss 25.12.2016<br />
an Redaktion@litges.at<br />
Redaktion: Joh. Schmid, E. Riebler-Ü<br />
LitGes Jour-fixe Schreibwerkstätten:<br />
An jedem 1. Mittw. des Monats um 18 Uhr:<br />
9. Nov., 7. Dez., 4. Jän., 1. Feb. für alle<br />
Schreibenden und ZuhörerInnen LitGes<br />
Büro, Steinergasse 3, 3100 STP<br />
Home/Info: www.litges.at<br />
Die nächsten LitGes Präsentationen:<br />
<strong>etcetera</strong> <strong>65</strong> HOLZ<br />
12. Okt. 19 Uhr Stadtmuseum St. Pölten<br />
Prandtauerstraße 2, mit Lesung der AutorInnen<br />
Gertraud Artner, Christine Korntner<br />
& Ernst Punz sowie dem Heftkünstler Gotthard<br />
Obholzer aus dem Stubaital. Es spielt<br />
Bernadette Käfer Knochenflöte und Harald<br />
Rehak Cajon-Schlagwerk & Yambu.<br />
Buffet, Eintritt frei!<br />
Tagebuchtag der LitGes<br />
19. Okt. 19 Uhr Buchhandlung Schubert<br />
Wienerstraße 6, Sankt Pölten.<br />
Musik: Trio Schwan Gesang & Kontrabass<br />
& Gitarre. Lesende: Brigitte Pokornik und<br />
Romana Maria Jäger. Sekt & Eintritt frei!<br />
Vorwort/Impressum
4<br />
Holz|Oktober 2016<br />
Gotthard Obholzer<br />
Heftkünstler Gotthard Obholzer im Gespräch mit Eva Riebler-Ü.<br />
Riemenschneider (gotischer Bildhauer) steht. Beim<br />
Anblick dieses Altares war ich wie elektrisiert. Auf der<br />
Stelle war mir klar: Ich werde Bildhauer!<br />
Seit 25 Jahren praktizierst Du Yoga und seit 10<br />
Jahren bist Du Yogalehrer. Vor den Unterrichtseinheiten<br />
spielst Du oft Deine Lieblingslied, „der göttliche<br />
Zigeuner“, komponiert von Paramahansa Yogananda,<br />
auf Deinem Harmonium.<br />
Der Liedtext bezeichnet meine Lebens- und Arbeitsweise.<br />
Bist Du ein Zigeuner?<br />
Insoferne, weil ich im Künstlerischen hin- und herzigeunere<br />
zwischen Holz, Bronze und Stein, je nach dem, wie<br />
es mir grad kimt – sprich Bauchgefühl.<br />
©Fotos Eva Riebler-Übleis<br />
Interview<br />
Verbindest Du diese Materialien?<br />
Immer wieder, vor allem Bronze und Stein, aber auch<br />
Holz und Bronze. Die Grundtechniken der Bildhauerei<br />
zu verbinden ist immer spannend. Es sind Skulpturplastiken.<br />
Skulptur heißt immer abtragen und Plastik heißt<br />
erschaffen.<br />
Ergibt das Material die Thematik?<br />
Nicht unbedingt! Ich bin sehr gesteuert von meiner Intuition.<br />
Was raus muss, muss raus!<br />
Wie kamst Du zum Beruf des Bildhauers?<br />
Eigentlich habe ich im Alter von 13 Jahren für das Aufbauwerk<br />
der Jugend in Neustift/Stubaital Spenden gesammelt<br />
und habe mit meinen Kollegen eine Reise auf<br />
der Romantischen Straße Deutschlands gewonnen.<br />
Und diese führte uns u. a. nach Creglingen bei Rothenburg<br />
ob der Tauber, wo der berühmte Altar von Tilmann<br />
Laut Berufsberatung sollte ich Konditor oder Lehrer<br />
werden!<br />
Oder solltest Du den Malerbetrieb deines Vaters<br />
übernehmen?<br />
Wir waren zehn Kinder. Mein jüngster Bruder hat dies<br />
dann übernommen. Mein Vater hat mich zwar die Ausbildung<br />
in der HTL, Fachschule für Holz- und Steinbildhauer,<br />
in Innsbruck machen lassen, aber ich bekam keine<br />
moralische Unterstützung.<br />
Ein Jahr arbeitete ich im väterlichen Betrieb und erlernte<br />
die Technik des Sgrafitto, machte Wappen und<br />
dekorative Bilder etc.<br />
War die Sgrafitto-Technik für Dich zuwenig sinnlich?<br />
Sgrafitto-Arbeiten waren immer Auftragsarbeiten! Und<br />
das ist mir zuwenig frei! Ich konnte mich dabei zu selten<br />
ausleben!
Holz|Oktober 2016<br />
5<br />
Inspiriert Dich die Musik?<br />
Früher habe ich Beethoven beim Schnitzen gehört. Alle<br />
neun in einem Stück durch und in Trance geschnitzt!<br />
Und Beethoven passt nicht zu Stein?<br />
Holz ist für Spontaneität optimal! In seinen Symphonien<br />
lebst Du sein ganzes Leben durch und da ist was los!<br />
Gibt es Zeiten des Stillstandes und der Leere?<br />
Ja, das sind die quälendsten Momente meines Lebens!<br />
Zweifel und Sinnfragen beherrschen mich dann.<br />
Wie kommst Du da wieder raus?<br />
Da hilft nur das Tun! Hirn ausschalten und Intuition ein!<br />
Wie setzt Du die Sinnlichkeit um?<br />
Ich erschaffe viele Akte, meist Frauen. Ich mache von<br />
keiner Skulptur vorher einen Entwurf oder eine Zeichnung,<br />
weil mich das blockiert in meiner gestalterischen<br />
Freiheit!<br />
Es gibt keine Entwurfskizzen?<br />
Nein! Ich zeichne schon, aber keine Skulpturen!<br />
Deine neuen Serien sind Begegnung betitelt.<br />
Ich hatte total interessante Begegnungen und die Inspirationen<br />
wurden sofort umgesetzt! Ich reize das aus bis zum<br />
Exzess! Zeit wird aufgelöst! Deswegen liebe ich diesen Beruf<br />
so! Hier ist die perfekte Verbindung zu Yoga. Wenn du<br />
im Fluss bist, ist es wie eine Meditation.<br />
Schaust Du beim rohen Holz auf die Maserung?<br />
Eigentlich nicht, aber ich versuche materialgerecht zu<br />
arbeiten, d. h. wenn ich einen Carrara Marmorstein bearbeite,<br />
dann werde ich nicht filigran.<br />
Deine Holzskulpturen muss man sich ja auch nicht<br />
nur 40cm groß vorstellen, sondern Dein Klangbaum<br />
hat immerhin 2m Höhe und 1m im Durchmesser.<br />
In den Klangbaum kann man hineingehen. Man ist da unglaublich<br />
beschützt.<br />
Man ist der Kern des Baumes. Ich stand bei einer Vernissage<br />
im Baum und sprach zu 400 Leuten und hatte das<br />
Gefühl des totalen Schutzes.<br />
Machtest Du vorher eine Klangharfe?<br />
Eigentlich wollte ich immer eine Harfe machen.<br />
Wie soll man sich dieses Instrument vorstellen?<br />
Das ist wieder ein ausgehöhlter Ulmenbaum mit einer<br />
Außenseite voller Saiten. Die Stimmung besteht aus zwei<br />
verschiedenen Tönen. Durchs Anklingen entsteht das<br />
ganze Klangspektrum. Das ist unwahrscheinlich und bewirkt<br />
vollkommene Entspannung. Ich betitelte sie Relaxharfe!<br />
Du distanzierst Dich vom Zeitgeist?<br />
Bildhauer zu sein ist in der Kunstszene nicht in! Die Aktionskunst<br />
ist gefragt, aber diese Künstler sind für mich<br />
keine Bildhauer, sondern dies ist eine eigene Kunstrichtung!<br />
In Carrara lernte ich berühmte Bildhauer kennen,<br />
die selber wie Urgestein und richtig geerdet sind.<br />
Darf ich Dich als Urgestein bezeichnen?<br />
Ja, mit Lindenherz!<br />
Gotthard Obholzer<br />
Geb.1959 in Neustift im Stubaital. 1973 - 1977 HTL Innsbruck<br />
für Holz und Steinbildhauerei, Abschluss mit gutem Erfolg. 1981<br />
Meisterprüfung für Holz und Steinbildhauerei. Seit 1982 als<br />
freischaffender Künstler tätig.1984 Anerkennungspreis „Tiroler<br />
Bildhauer”. Seit 1984 zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland.1985<br />
- 1986 Assistent bei Johann Weinhart, Bronzeguss-<br />
Klasse, Art Didacta Innsbruck. 1996 - 2002 Leitung der Aktmodellier-Klasse<br />
der Stubaier Sommerwerkstatt. Ab 2003, Leitung<br />
Aktmodellier-Klasse im eigenen Artelier. 2004, und später Einladung<br />
nach Carrara - Italien Steinbearbeitung bei Hugo Marxer.<br />
Interview
6<br />
Holz|Oktober 2016<br />
Wolfgang Kühn<br />
Beim Festival Glatt&Verkehrt traf Eva Riebler den Autor,<br />
Herausgeber von DUM und den Wald-, Most- und Weinviertelanthologien<br />
der Literaturedition NÖ, Texter und Sänger<br />
Wolfgang Kühn und nahm seine neue CD zum Anlass, ein<br />
Interview über das Waldviertel, Drascheekeksi, das nächste<br />
Leben, DUM und Holz zu führen. Foto Eva Riebler-Übleis<br />
Lieber Wolfgang, Du hast soeben Deine vierte CD, „ka<br />
gmahde wiesn“, herausgegeben. Wurdest Du daher<br />
heuer zum ersten Mal bei Glatt&Verkehrt eingeladen?<br />
Nein, bereits 2004 spielten wir erstmals bei Glatt&Verkehrt<br />
in Spitz!<br />
Auch im tollen Ambiente des Schlosshofes Spitz wie<br />
heuer Erwin Steinhauer?<br />
Ja, auch die erste CD „Kalmuk“ präsentierten wir dort mit<br />
der Gruppe „Zur Wachauerin“. In weiterer Folge spannten<br />
uns die Veranstalter von Glatt&Verkehrt mit den „Strottern“<br />
zusammen. Wir arbeiteten dann ein gemeinsames<br />
Programm für 2005 aus. Einmal sangen die Strottern zu<br />
unseren Liedern und dann umgekehrt. Vor uns traten Otto<br />
Lechner und Josef Hader auf. Er las die Briefe von Thomas<br />
Bernhard. Die Stimmung in der Sandgrube 13 war großartig!<br />
Und weil unser gemeinsamer Auftritt so gut ankam, erschien<br />
dann 2006 die Live CD mit den Strottern!<br />
In den Texten von Dir und den von den Strottern sind ja<br />
Dialekt und Witz durchgängig. Wie siehst Du den Humor<br />
in Deinen Liedern?<br />
Ich arbeite gerne mit Pointen, aber sie kommen zumeist<br />
nicht an den Stellen vor, wo sie erwartet werden!<br />
Durchbrichst Du nicht nur gerne die Erwartungen, sondern<br />
auch die traditionellen Vorstellungen?<br />
Die Sprachspiele entstehen oft durch Ironie. Bei den „waldviertler<br />
stanzen“ hab ich mich sehr auf den Reim konzentriert<br />
und lange herumgefeilt! Z. B. „der Karl aus Gföhl, der<br />
is oft in Öl und d´Lotte, sei Frau, is a meistns blau.“<br />
Der zweite Waldviertel-Text ist positiver gestimmt! Z.B.<br />
heißt das Ende: „ka Mantl, ka Haubm, und Möwen statt<br />
Taubm.“<br />
Ja, ich entwerfe einen Sehnsuchtsort, denn das Waldviertel<br />
ist zwar wunderschön, aber leider wird oft gejammert,<br />
es sei zu kalt! Die ganze CD beinhaltet Lebensentwürfe, die<br />
nicht ganz aufgehen. Der Waldviertler entwirft ein Leben am<br />
Meer, weil ihm so kalt ist. Romeo und Julia, das klassische<br />
Liebespaar, beispielsweise sind verewigt im Lied „Drascheekeksimond“.<br />
Interview<br />
Hast Du beim Entwurf damals gerade Drascheekeksi<br />
gemampft? Bist Du ein Süßer?<br />
Ja, ich hab die hellen mal gesehen und da kam die Assoziation<br />
zum kaasigen Mond!<br />
Wie geht die Liebesgeschichte aus?<br />
Es wird auf das nächste Leben vertröstet! Nr. 7 auf der CD<br />
heißt auch so: „im nächstn lebm“. Es ist wieder ein nicht<br />
geglückter Lebensentwurf. Die meisten Leut` heben sich<br />
vieles für die Pension auf – das ist sozusagen ihr nächstes<br />
Leben – und zu dem kommen sie dann oft nicht mehr!<br />
Du hebst Dir nichts auf; denn du gehst als Texter und<br />
Sänger ja nie in Pension!<br />
Pension ist nicht geplant! Geht nicht!<br />
Ziehst Du Dich von der Zeitschrift DUM, bei der Du seit<br />
Anbeginn, seit einem 1/4 Jhdt. bist, irgendwann zurück?
Holz|Oktober 2016<br />
7<br />
Im Oktober werden wir 24 Jahre alt, Nr. 80 erscheint. Rückzug<br />
geht auch hier nicht – der Alfred Kolleritsch gibt die<br />
„Manuskripte“ ja auch schon über 50 Jahre heraus!<br />
Reigen dazu! Das Ganze hieß: „Mantra in Weitra“. Ein Rikschafahrer<br />
lernte mir die richtige Aussprache. Das war quasi<br />
unser Gastgeschenk an Indien!<br />
Sind Dir die ehrwürdigen Jazzgrößen auf der Bühne ein<br />
Vorbild?<br />
Ja, aktiv bis zum Umfallen! Nur dass die Kraft durch Gefühl<br />
ersetzt wird!<br />
Berufserfahrung ist doch ein Vorteil. Gestaltest Du das<br />
DUM immer vielschichtiger und vielfältiger?<br />
Wir versuchen eine große Bandbreite zu bieten!<br />
Deine Gedanken zu den drei Silben: HOLZ wie Wald<br />
sind …<br />
Nachdem ich gerne im Wald bin, ist für mich Holz etwas<br />
sehr Wichtiges. Ich habe in meinem Zimmer einen Holzboden,<br />
Holzkästen und sichtbare Holztram.<br />
Eine Gitarre aus Holz …<br />
Die hängt an der Wand, aber ich kann nicht drauf spielen!<br />
Du bist seit dem 1. Heft im Team. Was hat sich verändert?<br />
Es ist literarischer geworden, dafür weniger Berichte und<br />
Reportagen. Die Technik ging an uns auch nicht spurlos vorüber<br />
– d.h. moderneres Layout, Homepage etc.<br />
Ist beim Auswählen aus den vielen Einsendungen von<br />
Autoren auch die sparsame Verwendung von Adjektiven<br />
ein Kriterium?<br />
Das ist individuell! Jeder Redakteur bewertet anders. Vor<br />
Jahren hatten wir jemanden im Team, der stets laut aufjaulte,<br />
wenn „gleißende Sonne“ in einem Text vorkam!<br />
Ist Deiner Meinung nach die Lyrik im Verschwinden?<br />
Ich glaube nicht, eher im Gegenteil! Lyrik ist wieder gefragter!<br />
Die Autoren schreiben gerne Lyrik!<br />
Findest Du, dass die Musik auch hier die Emigranten<br />
mit den Einheimischen verbindet?<br />
Bei unseren Liedern besteht wahrscheinlich eine sprachliche<br />
Barriere! Für jeden, der die deutsche Sprache erst<br />
lernt, ist mein Text weit weg! Vor 10, 11 Jahren war ich in<br />
Kolumbien auf ein Festival eingeladen und habe vorher auf<br />
Spanisch erklärt, warum es geht. Meine Texte kamen total<br />
gut rüber durch den Rhythmus in der Sprache! Die Zuhörer<br />
haben über die Musik den Zugang zu den Textinhalten<br />
bekommen. Es ging z. B. um die Hasenjagd (um besoffene<br />
Jaga) oder das Tratschweib – Phänomene, die es in jedem<br />
Land gibt!<br />
Mit der Band „Zur Wachauerin“ spielten wir zweimal in Indien,<br />
in Delhi und Jaipur. Vorort schrieb ich einen Text mit<br />
3-silbigen Wörtern in Hindi und vermischte ihn mit 3-silbigen<br />
aus dem Waldviertel. Die Jungs spielten einen bayrischen<br />
Glaubst Du ein Zuagraster wie Du schätzt das Waldviertel<br />
mehr als ein Waldviertler?<br />
Ja, kann ich mir sehr gut vorstellen! Ich lebe seit 1975 mit<br />
Begeisterung im Waldviertel, vorher war ich 9 Jahre in Traiskirchen,<br />
viel weiter weg vom Wald. Geboren bin ich in Baden<br />
bei Wien …<br />
Findest Du, die Natur macht etwas mit den Menschen?<br />
Ich bin entspannter, wenn ich mehr in der Natur bin!<br />
Hat die Kontemplation vermehrt etwas mit dem Alter<br />
zu tun?<br />
Es liegt vielleicht darin, dass man erkennt, dass man nicht<br />
mehr überall / stets „dabei sein muss” und wenn einmal,<br />
dann dafür umso bewusster!<br />
Konzentration auf die Gegenwart und auf das Wesentliche?<br />
Wo ich jetzt wohne (Langenlois / Zöbing), am Fuß des Heiligensteins<br />
mit Aussichtswarte, ist es praktisch. In 5 Minuten<br />
bin ich im Wald.<br />
Was ist Dein Lieblingsholz?<br />
Eiche Barrique!<br />
Leider! Heute gibt’s nur Kaffee für Dich!<br />
Alle Schaltjahre, wie heuer, trinke ich das ganze Jahr ohnehin<br />
keinen Alkohol! J<br />
Weitere Grundsätze?<br />
Vielleicht ist mein Grundsatz, dass ich keine Grundsätze<br />
habe!<br />
Nachstend die WOIDVIERTLER-Texte.<br />
Interview
8<br />
Holz|Oktober 2016<br />
WOS SI A VIECH SO DENKT<br />
(3)<br />
de<br />
haum<br />
a<br />
an<br />
klopfer,<br />
hot<br />
si<br />
da<br />
specht<br />
denkt,<br />
wiara<br />
de<br />
nordic<br />
walker<br />
durchn<br />
woid<br />
marschiern<br />
gheat<br />
hot<br />
(aus: „wos si a viech so denkt“, Stein Verlag, 2014)<br />
GSTAUNDANE<br />
WOIDVIERTLER<br />
Zehn gstaundne Woidviertler<br />
de haum gern Blunzn gstrickt,<br />
ana hot zu vü dawischt,<br />
und draun is a dastickt!<br />
ana hot in d’Mündung gschaut,<br />
tjo, wos soist do sog’n!<br />
Sechs gstaundne Woidviertler<br />
de fischn in an Teich,<br />
ana hot an Stessa kriagt,<br />
jetzt fischn’s noch de Leich!<br />
Fünf gstaundne Woidviertler<br />
haum’s bis noch Kautzen gschofft,<br />
ana hot a UFO gesegn,<br />
des hot a net vakroft!<br />
Vier gstaundne Woidviertler<br />
san auf a Taunzerei,<br />
an, den hot da Gankerl ghoit,<br />
do woarns glei nur mehr drei!<br />
Drei gstaundne Woidviertler<br />
san grittn auf an Pferd,<br />
ana hot’s va hint aufzoimt,<br />
hot glaubt, daß des so gheart!<br />
Zwa gstaundne Woidviertler<br />
de woitn noch Budweis,<br />
ana hot den Zug vapaßt,<br />
da aundere pickt aum Gleis!<br />
A gstaundna Woidviertler<br />
dea woit a nimmer leben.<br />
hot an Ausflug in die Wei’berg gmocht<br />
und si’ de letzte Ölung geb’n!<br />
(von der CD „in meina wöd“ von ZUR WACHAUERIN, Ö1, 2010)<br />
Lyrik<br />
Nein gstaundne Woidviertler<br />
de woitn Schwammal finden,<br />
ana hot a foisches kost,<br />
jetzt gheart er zu de Blindn!<br />
Ocht gstaundne Woidviertler<br />
de haums oft übertriebn,<br />
ana hot a Schlagl kriagt,<br />
do woarns glei nur mehr siebn!<br />
Siebn gstaundne Woidviertler<br />
de gengan so gern jogn,<br />
A WOIDVIERTL AM MEER<br />
A Woidviertl am Meer<br />
wos brauch i mehr?<br />
In meine Dram<br />
siech i Poimen stott Bam.<br />
A Woidviertl am Meer<br />
des gfollat ma sehr<br />
Lebensgfü pua<br />
und van Winter a Rua!
Holz|Oktober 2016<br />
9<br />
A Woidviertl am Meer<br />
des hättat a Flair!<br />
Stott Hakln am Laund<br />
a Liege am Straund<br />
A Woidviertl am Meer<br />
i gabat ois her<br />
weu i brauch net vü,<br />
so a herrliches Gfü!<br />
A Woidviertl am Meer –<br />
jo gern, bitte sehr!<br />
Nur Saund und Dünen<br />
stott de Wiesn, de grünen!<br />
A Woidviertl am Meer<br />
i entspaunat mi sehr!<br />
nua Olivenkern spuckn<br />
und da Wöd entruckn<br />
A Woidviertl am Meer<br />
ka Lärm, ka Vakehr<br />
nua Luftschlössa baun<br />
und Norrnkastl schaun!<br />
A Woidviertl am Meer<br />
des follat net schwer,<br />
nur freindliche Leit<br />
und tuan wos an gfreit!<br />
A Woidviertl am Meer<br />
des fandat i fair<br />
ka Mauntl, ka Haum<br />
und Möwn stott Taum<br />
A Woidviertl am Meer<br />
i sogs gaunz leger:<br />
a Lebm ohne Sperrstund<br />
und es gaunze Joa gsund!<br />
(von der CD „ka gmahde wiesn“ von ZUR WACHAUERIN, Non<br />
Food Factory, 2016)<br />
WALDVIERTLER STANZEN<br />
da koal aus gfö,<br />
der is oft in ö<br />
und d’lotte sei frau<br />
is a meistns blau<br />
de hanni aus zwetl<br />
warad a fesche gretl<br />
owa am pepi ian mau<br />
do is goa nix drau<br />
da fraunz aus oamschlog<br />
is fia d’menscha a plog<br />
weu eam jede haum mecht,<br />
geht’s eana so schlecht<br />
bei da liesi aus schönboch<br />
do wiad jeda mau schwoch<br />
jo duat gibt’s a gfrett,<br />
weu’s jeda gean hätt<br />
de vroni aus horn<br />
wa für d’liebe geborn,<br />
owa sie findt kan mau,<br />
mit dem si guat kau.<br />
da ferdl aus litschau,<br />
geht so gern auf brautschau,<br />
owa weula nix findt,<br />
foahrt a saufn noch gmind<br />
da hauns aus neigschwendt,<br />
dea hot schiefe zehnt,<br />
owa er hot si drau gwehnt,<br />
daß eam jeda glei kennt<br />
da flurl aus kottes<br />
jo, jo, der hot es<br />
des glick bei de fraun,<br />
er miaßt si nua traun!<br />
da sepp aus hörmauns<br />
is ana dea kauns,<br />
Lyrik
10 Holz|Oktober 2016<br />
es werdsas net glauben,<br />
des eadepfeklaubn!<br />
da rudi aus nöhogn<br />
dea tatat gean „jo“ sogn,<br />
owa de mitzi sogt „na“,<br />
drum bleibta ala.<br />
Andreas Priesching<br />
Susanne Klinger besuchte den Holzkünstler und Tischlermeister<br />
Andy Priesching bei ihm zu Hause in Michelbach;<br />
Michelbach liegt im Bergland des Mostviertels, südöstlich<br />
von St. Pölten.<br />
da sigi aus neipölla<br />
hot händ so groß wia tölla<br />
und greift a wen au<br />
rennan’s olle davau<br />
de mary aus seattle<br />
foahrt maunchmoi noch zwettl<br />
she’s so very amused<br />
weu ma durt so gern schmust<br />
Lyrik/Interview<br />
(von der CD „ka gmahde wiesn“ von ZUR WACHAUERIN, Non<br />
Food Factory, 2016)<br />
Wolfgang Kühn<br />
Geb. 19<strong>65</strong> in Baden, lebt in Zöbing / Langenlois. 1992 DUM – Das<br />
Ultimative Magazin mitbegründet, ebenso wie 1999 das Int. Kulturenfestival<br />
„Literatur & Wein“. Seit 2002 erfolgreich unterwegs<br />
mit dem Projekt „Zur Wachauerin“ und den CDs „Kalmuk“ (2003),<br />
„Live @ Glatt & Verkehrt“ (2006), „in meina wöd“ (2010) und „ka<br />
gmahde wiesn“ (2016). www.zurwachauerin.at 2006 erschien<br />
in der Edition VAbENE der Mundart-Lyrikband „Des Wetta wiad<br />
betta“. Im Steinverlag erschien 2010 der Band „in meina wöd“,<br />
2011 das Hörbuch „aus meina wöd“ und 2014 der Band „wos si<br />
a viech so denkt“. Jüngste Publikation: „fostviecha“ (gemeinsam<br />
mit Andreas Nastl), Stoahoat Verlag 2015. Diverse Crossover-<br />
Projekte, u. a. mit dem Upper Austrian Jazz Orchester, der Singer-<br />
Songwriterin Irmie Vesselsky als Duo VESSELSKY // KÜHN und<br />
der Hiphopperin mieze medusa. www.küve.com Herausgeber der<br />
Anthologien „Mein Waldviertel“ (2014), „Mein Mostviertel“ (2015)<br />
und „Mein Weinviertel“ (2016), alle Literaturedition NÖ.<br />
Lieber Andreas, Du nennst dich Holzkünstler. Was<br />
macht Dich zu einem Holzkünstler?<br />
Die Idee, zum Tischlermeister auch den Holzkünstler anzuhängen,<br />
entstand aus einem Mangelgefühl heraus, das<br />
sich bei mir einstellte, nach den ersten Aufträgen in der<br />
Selbstständigkeit.<br />
Meine Kundschaften in der Tischlerei wissen im Prinzip,<br />
was sie möchten. Jedoch wird oft nicht die Vielfalt der Möglichkeiten<br />
darüber hinaus gesehen. Ein Tisch ist nicht gleich<br />
Tisch.<br />
Als Holzkünstler, der ich bin, kann ich mich wesentlich<br />
mehr einbringen, was natürlich auch ein großes Vertrauen<br />
mir gegenüber voraussetzt, als Person.<br />
Wie viel Freiheit in Deiner Kunstrichtung darfst und<br />
kannst Du Dir selbst erlauben?<br />
In meiner Arbeit geht’s sehr oft um den reinen Zweck, den<br />
die Arbeit erfüllen soll; Tisch ist ein Tisch, Sessel ein Sessel.<br />
Ich bin ja auch natürlich gewissen Normen unterlegen;<br />
Ein Geländer in einem Wohnraum hat bestimmte Normvorschriften<br />
(Abstände der Sprossen z.B.), die ich einhalten<br />
muss. Da führt kein Weg daran vorbei.<br />
Wenn quasi die Grobvorarbeits-Gespräche geführt sind und<br />
die Vorschriften bedacht, dann beginnt mein Persönlichkeits-An-Teil<br />
als Holzkünstler sich miteinzubringen.<br />
Wieso selbstständig?<br />
Um auch diesen Holzkünstler in mir letztendlich befriedigen
Holz|Oktober 2016<br />
11<br />
zu können, was in einem Tischlereibetrieb, der natürlich<br />
auch an der Amortisierung seiner Maschinen interessiert<br />
ist, nicht möglich wäre. Es ist natürlich eine unglaubliche<br />
Verantwortung, die da reinspielt.<br />
Wobei 80% meiner Arbeitszeit die Planung und Vorbereitung<br />
ausmacht – reine Arbeitszeit sind ungefähr 20%!<br />
im Detail passieren durfte und darüber hinaus die Tischplatte<br />
sich an die Raumform anpassen sollte. Aus einem<br />
gewöhnlichem Objekt ein Kunstobjekt zu schaffen ohne<br />
dabei den primären Zweck nicht aus den Augen zu verlieren<br />
– das ist ein großes Stück „harte Arbeit“! Vor allem in<br />
der Vorbereitungsphase.<br />
Ein paar Verszeilen: Was sind Deine Gedanken dazu?<br />
….wenn ich lese astrein, muss ich sehr gefasst sein….<br />
Bedarf immer noch einer Aufklärungsarbeit seitens meiner<br />
Person am Auftraggeber. Baum ohne Äste – was ist<br />
der Wunsch?<br />
Gleichwohl es immer noch solche Forderungen gibt. Für<br />
mich persönlich ein grundsätzlicher Irrsinn – da tauchen<br />
Selektionsgedanken auf, die in mir ein unangenehmes Gefühl<br />
verursachen.<br />
Andy – ich nenne Dir 6 Bäume; gib Du mir je 3 Eigenschaften!<br />
Zwetschge: mühsam, dunkel, besonders<br />
Birne: dick, hart, zäh<br />
Elsbeere: besonders, gleichmäßig, rissig<br />
Buche: gewöhnlich, angenehm, problematisch<br />
Weide: fürsorglich, ruhig, leicht<br />
Erle: orange, weich, freundlich<br />
Eines Tages von der Kunst zu leben – ist das ein Ziel?<br />
Du meinst reine Kunstobjekte herzustellen, die primär<br />
keinen Zweck mehr erfüllen? Mein durchaus sehr ausgeprägter<br />
praktische Ansatz – um den würde ich mir Sorgen<br />
machen. Nein, kann ich mir zurzeit gar nicht vorstellen.<br />
Die Herausforderung wäre dann vielleicht weg. Aber sag<br />
niemals nie. Momentan ist das „auch davon zu leben und<br />
Kinder großzuziehen“ ja ein gewichtiges Argument, das<br />
mich dieses Gedankenmodell nicht fertig spinnen lässt.<br />
(Anmerkung: Andreas ist Vater von 5 Kindern und das<br />
sechste ist unterwegsJ)<br />
Ich Danke Dir für Deine Antworten!<br />
Fotos©Gernot Grodinger/www.gernart.com<br />
Andreas Priesching<br />
Geb. 1981; Tischlereilehre abgeschlossen 1997; Meisterprüfung<br />
2005 und selbstständig seit 2008. Andreas ist verheiratet und<br />
lebt mit seiner Frau und 5 Kindern in Michelbach bei Böheimkirchen.<br />
Nochmal zum künstlerischen Aspekt in Deiner Arbeit<br />
– ist diese immer an 2ter Stelle?<br />
Gegenfrage – ist es nicht auch eine Form von Kunst, den<br />
Auftrag des Kunden sehr zufriedenstellend zu erfüllen<br />
und dabei aus dem entstehenden Objekt ein Kunstobjekt<br />
zu machen? Ich denke da an einen Auftrag, bei dem es<br />
um einen Esstisch für 8 Personen ging, wo Kunstvolles<br />
Susanne Maria Klinger<br />
Geb. 1968 in Amstetten; Vorletztgeborene von 7 Geschwistern;<br />
Mutter von 3 Kindern; eigentlich Hotelassistentin, hat aber den<br />
2ten Bildungsweg eingeschlagen und ist nun dipl. Sozialpädagogin<br />
mit Zusatzausbildungen zur Wald.- &. Tanzpädagogin; immer<br />
schon interessiert am Schreiben, jedoch jetzt erst den Mumm<br />
dazu, auch mal zu veröffentlichen. Redakteurin dieses Heftes.<br />
Interview
12 Holz|Oktober 2016<br />
Wolfgang Mayer König<br />
GEDICHTE UND ERZÄHLUNGEN AUS HOLZ –<br />
DIE POETIK DES HOLZES<br />
Bildbericht von Florian Mayer König<br />
Der heilige Bernhard von Clairvaux, der im elften Jahrhundert<br />
einerseits als begnadeter Prediger auch schon vor leerer Kirche<br />
predigen musste und mit seinem Kreuzzugsaufruf eine<br />
tausendjährige bis in die heutige Zeit andauernde, aktuell<br />
wirksame, kulturell zersetzende, tödliche, humanitär verheerende<br />
Auseinandersetzung der Menschheit beeinflusste,<br />
hält andererseits für den literarisch interessierten Menschen<br />
nachfolgender Generationen fest: „Glaube mir, denn ich<br />
habe es erlebt, du wirst mehr in den Wäldern erfahren als in<br />
Büchern“. So früh zeichnet sich also schon die Skepsis gegenüber<br />
der didaktischen Vermittlungsfunktion der Literatur<br />
ab und im Gegensatz dazu die exemplarische Begeisterung,<br />
die von Wäldern ausgeht: Die Wirkung des Waldes auf die Erlebniswelt<br />
des Menschen, seine Umsetzung in sprachliche,<br />
bildhafte und figürliche Gestaltung - also die Charakterisierung<br />
seiner Kultur und Weltanschauung.<br />
Kein geringerer als der Dichter Peter Rosegger hat wie kein<br />
anderer der pädagogischen Wirkungsweise des Waldes und<br />
des Holzes ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Seine<br />
Essay<br />
Geschichten über die Waldschule und seine Charakterisierung<br />
des Waldschullehrers im Kontext der unvergleichlichen<br />
Strahlkraft und des auf das Wesentliche reduzierenden Geheimnisses<br />
der Wälder führen schnurgerade in das Feld der<br />
modernen Waldpädagogik. Auch der Lehrer und Begründer<br />
der ersten Schweizer Waldschule Corray im Jahr 1912, er gilt<br />
als Pionier der Waldpädagogik, wollte damit „in unserem<br />
Zeitalter der Maschinen ein Gegengewicht in der Erziehung“<br />
setzen. Die ersten für die Waldpädagogik bedeutsamen
Holz|Oktober 2016<br />
13<br />
Waldschulheime gab es dann erst nach dem Zweiten Weltkrieg.<br />
Sie begannen ganzheitlich durch praktisches Erleben<br />
und bildnerische Kreativität ökologische und gesellschaftliche<br />
Zusammenhänge kulturell zu begreifen, anzugreifen<br />
und anzufassen, also zu erfassen. Nur so wollte man der Naturentfremdung<br />
entgegenwirken.<br />
Mit Kopf, Herz und Hand, also verantwortungsbewusst im literarischen<br />
und bildnerischen Sinne zu wirken, galt nunmehr<br />
als das lohnende Feld, um welches die Pädagogik verlängert,<br />
erweitert werden sollte. Das dynamische Begreifen der Zusammenhänge<br />
sollte ohne Konkurrenzkampf erfolgen, so-<br />
dass trotz Weite und Größe der Natur in ihr Geborgenheit als<br />
naturnahem, ästhetischem Lebensraum spürbar wird. Die<br />
psychosozial bedeutend beruhigende Wirkung des Waldes<br />
und des Holzes auf das seelische Gleichgewicht des Menschen<br />
sollte ausgehend von der Schuljugend Verständnis<br />
und Akzeptanz verbreiten. So fügte sich bis auf den heutigen<br />
Tag die Waldpädagogik lückenlos in die Bestrebungen supranationaler<br />
Bildungsplanung ein und ist und war ein fester<br />
Hoffnungsträger auch der „Bildung für nachhaltige Entwicklung”<br />
in der UN Dekade 2005-2014 der Vereinten Nationen.<br />
Viele Generationen von Kindern haben inzwischen die Waldlandschaften<br />
auch in Niederösterreich künstlerisch gestaltet<br />
und ihnen so mit Begeisterung zusätzliches Leben eingehaucht,<br />
sie im wahrsten Sinne des Wortes verzaubert.<br />
Wenn auch das Kinderlachen längst verhallt ist und immer<br />
neue Jahrgänge kommen und gehen, verharren als Hinterlassenschaft<br />
beseelten Gestaltens Gebilde aus Holz, Ästen,<br />
Wurzeln und Moos am Ort und strahlen im Wechselspiel von<br />
Licht und Schatten fort, gleichgültig ob sie erwandert werden<br />
und sich das Auge eines Betrachters auf sie niederlässt, auf<br />
sie einlässt, oder ob sie unbeobachtet dastehen und in der<br />
Stille der Waldeinsamkeit den Tieren ein zusätzliches Betätigungsfeld<br />
für ihre Kämpfe und Spiele bieten. Regen und<br />
Schnee lassen die Bauwerke, hölzernen Symbole, modrigen<br />
und frischen Bauplastiken, wortlosen Gedichte und Erzählungen<br />
aus Holz, Rinde und Tannenzweigen zwar verwittern,<br />
aber der Zufall, der im Gestalten ja nie zu kurz kommen darf,<br />
erbringt eine geheimnisvoll kreative Umarbeitung oder teilweise<br />
Neuschöpfung der kindlichen Kunstwerke. Wenn auch<br />
Essay
14 Holz|Oktober 2016<br />
die Schulkinder nie etwas von Menhiren, von Bauwerken der<br />
Megalithkulturen gehört oder gesehen haben, so durchleben<br />
sie doch instinktiv die Gestaltungs- und Beschwörungspraxis<br />
ihrer frühesten Vorfahren. Dadurch werden ihre kreatürlichsten<br />
und kreativsten Urinstinkte geweckt, die immer dem<br />
Schaffen, dem Aufbauen, dem Leben dienen, nie der Zersetzung,<br />
nie dem herbeigerufenen Untergang; ja höchstens der<br />
bildhaften Beschwörung der eigenen oder kollektiven Ängste,<br />
der eigenen und auch kollektiven Freude, der Geselligkeit,<br />
der problemlosen kindlichen Freundschaft.<br />
Sich die Angst oder die Freude von der Seele reden, noch<br />
besser sie gestalterisch beredt machen, auch darum geht es<br />
hier. Überall finden sich von Kindern gestaltete Ideogramme,<br />
sitzen, richtig passen und richtig Luft haben. Alle Langeweile<br />
scheint verflogen. Die Verlängerung des Spiels war ja nie der<br />
Ernst, sondern immer die Wirklichkeit. Wie könnte man sie<br />
wirklicher erleben, als hier und auf solche Weise. Holzklötze<br />
zu einem Symbol aufgebaut, gleichzeitig zu einem Unterstand<br />
auserwählt, einem Haus, einer Hütte, in welcher wiederum<br />
nur Gedichte wohnen. Ist es ein Dach, welches sich<br />
von einer Behausung zur anderen spannt oder ist es eine<br />
Brücke, eine Gedankenbrücke, auf die wie ein zartes, geripptes,<br />
flüchtiges Wesen schmückend ein Tannenreis gelegt ist?<br />
Der Unterschied zwischen Emotionalem und Kognitivem ist<br />
zu einem Fließgewässer ineinander geflossen und kann jetzt<br />
keine Rolle mehr spielen. Nichts macht sich mehr als bloß<br />
Essay<br />
Schriftzeichen, welche sich aus mehreren bildhaften Bedeutungen<br />
zusammensetzen. Der mühelose, unbeschwerte Umgang<br />
mit- und Gebrauch von Bildzeichen, gleich ob als Wort,<br />
ob als Holzplastik, ob als entstehende Kubatur oder aber als<br />
leerer Hohlraum. Alles erzählt, erweckt Gefühle, verarbeitet<br />
Gefühle, dichtet, verdichtet, kondensiert, komprimiert,<br />
beschränkt auf das Wesentlichste, um von dort aus frei<br />
ausgestalten zu können, bis die Holzobjekte untereinander<br />
und im Bezug auf den rohstoffspendenden Wald als natürlichem<br />
Umraum stimmig – richtig positioniert sind, richtig<br />
Gewusstes breit. Ausgestattet mit der wechselseitigen Doppelnatur,<br />
die nun einmal dem literarischen wie dem bildnerischen<br />
Ausdruck innewohnt. Ausgedrückt in der freiesten<br />
und unbegrenztesten Form, die uns die Kreativität bietet.<br />
Mühelos Grenzen überschreitend zwischen Gedicht und Erzählung,<br />
zwischen Literatur und Malerei, zwischen Malerei<br />
und Holzplastik, zwischen all dem und der Architektur, der<br />
Landschaftsplanung. Hier verführt keine Elektronikindustrie<br />
zum unstillbaren Suchtverhalten der Computerspielenden,<br />
hier gähnt nicht der Schlund der Kommerzfalle des Kriegs-
Holz|Oktober 2016<br />
15<br />
spielzeugs bis ins hohe Erwachsenenalter. Hier dichtet der<br />
Mensch, das Kind in einer Sprache, deren Vielfalt schier<br />
unbegrenzt ist und sich gleichzeitig in einen Lebensraum<br />
einfügt, der ethischer und ästhetischer Maßstab für die<br />
Menschheitsentwicklung ist. Gestalterisch gangbar, jederzeit<br />
machbar. Hier führen, nicht verführen, Handgriffe und<br />
umgesetzte Empfindungen und gemeinschaftliche Gestaltungen<br />
zum Gedicht, dem schlüssigsten und dichtesten, weil<br />
es sich statisch bewährt und das Einzelne ohne das Ganze,<br />
und das Ganze ohne das Einzelne nicht schlüssig ist, und daher<br />
auch nicht existenzfähig wäre. Nein, diesen Fehler begehen<br />
die Kinder nicht, weil sie es instinktiv vermeiden, weil sie<br />
nur allzu gut spüren, dass sie nicht mit den Maßstäben der<br />
gewöhnlichen Welt zu messen brauchen. Weil sich die Kinder<br />
als selbstverständlich vollwertige Schöpfer und Geschöpfe<br />
einbringen. Begleitet in ihrem Tun vom Gesang der Waldvögel,<br />
dem Röhren der Hirsche, dem Rascheln der Käfer, dem<br />
Zirpen der Grillen und dem Flügelschlag der Libellen. Da soll<br />
noch einer sagen, der Wald sei nicht von märchenhaften Gestalten<br />
belebt. Es gibt ja viel mehr, als behauptet wird, zu<br />
geben oder nicht zu geben.<br />
Lassen Sie sich deshalb bewusst auf dieses Abenteuer des<br />
begeisterten Waldes, des wortlosen Gedichtes und der wortlosen<br />
Erzählung aus Holz ein. Versuchen Sie, mit offenen<br />
Augen eines Kindes zu sehen, mit formenden Händen eines<br />
Kindes zu begreifen, und sie werden dadurch eine viel reichhaltige<br />
Wirklichkeit erleben dürfen, als sie bisher hatten.<br />
Wolfgang Mayer König<br />
Geb. 1946. Schriftsteller und Universitätsprofessor. Lebt in Emmersdorf,<br />
Bezirk Melk. Gründer des Österr. Universitätsliteraturforums<br />
„Literarische Situation“. Herausgeber der Literaturzeitschrift<br />
Log. Verfasser von 45 Büchern. Ständiger Delegierter bei<br />
den Vereinten Nationen. Chevalier des Arts et des Lettres der<br />
Französischen Republik u.A. Kulturmedaille des Landes Oberösterreich<br />
etc. Ehrenobmann der LitGes St.Pölten seit 2006.<br />
Florian Mayer König<br />
Geb. 2004. Maler, Zeichner, Filmemacher. Mit fünf Jahren erschien<br />
sein erstes Buch „Meine Bilder meine Welt“, herausgegeben<br />
vom Vizerektor der Kunstuniversität Linz Univ. Prof. Rainer<br />
Zendron. Drei Jahre später erschien in englischer Sprache sein<br />
zweites Buch. Artikel über seine Zeichnungen und Filme in Zeitungen<br />
und Zeitschriften des In- und Auslandes.<br />
Vgl.: Reibeisen, Kulturelemente, <strong>etcetera</strong>. Filme: „Das irdische<br />
Paradies“, „Die Ideallandschaft“, „Ein Sommer in Paris“, „Karneval“.<br />
Essay
16 Holz|Oktober 2016<br />
Stefan Balkenhol<br />
Den Holzweg verlassen!<br />
Stefan Balkenhol, deutscher Bildhauer, zählt zu den renommiertesten<br />
deutschen Künstlern. Sein Markenzeichen sind Figuren<br />
und Skulpturen aus Holz. 2014/15 war Balkenhol in der<br />
Landesgalerie Linz in einer groß angelegten Ausstellung zu sehen.<br />
Das wichtigste Material für Balkenhol ist wohl das Holz,<br />
aber auch Skulpturen, Zeichnungen und graphische Techniken<br />
wie Lithographie und Siebdruck. Seine grob gehauenen<br />
und farbig bemalten Holzskulpturen sind sein Erkennungsmerkmal<br />
als Künstler. Der Mensch steht im Zentrum<br />
seiner Auseinandersetzung, aber auch Tiere und Architekturen.<br />
Balkenhol entwickelt Grundtypen, die er in anderen<br />
Variationen modifiziert verwenden kann. Der Mann<br />
mit schwarzer Hose und weißem Hemd ist wohl sein bekanntester<br />
Figurentypus.<br />
Auffallend sind die durchweg emotionslosen Gesichter seiner<br />
Figuren: Sie starren scheinbar ins Leere oder fokussieren<br />
sich auf einen Punkt. Empathie lösen sie beim Betrachter<br />
eher nicht aus, bleiben stets distanziert, anonym<br />
„Meine Skulpturen erzählen keine Geschichten”, äußerte<br />
sich Balkenhol über seine Figuren. Bewusst lässt er die<br />
Aura des Geheimnisvollen über ihnen kreisen, verleiht<br />
seinen Figuren eine gewisse Starre. Der Künstler fordert<br />
Betrachter und Beobachter heraus, eröffnet Deutungsmöglichkeiten,<br />
denen keine Grenzen gesetzt sind, will Zuschreirichard<br />
wagner©picture-alliance/dpa<br />
Wenn man mit dem Zug von Hamburg-Harburg über die Eisenbahnbrücke<br />
Richtung Hamburg-Dammtor fährt, entdeckt man<br />
mitten in der Elbe einen hölzernen Mann in Menschengröße,<br />
der als Boje in der Mitte des Flusses hin und her schaukelt.<br />
Beim ersten Anblick irritiert Zugreisende diese Figur, denn<br />
der Beobachter überlegt, ob die schwankende Person dort,<br />
real oder eben nur eine Skulptur ist. Der Schöpfer dieser<br />
Holzskulpturen in Menschengröße ist der deutsche, zeitgenössische<br />
Bildhauer Stephan Balkenhol. Geboren wurde<br />
dieser 1957 in Fritzlar, wuchs in Luxemburg und Kassel als<br />
jüngster von vier Söhnen einer Hausfrau und eines Gymnasiallehrers<br />
auf. In Luxemburg besuchte der Künstler die<br />
Europäische Schule, an der sein Vater als Lehrer unterrichtete.<br />
Balkenhol legte sein Abitur in Kassel ab und studierte<br />
anschließend von 1976 bis 1982 an der Hochschule für Bildende<br />
Künste in Hamburg bei Ulrich Rückriem. Dank des<br />
Karl Schmidt-Rottluff-Stipendiums verfolgte er seinen Weg<br />
als zukünftiger Bildhauer.<br />
©Landesgalerie Linz<br />
und geben dem Betrachter Rätsel auf. Dabei ermöglichen<br />
gerade weiche Holzarten wie Pappel oder Wawaholz dem<br />
Künstler ein präzises Herausarbeiten der Gesichts- und<br />
Charakterzüge. Trotzdem wirken die Figuren leblos, starr,<br />
antrieblos.<br />
Präzises Herausarbeiten der Gesichter<br />
Deutungsmöglichkeiten oder Provokation<br />
Bericht
Holz|Oktober 2016<br />
17<br />
bungen oder Eindeutigkeiten von Anfang an vermeiden. Ein<br />
Gesichtsausdruck, ein Lächeln oder auch Weinen würden<br />
zu viel vorwegnehmen.<br />
Wiederholungen oder Markenzeichen<br />
Balkenhol ist jedoch in Künstlerkreisen umstritten. Seine<br />
Wiederholungen in Stilistik und Motivik innerhalb eines<br />
Der Wirkung von Körpern im Raum wollte Balkenhol mit<br />
seiner Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen mehr<br />
Beachtung schenken.<br />
2014/15 zeigte die Landesgalerie Linz in einer groß angelegten<br />
Ausstellung mehrere Menschen- und Tierfiguren Balkenhols<br />
in typisch groß bearbeiteter Form.<br />
Bericht von Cornelia Stahl, LitGes<br />
Werkes haben ihn angreifbar gemacht. Kritiker forderten<br />
neue Wege, Abzweigungen und Variationen des künstlerischen<br />
Schaffens. Balkenhol müsse den „Holzweg” verlassen,<br />
auf dem er sich befinde. Der Künstler lässt sich jedoch<br />
nicht aus der Ruhe bringen oder verunsichern, bleibt bei<br />
seinem Stil und vertraut auf sein Handwerk, das er zweifelsohne<br />
perfekt beherrscht. Ungefähr einhundert Figuren<br />
pro Jahr lässt er aus dem Rundholzsockel entstehen. Seine<br />
höchste Figur ist sechs Meter hoch: Sempre piu` (Immer<br />
mehr), ein Männertorso aus Zedernholz und wurde 2009<br />
temporär im Caesarforum in Rom aufgestellt.<br />
Symbiose zwischen Kunst und Raum<br />
Seine größte Ausstellung erhielt der Bildhauer Balkenhol<br />
2009 in den Deichtorhallen Hamburg. Drei Jahre hatte<br />
er sich akribisch auf dieses wichtige Ereignis vorbereitet<br />
und speziell dafür neue Figuren angefertigt. Balkenhol, der<br />
maßgeblich an der Realisation vor Ort in Hamburg beteiligt<br />
war, platzierte seine Werke eigenhändig, mit der Absicht,<br />
die Symbiose zwischen Kunst und Raum stärker zu betonen.<br />
Seiner Meinung nach ist gegenwärtig bei den meisten<br />
Menschen die zweidimensionale Sichtweise ausgeprägt,<br />
die ein räumliches Sehen vernachlässigt.<br />
©Salzburg Foundation Fotos Manfred Siebinger VG Bildkunst Bonn/<br />
Sphaera, Kapitelplatz und Frau im Fels Toscanihof<br />
Bericht
18 Holz|Oktober 2016<br />
All I need is jazz!<br />
37. Internationales Jazzfestival Saalfelden 2016 25- 28.8.16<br />
LitGes Obfrau Eva Riebler-Übleis war für die Zeitschrift „<strong>etcetera</strong>”<br />
mit dabei. MainStage im Congress, ShortCuts im Nexus,<br />
CityStage am Rathausplatz und 3 Almkonzerte.<br />
www.jazzsaalfelden.com, Fotos© Koppensteiner/E.Riebler-Ü<br />
usw. Am Vorabend, dem Donnerstag ab 21.30 genoss man<br />
im Nexus als Auftakt den beschaulichen, kontemplativen<br />
Sound rund um Bergen/Skandinavien in der empathischen<br />
Musik von Starlite Motel und die witzigen Visuals gemeinsam<br />
mit den schrägen und melodischen Klängen, angesiedelt<br />
zwischen Hip Hop, Pop, Jazz, Rock und Stravinski, des<br />
hervorragenden österreichischen Trios Namby Pamby Boy.<br />
Der Auftakt auf der CityStage war wie immer ein Auftragswerk,<br />
das diesmal mit Shake Stew ziemlich geradlinigen,<br />
überschaubaren klassischen Jazz lieferte.<br />
Bericht<br />
Der Begriff JAZZ ist auslegbar. Dieses Jahr haben die beiden<br />
Programmintendanten Michaela Mayer und Mario<br />
Steidl den Fächer noch weiter gestreut und auf der Alm<br />
z.B. Tango und Meringa von Libertango and guests oder<br />
Volksweisen auf Italienisch oder Steirisch von in Compagnia<br />
mit Ajida a Noar singen & spielen lassen und auf der CityStage<br />
traten außer der österreichischen Ostbeatbend die<br />
russische Otava Yo, die chinesische Dawanggang und eine<br />
Bosnia-Herzogovina Reuniun auf. Zwei gemischte Bands<br />
mit Deutschen, Österreichern, Italienern und 6 Musikern<br />
aus Mali traten auf, die Douba Foli waren ausgewählt worden<br />
sowie die Syrian Links & österreichischen Friends.<br />
Hervorragende Bands und Solisten, vorwiegend aus USA,<br />
Austria, France, Iseland, Germany oder Norway waren bei<br />
den ShortCuts zu vernehmen. Z.B. Jim Black, Marc Ducret<br />
Hervorragend rockig mit hohem Speed unterwegs waren<br />
die Krokofant aus Norwegen und harmonisch in Zwiege-
Holz|Oktober 2016<br />
19<br />
spräche von Instrument zu Instrument die Vincent Courtois.<br />
Am Samstag war das Trio Simon Barkers Chiri mit dem<br />
koreanischen Sänger Base il Dong ein besonderes Erlebnis,<br />
denn er setzte ein koreanisches Märchen in wilde<br />
Schreitöne mit Obertönen um und wurde von dem Trompeter<br />
Scott Tinkler bestens untermalt. Anschließend ging<br />
es stimmungsvoll mit dem Emile Parisien Quintet mit dem<br />
bogen auf die Bühne – wunderbar zu genießen! – Noch<br />
zwei Höhepunkte, die wohl den Sonntag als besten Tag<br />
auswiesen, waren die Schaerer/Biondini/Kalima/Niggli –<br />
Formation mit Jazz- Rapp Stimme des herausragenden Vokalisten<br />
Schaerer – abwechslungsreich, avantgardistisch<br />
und abgerundet eigenwillig! – sowie außer dem Pianisten<br />
Kuhn noch ein Namedropping, nämlich der blinde Pianist<br />
und Vokalist Henry Butler – wirklich einzigartig im Stil des<br />
alten guten New Orleans-Jazz. Steven Bernstein führte mit<br />
diesen, seinen The Hot 9 (neun Instrumentalisten) in den<br />
famosen Klaviervirtuosen und Improvisationskünstler Joachim<br />
Kuhn und dem und z.T. melancholisch Tomeka Reid<br />
Quartet weiter. Genauso Begeisterungsstürme beim Publikum<br />
riefen die Burning Ghosts von Daniel Rosenboom<br />
hervor, die am ehesten für klassische spontane Kompositionen<br />
standen.<br />
Für starken, erlebbaren, oft minimalistischen, durchdachten<br />
Sound standen am Sonntag die Gruppe Susana<br />
Santos Silva und das norwegische Erlend Apneseth Trio,<br />
das mit zartem Schlagzeug sachte, behutsam Fjordmusik<br />
aus den eisigen Weiten in die Hitze des Congresshauses<br />
holte.<br />
Nach fast 30 Jahren trat die ehemalige USA-Collegband<br />
Human Feel wieder in Action und brachte gute, kurze<br />
Kompositionen mit exzellent aufgeladenem Spannungs-<br />
Klang des traditionellen Jazz zurück und entwarf einen<br />
genussvollen, würdigen klassischen Endpunkt des Programms<br />
und des 37. Saalfeldner Jazzfestivals.<br />
Und nächstes Jahr wieder!<br />
Bericht
20 Holz|Oktober 2016<br />
Jazz im Hof<br />
Karmeliterhof Stadtmuseum St.P.<br />
16. bis 18. Aug. 2016<br />
„Jazz me, if you can!“ / so E. Jandl beim Jazzfest Saalfelden<br />
im Jahre 2004 oder 2005<br />
Wie jedes Jahr am Wochenende des Frequency Festivals in<br />
St.P. gab es heuer bereits zum siebten Male ein hochkarätiges<br />
Jazzwochende. Für den Veranstalter, das Magistrat der<br />
Stadt, ist Caroline Berchoteau die hervorragende, umtriebige<br />
Beauftragte. Im Hof des Stadtmuseums St.P. war wie<br />
jedes Jahr Eva Riebler-Übleis für die Litges dabei.<br />
in Gestik, Mimik und Stimmführung war rührend und eher<br />
dem klassischen Fach Operette zuzuordnen. Das Kontrapunktive,<br />
Jazzige war kein Paradigma!<br />
20.8.16:<br />
Das Trio Franz Hautzinger, Matthias Loibner und Peter<br />
Rosmanith war grandios und wartete nicht nur mit der<br />
Drehleier und dem Hang auf, sondern wusste mit eigenen<br />
Stücken zu überraschen und mit Witz und Ironie zu unterhalten.<br />
Ob das Drehen des Karussells im Wiener Prater, das<br />
Zaumzeug-Geklirre oder die Geräusche bei einer Kamel-<br />
Schlittenfahrt, alles wurde vom Publikum goutiert und begeistert<br />
aufgenommen. Ihr Bandname ist noch immer ausständig<br />
sowie die erste CD. Man sollte ihnen statt „Fidibus“<br />
Bericht<br />
Mario Rom's Interzone©Fotos Eva Riebler-Übleis<br />
Diesmal war es weniger der französische Jazz, sondern der<br />
österreichische, der im Vorfeld von Caroline Berchoteau<br />
ausgewählt worden war.<br />
18.8.16:<br />
Weniger Experimentelles als vielmehr schwungvolle Jazzklassiker<br />
gabs bei Mario Rom´s Interzone und genauso<br />
schwungvollen Jazz bei dem überaus vielseitigen Ensemble<br />
mit dem bezeichnenden Namen Synesthetic Octet. Das<br />
sehr junge Ensemble ist wirklich beeindruckend und kompositorisch<br />
wie in der Interpretation herausragend und hat<br />
wie der Titel des Programms „Rastlos“ vorgab noch viel vor<br />
und wird große Erfolge erzielen!<br />
19.8.16:<br />
Das Duo „Timeless“, AsjaValcic am Cello und Klaus Paier<br />
am Akkordeon trug ein bisschen französischen und folkloristischen<br />
Flair in den Jazzhof und kannte keine Grenzen<br />
zwischen Jazz und Folklore. Das Quintett Hiroi mit dem<br />
gelobten Album „Return of the Koi“ war instrumental jazzig,<br />
jedoch die vokale Begleitung durch Boglarka Babiczki<br />
vielleicht den Namen eines ihrer Songs überstülpen. Und<br />
zwar „Die Hawara von Awara“! – einfach köstlich!<br />
Als großes Finale war die Jazzwerkstatt Wien mit den<br />
Strottern auf der Bühne und brachte wirklich genialen Jazz<br />
rund um den Bandsänger Klemens Lendl. Seine Intonation<br />
und Zentriertheit auf jedes Wort und jeden Hauch zogen<br />
das Publikum in den Bann und zollten dem Morbiden und<br />
österreichisch-wienerischen abgrundtiefen Humor Tribut.<br />
–genial!-<br />
Jazzwerkstatt Wien & Strottern©Fotos Eva Riebler-Übleis
Holz|Oktober 2016<br />
21<br />
Dine Petrik<br />
Auf dem Holzweg<br />
Am Weg zur Straßenbahn stehen ihr eines Nachmittags in<br />
der Nebengasse plötzlich riesige Fensterflügel in den Weg.<br />
An die Hausmauer gelehnt, vier schöne, große, robuste Riesenfenster,<br />
zum Abholen bereit, das heißt zum Entsorgen.<br />
Stabiles Holz, das war klar, sie kannte sich aus, und noch<br />
gar nicht alt, in Dreifach-Verglasung, die Glasscheiben alle<br />
intakt, bis auf einen Sprung in einer Scheibe.<br />
Zum Entsorgen, lässt sich hören, ja, die sind Müll, kommen<br />
alle auf den Müllhaufen, auch Flügeltüren und anderes mehr,<br />
sagt der Arbeiter auf ihre Frage. Das Haus wird umgebaut,<br />
der neue Hausherr hätte Plastikfenster bestellt – oder anders<br />
gesagt, Kunststoff. Die sind auch das Beste, das Haltbarste,<br />
setzt der Arbeiter nach. Klar, die da hätten es auch<br />
noch gute sechzig Jahre gemacht.<br />
Die sind Müll, denkt sie beklommen. Müllentsorgung. Wie<br />
entsorgt man so riesige Glasscheiben? Und wie diese stabilen<br />
Holzrahmen? Wird ihnen zuerst das Kreuz gebrochen,<br />
werden sie zerschlagen, zerkleinert, per Hand? mit Maschine?<br />
Und dann in den Müll. Aber was heißt denn da, Müll? Das<br />
Herz tut einem weh, wenn man sich die Zerstörungen der<br />
vielen funktionstüchtigen Gegenstände vorstellt.<br />
Sie hatte den 2-er in der Josefstädter Straße verlassen. Nun<br />
wartet sie in der Ordination des Hals-Nasen-Ohrenarztes<br />
darauf, aufgerufen zu werden. Das linke Ohr fing manchmal<br />
leise zu klopfen an, vielleicht auch zu hacken. Sie muss<br />
unentwegt an die Müllfenster denken, während sie den<br />
Parkettboden im Wartezimmer bestaunt. Knacksende, alte<br />
Fischgrät-Verlegung, stabiles Holz, Holzstäbe hell-dunkel,<br />
zusammenlaufend, wechselnd; schön, nachgedunkelte, alte<br />
Eiche. Was die schon alles ertragen hat - und noch ertragen<br />
wird.<br />
Sie liebte Holz, erkannte Hölzer an ihren Maserungen, an<br />
ihren Gerüchen, sie beroch jedes Holz, inhalierte, wollte hineinkriechen<br />
mit ihrer Nase ins junge Holz, mit den Zähnen<br />
hineinbeißen.<br />
Eiche roch würzig, wenn sie jung war, erregend herb. Die<br />
Linde leicht säuerlich, nicht wirklich gut. Das einzigartige<br />
Zirbenholz, das den Schlaf bringen - und Krankheiten abwehren<br />
soll. Die Kiefer roch harzig, nach Pech - und nein, nach<br />
Schwefel nicht. Die Fichte nach nichts, nach frischer Luft.<br />
Irgendwie gummiartig das Rosenholz. Und Mahagoni roch -<br />
undefinierbar, nach weiter Ferne.<br />
Jetzt sind sie schon wieder da, sagte der Hals-Nasen-Ohrenarzt<br />
zu ihr. Sitzen Sie mit ihren Ohren vielleicht vor einem zugigen<br />
Fenster? Natürlich, der Schreibtisch steht direkt davor,<br />
sagt sie. Also da, ein Rezept für Ohrentropfen. Und lassen sie<br />
ihre alten Holzfenster erst einmal ordentlich dichten!<br />
Dine Petrik<br />
Geb. 1942 im Burgenland, mit 17 Übersiedlung nach Wien, Bürolehrgang,<br />
Fakturistin, Sekretärin, diverse Abendschulungen.<br />
Schreibt und publiziert seit 1990. Freie Autorin. Lyrik und Prosa<br />
in Anthologien, Reiseliteratur, Essays, Feuilletons in div. Österreichischen<br />
Tageszeitungen (Der Standard, Die Presse, Wr. Zeitung)<br />
11 Buchveröffentlichungen. Zuletzt: 2015 der Roman FLUCHT<br />
VOR DER NACHT, 2016 FUNKEN.KLAGEN, beide Bibliothek Verlag<br />
der Provinz.<br />
Liegende©Gotthard Obholzer<br />
Prosa
22 Holz|Oktober 2016<br />
Prosa<br />
Mario Vötsch<br />
Unter uns<br />
Ich weiß nicht, wann sie heute aufgestanden ist, ich musste<br />
früh raus und konnte sie nicht mehr hören. Das passiert selten.<br />
In der Regel ist sie es, die vor mir geht. Wenn die Wohnungstür<br />
zufällt, liege ich noch im Bett, höre halbwach, wie<br />
das Schloss einrastet und die Schlüssel klimpern. Dann ihre<br />
gedämpften Schritte die Treppe runter, die erst nach und<br />
nach bei mir ankommen, ihre Schritte in meinem Kopf, während<br />
sie ja schon längst weg ist. Es sind behutsame Schritte,<br />
ausgewogen, nie hastig oder kopfüber. Selbst wenn sie spät<br />
dran ist, überstürzt sie nichts. Selten, dass sie eine Stufe<br />
überspringen würde.<br />
Schließlich kommt sie unten an, im Eingangsflur, und öffnet<br />
die Haustür. Die Angeln krächzen, das wuchtige Tor fällt zu.<br />
Könnte ich diesem Klang deutlicher nachspüren, diesem Zufallen<br />
des Tores, ich bin sicher, auch darin läge etwas Beherrschtes.<br />
Unter ihrer Obhut wird jede Tür zahm gemacht.<br />
Unmittelbar danach setzt eine konspirative Stille ein, die den<br />
Raum zwischen den Dielen und Decken durchdringt wie ein<br />
Luftzug, eine Stille, die kommuniziert. Es ist nicht so, als ob<br />
nichts gewesen wäre.<br />
Hier endet mein morgendliches Wachhören.<br />
Als hätte sie niemanden sonst erwartet, so selbstverständlich<br />
hat sie damals die Tür geöffnet und mich angelächelt.<br />
Ich stand da mit Paket in der Hand. Der Postbote hatte mich<br />
am Hauseingang abgefangen und gebeten, es für sie entgegenzunehmen.<br />
Es war mittags und sie anscheinend nicht<br />
zu Hause. Also unterschrieb ich, setzte meine Initialen unter<br />
ihren Namen. Agnes Seel. Obwohl ich schon seit Jahren<br />
an diesem Namen vorbeigegangen war, handgeschrieben in<br />
Blockbuchstaben aufs Postfachschild, kam es mir jetzt vor,<br />
als würde ich ihn das erste Mal lesen. Lesen und erfassen.<br />
Nicht bloß anschauen wie die Inschrift eines Denkmals, an<br />
dem man jeden Tag vorbeigeht und doch nicht recht weiß,<br />
was drauf steht.<br />
Sie habe mich schon gehört, sagte sie, als ich an ihrer Tür<br />
stand. Man könne in diesem Haus ja nicht überhören, was<br />
vor sich geht. Ja, erwiderte ich, es gehe sich wie auf zerbrochenen<br />
Eierschalen. Sie dankte herzlich fürs Paket und wir<br />
verabschiedeten uns, ohne weiter vorstellig zu werden. Ich<br />
war schon am Treppenabsatz, da schickte sie mir, das Gesicht<br />
im Türspalt, noch einen Satz hinterher: „Sie hören von<br />
mir.“ Das hatte Witz. Den hatte ich ihr gar nicht zugetraut.<br />
Meine Wohnung ist im zweiten Stock, Agnes Seel wohnt über<br />
mir. Unser Haus ist ein altes Bauernhaus, es wäre der Traum<br />
aller Feuerleger. Alles ist aus Holz, das meiste Eiche. Drei<br />
Etagen werden durch geschlossene Treppen verbunden, die<br />
so steil sind, dass sie fast wie senkrechte Verbindungssprossen<br />
emporragen. Die Flure sind mit breiten Dielen verlegt, an<br />
den Decken sind robuste Balken eingezogen. Auch die Zimmerböden<br />
und die Türen sind aus Eiche, einzig die Wände<br />
haben Vertäfelungen aus Zirbelkiefer. Seitdem ich in diesem<br />
Haus wohne, kenne ich mich mit Holz einigermaßen aus.<br />
Lange konnte ich mich nicht daran gewöhnen, dass ein Haus<br />
stöhnt und krächzt und klagt. Ich hatte das Gefühl, das Haus<br />
leidet unter der Last der Menschen und könnte jederzeit zusammenbrechen.<br />
Heute sehe ich es entspannter: Das Haus<br />
gibt nach, bleibt aber stark. Es ist ein durchgängiger Bewegungsmelder,<br />
der nie schweigt, wenn sich etwas regt. Man<br />
vernimmt jeden Schritt – und Schritte gibt es genug. Auf jeder<br />
Etage sind drei Einzimmerwohnungen, das macht neun<br />
Parteien und achtzehn Beine. Irgendjemand muss da immer<br />
gehen.<br />
Morgens sind ihre Schritte weich und geduldig, fast nachsichtig.<br />
Sie geht ans Fenster, wartet einen Moment, bevor sie<br />
es öffnet. Dann die frische Luft, eine Atempause, die in die<br />
Glieder strömt. Ihr langes graues Haar, so stelle ich mir vor,<br />
ist noch ungekämmt, einzelne Strähnen vom Nachtschweiß<br />
verklebt. Ihr Teint ist blass und wird es auch bleiben, denn<br />
mit Gesichtspuder geht sie sparsam um. Sie wird ihn auftragen,<br />
um die fahlen und trockenen Partien ihres Gesichts zu<br />
kaschieren. Noch aber steht sie am offenen Fenster, unfertig<br />
versunken. Ihre Konturen, milchig und weich, treten hervor<br />
wie die Züge einer Wachsfigur, erscheinen seltsam unbelebt,<br />
aber auch nicht leblos.<br />
Die Begegnung an ihrer Türschwelle war nicht unsere erste,<br />
aber es war die erste, in der wir uns etwas zu sagen hatten.<br />
Immer wieder mal sind wir aneinander vorbeigelaufen, im<br />
Hauseingang, bei den Postfächern, auf den Etagentreppen.<br />
An engen Stellen lässt sie mir bis auf weiteres den Vorrang,<br />
weil ich jünger bin, schneller. Sie nimmt mein Tempo mit Gelassenheit.<br />
Dennoch ist es mir angenehmer, sie über mir zu<br />
hören als vor mir zu sehen. Meine Verlegenheit, ihre Schritte<br />
zu kennen. Die Stille, wenn sie am Fenster steht. Ihre kurze<br />
Morgentoilette. Dass sie nie vor sich herredet. Der Verrat<br />
der Bretter, wenn sie in der Nacht aufsteht. Und wenn
Holz|Oktober 2016<br />
23<br />
sie Besuch hat… Ich gebe zu, manchmal denke ich weiter.<br />
Denke mich oben hinein, bleibe nicht am Boden. Schiebe ihr<br />
eine Haltung unter und schreibe ihr Gedanken zu. Gebe ihren<br />
Augen einen reservierten Ausdruck, nicht zu schwermütig,<br />
nicht zu leichtgläubig. Ich lasse sie Proust lesen und mache<br />
sie tiefsinnig. Nie aber unterstelle ich ihr ein ganzes Leben.<br />
Ich erinnere mich, einmal in einem Museum gewesen zu<br />
sein, in dem ich der einzige Besucher war. Es war eine fremde<br />
Stadt, ein heißer Tag im Hochsommer. Ich kam spät, die<br />
Ausstellung hatte gerade noch eine Stunde offen. Als ich das<br />
Ticket löste und die beiden Damen am Empfangsschalter<br />
sah, wurde mir klar, dass sie und ich die einzigen Menschen<br />
waren, die noch da waren. Eine von ihnen war zuständig für<br />
den Eintritt, die andere für die Aufsicht. Ich hatte sie in ihrer<br />
Plauderei unterbrochen, mehr noch, ihre Plauderei abgebrochen,<br />
denn die Aufsichtsfrau musste ja nun mir folgen.<br />
Das Museum war riesig. Es hatte drei Ebenen, alle Böden<br />
und Treppen waren aus dunkler Eiche, Massivholzdielen. Der<br />
Boden gab nicht nur dem Gehen nach, sondern auch jeder<br />
Gewichtsverlagerung im Stehen. Es war schrecklich. Die<br />
Bretter verrieten meinen Aufenthalt, meinen Versenkungsgrad,<br />
mein Stehvermögen. Schritt für Schritt war ich ihnen<br />
ausgeliefert. Für die Aufseherin war es nicht schwer, meiner<br />
Spur zu folgen. Seitdem ist es mein größter Albtraum, in einer<br />
Ausstellung zu sein, in der es keine Bilder, sondern nur<br />
leere weiße Wände gibt, dazu Aufsichtspersonen, die einem<br />
beim Betrachten dieser Wände zuschauen. Und dabei lauschen,<br />
wie man geht.<br />
Ich suche keine Spuren.<br />
Ich vernehme ihre Abdrücke ohne tieferen Glauben.<br />
Sie tritt und ich schweige.<br />
Unser betretenes Schweigen.<br />
Vor einiger Zeit gab sie mir den Zweitschlüssel zu ihrer<br />
Wohnung: Für-den-Fall-dass… – Es gab bislang noch nie so<br />
einen Fall. Doch darum geht es nicht. Sie kam also runter<br />
und überließ mir ihre Schlüssel. Als ich sie bat, einzutreten,<br />
lehnte sie dankend ab und bestand darauf, mich nicht weiter<br />
zu stören. Noch nie war jemand von uns in der Wohnung des<br />
anderen. Dennoch macht es einen gewaltigen Unterschied,<br />
sie zu hören und gleichzeitig ihre Schlüssel zu haben. Schlüssel<br />
können etwas Banales und Intimes zugleich sein. Sie machen<br />
die Bretter zwischen uns offiziell, aber auch vertraulich.<br />
Bei Dunkelheit sind ihre Schritte verhalten, nahezu lautlos.<br />
Lediglich Bruchstücke einer Bewegung sind zu vernehmen,<br />
kein klares Gehen mehr. Bis selbst diese letzten Zeugnisse<br />
verstummen. Die Stille aber wäre nicht dieselbe, wenn sie<br />
nicht da oben wäre.<br />
Mario Vötsch<br />
Geb. 1977 in Vorau/Steiermark, lebt in Innsbruck. Studierte<br />
Politologie und Soziologie in Wien und lehrt als Sozialwissenschaftler<br />
an den Universitäten Innsbruck und Friedrichshafen.<br />
Mehrere wissenschaftliche Publikationen; literarische Veröffentlichungen<br />
in Literaturzeitschriften (Entwürfe, Landstrich, DUM).<br />
Manchmal wünschte ich, ich könnte fliegen und wäre nicht<br />
mehr nachdrücklich.<br />
Wenn sie spät abends nach Hause kommt, sind ihre Schritte<br />
länger als untertags. Auch härter. Es kommt selten vor, dass<br />
mir ihr Gang neu ist, dass ein gesteigertes oder verzögertes<br />
Intervall mich aufhorchen lässt. Manchmal aber passiert es:<br />
ein verstärkter Nachdruck, ein abgehacktes Auftreten, ein<br />
gedämpftes Hopsen, irgendetwas, das nicht den gewohnten<br />
Gang nimmt.<br />
Ich weiß, ich höre ihr beim Gehen zu.<br />
Ich erlaube mir aber keine wesentlichen Rückschlüsse.<br />
Ich registriere ihre Wegmarken. Fenster, Bett, Sesselrücken,<br />
Küchenschritte, Bad.<br />
Ich will nicht Hermeneutik machen.<br />
Ich belausche nicht.<br />
bla, bla, bla/Birke auf Bronzesockel 2015©Gotthard Obholzer<br />
Prosa
24 Holz|Oktober 2016<br />
Prosa<br />
Peter Schwendele<br />
Stallleben<br />
Die erste Woche in der Mehrzweckhalle ist ganz lustig, ein<br />
bisschen so wie eine große Schlafsackparty. Überhaupt:<br />
Wenn alles neu ist, macht es Spaß, sich gegenseitig zu<br />
beschnuppern. Und die leicht stickige Luft, die Geruchsmelange,<br />
die einem um die Nase wabert, fällt höchstens<br />
positiv auf, macht fast ein wenig high: Ausdünstungsnarkotisierung.<br />
Ich finde übrigens, Saralisa müffelt mit Abstand<br />
am besten.<br />
Aber schon kommen die von den Lang- und Schlappohrfreunden<br />
Südweststadt e.V. hereingehoppelt und machen<br />
unmissverständlich klar, dass ihre Pelztierschau am Wochenende<br />
die weltwichtigste Veranstaltung ist. Wir jungen<br />
Hüpfer schauen noch ein bisschen komisch, wie die ersten<br />
Käfige aufgestellt werden, da holt uns auch schon<br />
die stets um Deeskalation bemühte Stadtverwaltung<br />
raus, von den Karnickelknutschern offenbar auf die rettende<br />
Idee gebracht, wie man dem akademischen Überschuss<br />
auf die Schnelle ein schnuckliges Plätzchen bieten<br />
könnte.<br />
Flott wird gezimmert und gehämmert, alles geht rucki-zucki,<br />
und die beflissenen Beamten versichern, man werde<br />
eine gute Übergangslösung schaffen. In wenigen Wochen<br />
würden ohnehin bereits die ersten unserer Kommilitonen<br />
ihr Studium schmeißen und dann könnten wir, nutznießend,<br />
ihre frei gewordenen Zimmer übernehmen. Der Plan<br />
klingt perfekt. Die Besserwisser („hättet Euch eben früher<br />
um eine Unterkunft kümmern müssen“) und die Snobs<br />
(„selber schuld, wenn Eure Eltern Euch keine Eigentumswohnung<br />
in Eurem Studienort kaufen“) verstummen.<br />
Toll ist, dass es von unserer neuen Behausung nur fünfzehn<br />
Minuten zu Fuß zur Uni sind. Wir bekommen am<br />
ersten Tag ein Starter-Pack überreicht (eine Schale mit<br />
frischen Karotten und ein Päckchen Streichhölzer mit der<br />
Aufschrift „Achtung, nur zum Zähnereinigen verwenden“).<br />
Ein Herr von der Lokalzeitung macht Fotos, als der Baubürgermeister<br />
jedem von uns beim Einzug persönlich die<br />
Hand schüttelt.<br />
Der gesamte Stall ist sehr groß, hat viele Ebenen und bietet<br />
durch seine kompakte Form und seine durchdachte<br />
Gliederung „für jeden Bewohner ein eigenes Reich“, so<br />
zumindest die Schlagzeile in der Zeitung. Von den oberen<br />
Stockwerken bietet sich eine prächtige Aussicht. Jede<br />
einzelne Stalleinheit macht durch die den vorderen Bereich<br />
begrenzende Drahtgitterlösung einen sehr luftigen<br />
Eindruck und bietet Platz für Bett, Schrank sowie Schreibtisch<br />
und lässt sogar noch etwas Raum für das morgendliche<br />
Liegestützenprogramm respektive das abendliche<br />
Workout.<br />
Der Stallverwalter heißt Rabrindranath und ist ein bärtiger,<br />
turbantragender Sikh. Das Weltoffene der Behausung<br />
wird des Weiteren durch seine Gehilfin und Mädchen<br />
für alles unterstrichen, die schwarze Rapperin Mojo-Minzi,<br />
die alle Fragen, die nervende Motherfucker-Neustudiwohnis<br />
so haben, ausschließlich in gereimter Stakkato-Form<br />
beantwortet.<br />
Toll ist vor allem, dass ich den Stall direkt neben Saralisa<br />
bekomme. Saralisa studiert komische Fächer, aber sie<br />
ist sehr nett, hat niedliche Ohren und wenn sie lächelt,<br />
entblößt sie auf eine neckische Art ihre Vorderzähnchen.<br />
Weil die Wände unseres scharf geschnittenen neuen<br />
Heims aus sehr dünnen Spanholzbrettern bestehen, kann<br />
ich, wenn ich in meinem Stall bin, fast alles hören, was Saralisa<br />
in ihrem Stall macht. Zum Beispiel kann ich hören,<br />
wenn sie niest. Ich finde, sie hat ein ganz entzückendes<br />
Niesen.<br />
An der Uni erzählen sie uns wirklich interessante Sachen,<br />
nur muss ich feststellen, dass das Lernen zuhause etwas<br />
mühsam ist, weil nicht nur Saralisa links neben mir, sondern<br />
auch die ganzen anderen, mein Stallnachbar rechts,<br />
und der direkt über und der direkt unter mir, und die übrigen<br />
in den ganzen anderen Stockwerken, niesen und,<br />
ähem, husten und so. Kakophonisch nicht uninteressant,<br />
aber auf Dauer doch ein wenig enervierend.<br />
Saralisa hat sich offensichtlich mit ihrem Stallnachbar von<br />
der anderen Seite angefreundet. Purzelchen. Das finde<br />
ich nicht so schön. Saralisa kann sich natürlich anfreunden,<br />
mit wem immer sie möchte, gar keine Frage, ich finde<br />
es nur schade, dass sie mich kaum noch beachtet, seit<br />
Purzelchen ein Auge auf sie geworfen zu haben scheint.<br />
Purzelchen mit seinem rotmelierten Bartwuchs, dem man<br />
ansieht, dass er täglich intensiven Kontakt zu Kamm und<br />
Schere aufnimmt. Purzelchen mit seiner Hipstermütze,<br />
ohne die er nie vor die Käfigtür tritt, vermutlich, weil seine
Holz|Oktober 2016<br />
25<br />
Ohren zu schief oder zu lang oder einfach nur verknorpelt<br />
sind, so dass er ihren Anblick der Öffentlichkeit einfach<br />
nicht zumuten kann. Soweit zumindest meine Interpretation.<br />
Nicht dass ich eifersüchtig wäre, ich finde es nur<br />
schade. Das mit Saralisa.<br />
Saralisa scheint ihn wirklich zu mögen, heute. Alles ist<br />
friedlich, die Lichter der Stadt glitzern und brechen sich<br />
an den Rändern meiner Maschendrahtstallfront. Nur vom<br />
Stall neben mir kommen komische Geräusche. Ein Kratzen?<br />
Ein Schaben? Nein, es klingt mehr, als würden Saralisa<br />
und Purzelchen miteinander kuscheln. Und sie kichern,<br />
die beiden? Ich höre es genau. Und jetzt? Wieso fängt Saralisa<br />
denn an, zu stöhnen? Oh, sie ist vorsichtig, ja, sie<br />
bemüht sich, sie will ganz, ganz leise sein. Aber es gelingt<br />
ihr nicht. Ich höre sie trotzdem, und sicher nicht nur ich.<br />
Vermutlich hört man sie bis hinunter zu den Containern,<br />
wo das alte Stroh und die Abfälle abgeladen werden. Immer<br />
lauter wird sie, und auch Purzelchen hört sich jetzt an<br />
wie ein richtiger down-to-earth-I`m-the-hammer-you`rethe-nail-purzel.<br />
Kein Zweifel mehr. Saralisa rammelt. Ich<br />
muss sofort hier raus.<br />
Perfomerin scharen, zücke ich unbemerkt mein noch<br />
unbenutztes Streichholzpäckchen und mache dem Spuk<br />
gnadenlos ein Ende. Das dünne, trockene Holz brennt wie<br />
Zunder und die Flammen züngeln hell auflodernd in den<br />
schwarzen Nachthimmel. Aus Stall wird Asche. Und Purzelchen,<br />
das weiß ich, mag keinen Rap.<br />
In dieser Nacht schlafe ich zum ersten Mal auf der Straße.<br />
Bevor ich mich unter meinen Pappkarton kuschle,<br />
schreibe ich, um Missverständnisse zu vermeiden, mit<br />
schwarzem Filzer noch schnell „Mein Name ist Hase…“<br />
drauf.<br />
Peter Schwendele<br />
Geb. 19<strong>65</strong>. Lebt und arbeitet als Journalist im südbadischen<br />
Schopfheim. Zahlreiche Veröffentlichungen von Kurzgeschichten<br />
in Literaturzeitschriften (u.a. Entwürfe, Lichtungen, <strong>etcetera</strong>) und<br />
Anthologien (u.a. „Rosa ist das Grau der Optimisten“ zum Würth-<br />
Literaturpreis 2011). Mehr unter www.peterschwendele.de<br />
Saralisa rammelt.<br />
Die Uni fordert mich total. Was die alles verzapfen.<br />
Saralisa rammelt.<br />
Rabindranath meint, er könne mir keinen anderen Stall<br />
zuweisen. Der bürokratische und logistische Aufwand einer<br />
solchen Aktion sei angesichts der Fülle der Aufgaben,<br />
die er in diesem riesigen Komplex zu bewältigen habe,<br />
einfach nicht zu leisten.<br />
Saralisa rammelt.<br />
Echt keinen Bock, schon wieder spazieren zu gehen.<br />
Saralisa!!!<br />
Langsam muss ich befürchten, dass wir beide – aus unterschiedlichen,<br />
aber nicht voneinander zu trennenden<br />
Gründen - unser Studium vernachlässigen, und so bin<br />
ich zu guter Letzt gezwungen zu handeln. Listig bitte ich<br />
Mojo-Minzi, hinten bei den Containern Heimatlieder aus<br />
aller Welt zu rappen. Das zieht, wie erwartet, und als die<br />
Stallbewohner sich lauschend rund um die begnadete<br />
Sehen, Fühlen, Begreifen/Esche 1991©Gotthard Obholzer<br />
Prosa
26 Holz|Oktober 2016<br />
Stefan Reiser<br />
Warum mein Freund Alexander das Funkhaus verkauft<br />
Prosa<br />
Dass der Alex sein Funkhaus verkauft, ist meine Schuld. Ja,<br />
Sie lesen richtig: Meine Schuld, denke ich, nein, ich weiß es<br />
aus sicherer Quelle, aus allererster Hand genaugenommen,<br />
dass es sich eben nicht so verhält, wie von allen Seiten behauptet<br />
wird, nein, der Verursacher allen Übels bin ich, der<br />
Hauptschuldige: ich, niemand anderer; aber von vorn: Anlässlich<br />
der Hörspielgala im Radiokulturhaus ergab es sich,<br />
dass ich nebenan, im Radiocafé, jemanden kennenlernte.<br />
Sie hatte plötzlich neben mir gestanden und mir zugelächelt<br />
- nicht so, wie Sie denken, und zu meinem Bedauern<br />
nicht aus dem Grund, den ich mir gewünscht hätte, sondern,<br />
wie sich herausstellen sollte, aus einem anderen, weniger<br />
schmeichelhaften, um nicht zu sagen hinterhältigeren, aber<br />
lassen wir das -, jedenfalls konnte ich nicht anders, als sie<br />
anzusprechen. Sofort war ich berauscht von ihrem Witz und<br />
der Schlagfertigkeit, mit der sie meine leicht durchschaubaren<br />
Annäherungsversuche konterte. Habe ich schon erzählt,<br />
dass sie schulterlange, dunkelblonde Haare hatte und<br />
ein schwarzes Kleid trug? Nein? Tut nichts zur Sache, aber<br />
meine Erinnerung wird dadurch lebendiger. Ich beantwortete<br />
ihr, die sie - was für ein glücklicher Zufall! - ebenfalls<br />
Ambitionen hatte, Hörspiele zu schreiben, eine Frage: Eine<br />
persönliche Verbindung, eine Freundschaft zu einem der<br />
Ausgezeichneten sei der Grund für meine Anwesenheit. Sie<br />
blickte zu ihm hinüber, dann drückte sie mir ihr leeres Glas in<br />
die Hand. Nachdem ich für weitere Getränke gesorgt hatte,<br />
schlug sie vor, die Runde zu vergrößern und mit den anderen<br />
anzustoßen. Ich winkte - arglos, wie ich war - meinen Freund<br />
herbei, der mir und ihr (also uns!) nicht gefährlich werden<br />
würde - ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte. Kaum hatte<br />
ich sie ihm vorgestellt, war sie für mich verloren. Nach einer<br />
Weile nutzlosen Rumstehens verließ ich die Szenerie.<br />
Ob ich das einfach so auf mir sitzen ließ? Nein, ich habe<br />
natürlich sofort den Alex angerufen und ihm alles erzählt!<br />
Weil welche Verbindungen der Alex hat, muss ich Ihnen nicht<br />
sagen. „Den Hörspielpreis kann sich dein Freund, also dein<br />
ehemaliger Freund, sonstwo hinstecken“, hat der Alex gleich<br />
gesagt, „der wird von keinem einzigen Sender im deutschen<br />
Sprachraum je wieder einen Auftrag bekommen - und die<br />
Möchtegern-Autorin, das wäre ja gelacht, nicht mal mehr ein<br />
Praktikum. Die werden sehen, wo der Hammer hängt.“ Genau<br />
das waren damals seine Worte.<br />
Kann sein, dass ich, während ich meinem Ärger Luft verschaffte,<br />
etwas übers Ziel hinausschoss, und, einmal in Rage,<br />
ebenso das Radiocafé, womöglich auch die Hörspielgala und<br />
den Großen Sendesaal, also gleich (und völlig zu Unrecht)<br />
die ganze Veranstaltung und alle Räume des Gebäudes in<br />
einem schlechten Licht erscheinen ließ. Das wollte ich nicht.<br />
Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass der Alex wegen dieser<br />
Geschichte das Radiocafé mitsamt dem Funkhaus gleich<br />
zum Verkauf ausschreiben würde! Wie kann ich das jetzt wiedergutmachen?<br />
Stefan Reiser<br />
Geb. 1981 im Innviertel, lebt/arbeitet als Autor und Theatermacher<br />
in Wien/Oberösterreich. Studium der Theater-, Film- und<br />
Medienwissenschaft; Mitglied der GAV. Publikationen in Literaturzeitschriften<br />
(Rampe, Landstrich, Wienzeile, kolik, Sterz, <strong>etcetera</strong>,<br />
Driesch) und Anthologien (u. a. Facetten, JENNY). Mehrere<br />
Auszeichnungen, darunter Einladungen ans Staatstheater Mainz<br />
(2011) und zur Wiesbadener Theaterbiennale (2012), sowie das<br />
DramatikerInnen- und das Romstipendium des Bundeskanzleramtes<br />
(2016). www.stefanreiser.com<br />
Begegnung/Akazie 2016 ©Gotthard Obholzer
Holz|Oktober 2016<br />
27<br />
Doris Kloimstein<br />
Dünnbrettbohrer<br />
Minidrama<br />
Personen:<br />
Er: Heimwerker, ca. 40 Jahre alt, Beruf unbekannt<br />
Sie: Partnerin des Heimwerkers, etwas älter, Sekretärin in<br />
einer Spedition<br />
Hund: Rüde, Alter unbekannt, große Statur, von Rasse<br />
spricht aus Gründen der politischen Korrektheit niemand<br />
Ort: Diele eines Hauses<br />
Zeit: Gegenwart<br />
Er: Kannst du bitte den Hund nehmen?!<br />
Sie: Dein Hund, nicht meiner.<br />
Er: Geh, bitte! Er ist mir da im Weg.<br />
Sie: Dein Problem<br />
Er: Ich arbeite da für uns, in unserem Haus.<br />
Sie: Ah, unser? Noch ist das mein Haus.<br />
Er: (versucht den Hund zu verscheuchen, während er mit<br />
Fußbodenbrettern hantiert) Die ganze Arbeitsleistung der<br />
Sanierung habe bis jetzt ich hier eingebracht.<br />
Sie: Wenn wir Professionisten genommen hätten, wäre<br />
schon längst alles fertig.<br />
Er: Ich arbeite ordentlich, sorgfältig und kostengünstig.<br />
Sie lacht zynisch.<br />
Der Hund beißt in ein Bodenbrett.<br />
Er: Jetzt nimm doch endlich den Hund!<br />
Sie: Der Köter folgt niemandem.<br />
Er: Du hast den Hund so verzogen, seit wir beisammen sind.<br />
Sie: (nun bereits sehr gereizt) Ah, interessant! So siehst du<br />
das!<br />
Er will antworten.<br />
Sie lässt ihn nicht zu Wort kommen.<br />
Sie: Sag jetzt besser nichts!<br />
Er versucht zwei Bodenbretter ineinander zu schieben.<br />
Sie versucht endlich den Hund einzufangen.<br />
Er: Scheiße! Es geht sich nicht aus.<br />
Sie: (lässt den Hund wieder los) Was?<br />
Er: Ums A… geht es sich mit den Bodenbrettern nicht aus<br />
– zu wenig!<br />
Sie: Typisch! Bei dir hapert es an der Logistik. Wenn wir in<br />
der Spedition so planen täten!<br />
Der Hund knurrt sie an.<br />
Er: Ha! Recht hat er, der Hund!<br />
Sie: Gut! Nimm den Hund und schleich dich, du Dünnbrettbohrer!<br />
Er tut, was sie ihm befohlen hat.<br />
Damit endet das Drama, das somit eigentlich keines ist.<br />
Es hat sich gar nicht entwickeln können, das Stück.<br />
Schade für den/die Schriftstellerin und den/die Leser/in.<br />
Doris Kloimstein<br />
Geb. 1959 in Linz, verwurzelt in Innsbruck; lebt und arbeitet in St.<br />
Pölten als Pädagogin, schreibt Lyrik, Prosa, Dramatisches; zahlr.<br />
Preise/Stipendien, u.a. Literaturpreisträgerin des Landes NÖ; Förderpreis<br />
für Wissenschaft und Kunst der Landeshauptstadt St. Pölten;<br />
war mal Obfrau der Litges St.Pölten und Mitbegründerin von @<br />
cetera; Ehrung um Verdienste für die Colônia Tirol durch den brasilianischen<br />
Bundesstaat Espirito Santo; Mitglied im P.E.N.-Club, zur<br />
Zeit Generalsekretärin des Österr. P.E.N.; Literarisches u.a.: Kleine<br />
Zehen. Erzählung.- Edition die Donau hinunter, 2004; Blumenküsser.<br />
Kurzgeschichten aus dem Atlantischen Urwald Brasiliens.- Edition<br />
Innsalz, 2006; Paganini und die Überschwemmten von Saint-Etienne.<br />
2004; zahlr. Lyrikvertonungen: zuletzt: Lazarus und sein Esel.<br />
Ein kleines, heiteres Singspiel über das ewige Leben in einem Aufzug.<br />
Musik: Balduin Sulzer.<br />
Kundalini/Zirbe2015 ©Gotthard Obholzer<br />
Prosa
28 Holz|Oktober 2016<br />
Wolfgang Mayer König<br />
Aus gutem Holz<br />
Aus gutem Holz,<br />
dem Wind flammenfoermig folgen,<br />
während delikate Zypressen<br />
an die reizvollsten Stellen verteilt<br />
zum Himmel ragen,<br />
Sonne fernab festgeschnallt<br />
in die Spirale der Wolken.<br />
Beschirmt von den<br />
schimmernden Pinien,<br />
die sich über uns beugen,<br />
diese noblen und begehrenswerten<br />
Gestalten,<br />
in die Seelen eingebracht scheinen.<br />
Jedes Blätterkleid jedes Nadelkleid,<br />
das sie tragen,<br />
wird zur anziehenden Tracht,<br />
mit der sie sich im Wind wiegen,<br />
im Sturm tanzen,<br />
wild und zerbrechlich.<br />
Die Vornehmheit solcher Bäume<br />
liegt nicht nur in ihrer dunklen Autorität,<br />
ihrer flexiblen Gestalt,<br />
sondern auch in der Art ihrer<br />
unbekümmerten Fügung.<br />
So ermöglichen sie,<br />
dass wir ein- und ausgehen<br />
im Zypressenhain unserer Gedanken,<br />
dass wir uns kühlen in ihrem Schatten,<br />
dass wir unter Bäumen schlendern<br />
ohne Unterlass,<br />
dass unsere Seele sich niederlasse<br />
auf Bäumen, die wir selbst geplanzt,<br />
und dass wir uns erfreuen<br />
am guten Holz unserer Gedanken.<br />
Lyrik<br />
Biografie siehe Seite 15<br />
Aufarbeiten eines Baumes©Gotthard Obholzer
Holz|Oktober 2016<br />
29
30 Holz|Oktober 2016<br />
Said<br />
furchtsame götzen<br />
übergossen mit seide<br />
beäugen aus ihrem versteck<br />
ob das brennholz für einen gott reicht<br />
während sich die bebenden in den staub werfen<br />
bis der blinde gehorsam sie berührt<br />
pfähle dienen hinfort dem gesetz<br />
holt dann das gebet die kulisse ein?<br />
Bernadette Sarman<br />
Das Fleisch der Erde<br />
Das Fleisch der Erde steht vor dir,<br />
du legst deine Hände auf die raue Haut und spürst<br />
durch deine Finger<br />
den Pulsschlag des Herzes.<br />
Du atmest das Kohlenstoffdioxid des Baumes ein und lebst,<br />
während das Fleisch deins zum Atmen braucht.<br />
Deine Hände berühren etwas Klebriges,<br />
Blut, das von der furchigen, ledrigen Haut heruntertropft,<br />
honigfarbene Tränen.<br />
Fasst dir schulbewusst an den Hals, an welchem versteinertes<br />
Blut im Spätabendsommerlicht funkelt.<br />
Denkst an den bis zur Perfektion geschliffenen Mahagoniesstisch<br />
in deinem Speisesaal,<br />
an deine gewaltige, weitumfassende Bibliothek mit über tausend<br />
Folianten, die seit über hundert Jahren dort ruhen und<br />
schweigend auf das faulende Ende ihres Daseins warten.<br />
Lyrik<br />
Said<br />
Geb 1947 in Teheran und kam 19<strong>65</strong> nach München. Nach dem<br />
Sturz des Schah 1979 betrat er zum ersten Mal wieder iranischen<br />
Boden, sah aber unter dem Regime der Mullahs keine Möglichkeit<br />
zu einem Neuanfang in seiner Heimat. Seither lebt er wieder im<br />
deutschen Exil.<br />
Vielfache Auszeichnungen: 1992, Civis-Hörfunkpreis; 1996, Preis<br />
der Stadt Heidelberg „literatur im exil“; 1997, Stipendium Villa Aurora<br />
(Los Angeles, USA); 1997, Hermann-Kesten-Medaille; 2002<br />
Adelbert-von-Chamisso-Preis; 2006, Goethe-Medaille. 2010, Litraturpreis<br />
des Freien Deutschen Autorenverbands. 2014, Verdienstkreuz<br />
am Bande. 2016, Friedrich-Rückert-Preis. www.said.at<br />
Werke: mukulele. ein märchen mit bildern von katharina grossmann-hensel.<br />
2007 (auch auf Chinesisch) psalmen. 2007 (auch<br />
auf Französisch, Englisch und Griechisch) der engel und die tauben<br />
(erzählungen). 2008 das haus, das uns bewohnt. 2009 ruf<br />
zurück die vögel(gedichte). 2010 das niemandsland ist unseres<br />
(essays). 2010 ein brief an simba (mit bildern von gabriele hafermaas).<br />
2011 hans mit der hütte (mit bildern von maren briswalter).<br />
2012 parlando mit le phung. 2013 schneebären lügen nie (mit bildern<br />
von marine ludin). 2013 (auch auf Japanisch) auf der suche<br />
nach dem licht(gedichte) 2016.<br />
All die Bücher, die auf deinem Nachttisch ruhen, weil Mitternachtslektüre.<br />
An das Feuer, das jeden Abend im Kamin lodert und dämonisch<br />
nach dem Fleisch der Erde leckt, das schreit und<br />
sterbend sein letztes Quäntchen Sauerstoff aushaucht,<br />
das dein Kohlenstoffdioxid ist.<br />
So zerstören wir uns,<br />
schlachten das letzte Stück Fleisch der Erde aus unserer<br />
Umgebung und vernichten uns selbst.<br />
Halten uns ein Gewehr an den Kopf und drücken ab.<br />
Und wir merken es nicht.<br />
Bernadette Sarman<br />
Geb. 2001. Geht derzeit ins Gymnasium Sacré Coeur Wien. In<br />
ihrer Freizeit schreibt sie oft und gerne und besucht auch ab<br />
und zu das Literaturhaus in Wien. Mitgründerin des Blogs „Buchstapelsalat”.
Holz|Oktober 2016<br />
31<br />
Alexander ESTIS<br />
Einheit<br />
Inhalt und Form, sagst du mir stolz,<br />
Einst du in deinen Wälzern.<br />
Wie wahr: Die Blätter sind aus Holz,<br />
Die Sprache auch ist hölzern.<br />
Wärme<br />
Ein Dichter hat mir jüngst so innig vorgeschwärmt:<br />
Wie uns Literatur bisweilen doch erwärmt!<br />
Wahr, dachte ich, als ich die große Wärme spürte,<br />
Die sein Roman in meinem Ofen produzierte.<br />
Alexander ESTIS<br />
Geb. 1986 in Moskau. Studium der Latinistik und Germanistik.<br />
Lehrte Ältere Deutsche Literatur und Sprachgeschichte an verschiedenen<br />
Universitäten; derzeit an der Universität Zürich. Autor<br />
wissenschaftl. Aufsätze, dichterischer Übersetzungen und essayistisch-literarischer<br />
Arbeiten. Zuletzt erschienen: Sprüche des<br />
Russen in Lichtungen 146 (2016).<br />
Klaus Roth<br />
nacht<br />
im traum knarren<br />
die alten eichenstufen<br />
als ob da einer nach oben geht<br />
vielleicht ein wiedergänger<br />
vielleicht ich selbst<br />
als ob da einer nach oben geht<br />
auf den dachboden der erinnerung<br />
um all die vergessenen kisten zu öffnen<br />
mit den fotoalben schulheften poesiealben<br />
märchenbüchern kinderzeichnungen<br />
und sich zu verlieren in fernen welten<br />
am dorfrand<br />
das endlose unkraut<br />
der rost der gleise<br />
und die risse<br />
im holz der schwellen<br />
der bahnhof<br />
seit jahren<br />
verfallen<br />
und vergessen<br />
ich lege das ohr<br />
auf die schlafenden schienen<br />
und lausche in die vergangenheit<br />
später entdecke ich<br />
auf dem vergilbten fahrplan<br />
alte wahrheiten über abschiede<br />
und neue begegnungen<br />
Begegnung/Ahorn©Gotthard Obholzer<br />
Klaus Roth<br />
Geb1957, Übersetzer literarischer und kunstwissenschaftlicher<br />
Texte, Autor und bildender Künstler in München. Bild und Textbeiträge<br />
in Anthologien und Literaturzeitschriften.<br />
Auszeichnungen/Stipendien: Diploma di Merito / Premio „Città di<br />
Napoli“ (Accademia Internazionale Partenopea Federico II), Neapel<br />
2011 Autorenwerkstatt des Lyrik-Kabinetts München, 2005/2006<br />
Lyrik
32 Holz|Oktober 2016<br />
Kovanda Nicole<br />
Waldrauschen<br />
Ich gehe zur Arbeit, hatte er gesagt. Immer wieder gehe er<br />
zur Arbeit.<br />
Die Forstwirtschaft sei ein altes, ehrenwertes Gewerbe,<br />
hatte er gesagt, und er sei stolz darauf, die vom Sturm geknickten<br />
Bäume wegzuschaffen und das Dickicht zu lichten,<br />
damit die Jungbäume gesund wachsen konnten.<br />
Stolz und Pflichtbewusstsein, hatte er gesagt, das wären<br />
seine Begleiter auf den Weg in den Wald, wenn er seine<br />
harte Arbeit verrichtete. Erfüllung und Befriedigung würde<br />
er verspüren.<br />
Denn in der heutigen Zeit von Umweltverschmutzung und<br />
Computer gesteuerten Menschen, so hatte er gesagt, gehöre<br />
er zu der aussterbenden Art der Naturfreunde, deren<br />
Lebensinhalt die Erhaltung und Nachhaltigkeit war.<br />
Kräftige Arme, kräftige Beine und eine wind- und sonnengegerbte<br />
Haut. Große, starke Hände, die zupacken konnten.<br />
Und sie liebte ihn genau dafür. Für seine Kraft und seinen<br />
Stolz jeden Tag in den Wald gehen zu müssen, um das zu<br />
bewahren, was langsam verschwand.<br />
Sie liebte den Duft nach Moos und Holz in seinem Haar.<br />
Sein zufriedenes Gesicht, wenn er nach getaner Arbeit<br />
nach Hause kam. Seine Geschichten über Borkenkäferund<br />
Pilzbefälle, während sie seine harzverkrusteten Hosen<br />
wusch und seine moschusgetränkten Hemden bügelte.<br />
Deshalb liebte sie ihn, deshalb hatte sie ihn geheiratet und<br />
deshalb war sie glücklich.<br />
Ich gehe zur Arbeit, hatte er gesagt. An jenem Tag, als er<br />
seine Thermoskanne, die sie ihm immer richtete, vergessen<br />
hatte. Sie war ihm nachgeeilt, durch den Wald, das<br />
Unterholz, bis hin zu der alten Blockhütte, die er als Geräteschuppen<br />
nutzte.<br />
Und dort konnte sie es sehen, seine Erfüllung und Befriedigung,<br />
durch das kleine Fenster. Zierlich und blond gelockt;<br />
weiße Haut, die sich an seiner gegerbten rieb. Er durchforstete<br />
sie, lichtete sie, fällte sie bis sie sturmgebeutelt<br />
umknickte.<br />
Seine Frau wurde ebenso vom Sturm gebeutelt. Sie hatte<br />
er nie so nachhaltig gefällt.<br />
Ich gehe zur Arbeit, hatte er gesagt. Immer wieder gehe er<br />
zur Arbeit.<br />
Eine Arbeit, die er liebte und die ihn erfüllte. Und sie hatte<br />
ihn dafür geliebt.<br />
Im Rauschen des Waldes ging sie nach Hause und wartete.<br />
Er kam wie immer pünktlich, in seinem moschusgetränkten<br />
Hemd und den harzverkrusteten Hosen.<br />
Auch in dieser Nacht lagen sie nebeneinander. Er schlief<br />
und roch nach Moos und Fichten. Sie hörte das Rauschen<br />
des Waldes, das Tosen des Sturms, noch immer in ihr hallen.<br />
Ich gehe zur Arbeit, sagte er am Morgen und verließ das<br />
Haus. Sie folgte ihm mit der Axt<br />
Nicole Kovanda<br />
Geb. 1981 in Wien, Büroangestellte. Veröffentlichung von Kurzgeschichten<br />
und Gedichten in Anthologien und Literaturzeitschriften.<br />
Absolventin der Leondinger Akademie für Literatur<br />
2010/2011 und Teilnahme an der Master Class 2012 des Vereins<br />
für neue Literatur in Krems. Leitung von Workshops für Kreatives<br />
Schreiben, Kurzprosa und Gedichte. nicole-lovanda.jimdo.com<br />
Prosa<br />
Klangbaum mit eingewachsenem Eisenhaken/2014©Gotthard Obholzer
Holz|Oktober 2016<br />
33<br />
Andreas Schumacher<br />
Reinholds Gewalttaten<br />
Warum ich voll Freude das Stuhlbein zersägte,<br />
Pianos zerlegte und Zweige zerschnitt?<br />
Warum ich den Förster des Landes verbannte,<br />
Fagotte verbrannte und Faune verstieß?<br />
Warum ich beim Vesper die Bretter entwandte,<br />
Gitarren entmannte und Espen entging?<br />
In der Gummizelle frag ich<br />
mich, was ich mir dabei dachte,<br />
Eli S. Solaris<br />
E/INGEHOLZTES ZELT<br />
a schiges enttropft<br />
den gesichtern<br />
aus papierglut<br />
in deren haut<br />
sich farben<br />
bleich.....winden<br />
bis eingeknitterte<br />
stunden ihre worte<br />
atmen und die<br />
weiße see erblüht<br />
doch bohren sie, weshalb ich’s machte,<br />
aus Bosheit, Neid, verletztem Stolz?<br />
So sag ich „Schrank“ und schrei heraus:<br />
„Aus abgrundtiefem Fass auf Holz!“<br />
Andreas Schumacher<br />
Geb.1981 in Bietigheim-Bissingen, lebt in Walheim und schreibt<br />
Lyrik und Prosa. Zuletzt erschien „Die Zeckenbürstenkatzentreppe.<br />
Szenen und Erzählungen“ im Chaotic Revelry Verlag. www.<br />
andreasschumacherinfo.de<br />
im aufschmelzen<br />
des bleischattens<br />
dehnt sich die zeit<br />
nacht ist dem<br />
schreibfieber ein<br />
eingeholztes zelt<br />
F/EUER ERNEUERT<br />
d ie jahresringe<br />
sind dem<br />
dürstenden<br />
stamm<br />
eine....kreissäge<br />
hinter dem<br />
schweigen des<br />
bastes entflammt<br />
der harzwunde<br />
ihr entwässertes<br />
..........mark<br />
das grobjährige<br />
baumgesicht entbindet<br />
sich von seinem<br />
tüpfelkargen holzverband<br />
entrollt der verebbung<br />
der osmose über die<br />
Lyrik
34 Holz|Oktober 2016<br />
schattenkante<br />
des pulsblattes<br />
wo unterdruck<br />
tobt sedimentiert<br />
in holzstrahlen<br />
waldfinsternis<br />
in moosgrüne<br />
luftwurzeln<br />
flicht veraschtes<br />
sich seine<br />
borkige urne<br />
in der kernhölzer<br />
sich hinter<br />
zellwänden zu ruß<br />
.....verscharren<br />
nur feuergewaschenen<br />
treibt der nachglut<br />
reifholz<br />
neuen.......wassern zu<br />
Anmerkung der Autorin: Verkernung ist der Prozess, bei dem innere<br />
Wasserleitbahnen des Stammes unterbrochen werden und Zellen absterben.<br />
Das Holz innerer Schichten, das sich dadurch verfärbt, bezeichnet<br />
man als Kernholz. Verfärbt es sich nur insignifikant oder gar<br />
nicht, bezeichnet man es als Reifholz. Tüpfel sind Kanäle in der Sekundärwand<br />
der Pflanzenzelle, an denen Stoffaustausch stattfindet.<br />
knorriger<br />
verglaster donner<br />
aus frost und wahn<br />
verschlingt die<br />
wurzeln des mondes<br />
von der baumrinde<br />
die mich...... barg<br />
verholzt in der<br />
ungeborgenheit<br />
seiner eigenen<br />
sprossung<br />
unbewusst<br />
das blinde<br />
.............astauge<br />
Eli S. Solaris<br />
Geb. 1986 in Berlin, lebt in London, Wien und Hong Kong. Doktorandin<br />
in Synthetischer Biologie, forscht an Entwicklung neuer<br />
Krebswirkstoffe. Studium an ETH Zürich, Harvard und Imperial<br />
College London, mehrere Auszeichnungen. Arbeitet in Think-Tank<br />
für Zukunftstechnologien und erstem Roman. „Dunkle Energie“,<br />
Seitenstechen #2 (Homunculus Verlag) im Druck.- „Superpreis-<br />
Anthologie“ (Metamorphosen, Das Prinzip der sparsamsten Erklärung,<br />
Verbrecher Verlag) - „Neue Wege“ Anthologie (Sperling).<br />
B:LINDEN AUGES SPROS-<br />
SUNG (EXIL 83H.3)<br />
Lyrik<br />
l asse den<br />
staubigen tau<br />
zerfließen ins<br />
grüne toben<br />
der dornen<br />
vermische chaos<br />
mit den winden<br />
die meinen<br />
heckenhänden<br />
aus ihrer<br />
verwachsung<br />
steigen<br />
Medusa/Bronze 1987©Gotthard Obholzer
Holz|Oktober 2016<br />
35<br />
Marco Frohberger<br />
Symptome<br />
„Auf dem Holzweg”<br />
Das Leben ist ein sehr langer Weg.<br />
Agnes lief so langsam, als müsste sie sich jeden einzelnen<br />
Schritt genau überlegen. Sie war den ganzen Tag nicht<br />
draußen gewesen und zögerte, bis es nicht mehr ging. Ihre<br />
Streifzüge durch das Gelände der Stadt waren Versuche,<br />
das Zurückliegende abzuschütteln. Versuche. Unter den<br />
Schatten der schweren, grünen Linden war sie gelaufen,<br />
vorbei an langen Reihen aus Tischen und Stühlen, jede<br />
Menge Leute. Gelächter, Stimmen, die in der Hitze zerblätterten.<br />
Den Lärm aufnehmend war sie mit den Händen in<br />
den Taschen der viel zu warmen Jacke, stur und scheinbar<br />
einem unbekannten Ziel zustrebend, gleich weiter gelaufen.<br />
Die Geräusche des Sommers: die Brise, der Staub in den<br />
Straßenrinnen und das Geplärre, und schließlich die Kinder.<br />
Agnes verkrampfte dann immer und hielt die Luft an und<br />
schleppte sich rasch zurück in ihre Straße, um dort auszuatmen.<br />
Die Kinder. Sie war eine Frau, die niemand sah<br />
in ihrem schmutzigen Anorak, den langen, fettigen Haaren,<br />
den Pantoffeln, in denen ihre kleinen, schwieligen Füße<br />
steckten, ihre Beinchen, dünnen, weißen Stecken gleich,<br />
und dann der Blick, der in die Sehnsucht hineinglitt, das<br />
Sehen in die Weite, das Wünschen.<br />
Kurz darauf verschwand Agnes im alten Haus in der Fehrbelliner<br />
Straße, in der sie aufgewachsen war. In der Straße,<br />
in der sich über die Jahrzehnte nichts geändert hatte.<br />
Ihre Wohnung lag in einem aus den Trümmern der Nachkriegszeit<br />
wieder aufgebautem Haus mit hohen Decken<br />
aus Stuck, verwinkeltem Hinterhof, einem großen Keller<br />
mit einer Kohleschütte. Agnes zog sich am gusseisernen<br />
Geländer das Treppenhaus hoch. Der Putz bröckelte, kleine<br />
Wunden, die dem Haus das Herrschaftliche entzogen.<br />
Das Haus verrottete zusehends. Diese ganze Atmosphäre<br />
hatte sich im Haus verhärtet, als wäre es schon verloren.<br />
Agnes zählte die Jahre ihres Lebens, das in den hauchdünnen<br />
Schichten Farbe steckte. Sie wusste, dass das Haus<br />
viele Leben beherbergt hatte und der Eindruck, als wäre<br />
der zweite Weltkrieg noch nicht vorbei, noch nachwirkte.<br />
Agnes glaubte, dass auch ihr Leben irgendwann in diesen<br />
Wänden verschwand.<br />
Im obersten Stockwerk sperrte sie die Wohnungstüre auf.<br />
Sie rief in den Flur, dass sie wieder zurück sei, aber da war<br />
nur die Stille. Langsam schloss Agnes hinter sich die Tür<br />
und legte ihre Jacke ab. Auf der Anrichte deponierte sie<br />
den Schlüssel, neben einem überquellenden Aschenbecher<br />
und einer leeren Milchflasche, in der vertrocknete Tulpen<br />
ihre Köpfe hängen ließen. Die verschüttete Asche gab ihr<br />
das vertraute Gefühl, als wäre noch jemand hier. Agnes lief<br />
zuerst in ihr altes Kinderzimmer, das nun von ihrer Tochter,<br />
Aline, bewohnt wurde. Die Zimmertüre kratzte über den<br />
Dielenboden und verdrängte kurz die Stille, dann war das<br />
Fenster zu hören, das sie öffnete, frische Luft, ein kaum<br />
hörbares Schlurfen über den Boden, Gekicher, dann kam<br />
Agnes wieder zurück und ging in die Küche.<br />
Dort, wo außer einem Holztisch, drei Stühlen, von denen einer<br />
kürzere Beine hatte, und einem offenen Schrank nichts<br />
war, holte sie aus dem Schrank ein Glas getrocknete Tomaten,<br />
eingepackten Toast, aus dem Kühlschrank Schinken,<br />
Gurken und etwas Käse. Sie reihte alles auf dem Holztisch<br />
auf, wie sie es hervorholte, goss ein Glas Leitungswasser<br />
ein, machte noch eine Packung Zigaretten auf und setzte<br />
sich. Umständlich fischte sie zwei oder drei getrocknete<br />
Tomaten auf einen Teller, biss von einer ab und schnitt den<br />
Käse. Nebenher zündete sie sich eine Zigarette an. Dann<br />
horchte sie in die Räume hinein. Sie wusste noch genau,<br />
wie es früher gewesen war, als Mutter heißes Wasser für<br />
den Tee aufgesetzt und den Esstisch hergerichtet hatte,<br />
bevor der Vater von der schweren Arbeit zurückgekehrt<br />
war, sich mit rußgeschwärzten Händen an den Küchentisch<br />
setzte, um sich eine Zigarette anzustecken. Niemand hatte<br />
etwas gesagt. Vaters Blick war dann immer starr geradeaus<br />
aus dem Fenster in den Hof gegangen, als würde dort<br />
etwas warten, das nur er sehen konnte. Zusammen waren<br />
alle am Küchentisch gesessen, der Tee dampfte, das Brot<br />
gerade so dick aufgeschnitten, dass es noch für den Rest<br />
der Woche reichte, der Tee gestreckt, weil er teuer war, und<br />
die Worte gedämpft, weil der Lärm der Maschinen ihn irgendwann<br />
hatte wahnsinnig werden lassen. Nachdem der<br />
Vater zum Waschen gegangen war, hatte die Mutter gesagt,<br />
lass dir mal gesagt sein, Agnes, wenn wir tot sind, wird das<br />
alles einmal dir gehören. Da hatte Agnes nicht gewusst,<br />
dass sie nichts hatte.<br />
Mit der Zeit wechselte das Licht, die Schatten wurden länger,<br />
über den Himmel zogen schwere Wolken. Die Stille der<br />
Wohnung wurde bald zu einem Dröhnen und war nicht einmal<br />
mehr als Vorstellung möglich.<br />
Die Finsternis. Agnes war aufgestanden und ins Kinderzim-<br />
Prosa
36 Holz|Oktober 2016<br />
Prosa<br />
mer gelaufen. Gepolter, das Fenster wurde geschlossen,<br />
dann wieder Gekicher. Der Geruch der Tage, Wochen, der<br />
unter der Zimmertür hervorkroch, der mit ihr schlief, der sie<br />
morgens zuerst weckte und der überall war, in allen Räumen.<br />
Sie konnte ihn sehen, sie konnte ihn nicht nur mehr<br />
riechen. Agnes schloss die Kinderzimmertüre und löschte<br />
das Licht in der Küche. Das machte sie immer, setzte sich<br />
ans Fenster, wenn die Luft noch angenehm war vom Tag,<br />
die Ruhe sich über der Stadt ausbreitete, die Lichter in den<br />
anderen Wohnungen die Nacht nicht ganz Schwarz ließen.<br />
Agnes hielt dann inne, horchte, nahm die Stimmen aus den<br />
Nachbarwohnungen auf, überlegte, wie das Leben der Anderen<br />
war. Links unten, im ersten Stock, sah sie der Familie<br />
zu, wie sie am Küchentisch miteinander aßen, redeten,<br />
gemeinsam aufräumten. Die Sehnsucht nach einem Leben<br />
aus den anderen Wohnungen war zu einer anderen Form<br />
von Überleben geworden.<br />
Draußen wurde es ruhiger. Über den dunklen Asphalt fuhren<br />
jetzt nur noch wenige Autos. Auf den Balkonen gegenüber<br />
wurden Blumen gegossen, das Wasser tropfte. Der<br />
Abend war ein Summen. Ganz allmählich ließ die Wärme<br />
nach. Aber das machte nichts. Agnes zog dann ihr Nachtkleid<br />
über, so wie sie es von ihrer Mutter geschenkt bekommen<br />
hatte und ging noch einmal in das Kinderzimmer. Mit<br />
langsamen Schritten stakste sie über den Dielenboden, sie<br />
kannte die Stellen, an denen er nicht lärmte. Es brannte nur<br />
das Nachtlicht. Im Halbdunkel suchte Agnes den Weg zum<br />
Kinderbett. Ihr früheres Zimmer. Sie hatte nicht viel geändert,<br />
die Tapeten, die Farbe, die schweren Möbel waren die<br />
gleichen geblieben. Das Zimmer erschien ihr so klein, alles<br />
war klein, das Bett, der Stuhl, der Tisch, der irgendwann<br />
rot gewesen war. Aline lag im Bett. Im rosaroten Licht des<br />
Nachtlichts sah ihr Gesicht seltsam starr aus. Aufmerksam<br />
fuhr Agnes über das Köpfchen, strich durch das Haar. Sie<br />
spürte auf einmal die Stille von solcher Heftigkeit, dass<br />
nichts mehr ging. Es war, als würden ihr die Bedeutungen<br />
aller Dinge plötzlich verborgen bleiben. Als würde sich alles<br />
auflösen, zu einer anderen Form zusammenfinden und<br />
wieder einen neuen Sinn ergeben. Sie stand auf und ging.<br />
Agnes machte Licht im Badezimmer und sah ihr Gesicht.<br />
Die Schatten unter den Augen und das Dunkle darin, die<br />
hohe Stirn und die gegerbte Haut, als reibe die Zeit wie ein<br />
riesiger Schleifstein an ihrer Oberfläche. Sie sah auf ihre<br />
Hände herab, drehte das Wasser auf und spülte sich unter<br />
Schmerzen die Haare aus den Fingern, die der Tochter ausgegangen<br />
waren.<br />
Agnes schlief nicht. Sie schlief nie. Die Nacht war ihr wie<br />
ein Raum, den sie nicht verließ. Nur ins Kinderzimmer ging<br />
sie immer wieder, immerzu. Eine stetige Unruhe, von der<br />
sie getrieben, am Ende immer sentimental und nachdenklich<br />
zurück blieb. Als könnte es ihre letzte Nacht gewesen<br />
sein.<br />
Agnes war schon müde. Immer wenn sie sich ins Bett legte,<br />
die Augen schloss, begannen die riesigen, unter Schmerzen<br />
heranwehenden Formen der Dunkelheit sich über ihrem<br />
Horizont zu bewegen. Ein unkenntliches Gesicht, eine<br />
in die Stille hineinschneidende Stimme, schrill, obskur.<br />
Agnes sprang dann immer auf und lief ins Kinderzimmer.<br />
Die Wohnung war ruhig in den Nächten. Eine Insel im<br />
nichts, die dahin trieb auf einem See ohne Ufer. Das Küchenfenster<br />
zum Hof stand weit offen. Wenn alles ruhig<br />
war, die Geräusche sie verlassen hatten, ein dunkler, fingerdünner<br />
Streifen über ihrem Kopf im Himmel, wenn sie<br />
ihn aus dem Fenster steckte, sah Agnes auf ihr Leben, das<br />
sich aus leichten Brüchen zusammensetzte und die Narben,<br />
kleine Erhebungen unterschiedlicher Größe und Form,<br />
zu Symptomen verwachsen waren, die ihr zeigten, dass alles<br />
kleine Möglichkeiten waren, deren Kraft, nach ihnen zu<br />
greifen, nie gereicht hatte.<br />
Noch eine Weile war ihr Blick hinaus gegangen, während<br />
über ihr der Himmel langsam aufklarte. Auf der anderen<br />
Seite, der Straßenseite, erloschen die Laternen. Die Schatten<br />
nahmen ab im zunehmenden Licht.<br />
Im Kinderzimmer zog sie die Vorhänge auseinander, öffnete<br />
das Fenster, ließ frische Luft ein, die schwere Luft raus,<br />
und rückte den Stuhl, auf dem sie nachts gekauert hatte,<br />
eingedenk der Sorgen und Beunruhigungen des jüngsten<br />
Morgengrauens, zurecht. Jetzt, im Hellen, kleine, gerahmte<br />
Zeichnungen von Aline. Dann setzte sich Agnes an den<br />
Bettrand, saß eine Weile so da in der Stille und betrachtete<br />
den kleinen Körper, die Wölbung unter der Decke, als verlor<br />
sich das Kind darunter. Agnes legte ihre Hand in die ihrer<br />
Tochter und sah über sie hinweg. Dann kniff sie die Augen<br />
ein wenig zusammen und wartete, bis es vorbei war. Agnes<br />
strich über das Köpfchen, durch das Haar und sammelte in<br />
stoischer Ruhe die neuen Büschel vom Kopfkissen zusammen.<br />
Anschließend war ihr Gang ins Bad wie mechanisch.<br />
Agnes setzte Teewasser auf, holte Milch aus dem Kühlschrank<br />
und aus einem Schrank etwas Müsli. In einer<br />
Schüssel rührte sie herum, lange, bis sie sich Löffel um<br />
Löffel in den Mund schaufelte.<br />
Der Himmel über der Stadt wurde blau. Agnes schlüpfte
Holz|Oktober 2016<br />
37<br />
aus ihrem Nachtkleid und zog sich die Jacke über, steckte<br />
die Hände in die Taschen. Schlüsselbund, Zigaretten, ein<br />
paar Münzen, mehr nicht. In ihren Pantoffeln ging sie hinaus.<br />
Draußen, die Landschaft, das stetige Summen der<br />
Welt. Sie ging langsam. Nie ging sie die gleiche Strecke.<br />
Mal waren die Tage verschwommen oder dunstig, dann wieder<br />
klar, der Boden war nass geschwitzt, die Hitze machte<br />
ihr zu schaffen. Sie lief ziellos durch die Stadt, schwankte,<br />
aber es interessierte niemanden, bis sie wieder zurückkehrte.<br />
Und wieder wartete sie auf die Nacht. Weit nach Mitternacht,<br />
vielleicht schon nahe am Morgengrauen, ging sie<br />
ins Kinderzimmer. Alles war jetzt nur noch mechanisch,<br />
wie schon alle Nächte zuvor. Im Halbdunkel glitt sie durch<br />
den Raum, tastete sich voran, wie Tausende Male schon, an<br />
Alines Bett. Agnes legte sich hinein, schmiegte sich an Aline,<br />
das war die zärtlichste Geste, weil nichts anderes mehr<br />
ging. Nichts konnte sie mehr sehen. Sie lag nur still da,<br />
wartete auf einen Moment, wartete darauf, dass sich etwas<br />
löste, in ihr. Eine Konstante, wie wenn man eine Verbindung<br />
kappt und dann alles tot ist.<br />
Die Erschöpfung. Noch bevor sie einschlief wusste sie,<br />
dass sie, wenn sie die Augen wieder aufschlug, wieder hier<br />
erwachen würde. Agnes schloss die Augen und tauchte ein.<br />
Agnes schlief ein.<br />
Marco Frohberger<br />
Geb. 1980 in Fürth, Bayern; studierte Belletristik. Kurzgeschichten<br />
(Prosa) in den Jahren 2005 bis 2008 in der Zeitschrift Kurzgeschichten<br />
veröffentlicht. Mit dem Titel Zeit im Jahr 2006 den<br />
Wettstreit der Literaturplattformen gewonnen, Wettbewerber aus<br />
Deutschland, Österreich und der Schweiz. Texte zum internationalen<br />
Antho? – Logisch! Literaturpreis 2016 im edition karo Literaturverlag,<br />
Berlin, 2016.<br />
Liegende/2015 Weide©Gotthard Obholzer<br />
Prosa
38 Holz|Oktober 2016<br />
Prosa<br />
Falk Andreas Funke<br />
Der Ofen<br />
Der Ofen! Wie er seinen Ofen liebt. Das gusseiserne Küchenschätzchen.<br />
Die wohlige, ja würzige Wärme, der<br />
Holzfeuerduft, der den Raum parfümiert. Nichts von dem<br />
Staubgeruch der Gaszentralheizung. Trocken und banal.<br />
Und Holzheizen ist ja noch mehr: Es beginnt schon im<br />
Wald mit dem Sammeln von Kiefernzapfen, von Reisig, von<br />
Holzresten, die nach Fällungen liegen bleiben. Da machen<br />
sich die Waldarbeiter nicht mal die Mühe, sie wegzuschaffen.<br />
Das übernimmt er: Ansgar Blömecke, der Resteverwerter,<br />
der Waldgänger, der Sammler. Er braucht keinen<br />
Sammelschein. Nur einen Rucksack. Er lässt sich halt nicht<br />
erwischen. Freut sich sogar am Kribbelgefühl, das seinen<br />
Bauchraum befällt, wenn er gegen die städtische Forstsatzung<br />
verstößt. Hat was von letzter Freiheit und allerletztem<br />
Abenteuer. Von Robin Hood-Dasein. Von Wilderei. Aber ja.<br />
Und dann, wenn die Ofenzeit kommt, kann er zusehen, wie<br />
die Flammen hinter der Glasscheibe lecken, sich hermachen<br />
über das Räuberholz. Das Feuer ist ein heißhungriges<br />
Tier, dem er, Ansgar Blömecke, die Scheite zum Fraß vorwirft.<br />
Ab durch die Luke, hinein ins Geflacker. Wie schnell<br />
und gierig das Feuertier erst mal das Nadelholz und die<br />
Kiefernzapfen verschlingt. Damit beginnt das Anfeuern.<br />
Und dann – schon gemächlicher – geht es ans Buchenholz.<br />
Mit dem Buchenholz lässt es sich Zeit. Überzieht es mit<br />
flachen, blauen Flammen. Ein Orientteppich aus Gas. Das<br />
ist Genießertum. Holzfeinschmeckerei. Ja, so ein Küchenofen<br />
ist schon ein anderer Schnack. Urwärme. So was wie<br />
Großmuttergemütlichkeit. Und seine Großmutter hat ja immerhin<br />
noch mit Kohlen geheizt. Erinnerungen machen so<br />
schön, machen so bittersüß melancholisch.<br />
Dass er sich hat breit schlagen lassen! Vom Freund. Vom<br />
fordernden Freund: wir müssen mal raus aus unseren Höhlen.<br />
Weg von der Alltagsstadt. Dem Winter entfliehen. Rein<br />
in den Sonnensüden. Malaga oder so. Und der Verkaufsmensch<br />
im Reisebüro hat diese Redewendung vom Winterentfliehen<br />
gleich übernommen. Da musste er, Ansgar Blömecke,<br />
unwillig schlucken. Er will gar nicht vor dem Winter<br />
fliehen. Gerade nicht vor dem Winter. Der Winter ist Ofenzeit.<br />
Wann soll man denn sonst das Holz verheizen? Und da<br />
zwingt man ihn, die Koffer zu packen? Um schon morgen<br />
schwerbeladen auf den Bahnhof gehen zu müssen? S-Bahn<br />
zum Flughafen. Dort Treffen mit dem Freund. Der ihn, den<br />
unwilligen Ansgar Blömecke, mit dem breitesten Lächeln<br />
empfängt. So sieht Vorfreude aus. Der Freund ganz euphorisch:<br />
Na, schauen wir heute Abend in einer Bar an der Sonnenküste<br />
den deutschen Wetterbericht und lachen uns in<br />
die Fäustchen?<br />
Er lacht nicht. Er hat sich breit schlagen lassen. Und wer<br />
breit geschlagen ist, dem ist nicht zum Lachen. Woher<br />
dieser Begriff des sich Breitschlagenlassens eigentlich<br />
kommt? Wahrscheinlich, das denkt er, von der Körperstrafe<br />
des Räderns. – Aber er will sich seinen Unmut nicht anmerken<br />
lassen. Will kein Spielverderber sein. Der Freund<br />
ist immerhin sein einziger Lebensmensch. Wenn er den<br />
nicht hätte! Dann hätte er keinen. Nur seinen Ofen. Und<br />
niemanden, mit dem er die Urwärme teilen könnte. Man<br />
unternimmt viel gemeinsam. Oder sitzt auch nur zuhause<br />
am Küchentisch. Und redet. Ohne den Freund könnte er,<br />
Ansgar Blömecke, mit keinem reden. Mit wem denn sonst?<br />
Dem Freund gegenüber will er den fröhlichen Mitreisenden<br />
geben. Aber fröhlich sieht anders aus. Irgendwie merkt<br />
man ihm sein Innenleben doch an. Glaubt er. Weiß er.<br />
Nun komm schon, sagt der Freund. Kannst ja mal zwei Wochen<br />
auf deinen Ofen verzichten. Der Freund nimmt den<br />
Ofen nicht ernst. In welchem Ton er von ihm spricht! Das<br />
O von Ofen pathetisch verlängert. Schön und gut, sagt er,<br />
(was soll das heißen, denkt Blömecke: schön und gut?),<br />
aber das Leben liegt im Erleben. Und dazu müsse man raus.<br />
In die weite Welt hinein. (Hänschen Klein, denkt Blömecke).<br />
Und zwar in den Süden. An der Uferpromenade stehen und<br />
atmen. Atmen, wie man es nur am Meer stehend kann. Der<br />
Freund sieht Blömecke an, als stünde er schon am Meer<br />
und als sehe er in Blömeckes Augen dem Wellentosen entgegen.<br />
Ein Anflug von Fernweh versetzt Blömecke einen<br />
Stich ins Herz. Keinen richtigen Stich, aber ein Stichlein.<br />
Das war der Moment, in dem er sich breitschlagen ließ.<br />
Und es bald schon wieder bereut. Am Meer stehen! Doch<br />
erst mal ans Meer gelangen. Und dann: Das Meer ist schon<br />
lange nicht mehr nur das Meer. Diese Begleitmusik. Touristen.<br />
Banalitätsmenschen, von denen man sich abheben<br />
möchte. Und doch nur einer von ihnen ist. Die Uferpromenade;<br />
das könnte auch eine stark befahrene Straße sein.<br />
Und der Strand von Verkaufsständen befallen. Abzocke
Holz|Oktober 2016<br />
39<br />
auch im Hotel. Das Zimmermädchen ist freundlich, weil<br />
man ihm einen Geldschein gibt. Das Frühstücksbuffet ist<br />
schon nach drei Tagen Routine. Volk, das sich bedient. Und<br />
er, Blömecke, mittendrin. Im T-Shirt. Bereits der frühen<br />
Tageshitze geschuldet. Jemand neben ihm hustet in den<br />
Brotkorb. Blömecke vergeht der Appetit. Wie ihn das alles<br />
anödet. Ja, zuhause könnte er den Ofen anmachen und die<br />
Füße hochlegen. Dem Feuer bei der Arbeit zusehen. Hier<br />
kann er nur den Kellnern zusehen. Arme Burschen. Flink<br />
und überfreundlich auf Trinkgeld erpicht. Blömecke ist es<br />
peinlich. Das Gönnerhafte, das er an einem Tischnachbarn<br />
beobachtet, der einem der Kellnerburschen einen Geldschein<br />
auf die Handfläche drückt. Heimlichtuerisch. Kokett.<br />
Und der Bursche macht einen Diener! Anachronistisch<br />
wie ein Handkuss. Blömecke könnte kotzen.<br />
Überhaupt dieser Name. Sein Name. Blömecke – dazu<br />
kann er nicht stehen. Selbst in Deutschland klingt dieser<br />
Name lächerlich. Nach Blähungen. Und Gemecker. Blähungen<br />
mit Gemecker. Aber im Ausland ausgesprochen<br />
ist dieser Name nichts als grotesk. Schon das wäre Grund<br />
genug, den Urlaub abzusagen. Aber wem will er, Blömecke,<br />
das erzählen? Dem einzigen Freund? Um dem Freund eine<br />
Freude zu machen, nur deshalb fährt er doch überhaupt<br />
mit! Vielleicht auch, weil er befürchtet, der Freund könne<br />
ihm, Blömecke, seine Freundschaft entziehen. Vor lauter<br />
Enttäuschung. Der Ofenmensch Blömecke: das ist doch<br />
ein Langweiler. Ein Hasenfuß. Soll er sich doch hinter seinem<br />
Ofen verkriechen. Mit so einem ist man doch nicht<br />
befreundet. Aber nein. Mit dem verpasst man das Leben.<br />
Aber ja. Also: Blömecke will nicht, er muss in diesen Urlaub<br />
fahren. Aus Freundschaftserhaltung. Denn Einsamkeit ist<br />
das Schlimmste. Und weit davon ist man nicht entfernt.<br />
Ohne Frau. Ohne Kinder. Mit nur einem einzigen Freund.<br />
Und es eilt. Er müsste packen. Der Flieger geht doch schon<br />
morgen. Er, Blömecke, hat getrödelt. Seit Wochen. Seine<br />
Reisetasche steht schlaff und leer auf dem Sofa. Aber er<br />
bringt es nicht fertig, auch nur eine Hose aus dem Schrank<br />
zu nehmen und in den Bauch der Tasche zu legen. Die Tasche<br />
ist ein hungriges Tier, das gefüttert werden will. Sie<br />
wird keine Ruhe geben, bis sie randvoll ist. Nein. Blömecke<br />
beschließt nicht, sich zu betrinken. Aber er fängt mit dem<br />
Trinken an. Er müsste wissen, wo das endet. Er weiß es. Er<br />
macht Feuer. Ein letztes mal. Ein Abschiedsfeuer. Mit dem<br />
Glas in der Hand sitzt Blömecke auf dem Küchenstuhl und<br />
schaut in die Flammen. Es hilft alles nichts. Er muss packen.<br />
Egal was, egal wie. Das Taschentier gibt keine Ruhe.<br />
Blömecke trinkt. Trinkt auf Ex. Und reißt sein Zeug aus den<br />
Schränken. Und stopft es dem Taschentier in den Rachen.<br />
Zwischendurch geht er wieder in die Küche, um sich nachzuschenken.<br />
Die Ofenwärme empfängt ihn mit einem Wehmutshauch.<br />
Blömecke legt Holz nach. Der Ofen ist auch ein<br />
Tier. Auch ein Tier, das fressen will.<br />
Er sieht ins Feuer als sehe er fern. Schwer steht er auf und<br />
öffnet noch eine Flasche. Lässt sich mit dem vollen Glas in<br />
der Hand zurück in den Sessel fallen. Der Wein schwappt<br />
über. Spritzt wie Blut. Blömecke trinkt. Trinkt schneller als<br />
er es gewohnt ist. Er will früh das Bewusstsein verlieren.<br />
Morgen muss er zum Bahnhof. Zum Flughafen, wo ihn der<br />
Freund erwarten wird. Reisefieber im Gesicht. Reisefieber.<br />
Blömecke erinnert sich, dass er als Kind die Hitze des Reisefiebers<br />
spürte in der Nacht, bevor es losging. Bevor er<br />
mit den Eltern im VW-Käfer durch einen Sommertag über<br />
die Autobahn fuhr. Dem Süden und den Großeltern entgegen.<br />
Der Süden roch. Nach Bergluft und Maische von der<br />
Stadtbrauerei. Reisefieber. Nein. Blömecke reisefiebert<br />
nicht mehr. Die Hitze kommt jetzt vom Ofen und auch vom<br />
Wein. Wie er ins Bett kommt, der schwankende, weinbespritzte<br />
Blömecke, das gehört schon mehr in den Schlaf als<br />
ins Wachsein. Er weiß nichts mehr. Verliert das Bewusstsein<br />
in dem Moment, als er das weiche Nachgeben der Matratze<br />
unter sich spürt.<br />
Die Großeltern! Sie kommen ins Zimmer. Mit blauen Gesichtern.<br />
Angemalt als wollten sie auf die Bühne. Blau<br />
auch die Haare, gefärbt, der Großvater sogar überblau,<br />
ultramarin, nur am Kinn und am Hals ist er schwarz. Das<br />
kommt vom Tod, denkt Blömecke. Da hat der Tod schon<br />
seine Zeichen gesetzt. Ganz nah ist der Großvater jetzt, nah<br />
an Blömeckes Gesicht. Blömecke weicht zurück. Er riecht<br />
den Tod. Der Tod geht vom Großvater aus, weht von den<br />
schwarzen Stellen. Blömecke stürzt. In den Abgrund der<br />
Hölle. Die gar nicht so tief ist. Weil er früh schon auf den<br />
Boden schlägt. Holzboden. Die Hölle hat einen Holzboden,<br />
auf den Blömecke aufgeschlagen ist.<br />
Er öffnet die Augen. Es ist schon hell. Sein Kopf. Was wälzt<br />
sich in seinem Kopf um die eigene Achse? Ein Mühlstein.<br />
Blömecke liegt auf dem Boden. Mit Decke und Kissen. Die<br />
Uhr! Warum hat er die Uhr nicht gehört? Den Radiowecker.<br />
Gegen die Richtung des Mühlsteinrades wendet er seinen<br />
Prosa
40 Holz|Oktober 2016<br />
Prosa<br />
Kopf, um auf die Zahlenanzeige des Radioweckers zu sehen.<br />
Nein! Unmöglich. In seiner Brust explodiert etwas. Adrenalin.<br />
So lange kann er nicht geschlafen haben. Der Zug! Der<br />
Flieger! Er sollte längst auf der Bahn sein. Das Zeitpolster,<br />
das in seiner Abreiseplanung lag, ist bereits großzügig verbraucht.<br />
Auf dem Holzboden liegend im Vergessensrausch.<br />
In Ansgar Blömeckes Kopf flackern Bilder: der dramatische<br />
Film seiner verpassten Abreise. Der Freund am Flughafen<br />
wartet nicht mehr. Steigt allein in den Flieger. Schulterzuckend.<br />
Er wird seine Freundschaft mit Blömecke überdenken.<br />
Überdenken müssen. Wie kann man mit jemandem<br />
befreundet sein, der den Gebrauch eines Mobiltelefons<br />
ablehnt? Noch nicht einmal fragen kann man ihn, wo er<br />
bleibt. Auf einmal versteht Blömecke den Sinn von Mobiltelefongesprächen.<br />
Warum jemand sagt, wo er ist und<br />
wann er woanders zu erscheinen gedenkt. Es handelt sich<br />
um Menschen, denen eine Abreise zu misslingen droht.<br />
So wie jetzt ihm, Blömecke. Natürlich hat er auch vorher<br />
schon den Sinn von Mobiltelefongesprächen gekannt. Und<br />
sich amüsiert. Heimlich. Diese ständigen Ortsangaben. Ja,<br />
können die Leute denn nicht vernünftig planen? So wie er,<br />
Blömecke, plant: passgenau und verlässlich.<br />
Von wegen verlässlich. Eigentlich hat er nicht mal die Zeit<br />
für eine Katzenwäsche. Aufs Zähneputzen verzichtet er.<br />
Kein lustiges Gurgeln vor dem Spiegel. Er reißt die Sachen<br />
vom stummen Diener, die Sachen, die er gestern schon<br />
trug. Wahrscheinlich zu warm für den Süden. Egal. Ins<br />
Schwitzen gerät er jetzt eh`. Kein Frühstück. Es wird ja im<br />
Flieger was geben. Wenn er den überhaupt noch erwischt.<br />
Aber ja. Das Zeitpolster müsste reichen. Knapp könnte es<br />
werden. Sicher, der Freund wird sauer sein und nicht ohne<br />
angefressenen Kommentar auf die Uhr schauen, wenn Blömecke<br />
endlich in der Wartezone erscheint. Abgehetzt, aber<br />
erleichtert. Doch soweit ist er noch lange nicht. Er muss<br />
los. Noch ein Wehmutsblick auf den Ofen in der Küche. Der<br />
ist verlässlich niedergebrannt, ausgegangen in friedlicher<br />
Asche. Der Anblick versetzt Blömecke einen Wehmutsstich.<br />
Zum Glück hat er gestern gepackt. Er geht zum Sofa, auf<br />
dem das Taschentier steht. Hat selber Schuhe und Mantel<br />
schon an. Und der Brustbeutel hängt um den Hals, wölbt<br />
sein Hemd über dem Bauch. Mit allen Papieren. Auch der<br />
Brustbeutel lag vorbereitet schon auf dem Schreibtisch.<br />
Jetzt nur noch die Tasche greifen und los.<br />
Blömecke glaubt es nicht. Glaubt nicht das Gewicht des<br />
Taschentiers, das er nun anhebt und das seinen Arm mit<br />
Gewalt nach unten reißt. Ein Magnet, den es zum Gegenpol<br />
zieht. Er muss mit Kraft gegensteuern und schon diese<br />
erste Anstrengung provoziert einen Schweißausbruch. Und<br />
ein Schmerzstoß fährt in seinen Kopf, ein Erinnerungsgruß<br />
an den gestrigen Abend. Was hat er alles in die Tasche<br />
gepackt? Im Suff. Blackout. Aber jetzt die Tasche wieder<br />
öffnen und aussortieren, was überzählig ist? Dann kann er<br />
den Abflug vergessen. Es hilft alles nichts. Er muss mit diesem<br />
Taschenkoloss reisen. Was man sich antut. Kein Tier<br />
wäre dazu in der Lage. Zugvögel fallen ihm ein. Zugvögel<br />
mit Reisetaschen. Das Bild bringt ihn zum Lachen. Während<br />
er schon den Schlüssel hinter sich abzieht. Unaufgeräumt<br />
lässt er seine Wohnung zurück. Das Weinglas auf<br />
dem Küchenboden festgeklebt in einem dunkelrot getrockneten<br />
Kranz. So wird es noch dastehen, wenn er wieder<br />
nachhause kommt. In zwei Wochen. Mein Gott, denkt er,<br />
in zwei Wochen. Und hofft, dass er seinen Flieger verpasst.<br />
Hofft insgeheim, hofft mit Hintertürchen.<br />
Die Bahn steht auf dem Gleis. Bewegungslosigkeit mitten<br />
auf freier Strecke. Eine Lautsprecherstimme gibt bekannt,<br />
dass man erst weiterfahre, nachdem man einen bevorrechtigten<br />
Zug durchgelassen habe. Blömecke lehnt sich zurück.<br />
Natürlich. Die Bahn. Damit war zu rechnen. Darauf hatte er<br />
sein Zeitpolster ausgelegt. Nun ist es dahingeschmolzen.<br />
Er schaut auf die Uhr. Abflug in fünfundzwanzig Minuten.<br />
Er wird am Abend versuchen, den Freund im Hotel zu erreichen.<br />
Um sich zu erklären. Verschlafen im Abschiedssuff.<br />
Nein. Das kann er nicht zugeben. Er könnte Krankheit<br />
vorschützen. Mit gespielter Heiserkeit dem Freund etwas<br />
vordramatisieren. Aber vielleicht ist der Freund gar nicht<br />
mitgeflogen. Blömecke schluckt. Der bevorrechtigte Zug<br />
donnert vorüber. Die Bahn ruckt an. Und rollt auf den Flughafen<br />
zu. Auf zum letzten Gefecht, sagt Blömecke, als der<br />
Waggon unter Pfeiftönen seine Türen öffnet. Völker hört<br />
die Signale. Das war halblaut vor sich hingesprochen. Blömecke<br />
spricht oft halblaut vor sich hin. Er greift das Taschentier<br />
und eilt auf die Rolltreppe zu.<br />
Geschlossen. Der Schalter, an dem sein Flug abgefertigt<br />
werden sollte ist bereits geschlossen. Womit zu rechnen<br />
war. Noch zehn Minuten und der Flieger hebt ab! Er wedelt<br />
mit seinem Flugticktet vor dem Gesicht einer uniformierten<br />
Frau, die sich hinter dem geschlossenen Schalter zu schaf-
Holz|Oktober 2016<br />
41<br />
fen macht. Empfängt einen Vorwurfsblick. Aber immerhin:<br />
Die Frau nimmt Blömecke das Flugticket ab, studiert<br />
es, schüttelt den Kopf und telefoniert mit abgewandtem<br />
Blick. Er hält den Atem an. Wenn er es schafft, so lange<br />
den Atem anzuhalten, bis die Frau ihn wieder ansieht, dann<br />
ist er gerettet. Dabei hätte er auch nichts dagegen ungerettet<br />
zu bleiben. Aber das ist jetzt ein Sport. Atem anhalten<br />
und warten. Sein oder nicht Sein. Die Frau nickt und<br />
sagt ja. Immer noch mit abgewandtem Blick. Blömeckes<br />
Herzschlag. Da scheint was zu klappen. Die Frau legt auf.<br />
Und sieht ihn an. Während sie die Schaltertür öffnet und<br />
ihm entgegenkommt. „Folgen Sie mir.“ Blömecke lässt den<br />
Atem los. Ihm wird schwindelig. Er hätte den Atem keine<br />
Sekunde länger anhalten können. Und muss doch rennen.<br />
Der uniformierten Frau hinterher. Mit dem Taschtentier in<br />
der Hand. Das fette Vieh. Schwer. Vollgefressen. Aber jetzt<br />
weiß er, dass er den Flieger bekommt. Und rennt auf die<br />
Sicherheitsschleuse zu, durch die die Uniformfrau gerade<br />
verschwindet.<br />
Er wird gehalten. Jemand reißt ihn zurück. Jemand hat ihn<br />
am Kragen gepackt und zurückgerissen. In der Sicherheitsschleuse.<br />
Wie konnte er glauben, einfach so durch<br />
die Sicherheitsschleuse rennen zu können? Groteske Vorstellung.<br />
Der Uniformierte, der ihn zurückgerissen hat,<br />
schaut ihm nun ins Gesicht. Kopfschüttelnd. Aber wohl<br />
auch belustigt. Das wird er noch nicht erlebt haben, dass<br />
ein Reisender in solch plumper Weise versucht hat, die Sicherheitsschleuse<br />
zu überwinden. Aber die Frau von der<br />
Fluggesellschaft ist schon zurückgekehrt und erklärt dem<br />
Sicherheitsmenschen die Lage. Der scheint sich von dieser<br />
Erklärung nicht beeindrucken zu lassen. Nein, das Gepäck<br />
muss ganz normal durch den Scanner. Wo kämen wir hin?<br />
Eine Bombe, die an Bord eines Flugzeugs gelangt, weil der<br />
Bombenleger durch die Sicherheitsschleuse gerannt ist.<br />
Hallo?<br />
Blömecke reibt sich den Nacken. Der schmerzt noch vom<br />
zurückgerissen werden. Als hätte man ihm eine Schlinge<br />
um den Hals gelegt und zugezogen. Mundtrockenheit.<br />
Bitterer Gaumengeschmack. Er bräuchte einen Schluck<br />
Wasser. Jetzt erst spürt er wieder, dass er einen Kopf hat<br />
– vom Trinken. Als er seine Reisetasche auf das Transportband<br />
stellt, erschrickt er über das Geräusch, das er dabei<br />
verursacht. Das klingt dumpf. Als bestehe der Inhalt nicht<br />
aus Kleidungsstücken, sondern aus harten Gegenständen.<br />
Jetzt bricht ihm der Schweiß aus. Wieder. Was hat er hinein<br />
getan in die Tasche? Gestern. Im Suff. Außerdem fällt<br />
ihm ein, dass die Tasche ja viel zu schwer ist. Wie war das<br />
noch? Wieviel Kilo darf Reisegepäck wiegen? Soll jetzt daran<br />
sein Abflug noch scheitern? Kurz vor Schmitz Backes?<br />
Die Reisetasche verschwindet im Schlund des Sicherheitsscanners.<br />
Und erscheint wieder durchleuchtet auf dem<br />
Bildschirm des Sicherheitsmenschen.<br />
Aber was ist das? Blömecke glaubt es nicht. Ohne Ordnung<br />
erscheint das Durcheinander, das auf dem Bildschirm sichtbar<br />
wird. Was zu erwarten war. Aber da sind nicht nur Kleidungsstücke<br />
zu sehen. Was sind das für Dinger? Klötze? Der<br />
Sicherheitsmensch stutzt. Runzelt die Stirn und sieht Blömecke<br />
an. Hat er einen Wahnsinnigen erwischt? Blömecke<br />
zuckt mit den Schultern. Sein Herz hämmert. Ich weiß auch<br />
nicht, sagt er, als der Sicherheitsmensch die Tasche an sich<br />
zieht, die aus dem Schlund des Durchleuchtungsschachtes<br />
wieder herausfährt. Immer noch schaut der Uniformierte<br />
Blömecke an. Der Sicherheitsmensch scheint sich nicht sicher<br />
zu sein. Ob er die Tasche öffnen soll oder ob es besser<br />
wäre, einen Vorgesetzten zu informieren. Flughafenpolizei,<br />
denkt Blömecke. Männer in schwarzen, kugelsicheren Jacken,<br />
Männer mit Helmen und ohne erkennbare Gesichter.<br />
Die sichern die Umgebung und warten in vorsichtigem Abstand<br />
auf den Polizeiroboter, dessen surrende Greifarme<br />
das Taschenobjekt bearbeiten werden. Da wird Blömecke<br />
schon verhört. Aber er weiß doch nichts. Mein Gott, er hat<br />
gesoffen. Wegen eines Urlaubs, zu dem er sich hat breitschlagen<br />
lassen. Zu einer Reise, die er nicht will. Im Grunde<br />
trägt er keine Verantwortung. Die Verantwortung trägt sein<br />
Freund. Der schon im Flieger sitzt. Oder?<br />
Das zirpende Geräusch, mit dem ein Reißverschluss geöffnet<br />
wird. Der Anblick Blömeckes hat dem Sicherheitsmenschen<br />
offenbar genügt, um sich von dessen Harmlosigkeit<br />
zu überzeugen. Ein leichter Ärger darüber steigt in<br />
Blömecke auf. Die Frau von der Fluggesellschaft schaut<br />
auf die Uhr. Sagt nichts. Blickt nun wie Blömecke über die<br />
Schulter des Sicherheitsmenschen, der gebeugt über die<br />
Taschenöffnung in deren Inhalt kramt. Zerknüllte Sachen.<br />
Pfeifen. Bücher. Zahnputzzeug. Und Holzscheite! Ofenholz!<br />
Blömecke hat Feuerholz in die Tasche gepackt. Eine<br />
Ladung, die für einen ganzen Abend reichen würde! Aber<br />
ja! Der Sicherheitsmensch und die Frau von der Fluggesellschaft<br />
tauschen Blicke. Was sind das für Irre, die heute<br />
Prosa
42 Holz|Oktober 2016<br />
verreisen? Wieder schaut die Frau von der Fluggesellschaft<br />
auf die Uhr und sagt zum Sicherheitsmenschen, dass er<br />
sich Zeit lassen soll. Den Abflug könne man eh vergessen.<br />
Abflughalle mit dem Duft nach Harz und Tannenwald. Ölig<br />
und würzig. So wie nur Heimat duften kann, Heimat, in deren<br />
Küche ein gusseiserner Ofen steht.<br />
Blömeckes Herz hüpft. Sein Holz! Kein Abflug! Er wird versuchen,<br />
es dem Freund zu erklären. Dann muss der Freund<br />
entscheiden, ob er weiter sein Freund bleiben will. Aber<br />
er, Ansgar Blömecke, braucht nicht zu verreisen. Er kann<br />
Feuer machen. Heute Abend. In seiner Küche. Mit seinem<br />
Holz. Sie haben wohl keinen Ofen, sagt er zum Sicherheitsmenschen,<br />
der ihn wieder fragend ansieht. Und dann alles<br />
zurück in die Tasche packt: Zerknüllte Sachen, Pfeifen, Bücher,<br />
Zahnputzzeug und Holzscheite. Wunderbare Nadelholzscheite.<br />
Sie parfümieren den Sicherheitsbereich der<br />
Falk Andreas Funke<br />
Schreiber und Leser, Jahrgang 19<strong>65</strong>, geboren und geblieben in<br />
Wuppertal. Seit 2001 Veröffentlichungen in div. Anthologien, Zeitschriften<br />
und beim Westdeutschen Rundfunk. Seit 2001 Mitarbeiter<br />
des Satiremagazins „Italien“, Wuppertal. Bislang drei Bücher,<br />
Tier und Tor, 2004; Ballsaal für die Seele, 2010 (jeweils Turmhut-<br />
Verlag), Krause, der Tod und das Irre Lachen (Verlag Thomas Tonn,<br />
2012) Andreas.Funke@arbeitsagentur.de<br />
Prosa<br />
Relaxharfe/Rüster (Ulme) 2015©Gotthard Obholzer
Holz|Oktober 2016<br />
43<br />
neutro<br />
Splitter<br />
Er soll sie holen kommen. Jemand hat Zucker auf dem<br />
Boden verstreut. Wenn er sich auf diesen Sessel setzt…<br />
Er kann nicht mehr spielen, weil er in seinem Finger… Sie<br />
laufen sich über den Weg. So können sie Fliegen mit einer<br />
Klappe schlagen. Das Haus ist für sie allein zu groß. Die Kinder<br />
kommen nicht mehr so oft zu Besuch. Dieser Moment,<br />
in dem sie immer wieder daran vorbeigefahren sind… Sie<br />
bleiben nicht mehr auf dem Parkplatz stehen, weil sie weiter<br />
müssen. Er erinnert sich nicht mehr, wann er sie zuletzt<br />
hautnah gesehen hat. Dafür ist sie noch zu jung gewesen.<br />
Er will sich von seinem Kreuz auf sie herabstürzen. Er<br />
braucht nicht auf sich aufzupassen. Meistens wächst der<br />
Schwanz in verkürzter Form nach. Von ganz oben kann er<br />
nicht gekommen sein. Der König trägt ein gelbes Stirnband,<br />
wenn er seine Mitspieler über das Feld dirigiert. Alle müssen<br />
verfügbar sein, um zufrieden sein zu können. Seine Ausstrahlung<br />
ist ein Naturprodukt. Jeder spürt seine gewachsene<br />
Kraft auf der Suche nach Füllmaterial. Die Motorsäge<br />
klingt nicht wie das Röhren eines Hirsches. Sie sollte stehen<br />
bleiben, wenn er das Harz von der Rinde kratzt.<br />
Solange sie nicht nachwachsen, können an den Gipfeln<br />
der Hauswände auch keine Figuren mehr hängen. Sein Gesichtsausdruck<br />
ähnelt zu sehr dem im Rückspiegel. Sobald<br />
sie ihre Wurzeln nicht mehr spüren… Nach einigen Jahren<br />
müssen die Stützpfeiler ausgetauscht werden. Sie versuchen<br />
sich weg zu denken, sobald der Ausblick unverstellt<br />
bis zum Horizont reicht. Der schiefere Balkon kann kein Anknüpfungspunkt<br />
bleiben. In dem Zimmer, in dem ihre Mutter<br />
jetzt…<br />
Der Holzsplitter wird erst unter dem Vergrößerungsglas<br />
sichtbar. Sollte er bereits zu tief in die Haut vorgedrungen<br />
sein, könnte er beim Herausziehen abbrechen. Er wird lediglich<br />
ein kleines Stück brauchen, bis er vor dem Eingangspunkt…<br />
Die Entfernung eines Fremdkörpers kann schmerzen.<br />
Sie erzählen ihnen, wo sie schon überall gewesen sind.<br />
Kleinere Splitter erfordern noch keine ärztliche Behandlung.<br />
Es ist gänzlich ungefährlich nicht jedes Mal nachzusehen.<br />
Solange er nicht über die Straße geht… An den Haken könnte<br />
er genauso einen Spiegel hängen. Dass sie die Erste ist, die<br />
nicht mehr nur die Hände faltet, sondern sie wiederverwendet...<br />
Er hat sie zuerst wieder zurückgewollt.<br />
Er soll seine Verwandten nicht immer so wild in die Luft werfen,<br />
sondern aufheben. Warum dieser Gang so lange… Diese<br />
Bürste nimmt beim Schrubben gerade wenig genug von den<br />
Dielen. Nicht mehr nur beim Barfußgehen… Es wird kaum<br />
etwas geändert. Sie können ihnen nicht mehr böse sein,<br />
dass sie sie zurechtgebogen haben. Ein Gesicht kann zwar<br />
gegossen sein, aber die Kreuzigung lässt sich nicht mehr aus<br />
dem Glauben ziehen. Ihre Anspielung bedeutet, dass dieser<br />
Forderung nichts mehr entgegenzusetzen ist. Sein Todesurteil<br />
wird dadurch weder bewiesen noch entkräftet.<br />
neutro<br />
sind Anna Neuwirth, geb. 1986 in Wien und Martin Troger,<br />
geb.1982 in Bozen, beide wohnhaft in Bad Vöslau, erstellen seit<br />
2015 Bild-Texte. Seit 2016 arbeiten sie öffentlich am neutro-Foto-<br />
Text-Blog auf www.neutro.at. Veröffentlichungen in Zeitschriften<br />
wie SUPER Edition, DUM, Komplex-Kulturmagazin Innsbruck und<br />
keine!delikatessen.<br />
Prosa
44 Holz|Oktober 2016<br />
Renate Katzer<br />
Die Türe<br />
Johann schlurfte durch das Dorf, ein Dreihundertseelendorf<br />
in 931 Metern Seehöhe. Er hatte ein Vorhaben,<br />
eines seiner seltenen. Seine Holzschuhe klapperten –<br />
durchbrachen die vormittägliche Stille, in der die meisten<br />
Bewohner ihren Geschäften nachgingen.<br />
Johann war ein alter Mann mit schlurfendem Gang und<br />
sanftem Gemüt. Er kam mit wenigen Worten aus, sein<br />
Leben lang schon.<br />
Jetzt ging er über den Kirchplatz, am Friedhof vorbei, ließ<br />
das Gasthaus links liegen, grüßte eine Nachbarin, die es<br />
eilig hatte. Ihm war es recht.<br />
Dann betrat er die Tischlerwerkstätte von Konrad,<br />
Meister über Fensterstöcke, Türen und Särge. Konrad<br />
blickte kurz auf und klopfte die Sägespäne von der blauen<br />
Schürze.<br />
Ein gemurmeltes, Guten Morgen, ging zwischen beiden<br />
hin und her.<br />
Schweigen.<br />
Doch es musste etwas besprochen werden, war beiden<br />
klar. Konrad witterte eines seiner seltenen Geschäfte,<br />
(abgesehen vom verlässlichen Sarggeschäft). Er trug<br />
Sorge, wer wohl seinen eigenen zimmern würde? Er<br />
sollte einen im Vorrat halten, überlegte er.<br />
Konrad war ein schweigsamer Mann, Johann, wie wir<br />
wissen, auch. Wenn man mit Holz zu tun hat, wird man<br />
so, sparsam mit Worten. Höchstens am Sonntag ließ der<br />
Meister ein paar Sätze aus, lächelte fallweise dazu – am<br />
Sonntag hatte Konrad Zeit, Worte zu verschwenden.<br />
Natürlich suchte man nach ihm, rief ihn.<br />
Tagelang. Mann an Mann durchsuchten das Gebiet, seinen<br />
Radius.<br />
Bis auf den heutigen Tag ist nicht erwiesen, dass er sich<br />
irgendwo wieder eingefunden hätte.<br />
Renate Katzer<br />
Geb. 1945 stammend aus den Tiefen des Bregenzerwaldes, in<br />
Salzburg schreibend lebend. Schreibt immer, am liebsten Gedichte.<br />
Veröffentlichungen in Anthologien. Gedichtband: „ Ins<br />
Wort fallen“, Edition Weinviertel. Lyrikpreis 2010, Forum Land NÖ.<br />
Lesungen.<br />
Er brauche eine Türe, ließ sich Johann vernehmen.<br />
So, sagte Konrad. Der Fall ging in Richtung Auftrag.<br />
So einfach wie möglich, du brauchst dir nicht viel Mühe zu<br />
machen. Ich brauche sie lediglich zum ein,-und ausgehen.<br />
Sagte es und wandte sich zur Türe, es ging auf Mittag zu.<br />
Jawohl, hörte er Konrad noch sagen, es wird dauern.<br />
Johann nickte und schlurfte seinen Weg zurück.<br />
Prosa<br />
Der Sommer verlief ereignislos. So gegen Herbst hin<br />
kam Johann nicht mehr heim.<br />
Er ist aus dem Haus gegangen, hinauf in den Wald, vielleicht?<br />
Enstehen des Klangbaumes/2014©Gotthard Obholzer
Holz|Oktober 2016<br />
45<br />
Venus und Klangbaum/2014©Gotthard Obholzer
46 Holz|Oktober 2016<br />
Jan-Eike Hornauer<br />
Moritat vom kaputten<br />
Holzbalken<br />
Ein Balken litt an Holzwurmfraß.<br />
Er war ganz voller Löcher.<br />
Und pfiff der Wind, war das kein Spaß:<br />
Er fror dann noch und nöcher.<br />
Glücklicher Zufall<br />
Luther<br />
nagelte<br />
seine Thesen<br />
an die<br />
Kirchentür<br />
Bis eines Tages dies geschah:<br />
Er brach – krach-wumms – entzwei.<br />
Es ging nicht ihm und keinem nah.<br />
Was war denn schon dabei?<br />
Man hackte ihn zu Brennholz klein<br />
– das tat noch etwas weh –<br />
und warf ihn in ein Feuer rein.<br />
Er fror nicht mehr, war nicht allein,<br />
und sanft ging’s in die Höh’.<br />
Logischer Verdacht<br />
Gut,<br />
dass diese<br />
aus Holz war<br />
und nicht etwa<br />
aus Glas<br />
Sonst hätte es<br />
die Reformation<br />
vielleicht nie<br />
gegeben<br />
Wer<br />
auf dem<br />
Holzweg<br />
sich befindet<br />
ist oft<br />
besonders<br />
leicht<br />
entflammbar<br />
Lyrik<br />
Jan-Eike Hornauer<br />
Geb. 1979, leidenschaftlicher Textzüchter aus München. studierte<br />
Germanistik und Soziologie in Würzburg. Jüngster Solo-Lyrikband:<br />
»Das Objekt ist beschädigt – zumeist komische Gedichte aus einer<br />
brüchigen Welt«, muc Verlag 2016. - siehe Rezension S. <strong>65</strong>.<br />
www.textzuechterei.de
Holz|Oktober 2016<br />
47<br />
Brigitta Höpler<br />
aus den Flammen gefallen<br />
auf den Boden neben der Scheune<br />
Holz zu Holz<br />
hätte Feuer verbreiten können<br />
bin vorher erloschen<br />
mit leisem Zischen<br />
flammenbeschrieben<br />
gesprungen zerklüftet<br />
geblieben auf der kühlen Erde<br />
nicht mehr Holz und noch nicht Kohle<br />
hinterlasse schwarze Spuren<br />
bezeichne die Dinge<br />
Das Holzbrett<br />
in der Küche.<br />
Hausarbeit.<br />
Handarbeit.<br />
Hände, bei der Arbeit,<br />
beim Schneiden,<br />
Zerschneiden,<br />
Einschneiden.<br />
Freiwillig und unfreiwillig<br />
eingeschnittene Linien<br />
werden zu Geschichten.<br />
Jeden Tag.<br />
Immer wieder.<br />
Daniel Grummt<br />
Stirnholz<br />
Stirn schlägt auf Holz<br />
der Kopf bleibt darauf liegen<br />
minutenlang<br />
regungslos<br />
sieht albern aus<br />
und hilft auch nichts<br />
der Körper richtet sich wieder<br />
Blick schaut auf<br />
ins Leere<br />
Gedanken<br />
kreisend<br />
um sich selbst<br />
drehend, drehend<br />
mit dem Stuhl<br />
um die eigene Achse<br />
schnell, schneller<br />
schwindeliger Taumel<br />
und abermals:<br />
Stirn schlägt auf Holz<br />
der Kopf bleibt darauf liegen<br />
minutenlang<br />
regungslos<br />
sieht albern aus<br />
und hilft auch nichts<br />
der Körper richtet sich wieder<br />
Blick schaut auf<br />
ins Leere<br />
Gedanken<br />
kreisend<br />
um sich selbst<br />
drehend, drehend<br />
mit dem Stuhl<br />
um die eigene Achse<br />
schnell, schneller<br />
schwindeliger Taumel<br />
und abermals:<br />
Stirn schlägt auf Holz<br />
...<br />
Brigitta Höpler<br />
Geb. 1966 in Wien, verheiratet zwei Kinder, Kunsthistorikern,<br />
Autorin, Schreibpädagogin . www.brigittahoepler.at<br />
Daniel Grummt<br />
Geb.1984, arbeitet/lebt zurzeit in Jena. Studium der Soziologie<br />
an der Uni Dresden. Seit 2015 wissschftl. Mitarbeiter Uni Jena.<br />
Lyrik
48 Holz|Oktober 2016<br />
Prosa<br />
Jörn Birkholz<br />
Waidmannsheil<br />
»Ich will in Wald!«<br />
»Was?«<br />
»Komm, lass uns in Wald fahren.«<br />
Mit dieser Idee konfrontierte mich Iza eines schönen Sonntagmorgens.<br />
»In den Wald heißt das.«<br />
»Ja, ja, weißt du wie man’s auf Polnisch sagt?«<br />
»Ne.«<br />
»Na also, dann lern erst mal polnisch, bevor du mich hier<br />
großkotzend verbesserst.«<br />
»Großkotzig.«<br />
»Was?«<br />
»Nichts egal.«<br />
»Wo ist hier Wald?«<br />
»Gute Frage, hier in der Gegend ist mir nichts Größeres bekannt.<br />
«<br />
»Ich will aber in richtigen Wald, und nicht son kleinen<br />
Scheiß.«<br />
»Ist mir schon klar.«<br />
»In Polen ist viel Wald.«<br />
»Ja, mag sein.«<br />
»Gib mal Laptop.«<br />
Morgens war Iza grammatikalisch immer etwas nachlässig.<br />
Sie beugte sich im Bett über mich rüber und hob es vom<br />
Fußboden auf. Ich hatte ihren tollen Hintern vorm Gesicht,<br />
und konnte mir ein Arschtätscheln nicht verkneifen.<br />
»Lass das!«, quakte sie, fügte aber schnell noch ein Versöhnliches<br />
»Nicht jetzt« hinzu.<br />
Ich ließ es und sie kam wieder hoch. Mit großem Eifer begann<br />
sie Wald und Deutschland zu googeln.<br />
Ich zündete mir eine Zigarette an, obwohl ich morgens eigentlich<br />
ungern rauche, aber Sucht ist Sucht.<br />
»Gib mir auch eine.«<br />
Ich gab ihr eine und rauchend googelte sie weiter.<br />
»Hier ich hab was Geiles!«, ereiferte sie sich plötzlich.<br />
»Das ist in Bayern, Baby, n bisschen weit fürn Tagesausflug«,<br />
sagte ich, nachdem ich flüchtig die Seite überflogen<br />
hatte.<br />
»Kurwa«, entgegnete sie, »aber hier ist ja nichts.«<br />
»Dann google doch mal Niedersachsen.«<br />
»Dobra.«<br />
Nach fünf Minuten hatten wir uns für die Südheide bei Celle<br />
entschieden. Große Waldflächen versprach Wikipedia und<br />
nachdem wir noch schnell die Zugverbindungen gecheckt<br />
hatten, ging es bereits eine Stunde später los Richtung<br />
Hauptbahnhof. Der Bahnhof war angenehm leer. Sonntags<br />
um kurz nach zehn vormittags ist anscheinend eine gute<br />
Zeit zum Verreisen. Wir standen auf dem Bahnsteig und<br />
warteten zusammen mit nur einem Herren, dessen rechtes<br />
Bein rot und extrem angeschwollen war. Sein Hosenbein<br />
hatte er fast bis zum Schritt hochgekrempelt. Fünf Minuten<br />
bevor unser Zug einfuhr, füllte sich der Bahnsteig. Im<br />
Zug bekamen wir einen Sitzplatz, fast ein Grund zum Feiern.<br />
Kaum saßen wir, musste Iza pinkeln, war ja klar. Sie<br />
huschte zum Klo. Ich sah das Rotbein, es schleppte sich<br />
durch den Zug und verkündete, dass es obdachlos sei, ein<br />
kaputtes Bein habe – was ich bestätigen konnte – das ihm<br />
weh tue, und dass es um eine kleine Spende bittet. Keiner<br />
spendete ihm etwas, nicht mal Trost. Ich auch nicht, ich<br />
stellte mich schlafend, als es an mir vorbei humpelte – ich<br />
war nicht in der Stimmung für Obdachlose mit rotem Bein,<br />
da war ich nicht anders als die anderen, vermutlich nicht<br />
obdachlosen Fahrgäste im Zug. Vielleicht lag es auch daran,<br />
dass das Rotbein vorhin mit uns ganz entspannt am<br />
Bahnsteig gestanden hatte. Hätte er uns dort angequatscht,<br />
hätte ich ihm wahrscheinlich was gegeben, da hätte<br />
es sich spontan aus der Situation heraus ergeben können.<br />
Immerhin waren wir zu der Zeit die Einzigen auf dem Bahnhof.<br />
Vielleicht hätten wir ihn sogar gefragt – Iza bestimmt,<br />
wie ich sie kenne - was mit seinem Bein los sei, interessiert<br />
hätte es mich schon. Aber er beachtete uns nicht, Pech<br />
gehabt, jetzt beachtete ich ihn nicht, ich bin halt ein Arsch.<br />
Iza kehrte zurück.<br />
»Klo war voll gekotzt, voll eklig.«<br />
»Wahrscheinlich Partypeople von heut Nacht.«<br />
»Schläfst du?«<br />
»Ne.«<br />
»Hätte mich auch gewundert, wir haben heut Nacht fast<br />
zehn Stunden durchgepennt. Ich bin hellwach.«<br />
»Ich hab ja auch nicht geschlafen.«<br />
»Aber du hattest die Augen zu?«<br />
»Ja und, heißt ja nicht, dass ich geschlafen hab.«<br />
»Ist ja gut, entspann dich.«<br />
»Bin entspannt.«<br />
»Das merkt man.«<br />
Sie lächelte und küsste mir flüchtig auf den Mund. Iza war<br />
bester Laune, soviel war mal sicher. Ich stellte fest, dass es<br />
mir ähnlich ging. Sie schaute aus dem Fenster und summte
Holz|Oktober 2016<br />
49<br />
zufrieden vor sich hin. In Ottersberg stieg ein mit unzähligen<br />
Farbspritzern besudelter Typ ein, der drei verpackte Bilder<br />
mit sich führte und sich uns gegenübersetzte. Er grinste<br />
mich an, ich grinste zurück. Er trug eine gelbe FDP Werbemütze.<br />
Ein Künstler mit Humor, sowas gibt’s selten, dachte<br />
ich. In Sottrum stieg er wieder aus. Flüchtige Begegnungen<br />
des Lebens. Iza lehnte mit geschlossenen Augen am Fenster<br />
und schlief - sie hatte es nicht mal mitbekommen. Eine<br />
Stunde später waren wir am Ziel. Celle – eigentlich war mir<br />
mehr nach einer Stadtbesichtigung, und dann später vielleicht<br />
noch irgendwo ein Bier zu zwitschern. Aber Iza wollte<br />
davon nichts wissen, sie wollte in Wald, daran war nicht zu<br />
rütteln, im Grunde auch keine so schlechte Idee, dachte<br />
ich, das Wetter spielte jedenfalls mit, solide zwanzig Grad,<br />
leichte Bewölkung, ein normaler Norddeutscher Hochsommertag<br />
eben. Und letztendlich hatten wir es ja auch genauso<br />
geplant. Man wirft in letzter Minute keine Pläne um, und<br />
läuft einmal quer durch eine Altstadt und zieht sich dann<br />
irgendwo noch ein Bier rein. Nein, nein, heute war wandern<br />
gehen angesagt! Wandern gehen - schon eine absurde<br />
Bezeichnung. Manchmal hatte Iza recht, in Deutschland<br />
muss selbst das Wandern noch mit einem Gehen ergänzt<br />
werden, es ist schließlich ein Unterschied ob man wandert<br />
oder geht, reines Gehen ist wahrscheinlich viel zu trivial.<br />
Gehen hingegen wird zum Wandern, wenn man sich dafür<br />
solch erhabene Plätze wie die Berge oder den Wald ausgesucht<br />
hat. Ist der Zielort lediglich der nächste Pennymarkt<br />
oder das Klo, bleibt man brav beim Gehen. Ich wandere zu<br />
Rewe oder zur Toilette klingt ja auch ein bisschen aufgesetzt.<br />
Wie man wohl auf Polnisch »ich gehe wandern« sagt,<br />
gibt es diese Bezeichnung überhaupt? Ich könnte Iza fragen,<br />
tue es aber nicht, ich gönne ihr keinen Triumph. Die<br />
polnische Sprache gibt da sicher etwas her, aber ich will es<br />
gar nicht wissen.<br />
Nachdem wir uns bei einem pausbäckigen Busfahrer nach<br />
dem Weg erkundigt hatten, stiegen wir ein, und ließen uns<br />
zum Wald, beziehungsweise in Richtung Wald fahren, weit<br />
war es nicht.<br />
Da waren wir also, dreißig Minuten später standen wir irgendwo<br />
im Wald. Iza hatte kein Interesse gezeigt, zuvor das<br />
Wanderwegschild am Waldrand zu studieren.<br />
»Ich will selbst erkunden«, verkündete sie, »typisch Deutsch,<br />
alles wird genau vorgeschrieben, wo man zu gehen hat.«<br />
»Dient doch nur zur Orientierung«, wandte ich ein.<br />
»Brauchen wir nicht, ich kann mich selbst sehr gut orientieren.«<br />
Und so trotteten wir los. Die Sonne blinzelte zwischen den<br />
Baumkronen der Fichten hervor. Irgendwo piepte ein Vogel<br />
recht penetrant, ständig den selben Ton ausstoßend.<br />
Es roch nach Natur. Iza tänzelte durch die Gegend, blickte<br />
nach links und rechts, wies mich auf Besonderheiten hin,<br />
wie auf am Boden liegende bizarre Baumwurzeln oder andere<br />
naturgeschaffene Sehenswürdigkeiten. Wann war ich<br />
das letzte Mal im Wald gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern.<br />
Es dürfte irgendwann in der Kindheit gewesen sein.<br />
Auf irgendeiner Klassenfahrt, ich weiß noch, dass ich stolz<br />
wie Otze war, ein Eichhörnchen auf einem Baum fotografiert<br />
zu haben. Das Vieh hatte auf dem Foto die Größe einer<br />
Stecknadel, da ich die Aufnahme aus etwa fünfzig Metern<br />
Entfernung gemacht hatte. Das Foto existiert heute noch,<br />
vor ein paar Jahren entdeckte ich es im Familienalbum.<br />
Meine Mutter hatte es eingeklebt, und in Schönschrift<br />
„Max übt sich als Tierfotograf“ daneben geschrieben. Ob<br />
sie es ernst meinte, oder ob sie mich damit verarschen<br />
wollte, entzog sich meiner Kenntnis, wie ich meine Mutter<br />
kannte, vermutete ich ersteres. Keine Eichhörnchen weit<br />
und breit, dafür aber ein Reh, dem wir in die Quere kamen,<br />
das uns aus einiger Entfernung einen kurzen Moment in<br />
leichter Schockstarre dümmlich anstarrte und dann die<br />
Flucht ergriff.<br />
»Niedlich!«, rief Iza aus, nachdem das Tier im Unterholz<br />
verschwunden war. »Hast du gesehen, wie es die Ohren<br />
angelegt hat?«<br />
»Ja.«<br />
»Es gefällt mir hier.«<br />
»Ja, ist okay.«<br />
»Ich will lange hierbleiben, also nörgel nich rum, dass du<br />
bald nach Hause willst.« ...<br />
Beginn eines Romans. Fortsetzung unter www.litges.at/etcetra<br />
Jörn Birkholz<br />
Geb.1972, lebt in Bremen. Studium der Geschichts- und Kulturwissenschaften<br />
an der Uni Bremen. Autor und Kritiker. War 2012<br />
für den 14. Irseer Pegasus nominiert. Sein Romanerstling Deplatziert,<br />
erschien 2009 und befindet sich mittlerweile in vierter<br />
Auflage. Sein zweiter Roman Schachbretttage erschien im März<br />
2014 bei Folio. Zuletzt erschien: Der schönste Ort der Welt, Diogenes,<br />
November 2015. www.literaturport.de/Joern.Birkholz/<br />
Prosa
50 Holz|Oktober 2016<br />
Susanne Klinger<br />
Mein Vater, der Holzarbeiter<br />
Mein Vater war Gedichteschreiber,<br />
er schrieb Gedichte ohne Unterlass, jahrzehntelang und er<br />
trank..<br />
Mein Vater war Liedermacher, er schrieb Lieder, immer der<br />
Liebe gewidmet und er trank…<br />
Mein Vater arbeitete mit Holz, nein nicht als Tischler oder<br />
Zimmermann, ein einfacher Holzarbeiter, jahrelang und er<br />
trank…<br />
Es ist schwierig in Erinnerungen zu schwelgen die nicht vorhanden<br />
sindes ist beinahe unmöglich nicht zumindest eine<br />
Zeitlang abzuwerten um sich selbst aufwerten zu können.<br />
Tochter eines Alkoholikers zu sein, heißt auch ohne Selbstwert<br />
aufzuwachsen, immer auf der Hut vor Eventualitäten,<br />
die auch pure Angst bedeuten konnten, vor dem, was sich<br />
immer wieder ankündigte, wenn er betrunken nach Hause<br />
kam, Angst vor einem Menschen, der prägender nicht sein<br />
konnte.<br />
Mein Vater war Holzarbeiter und brachte immer den Duft<br />
frisch geschnittenen Holzes mit nach Hause.<br />
Auf wieviele Erinnerungen hätte ich aber auch verzichten<br />
können, dacht ich mir manches Mal.<br />
Wieviel Schmerz wäre mir erspart geblieben, wär ich nicht<br />
so neugierig gewesen — auf ein Leben außerhalb des bisherigen.<br />
Wieviel glaubte ich wissen zu müssen über mich, ohne zu<br />
bedenken, wieviel Schmerz Kindheitsprägungen bedeuten<br />
können?<br />
Wissen zu wollen, unbedingt, wer ich bin, warum ich so bin,<br />
wie ich bin — das versprach ich mir von Gesprächen, Analysen<br />
und dem Körpergedächnis, ohne zu ahnen, dass die<br />
Seelenlandschaft und die Verwirrung uferlos sein können.<br />
Wer wäre ich geworden, ohne all dem, hab ich mich oft<br />
gefragt und dabei meine Neugier verflucht und doch…die<br />
Erinnerungen sind ein Teil von mir und warten darauf, neu<br />
aufgerollt zu werden, von der Person, die ich heute bin,<br />
erwachsen genug, um die Schubladen neu zu ordnen und<br />
dabei schon längst Vergessenes neu zu definieren und zu<br />
bewerten mit der nötigen Portion Verständnis auch dafür,<br />
dass manches nie heilen kann, aber umarmt werden will<br />
von mir.<br />
Susanne Klinger<br />
Geb. und aufgewachsen in U-Hausmening; Tanz &. Waldpädagogin,<br />
Dipl. Sozialpädagogin; geht gerne ins Theater und ins Kino;<br />
liest Gedichte und versucht sich seit kurzem im Schreiben; besonders<br />
die 45 - Sec. Texte bei den Schreibwerkstätten der LitGes<br />
(jeden 1. Mittw. um 18 h im Büro) haben es ihr angetan.<br />
Prosa<br />
©Gotthard Obholzer, Atelieransicht Stubaital
Holz|Oktober 2016<br />
51<br />
Gerhard Benigni<br />
Und die Säge, die hat Zähne...<br />
Schnitt. Blattwechsel.<br />
Weinkrampf (nicht zu verwechseln mit „Mein Kampf“)<br />
Anne und Frank. Unsäglich verliebt. Romantik purpur.<br />
Roter Faden. Liebe. Lust. Leidenschaft. Anfangs. Später<br />
dann. Leiche. Verstümmelt. Säg sie, säg sie, Lover. Mehrere<br />
Teile. Ohne Happy End.<br />
Schnitt. Blattwechsel.<br />
Blattgold<br />
Das beschwingte Sägewerk „Blattgold“ wurde von dem<br />
Holzgroßindustriellen und Gelegenheitskomponisten Johann<br />
Blatter ursprünglich bereits im Jahr 1973 als Einmannstück<br />
für Holzsägeinstrumente konzipiert.<br />
Nach zahlreichen Überarbeitungen wurde es vergangenen<br />
Mai im Kalkbergstadion von Bad Segeberg als Orchesterversion<br />
für singende Sägen uraufgeführt. Siebenundsiebzig<br />
singende Sägen, unplugged, ohne Beteiligung von<br />
Motor-, Kreis- und Stichsägen, vom Blatt gespielt. Die<br />
handverlesenen Stücke reihten sich unter der zackigen<br />
Dirigenz von Jan Schneider nahtlos aneinander. Besondere<br />
Beachtung fand das mit Spannung erwartete Laubsägensolo.<br />
Die mehrminütige Präzisionsarbeit des virtuos<br />
hantierenden Solisten Erich Holzer begeisterte maßlos<br />
und rührte das fachkundige Publikum vorwiegend in den<br />
vordersten Reihen zu Spänen in den Augen.<br />
Das Grande Finale bildete ein schnittiges Vierergespann<br />
aus Bogensägern, das durch heulende Fuchsschwänze<br />
untermalt wurde.<br />
Mit etwas Verspätung setzten kurz vor Ende zwei Zugsägen<br />
ein. Dieser kleine Schnitzer wurde jedoch professionell<br />
überspielt, ohne der Aufführung den Wind aus den<br />
Sägen zu nehmen. Alles in allem kann der gelungene Konzertabend<br />
als ein Sägen für die anwesende Menschheit<br />
angesehen werden. Schenkt man dem Bad Segeberger<br />
Lokalblatt Glauben.<br />
Schnitt. Blattwechsel.<br />
Die zersägte Jungfrau<br />
Das hat sie nun von ihrer ständigen Forderung nach Halbe-Halbe.<br />
Beim Wein spricht man von Gärung.<br />
Auch beim Holz. Die damit bezeichnete Eckverbindung<br />
von zwei Holzteilen schreibt sich jedoch anders, nämlich<br />
mit e und h.<br />
Begehrt sind seltene und teure Weine. Doch auch die können<br />
mitunter holzig schmecken, ohne dass es sich gleich<br />
um einen Verschnitt handelt.<br />
Und trinkt man zu viel Wein, besteht die Gefahr, Gicht<br />
zu bekommen und keinen Weinkrampf. Aber geeichte<br />
Kampftrinker kennen keinen Scherz.<br />
Schnitt. Blattwechsel.<br />
Unrunning Sushi<br />
Nokogiri. Das klingt doch nach Nigiri-Sushi. Mjam, jam,<br />
jam. Sofort online bestellen. Doch stopp! Halt! Wo geht<br />
denn der Link hin? Sägenspezi – der Sägenzubehörspezialist.<br />
Und was steht da? Nokogiri arbeitet auf Zug. So, so,<br />
ein japanischer Lokführer? Nein, so einfach lässt sich das<br />
nicht ins Deutsche übertragen. Nagasaki ist schließlich<br />
auch kein kleiner Reisweinbeißer. No way. No-go. Nokogiri<br />
ist eine sehr sensible japanische Säge, die infolge ihrer<br />
geringen Blattstärke und der fehlenden Schränkung unter<br />
Druck keine Leistung bringt. Klein und fein. Von wegen<br />
big in Japan.<br />
Schnitt. Blattwechsel.<br />
Musculus serratus anterior<br />
Der vordere Sägemuskel gehört zur hinteren Gruppe der<br />
Schultergürtelmuskulatur. Die Bezeichnung „serratus“<br />
bedeutet sägezahnartig und stammt vom gezackten Ursprung<br />
des Muskels an den Rippen.<br />
Bei einer Brustvergrößerung mittels Silikonimplantat<br />
spielt der vordere Sägemuskel eine besondere Rolle. Das<br />
Implantat kann so eingesetzt werden, dass es fast komplett<br />
mit Muskulatur bedeckt wird. Das Implantatfach<br />
besteht dabei zum Teil aus den gelösten Ansätzen des<br />
Sägemuskels und bietet dem Silikongelkissen somit einen<br />
Rundumaufprallschutz.<br />
Prosa
52 Holz|Oktober 2016<br />
Schnitt. Blattwechsel.<br />
Schnitt. Blattwechsel.<br />
Nicht schlecht, Herr Brecht!<br />
Um es mit Brecht zu sagen, nicht mit Marianne Sägebrecht,<br />
sondern mit Bertolt: „Wer die Dreigroschenoper nicht ehrt,<br />
ist den Messer nicht wert.“ Kein Fallfehler. Der Messer.<br />
Der Mackie. Nicht Donald’s. Mackie Messer. Dieser Hurensohn.<br />
Spannende Figur. Ein berühmt-berüchtigtes Theaterstück.<br />
Mit Vorspiel und schmutzigen Bildern. Doch erst<br />
die Musik macht das Werk zu einem kurtweilligen Stück.<br />
Die Platte besteht nicht aus Vinyl, sondern aus Ede, Jimmy,<br />
Münz-Matthias, Hakenfinger-Jakob, Trauerweiden-Walter<br />
und Säge-Robert. Mackies Gangstertruppe. Und die arme<br />
Polly Peachum rennt durch die Hochzeit mit Mackie voll ins<br />
offene Messer. Der Groschen fällt. Zwei weitere auch. Dann<br />
der Vorhang. Großes Kino.<br />
Anmerkung: In der aktuellen Inszenierung am Theater an<br />
der Wien stimmbändigt Tobias Moretti die Moritat von Mackie<br />
Messer.<br />
Allgemeiner Tenor: gar nicht zum Einrexen. Nur Schäfer-Elmayer<br />
vergriff sich bei seiner Kritik im Ton und tanzte damit<br />
aus der Reihe.<br />
Szegediner Gulasch im Zwiespalt mit der österreichisch-ungarischen<br />
Diphthongie<br />
Ausgesprochen gut hat es geschmeckt. Doch Geschmäcker<br />
sind bekanntlich verschieden. Aussprachen auch.<br />
Szegediner leitet sich unumstritten von Szeged [ßägäd] ab,<br />
einer Stadt im südlichen Ungarn. Unabhängig vom Würzgrad<br />
beginnend mit scharfem S. Kein Schegediner. Und ä<br />
statt e. Indessen kommt bei Gulyás ein sch am Ende. Sch<br />
statt s. So ein Gulyás, das ist ein Rinderhirt. Wenn man<br />
also schon meint, das Szegediner mit anderen Gulaschen<br />
in einen Topf werfen zu müssen, dann zumindest bitte nicht<br />
mit Schweinefleisch.<br />
Das Schweinsgulasch heißt nämlich Pörkölt oder Paprikás.<br />
Mit sch, eh schon wissen. Doch dieses Fettnäpfchen sollte<br />
man lieber auslassen und stattdessen gleich einen ausgelassenen<br />
Mulatschag feiern. Da denken bestimmt alle<br />
an Piroschka. Oder doch besser bei einheimischer Hausmannskost<br />
à la Hackschnitzel bleiben?<br />
Schnitt. Blattwechsel.<br />
Schnitt. Blattwechsel.<br />
Stichwort Stichsäge<br />
Sprichwörtliche Randnotiz<br />
Wo gesägt wird, fallen Späne. Wo gespannt wird, fallen Hüllen.<br />
Nur weil zuerst die Kreissäge unrund läuft und einen dann<br />
auch noch die Stichsäge im Stich lässt, muss man nicht<br />
gleich vom Fluch und Sägen der modernen Technik sprechen.<br />
Schnitt. Blattwechsel.<br />
Schnitt. Blattwechsel.<br />
Uneingeschränkte Schlussoffensive<br />
Gehet hin mit Gottes Sägen!<br />
Weibliche Prostatabeschwerden<br />
Prosa<br />
Die Sägepalme ist eine zwittrige Fächerpalme. Ihr Stamm<br />
steht selten aufrecht und ist mit ausdauernden Blattscheiden<br />
bedeckt. Aus den Früchten der Sägepalme werden<br />
Phytopharmaka gegen benigne Prostatahyperplasie gewonnen.<br />
Was manche Feministin extremeren Auswuchses<br />
dabei auf die Palme bringt: Entgegen sämtlichen Bestrebungen<br />
der Gleichbehandlung bleibt die gutartige Vergrößerung<br />
der Vorsteherdrüse auch weiterhin ausschließlich<br />
Männern vorbehalten.<br />
Gerhard Benigni<br />
Wurde 1973 in Villach geboren. Dort lebt, arbeitet und schreibt<br />
er auch. Sein erstes Buch „Fertigteilparkettboden. Im Niedrigenergiereihenhaus.“<br />
ist 2015 erschienen, sein zweites Buch „Der<br />
Usambaraveilchenstreichler auf dem Weg zum Südpol“ im April<br />
2016 bei SchriftStella. Mehr über den Autor: www.gerhardbenignialleineistdochvielzukurzalshomepagename.at
Holz|Oktober 2016<br />
53<br />
Heinz Zitta<br />
Der Resonanzboden<br />
Herr Paul macht eine Führung durch das neu adaptierte<br />
Resonanzmuseum.<br />
„Bitte achten Sie auf den Klang Ihrer Absätze auf dem Holzfußboden.“<br />
Was meint er?<br />
„Nein, mit Turnschuhen geht das nicht. Vielleicht die Dame<br />
hier?“<br />
Er zeigt auf eine Besucherin mit rotem Minirock, pinken<br />
Strümpfen und roten, hochhackigen Schuhen.<br />
„Würden Sie für uns einmal mit Ihren Absätzen im Takt<br />
klopfen?“<br />
Dabei tippt er selbst mit seinen Schuhen ein Da-da-da-da<br />
auf den Boden.<br />
Die pink bestrumpfte Dame wirkt sichtlich überrascht, aber<br />
dann folgt sie der Aufforderung und klappert mit ihren High<br />
Heels ebenfalls da-da-da-da.<br />
„Hören Sie, der warme Klang? Das ist Fichte.“<br />
Wo bin ich hier gelandet? Holzsorte erkennen durch Absatzklappern?<br />
„Und wenn Sie mir in den nächsten Raum folgen“, fährt<br />
Herr Paul fort, „dann kann ich Ihnen den Unterschied zwischen<br />
Ahorn und Buche erklären. Hier, die linke Hälfte des<br />
Raums ist hochwertiges Ahornfurnier.“<br />
Furnier als Parkettboden? Ist das nicht etwas dünn?<br />
„Wir verwenden mehrschichtig verleimte Ahornfurniere,<br />
um den gewünschten Klang zu erreichen. Bitte, gnädige<br />
Frau, könnten Sie für uns wieder?“<br />
Und er deutet mit seinen Schuhen an, dass Frau Pinkstrumpf<br />
nochmals ihre High Heels einsetzen soll. Was sie<br />
auch gleich tut, diesmal mit mehr Selbstbewusstsein und<br />
beachtlichem Rhythmusgefühl: daa, da-daa, da-da-da-dada-daaa.<br />
Die anderen Besucher lachen. Was ist das hier? Eine kindergerechte<br />
Darstellung, um den an sich trockenen Museumsalltag<br />
aufzulockern? Oder hat das doch einen ernsthaften<br />
Hintergrund?<br />
„Diese Schaustücke …“, beginnt Herr Paul seine Erklärung.<br />
Schaustücke? Aber der Raum ist doch ganz leer?<br />
„Diese Schaustücke …“, setzt Museumsführer Paul nochmals<br />
an und zeigt auf den Holzfußboden, „sind Leihgaben<br />
der Firma Bösendorfer. Die Firma hat über 100 Jahre Erfahrung<br />
mit der Holzauswahl für Resonanzböden.“<br />
Wen interessiert die Resonanz eines Holzfußbodens? Bösendorfer?<br />
Machen die nicht Klaviere?<br />
„Die Resonanzböden“, erklärt Herr Paul, „sind das Geheimnis,<br />
das Know-how schlechthin der Bösendorfer Konzertflügel.<br />
Der durch die Kombination von Fichte, Ahorn und<br />
Buche erreichte Klang ist weltweit einzigartig.“<br />
Aha! Und weil das beim Klavier „Resonanzboden“ heißt,<br />
kann man ihn auch auf dem Boden verlegen und so zu<br />
einem Museumsstück machen, wird mir die Sache allmählich<br />
klar.<br />
„In diesem Haus, dem Resonanzmuseum der schönen<br />
Klänge, werden alle Stimmen eingefangen und wie durch<br />
einen riesigen Resonanzboden verstärkt.“<br />
Herumtrampelnde Besucher mit Stöckelschuhen als Quelle<br />
schöner Musik? Ein ganz neuer Ansatz und billiger als eine<br />
Eintrittskarte für das Neujahrskonzert.<br />
Heinz Zitta<br />
Geb.1950, lebt in Villach und arbeitete als Entwicklungs-<br />
Ingenieur in der Elektronik-Industrie. Kreatives Schreiben<br />
ist für ihn ein willkommener Ausgleich zu den exakten Anforderungen<br />
seines technischen Berufs.<br />
Seine literarischen Interessen umfassen Kurzgeschichten,<br />
Satire und Reiseberichte. Bisher einige Veröffentlichungen<br />
in Anthologien. heinz.zitta@netcompany.at<br />
Prosa
54 Holz|Oktober 2016<br />
Vereinsleben<br />
Schreibwerkstätte im Schloss Drosendorf<br />
Zum 14. Mal residierte die LitGes St. Pölten im Schloss<br />
Drosendorf.<br />
Im historischen Ambiente weilten 14 AutorInnen aus<br />
ganz Österreich anläßlich der Schreibwerkstätte und holten<br />
sich vom Schloss, der schönen Altstadt sowie dem<br />
Schlossgarten innerhalb und ausserhalb der Mauern zahlreiche<br />
Ideen.<br />
In dieser Schreibwoche, unter der Leitung von Eva Riebler,<br />
Obfrau der LitGes, wurden am Morgen zur Auflockerung<br />
innerhalb von 45 Sek. Schreibzeit Texte erstellt. Die Themenvielfalt<br />
dieser kurzen Miniaturen oder Assoziationen<br />
war groß: z.B. Nacktschnecke, Umleitung, Ackerblume.<br />
Grüßen, Kaiser, Rolle, Watte, Schluss oder Strich….<br />
Themen zu oft nur 20 Min. Arbeitszeit lauteten wie folgt:<br />
Geh`ma Schaumrollen schaun!, Und wie kommst Du auf<br />
diese Idee?, Wem die Stunde schlägt!, Holzweg, Maske,<br />
Bachbett, Er hängte ihr eine Kette um, …Und jetzt Luft<br />
und Liebe!, Ich grüße Dich!, Blick zum Himmel ….<br />
Fotos©Eva Riebler-Üleis<br />
1. Reihe von links: Christine Huber, Christine Korntner, Gerti Artner, Renate Katzer, Milena Guger-Zuser, Eva Riebler, Elfriede<br />
Starkl, Ernst Punz<br />
2. Reihe von links: Marlen Kühnel, Eva Maria Miksche, Hans Peter Ausserhofer, Ingrid Messing, Gabriela Bellevue, Karl<br />
Michael Miller
Vereinsleben Holz|Oktober 2016<br />
55<br />
14. Lesung der Literarischen Gesellschaft =<br />
Litges St. Pölten im Weiß Bad von Drosendorf,<br />
sogenannte Kabinenlesung.<br />
Ihre Prosa und Lyrikwerke wurden in einer Abschlusslesung<br />
am 4. August 2016 im ehemaligen alten Bad, genannt Weiß<br />
Bad am Ufer der Thaya ab 16 Uhr dargeboten.<br />
Es wurde zeitweise aus einer Holzumkleidekabine vorgetragen.<br />
Die TeilnehmerInnen konnten sich über langjährige<br />
BesucherInnen und neue ZuhörerInnen freuen. Die zauberhafte<br />
Kulisse des Naturbades, schönes Wetter und sehr abwechslungsreiche<br />
und kreative Wortschöpfungen mit zum<br />
Teil schauspielerischen Einlagen trugen zum großen Erfolg<br />
der Lesung bei.<br />
Die Stadtgemeinde Drosendorf unterstützte die LiteratInnen<br />
mit Beistellung der Sesseln, Tische und einer Aussendung<br />
in der Gemeindezeitung.<br />
Dafür herzlichen Dank .<br />
Gertraud Artner<br />
Thema: Er hängte ihr eine Kette um<br />
Die Kettenfrau<br />
Mit kräftigen Bürstenstrichen beendete Sissi ihre tägliche<br />
Abendtoilette. Sie hob den Kopf und betrachtete ihr Spiegelbild:<br />
Nicht schlecht für ihr Alter, sie konnte zufrieden<br />
sein. Das meinte wohl auch Herrmann, der mit leuchtenden<br />
Augen hinter sie getreten war. Er legte ihr eine Kette um<br />
den Hals und flüsterte in ihr Ohr:“Für immer mein!“<br />
„Ach, Herrmann“, schmunzelte Sissi,“du hast unseren<br />
Hochzeitstag nicht vergessen. Erinnerst du dich noch<br />
an das Lebkuchenherz, das du mir damals am Kirtag geschenkt<br />
hast? Für immer Dein - so muss es heißen!“ Herrmann<br />
blieb ernst, seine Hände lagen jetzt auf ihren Schultern<br />
und hielten sie fest. „Unsinn“, brummte er,“du gehörst<br />
mir. Das war die letzten 33 Jahre so und daran wird sich<br />
auch in Zukunft nichts ändern.“<br />
Sissi fröstelte, ihre Nacktheit unter dem dünnen Nachthemd<br />
wurde ihr unangenehm bewusst. Die Kette lag<br />
schwer auf ihrer Brust und schnitt Ihr in den Nacken. Doch<br />
nach 33 Ehejahren konnte sie eine Szene wie diese nicht<br />
wirklich überraschen, ebenso wenig die dezente Whiskyfahne<br />
Herrmanns, die sie beiläufig registrierte.<br />
Mitt einer geschickten Drehung entwand Sissi sich dem<br />
Griff ihres Mannes und blickte ihm in die Augen. Dann<br />
bewegte sie sich ein paar Schritte zurück. Wollte sie tanzen?<br />
Es war eher ein Hüpfen, wie Flugversuche, zuerst nur<br />
einzelne kleine Sprünge, dann immer schneller, die Kette<br />
hüpfte mit. Immer höher und wie von Sinnen sprang Sissi<br />
mit klirrender Kette um den völlig erstarrten Herrmann und<br />
rief: “Na los, worauf wartest du? Lass uns anstoßen auf diesen<br />
Freudentag!“<br />
Thema: Blick zur Wand<br />
Über die Bedeutung des freien Blickes<br />
Ich möchte nicht so weit gehen, Bewohnern enger Gebirgstäler<br />
von vorneherein einen Hang zur Engstirnigkeit zu unterstellen.<br />
Ebenso wenig ist das Leben in weitläufigen Ebenen<br />
ein Garant für geistige Weitsicht und Aufgeschlossenheit.<br />
Für meine Person kann ich aber mit Sicherheit sagen: Wenn<br />
mir etwas wirklich unangenehm ist, dann ein Sitzplatz mit<br />
Blick zur Wand. Um wie viel gemütlicher, ja privilegierter<br />
hingegen ist es, mit dem Rücken zur Wand die Räumlichkeiten<br />
zu überblicken, die Geschehnisse zu verfolgen, auch<br />
aktiv teilzunehmen: Kellner rufen, Gäste beobachten und<br />
kommentieren, Bekannte begrüßen... einfach herrlich!<br />
Der erzwungene Blick zur Wand über längere Zeit ist Folter,<br />
Folter, Folter. Es macht mich rasend, wenn ich an die grausamen<br />
Strafen in der Volksschule vor gar nicht so langer<br />
Zeit denke: in der Ecke stehen mit Blick zur Wand. Schande<br />
über euch Sadisten und Kinderquäler! Möget ihr in der Hölle<br />
schmoren!<br />
Gabriela Belveus<br />
Blick zur Wand<br />
Vater hatte ihr ein ganz kleines Lied beigebracht am Klavier.<br />
So wie Vater wollte sie einmal spielen! Hingerissen von den<br />
Melodien und direkt aus dem Himmel fallenden Klängen,<br />
die aus Vaters warmen Händen flossen, einfach aus seinen<br />
Fingern kamen. Sie hatte ihn gebeten, es ihr beizubringen.<br />
Aber jetzt.<br />
Auf dem weißen Laken klopfen die Kinderfinger.
56 Holz|Oktober 2016<br />
Vereinsleben<br />
Nichts klang, auch im Kopf hörte es auf zu klingen. Zuhause<br />
war weit, weit weg.<br />
Zwölfbettzimmer.<br />
In der Nacht war die Mutter erschienen, schöner noch, viel<br />
schöner als sie jemals schön war.<br />
Den Blick der Mutter einsaugen. Der nur für sie geneigte Kopf<br />
der Mutter schnitt dem Kind in die Seele. Ins Herz, das konnte<br />
sie nicht sagen oder fühlen oder denken. Daran war sie<br />
vor wenigen Tagen operiert worden. Denken konnte sie überhaupt<br />
nicht, nur schwer daliegen und hin und wieder weinen.<br />
Seele, so was hatte sie in Religion gehört. So was gibt es. So<br />
was hat sie bestimmt. Wunderbar hell und wirklich muss die<br />
sein, wenn auch unsichtbar.<br />
Im Blick die Wand mit den cremeweißen Einbaukästen –<br />
wenn doch, dann in welchem, aber ob überhaupt, - war ihr<br />
Trevira-Faltenröckchen aufbewahrt worden? Mit dem sie<br />
hierher gekommen, das hier deponiert worden war! Denn nie<br />
hatte sie in den so kurzen und wenigen Momenten des Öffnens<br />
eine auch nur winzige materielle Spur des Röckchens<br />
erspähen können – was eine große Sehnsucht war, nach<br />
einem lieben Gruß einer milden und vertrauten Welt.<br />
Sie hätte es so gerne gesehen, ihr Rockerl.<br />
Im tausendsten Blick zur Wand, nichts eingefangen, nichts<br />
aufgetaucht. Und nirgends mehr die Augen der Mutter.<br />
Eine Stunde mit Straßen- und Stadtbahn, hatten sie ihr erklärt.<br />
Ausschließlich sonntags zwischen 13h30 und 14h30<br />
Besuchszeit.<br />
Es muss erwähnt werden, die Operation ist gelungen.<br />
Und die Besuchszeiten haben sich grundlegend verändert<br />
und verbessert. Kein Vergleich.<br />
Milena Guger -Zusser<br />
Thema: Holzweg<br />
Holzweg<br />
Wie kamst du auf die Idee<br />
das Licht abzudrehen<br />
die Türen zu öffnen<br />
aus dem Haus zu gehen<br />
und den Rosenstrauch verwelken zu lassen?<br />
Wie kamst du auf die Idee<br />
das Gras über Geschichten wachsen zu lassen<br />
die erzählt gehört<br />
die aufgeschrieben<br />
die eingebrannt in die steinerne Mauer<br />
ihren Platz haben<br />
wie Springbrunnen<br />
mit Glasperlen leicht<br />
wollte ich das Zeitlose aufbewahren<br />
der Sprung in der Mauer<br />
hat mir gezeigt<br />
es ist gut das Chaos<br />
die Mauer lebt<br />
Sie erzählt das Namenlose<br />
die Geschichten die erzählt<br />
werden könnten<br />
und sich im Winde verlieren<br />
der Sprung in der Mauer<br />
ist weit zu sehen<br />
Tannennadelhaar<br />
Ich raste<br />
Leben im Galopp<br />
die Pferde keuchten<br />
und ließen ihre feuchten Leiber glänzen<br />
Loch im Waldboden stoppte meinen Highway<br />
Tannennadelhaar<br />
im braunverschmierten Gesicht<br />
ließen bläuerne Sternenbilder<br />
meine Nase kitzeln<br />
erdiges Lachen wehte im Wind<br />
Holzweg ward Gold Weg<br />
geworden
Vereinsleben Holz|Oktober 2016<br />
57<br />
Ernst Punz<br />
Thema A: Der Pfau schlägt ein Rad<br />
stammte aus dem kleinen Nest Straßing. Doch sein künstlerischer<br />
Einfallsreichtum machte es ihm leicht aus Namen<br />
und Ort einen Künstlernamen zu formen: Holzweg.<br />
Was macht der Pfau mit seinem Rad?<br />
Pfau hieß mit wirklichem Namen Olivian Zanck. In jungen<br />
Jahren hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht hat, bei<br />
Gelegenheiten, in denen man Ausdrücke wie toll, super<br />
oder wow ausruft, einfach nur „pfau“ zu sagen. Es war unvermeidlich,<br />
dass ihn seine Spielkameraden und Schulkollegen<br />
nicht Pfau nannten.<br />
Pfau war sonst ein lieber Mensch, belesen, gebildet und<br />
meist ein wenig vorsichtig und zurückhaltend. Das einzige<br />
Negative das man über Pfau sagen konnte, ist, dass<br />
er Opernsängerinnen nicht mochte und gelegentlich faule<br />
Witze über sie machte. Pfau war ein begeisterter Sportler,<br />
aber leider auch ein wenig jähzornig.<br />
Eines Tages, Pfau nahm damals an den Krähwinkler Radsporttagen<br />
teil, passierte es. Pfau fiel von seinem Mountainbike.<br />
Wäre dies im tiefen Wald passiert, auf der grünen<br />
Heide oder auf der hohen Alm, hätte es weiter kein Aufsehen<br />
gemacht. Das Missgeschick ereignete sich aber in<br />
der Zieleinfahrt. Zahlreiche Menschen säumten den Pfad<br />
zum Ruhm und jubelten Pfau zu. Dieser riss voreilig, zirka<br />
18 Meter vor dem Ziel, die Hände in die Höhe, begann zu<br />
schlingern, stürzte auf den Asphalt.<br />
Jeder andere Radsportler wäre in dieser Situation wieder<br />
aufgesprungen und mit nur wenigen Sekunden Verspätung<br />
durchs Ziel gebraust. Hier aber wurde Pfau sein Jähzorn<br />
zum Verhängnis. Wie wild drosch er auf sein Mountainbike<br />
ein. Dem Radioreporter, der vom Rennen live berichtete,<br />
blieb zuerst die Spucke weg, konnte sich jedoch nach einigen<br />
Schrecksekunden wieder sammeln und wollte den<br />
Zuhörern zuhause an den Radiogeräten die Dramatik der<br />
Augenblicks in seiner ganzen Aggressivität schildern und<br />
brüllte in sein Mikrofon: „Pfau schlägt sein Rad.“<br />
Ob man ihn zu den bildenden Künstlern zählen durfte oder<br />
zu den Poeten oder gar zu den Komponisten, das war sein<br />
ganzes Leben hindurch nicht wirklich zu klären. Immer<br />
dann, wenn ihm eine Bilderausstellung gelungen war und<br />
auch Niederschlag in der Presse gefunden hatte, drängte es<br />
ihn zur nächsten Kunstform. Herrlichen Gemälden folgten<br />
großartige Gedichte und diesen wieder Oratorien, die in ihrer<br />
Größe und Gewalt mit Leichtigkeit jeden Kirchenchor<br />
überforderten. Holzweg ließ sich nicht gerne einordnen.<br />
Bis schließlich ein im Grunde wohlgesonnener Kulturkritiker<br />
den Fehler beging, am Schluss einer wohlwollenden Kritik<br />
anzumerken, das Holzweg ein noch viel größerer Künstler<br />
sein könnte, als er schon sei, wenn es ihm endlich gelänge,<br />
all seine kreative Kraft zu bündeln und er sich nur mehr<br />
in einer einzigen Kunstgattung verwirklichen würde. Der<br />
Kulturkritiker, ein feinsinniger Formulierer, hatte sich zu<br />
allem Überdruss auch noch hinreißen lassen, seine Kritik<br />
mit dem auf der Hand liegenden, aber banalen Kalauer zu<br />
beenden: Holzweg, sie sind auf dem Holzweg! Dieser eine<br />
Satz, der wirklich keine literarische Großtat war und nicht<br />
einmal Leute zum Schmunzeln brachte, die sonst über Bierzeltwitze<br />
lachen, hatte Holzweg, man kann es nicht anders<br />
sagen, das künstlerische Genick gebrochen.<br />
Tagelang grübelte Holzweg in seiner Stube, wechselte sodann<br />
in seine Galerie, um dort ebenfalls tagelang zu grübeln.<br />
Schließlich begab er sich in die Dorfkirche von Straßing<br />
und erklomm die Chorempore. Nacheinander riss er<br />
alle hölzernen Orgelpfeifen aus ihren Verankerungen – die<br />
Orgelpfeifen aus Zink interessierten ihn nicht – und warf<br />
sie in hohem Bogen hinunter ins Kirchenschiff. Dies wäre<br />
vielleicht zu verheimlichen und in aller Stille zu reparieren<br />
gewesen, wenn nicht zur selben Zeit der sonntägliche Gottesdienst<br />
mit versammelter Kirchengemeinde stattgefunden<br />
hätte.<br />
Thema: Holzweg<br />
Erinnerungen an Holzweg<br />
So geschehen an einem drüben Novembersonntag im Jahre<br />
Schnee. Seither hat man von Holzweg nichts mehr gehört.<br />
Keine Gedichte, keine Oratorien und auch Bilder hat er keine<br />
mehr gemalt.<br />
Eigentlich hieß er mit bürgerlichem Namen Feichtinger und<br />
Was lehrt uns diese Begebenheit? Man soll erstens künst-
58 Holz|Oktober 2016<br />
Vereinsleben<br />
lerische Menschen nicht in Schubladen stecken, schon gar<br />
nicht in hölzerne. Und zweitens soll man auf keinen Fall<br />
Schabernack mit ihren Namen treiben. Man tut der Kunst<br />
damit nichts Gutes.<br />
Ingrid Messing<br />
Und hängte ihr eine Kette um: Schattenplatz<br />
Sie lag im Liegestuhl vor dem Ferienhäuschen. Sie bewegte<br />
sich nicht, hatte die Augen geschlossen. Das Buch:<br />
Erfolgreiche Lebensläufe war bei Seite 295 auf ihren<br />
Schoß geglitten. Keine der erfolgreichen Lebensläufe ist<br />
geschieden, dachte sie.<br />
Die Sonne drang in ihren Schattenplatz ein. Sie drehte sich<br />
von ihr weg. Das Buch fiel in den Sand.<br />
Ich könnte zum Strand gehen, die Nordsee mit den Füßen<br />
fühlen. Aber wenn er wiederkommt, verpassen wir uns.<br />
Sie horchte nach Motorengeräuschen von Autos. Schlafen<br />
würde nicht gehen, Kreuzworträtseln zur Not, mit den Leuten<br />
in den anderen Ferienhäuschen reden, unmöglich, im<br />
eigenen Ferienhäuschen alles umräumen, keine Lust.<br />
Sie schaute auf die Armbanduhr und seufzte nach innen.<br />
Jetzt war er schon drei Stunden weg. Allein.<br />
Für uns gilt: Jeder macht, was er will! Seine Stimme klar<br />
und hell um sie herum.<br />
Aber ich möchte gern mit rumfahren.<br />
Er hatte seine Augen zusammengekniffen, sie angesehen.<br />
Zusammen nur, wenn beide etwas zusammen machen wollen!<br />
Sie zog die Beine an und drückte sich tiefer in den Stoff<br />
des Liegestuhls.<br />
Ja, hatte sie gesagt.<br />
Drei Stunden und 15 Minuten weg, und die Sonne ließ<br />
auch nicht nach. Kein Schatten mehr. Sie versuchte ihr<br />
Gesicht noch mehr wegzudrehen.<br />
Sie griff in den Sand unter ihrem Liegestuhl ließ ihn zwischen<br />
den Fingern ihrer Hand hindurchgleiten. Immer wieder.<br />
Ja, so ging’s. So konnte sie warten.<br />
Wir sind zwei gleichberechtigte Partner! Seine Worte. In<br />
ihr.<br />
Sie griff nach den erfolgreichen Lebensläufen, fuhr mit<br />
dem Daumen über die Seitenränder und schob dann die<br />
Lebensläufe außer Reichweite.<br />
Hans Peter Ausserhofer<br />
Holzweg<br />
Buchführung eines Lebens/ Unvollständig und lückenhaft<br />
Ich bin auf dem Holzweg, war es schon immer, ohne es zu ahnen,<br />
und er führte mich hierher. Vorgezeichnet war er mir, eingeritzt<br />
in den Stamm meines Stammbaumes, das Erbe meiner<br />
Großväter und meines Vaters. Holz war ihr täglich Brot.<br />
Holz ist der vergängliche Körper eines Lebewesens. Mit seinen<br />
Wurzeln klammert es sich an Flussufer, an steile Berghänge,<br />
es dreht und verrenkt sich, bekommt Halt, gibt Halt.<br />
Fällt der Baum, geht das Leben, zurück bleibt Holz, das<br />
Fleisch des Baumes.<br />
Schon als kleiner Junge kletterte ich auf Bäume, verspürte<br />
dabei Angst, tat es dennoch – weiß der Teufel, warum.<br />
„Du wolltest ihn fühlen, den Holzweg.“<br />
Holzspielzeug, das ich verbinden konnte, das Holzkreuz in<br />
Großmutters Küche, die ungepolsterten hölzernen Kirchenbänke<br />
– frühe Kindheitserinnerung. In der Schule saßen wir<br />
auf Holzsesseln vor Holztischen.<br />
Damals waren die Fernsehgeräte fast so tief wie breit, das<br />
Programmniveau höher – oder ich weniger anspruchsvoll?<br />
– das Bild schwarz-weiß, der Kanalwechsel beschwerlich,<br />
der Sendeschluss berauschend. Captain Kirk und Mr. Spok<br />
suchten neue Welten und verscheuchten die Klingonen;<br />
Käpt’n Ahab humpelte mit seinem Holzbein über das Deck<br />
und hielt Ausschau nach Mobby Dick, Pinoccio erwachte zum<br />
Leben, war oft eine Nasenlänge voraus; in der Werkstatt von<br />
Schreinermeister Eder nistete sich ein Kobold ein, und der<br />
Film „Roots“ – Wurzeln – kratzte am glänzenden Lack der<br />
Vereinigten Staaten.<br />
Die Schule beendete ich mit mäßigem Erfolg. Der Schulweg<br />
war nicht der meine. Ich nahm den Holzweg, wurde Tischler.<br />
Möbeltischler.<br />
Möbel werden aus Spanplatten gemacht, und Spanplatten<br />
haben mit Holz so viel zu tun wie Fischstäbchen mit Fisch.<br />
Jahrelang tischlerte ich vor mich hin, Spanplatte für Spanplatte,<br />
Fischstäbchen für Fischstäbchen. Unzufriedenheit gärte<br />
in mir, ließ mich den Arbeitgeber wechseln, aber auch dort<br />
nur Fischstäbchen. Neuerlicher Wechsel und wieder Fischstäbchen…!<br />
Ich hatte mich verirrt, war auf dem Holzweg. Mir<br />
fehlte der Mut ihn zu verlassen, hatte Familie, Verantwortung.<br />
Womit sollte ich sonst unseren Lebensunterhalt verdienen?<br />
Konnte nur tischlern, sonst nichts.<br />
Ich begann wieder zu klettern, diesmal an Felswänden. Hatte
Vereinsleben Holz|Oktober 2016<br />
59<br />
dabei Angst, tat es dennoch – weiß der Teufel, warum.<br />
„Du armer Teufel, warst auf der Suche nach deinem Holzweg.“<br />
Zu zweit kletterten wir eine Wand hoch. Ich umklammerte<br />
Felsnasen, krallte meine Finger in Felsritzen. Auf einem Absatz<br />
stand ein kleiner, knorriger Baum. Es schien mir, als wäre<br />
er auf dem Holzweg. Hier oben, inmitten der Felsen, konnte<br />
doch unmöglich ein Baum wachsen. Aber er war da, und ich<br />
kletterte weiter, entlang der scheinbaren Unmöglichkeit.<br />
Noch immer tischlerte ich mit Fischstäbchen. Der Holzweg<br />
wurde zum Hohlweg, ohne Ausblick nach links und rechts,<br />
nur noch die fade Mitte. Versuchte herauszukommen aus<br />
dem Hohlweg, ihm zu entkommen, schaffte es nicht, die Böschung<br />
war hoch und sandig. Lustlos ging ich in und an die<br />
Arbeit.<br />
Es gibt Momente, die teilen das Leben in ein Davor und Danach.<br />
Ein Kabarett-Künstler kam in unsere Stadt. Zwei Monate<br />
zuvor kaufte ich zwei Karten, für meine Frau und mich.<br />
Aber bei der Vorstellung war der Platz neben mir leer. Uns<br />
beiden standen schwere Monate bevor, der Ausgang war ungewiss.<br />
Enttäuscht war ich vom Programm des Künstlers, doch dann<br />
teilte er mein Leben in ein Davor und Danach.<br />
In einem minutenlangem Redefluss hinterfragte er unsere<br />
Gesellschaft, blieb aber nicht bei Politik und Wirtschaft hängen,<br />
er hinterfragte auch den Bürger, den kleinen Mann von<br />
der Straße, letztendlich hinterfragte er uns, sein Publikum.<br />
Die Botschaft hinter den Worten – lasst euch nicht alles gefallen,<br />
nicht für dumm verkaufen, wir haben Verantwortung<br />
für das, was wir tun oder nicht tun.<br />
Er packte uns bei den Schultern, rüttelte uns auf, hielt jedem<br />
einen Spiegel vor. Tausend Menschen saßen vor tausend<br />
Spiegeln, und es wurde still. Kein Husten, kein Räuspern, kein<br />
Lachen, kein Applaus, nur Betroffenheit, weil es einen selbst<br />
betrifft. Mir sprach er aus tiefster Seele, endlich einer, der<br />
das sagt, was ich fühle. Ich sah auf den leeren Platz neben mir<br />
und begann zu klatschen. Langsam, mit Nachdruck klatschte<br />
ich als Erster in die Stille hinein, hörte ein zweites Klatschen,<br />
ein drittes. Am Ende waren wir nur fünf oder sechs, von tausend,<br />
die Position bezogen. Vielleicht hatten auch sie eine<br />
schwere Zeit vor oder hinter sich, und die Tausend nur Angst,<br />
sich zu blamieren. Für mich war es das erste Mal, daß ich<br />
mich so weit hinauslehnte.<br />
Ein Freund heiratete, wählte mich zum Trauzeugen. Ich suchte<br />
ein Geschenk und kam zum Schreiben. Erbärmlich waren die<br />
ersten Gehversuche, aber es machte Spaß.<br />
Zweiter Bildungsweg<br />
Papier ist Zellulose, und Zellulose ist Holz. Da war er wieder,<br />
mein Holzweg.<br />
Das schriftstellerische Schreiben erlernte ich in einer ausgedienten<br />
Prothesenmacherei. In den Kellerräumen lagen noch<br />
die hölzernen Füße und Beine, in der Werkstatt hingen die<br />
Werkzeugkästen, gefüllt mit Stemmeisen, Hobel, Säge, Hammer<br />
und Beißzange. Unter den Kästen Werk- und Hobelbänke,<br />
der Holzfußboden knarrte und ächzte bei jedem Schritt.<br />
Auf einer Fensterbank stand ein leerer Leimtopf, auf einer<br />
anderen ein Gipstopf, auch leer. Ich hab nachgesehen. Es<br />
war beinahe eine Tischlerwerkstatt, ähnlich jener von Meister<br />
Eder. Nur der Pumuckl fehlte. In diesen Räumen, in denen<br />
Versehrten Hoffnung gegeben wurde, lernte ich nicht nur<br />
das Schreiben, sondern auch das Fragenstellen. Wer fragt,<br />
braucht Mut. Ich aber hatte Angst, tat es dennoch; weiß der<br />
Teufel, warum.<br />
„???“<br />
Zuerst fragte ich nur mich selbst, schon bald tat ich es im<br />
kleinen Kreis von Freunden und Bekannten, redete nur leise,<br />
wurde mit der Zeit mutiger, lauter. Ausgelacht hat man mich<br />
selten, und wenn, dann meist zu Recht.<br />
Jetzt frage ich danach, ob es sein könnte, dass Schriftsteller<br />
und Literaten die Prothesenschnitzer einer Gesellschaft sind,<br />
die dafür sorgen, dass ein Volk noch wenigstens humpeln<br />
kann, nachdem ihm von Holzköpfen die Beine ausgerissen<br />
wurden. Und wer bitte pflegt die gepeinigte Volksseele, damit<br />
sie nicht so verkümmert wie die von Käpt’n Ahab?<br />
Bin ich mit diesen Fragen auf dem Holzweg?
60 Holz|Oktober 2016<br />
Vereinsleben<br />
Christine Huber<br />
Thema: Bachbett<br />
Ich sitze beim Bachbett am Kamp.<br />
Das rostbraune, eisenhaltige Wasser purzelt zwischen den<br />
riesigen Granitblöcken<br />
und verschiedenen Wasserläufen an mir vorbei.<br />
Purzelkamp, Großer Kamp, Kleiner Kamp, Stiller Kamp, Ritterkamp…<br />
Viele Namen haben die Kampflüsse bis sie sich zu einem<br />
großen Fluss vereinen.<br />
Lobet und preiset!<br />
Der Blick geht zum Himmel.<br />
Michael Klaus Miller<br />
Thema: Gemma Schaumrollen schauen<br />
Kirtag<br />
Das Wasser erzählt mir seine Geschichte.<br />
Es erzählt vom Meer, von Erdbewegungen, Naturkatastrophen,<br />
dem Werden des Flusses<br />
und von den Menschen, die in dieser unberührten Natur<br />
leben.<br />
Ich spüre die Kraft des Wassers.<br />
Geborgenheit, Zuversicht, Vertrauen, Liebe zur Schöpfung<br />
breiten sich aus.<br />
Ich werde ruhig.<br />
Ich bin glücklich.<br />
Thema: Blick zum Himmel<br />
Liebes-Himmel<br />
Rosen-Himmel<br />
Im 7. Himmel sein<br />
Zwischen Himmel und Erde<br />
Zornes-Himmel<br />
Himmelsleiter<br />
Tears in heaven<br />
Der Himmel heilt<br />
So-sei- es-Himmel<br />
Gnaden-Himmel<br />
Freuden-Himmel<br />
Jubilate- Deo-Himmel<br />
Alle Orte da<br />
tragen gemeinsam eisern<br />
Pflichtbewußtsein fort<br />
Gebäck auch nur Mehl<br />
oberflächlich, nicht aber<br />
Kennenlernlüste<br />
Überall und woher<br />
Schaumrolle muß sofort her<br />
wo bleibt Begegnung?<br />
Thema: Und jetzt Luft und Liebe<br />
Luft und Liebe<br />
Orchidee beginnt<br />
ihr Liebeswerben morgens<br />
Tautropfenspiele<br />
Der Kuß der Farben<br />
umarmt Liebespaar sanft, schön<br />
Neuentdeckungen<br />
Musik, die entspringt<br />
glühende Liebe bleibend<br />
Metamorphose<br />
Thema: Und, wie kamst du auf diese Idee?<br />
„Himmel“ - so lautet ein Bilderzyklus von mir.<br />
Er erzählt von verschiedenen Stadien und Zuständen hier<br />
auf Erden und im Himmel.<br />
Er endet mit dem goldenen Jubilate-Deo-Himmel.<br />
Unbekannt schön<br />
Gestern hatten sie sich getroffen. Am Brunnen. Das Wasser<br />
erzeugte kleine Regenbögen.
Vereinsleben Holz|Oktober 2016<br />
61<br />
Moos konnte man erkennen, wenn man genauer hinsah.<br />
Noch während des Kirtages war die Sympathie beider zueinander<br />
gestiegen. Sie, die an diesem Abend als Kellnerin<br />
während des Kirtages aushalf, hatte ihn gleich von Anfang<br />
an durch ihr geheimnisvolles Lächeln in staunendes Interesse<br />
versetzt. Dieses war geblieben.<br />
Kurz vor Ende des Festes hatte sich eine Gelegenheit zu<br />
einem kurzen Gespräch ergeben. Heute hatten sie sich getroffen.<br />
Die Spannung stieg. Ob er sie zuerst reden, fragen<br />
ließ? Aussagen, liebevoll gemacht, gleich hinterfragen. Wer<br />
bist du? Wie, woher bist du auf diese, jene Idee gekommen?<br />
Ihre Phantasie glich lichtleitendem Wasser, grün und doch<br />
in den buntesten Farben. Alles wie unter elektrischer Spannung.<br />
¨Du¨, ¨Du¨ ist da. Ansprache, umschlinge mich!<br />
Lasse mich dich entdecken!¨ Ich freue mich dich zu treffen!¨,<br />
sagte sie. Ihre Augen glänzten so wie während des<br />
Kirtages, strichen über mich. Ich hätte sie gerne geküßt.<br />
Doch dazu kam es noch nicht.<br />
Christine Korntner<br />
Thema: Gemma Schaumrollen schau’n<br />
Kirtagsmusi<br />
Von Geschäften heimwärts braust<br />
im flotten Cabrio der Doktor Zaust<br />
im dunklen Anzug mit Krawatte,<br />
weil er zum Umzieh’n sonst nichts hatte,<br />
nur seinen Laptop in der Taschen<br />
auf dem Sitz neben sich. Jetzt was zum Naschen,<br />
denkt er, und was zum Essen,<br />
drauf hätt ich fast vergessen.<br />
Und plötzlich, kommt ihm vor,<br />
drängt Kirtagsmusi an sein Ohr,<br />
und Bratenduft kommt auch in Wogen.<br />
Schon ist der Doktor abgebogen,<br />
um sich im Gedränge umzusehen<br />
und einen Hendlgriller zu erspähen.<br />
Bald darauf, mit einem Stanitzel,<br />
drin Pommes und ein Schnitzel,<br />
zieht er ein paar Runden,<br />
um unbemannte Weibsen zu erkunden<br />
für ein klitzekleines Abenteuer<br />
zur Geschäftsreisenquasiabschlußfeier.<br />
Unpasssend wie nur was<br />
im dunklen Anzug durch das Gras<br />
stapft er zum Schießstand, Ringelspiel,<br />
bis zum Tanzboden durchs Gewühl.<br />
Und dort, neben der Schank,<br />
sitzt ein blonder Engel auf der Bank.<br />
Er denkt: Ist das ein frischer Happen,<br />
den wird ich mir schnappen!<br />
Schnell wird das Schnitzel deponiert,<br />
mit Grandezza weltmännisch hofiert;<br />
das Mägdelein, verwirrt<br />
vom dunklen Anzug, wird entführt<br />
und hängt nun in seinem Arm<br />
mitten drin im Tänzerschwarm.<br />
Bald hört man den Doktor schnaufen:<br />
Schatz, was soll ich dir denn kaufen?<br />
Schaumrollen, eine oder zwei,<br />
haucht die schöne Lorelei.<br />
Und vom Zuckerschaum verklebt,<br />
hat das Mägdelein gebebt;
62 Holz|Oktober 2016<br />
Vereinsleben<br />
er hat ihr den Zucker weggeküsst,<br />
wie das so am Kirtag ist.<br />
Wieder zu Hause angekommen<br />
sieht er die Gattin nur verschwommen.<br />
Sie fragt: Wo treibst du dich herum?<br />
Er hängt ihr eine Kette um<br />
aus böhmischen Granaten,<br />
die viel mehr gekostet hatten<br />
als die Schaumrollen im blonden Haar –<br />
gestern, als es so viel schöner war.<br />
Thema: Und jetzt (……) Luft und Liebe<br />
Ödipus<br />
Lieb Mütterlein hat mich verlassen.<br />
Ich, Ödipus, steh’ auf der Strassen,<br />
ohne Schutz und ohne Halt.<br />
Wo ist eine weibliche Gestalt,<br />
die mich an ihren Busen drückt,<br />
in meine wunde Seele blickt,<br />
sich um den verlass’nen Buben kümmert,<br />
dem schon das Grau im Haare schimmert?<br />
Wer macht so gut wie Mutter<br />
für mich Mohnnudeln mit Butter?<br />
Wer bügelt mir jetzt meine Hosen,<br />
wem schenk ich zum Muttertag jetzt Rosen?<br />
Wer liebt mich ohne Hemmung,<br />
hilft mir aus der Verklemmung?<br />
Wer lehrt mich aktiv lieben, werben?<br />
Hab nur gelernt zu erben,<br />
bin Bewunderung und Lob gewohnt,<br />
wurd’ von jedem Misserfolg verschont.<br />
Welche Frau kann mich verstehn?<br />
Wie soll das mit mir weiter geh’n?<br />
Eine Idee hab ich jetzt nur:<br />
Ich fahr auf Krankenkassa-Kur.<br />
Elfriede Starkl<br />
Lesen im Waldbodenbuch<br />
Der Nadelteppich lässt die Schritte sanft einsinken. Hie<br />
und da ein Knacksen von einem Ast .Licht dringt kleinfleckig<br />
und zaghaft durch. Es ist zu dunkel, dass Gräser wachsen.<br />
Am Wegrand strecken sich Farne zur Sonne. Der Fichtenwald<br />
ist eng bepflanzt. Ich habe Mühe durchzukriechen.<br />
Da bildet sich ein Nadeldach, etwas Helles blitzt hervor. Ein<br />
Steinpilz, in der Nacht gewachsen, bahnt sich seinen Weg<br />
zur Luft. Wo ein Pilz wächst, ist ein anderer nicht fern. Als<br />
ob sie Blickkontakt wünschten! Unterirdisch ist ihre Verbindung,<br />
unsichtbar und geheimnisvoll. Mir scheint Zwerge<br />
wohnen unter Pilzen und Elfen treiben Schabernack mit<br />
mir, wenn sie einen Ast in Form eines Schwammerls auf<br />
den Weg legen. Ich liebe den Duft des dunklen Waldes,<br />
kann Pilze förmlich riechen. Frisch geschlagenes Holz verwöhnt<br />
die Sinne und Brombeeren überraschen im Herbst.<br />
Der Nadelwald steht immer grün, nur im Winter, in der Kälte,<br />
starrt er schwarz im Schnee.<br />
Renate Katzer<br />
Thema: Holzweg<br />
Der Flößer<br />
Stämme<br />
im tosenden Rausch<br />
des stürzenden<br />
Wassers<br />
verklausen sich<br />
Spielzeug in<br />
Riesenhand mit<br />
brüllendem Lachen an<br />
die Wand geschleudert<br />
so hast du mein<br />
Herzhaus zerschmettert<br />
meinen Gefühlen freien Lauf gelassen<br />
im ruhigen Wasser<br />
der Flößer leitet mich<br />
lautlos – wohin?
Vereinsleben Holz|Oktober 2016<br />
63<br />
Marlen-Christine Kühnel<br />
Thema: … und jetzt Luft und Liebe<br />
Genüsslich räkelt sie sich am Liegestuhl, ihre braungebrannte<br />
Haut glänzt im Duft von Kokosöl, ihre Augen ruhen<br />
unter dem Dunkel der grünumrandeten Brille.- Stille. -<br />
Diese wohltuende Unendlichkeit, ohne Zeit und Raum. Nur<br />
die Thaya strömt unbeeinflusst ihrem Ziel entgegen, um<br />
sich mit der March zu vereinen. Die Fluten brechen sich an<br />
den klobigen Felsen, die ihr den Weg versperren.<br />
Dieses Rauschen dringt unter die Haut, erfrischt die Sonnenbadende.<br />
Dort: Ein Vogel lockt mit seinem Gesang. In<br />
der Ferne rattert ein Motorrad. Drüben am Feld wird die<br />
Ernte eingebracht, der Mähdrescher wirbelt Staub auf. Mit<br />
sanfter Hand streicht der Wind ihr Gesicht. - Stille. -<br />
Nichts da, keine Gedanken stören die allumfassende Natur,<br />
die Schönheit des Augenblicks. Ein Blinzeln. Dort unten hat<br />
der Silberreiher seinen Beobachtungsposten eingenommen.<br />
Jetzt sind sie schon zwei, zwei Seelen an einem Fluss,<br />
eingebettet im Thayatal, fern von Hektik und Massenflucht,<br />
fern vom Alltag und Medientumult. Nur sie und er, der<br />
stolze Vogel dort. All das mitnehmen in die Schwüle der<br />
Stadt, aufs Nachtkastl stellen in schwülen Sommernächten,<br />
wenn die Gäste im Lokal unten durch die Straße grölen<br />
und offene Fenster keine Abkühlung bringen. Einrahmen in<br />
den silbernen Halter und auf die Wand hängen, als Panoramabild<br />
über den Schreibtisch. Ja, der Platz wäre gut! Dann<br />
könnte sie immer an diesen Sommer denken, an das Ufer<br />
der Thaya, an die wohltuende Stille, an den Silberreiher, der<br />
sich majestätisch in die Luft erhebt und den zappelnden<br />
Fisch davonträgt.<br />
Eingebettet in die kühlende Luft der Thaya träumt sie von<br />
der Liebe. Von dem, was sie früher als Liebe verstanden<br />
hat. Heute ist sie Liebe, nichts anderes.<br />
„Träumst du von mir?“ Im weichen Gras hat sie seine<br />
Schritte nicht gehört. Lautlos hat er sich ihr genähert. Jetzt<br />
steht er vor ihr. Bleich, vom Büroalltag gezeichnet, seine<br />
Augen müde.<br />
Ärgerlich erhebt sie sich. „Wie hast du mich gefunden?“<br />
„Ich kenne dich gut, ich weiß, wo du dich zurückziehst,<br />
wenn du flüchtest, wenn du unsere Beziehung in Frage<br />
stellst. Wenn du meinst von Luft und Liebe kann man leben!“<br />
„Ich tue es! Hier und jetzt! Und damit hast du nichts mehr<br />
zu tun! Bitte, lass mich in Frieden!“<br />
„Aber!“<br />
„Kein Aber!“<br />
„Wir müssen reden!“<br />
„Alles ist bereits gesagt!“<br />
Sie geht zum Ufer der Thaya, steigt die wenigen Stufen ins<br />
kühlende Nass und taucht unter. Die grüne samtige Flut<br />
umfängt sie, trägt sie weiter, lässt sie treiben, dorthin wo<br />
Liebe wächst ohne Frage, ohne Thesen, ohne Erklärungen,<br />
der die Mathematik zugrunde liegt.<br />
Flussabwärts taucht sie wieder auf. Der Liegestuhl bleibt<br />
ihm.<br />
Im Luftkurort wohnt Liebe. Ihr bleibt Drosendorf, die Thaya<br />
und die Stille.<br />
Und ihm? Fragen, nichts als Fragen ….<br />
45 Sekundentexte<br />
Umleitung<br />
Wohin? Ach geh,<br />
drüben, ein Schild ich seh,<br />
ein Schild, rot und weiß,<br />
dort gehts im Kreis,<br />
und hier das Feld …<br />
sich in den Weg uns stellt …<br />
Serviette<br />
Dein Honigmund …<br />
die Lippen so weich …<br />
die Serviette dient dazu<br />
deine Lippen zu berühren,<br />
ich wollte, ich wäre sie!<br />
Nacktschnecke<br />
Klebrig die Spur<br />
über den Weg,<br />
Löcher im Salat,<br />
eingeschleppt von irgendwo,<br />
wie so vieles heute!
64 Holz|Oktober 2016<br />
Vereinsleben<br />
Gertraud Artner<br />
Geb.1948 in St. Pölten, Dr. phil., Akademie der Bildenden<br />
Künste (Meisterkl. Hausner) u. Soziologie<br />
Uni. Wien. Ausbildung zur Maltherapeutin, lebt in<br />
Wien u. STP. Kunstvermittlerin. Im LitGes-Vorstand.<br />
Hanspeter Ausserhofer<br />
I bin da Hofer, da AusserHofer Hanspeter, 62er<br />
Jahrgang, bin Tiroler. Veröffentlichungen? Hob i<br />
erschreckend wenig! Auszeichnungen? Brauch i<br />
des? Freude beim Schreiben? Beschämend hoch!<br />
Renate Katzer<br />
Geb.1945. Schreibt immer am liebsten Gedichte.<br />
Veröffentlichungen in Anthologien. Gedichtband:<br />
„Ins Wort fallen“, Edition Weinviertel. Lyrikpreis<br />
2010, Forum Land NÖ. Lesungen.<br />
Ernst Punz<br />
Geb. 1960 in Scheibbs, schreibt Theaterstücke,<br />
Drehbücher auf Englisch für einen Spielfilm, war freier<br />
Mitarbeiter ORF-NÖ, NÖN, ist in der Emmausgemeinsch.<br />
StP tätig. Freund gepflegter Selbstironie.<br />
Ingrid Messing<br />
Geb. 1949 in Metzlingen/Deutschland, pensionierte<br />
Lehrerin, lebt seit drei Jahren in Niederösterreich,<br />
Veröffentlichungen in verschiedenen<br />
Literaturzeitschriften und Anthologien.<br />
Marlen-Christine Kühnel<br />
Lebt, arbeitet als Dichterin in Wien. Schreibt seit<br />
ihrer Jugend. Buchveröffentlichungen und Publikationen<br />
in: Innsalz, LOG, <strong>etcetera</strong> ..., vor allem Literatur<br />
mit NÖ- und Waldviertelschwerpunkt.<br />
Gabriela Belvues/Claudia Behrens<br />
Lebt, arbeitet in Wien u. einem kl. Dorf nahe Retz.<br />
Jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Faschismus<br />
u. Auswirkung in Familie u. Psyche. Hat große<br />
Familie, ist Pädagogin, Lebensberaterin.<br />
K. Michael Miller<br />
Lebt in Wien, Mag. Phil., studierte Politwissenschaften,<br />
Verwaltungsangestellter in St.Pölten.<br />
Spielt Gitarre, singt u. freut sich auf Drosendorf!<br />
Christine Huber<br />
Geb. in Wien, lebt in Herzogenburg.1983 Beginn<br />
der intensiven künstlerischen Auseinandersetzung<br />
und Studium Malerei und Grafik.<br />
Christine Korntner<br />
Geb. 1941/Wien, kaufm. Tätigkeit. Red. der lit.<br />
Zeitschr. BEGEGNUNG; Mitglied lit. Vereinigungen,<br />
schreibt Kurzprosa, Essays, Satiren, Gedichte, hält<br />
Vorträge zu Doderer, Keller, Nestroy, Erika Mitterer.<br />
Milena Guger-Zusser<br />
Wohnt in Scheibbs. Schreibt mit Leidenschaft, Lyrik<br />
und Prosa. 2011 Lyrikpreis, Forum Land „roter<br />
Mohn”. 2010 und 2011 Buchveröffentlichungen<br />
„Milenas Poesie, Milenas Sprachbilder”.<br />
Elfriede Starkl<br />
Geb. 1948 in St.Pölten, Tagesfreizeit, Drachen<br />
bauen, schreiben tut mir gut!<br />
Eva Maria Miksche<br />
Geb. 1943 in Wien, kaufm. Angestellte; tätig in<br />
wissenschftl. Aidsforschung; ehrenamtli im Allgem.<br />
Bildungshaus Kard. König; schreibt Kurzprosa<br />
und Lyrik.<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Geb. in Steyr, studierte Germanistik/Geografie<br />
u.a. in Salzburg. Bild. Künstlerin, intern. Ausstell.<br />
Rio bis Peking ... (Eisenradierung/Acryl/Öl), Leiterin<br />
d. Schreibwerkstätte, Litges, HG "<strong>etcetera</strong>".
Rezensionen Holz|Oktober 2016<br />
<strong>65</strong><br />
Manfred Chobot:<br />
Doktor Mord & Das Killerphantom.<br />
Minikrimis<br />
220 und 212 Seiten<br />
Löcker Verlag, Wien 2015<br />
ISBN 978-3-85409-749-5<br />
und 978-3-85409-768-6<br />
Jan-Eike Hornauer:<br />
Das Objekt ist beschädigt.<br />
zumeist komische Gedichte<br />
aus einer brüchigen Welt.<br />
München: muc Verlag<br />
GbR, 2016, 210 s.<br />
ISBN 978-3-9815181-5-3<br />
Max Porter:<br />
Trauer ist das Ding mit Federn.<br />
München: Hanser Berlin im<br />
Carl Hanser Verlag München,<br />
2015. 124 Seiten.<br />
ISBN: 978-3- 446- 24956-1<br />
Schwarze Krimis Schwarzes Cover, schwarze Geschichten,<br />
schwarze Titel: »Doktor Mord« und »Das Killerphantom«.<br />
Manfred Chobot brachte die zwei Bände<br />
seiner Minikrimis im Wiener Löcker Verlag heraus, 52<br />
und 36 Geschichten, und schwarz ist zumal auch der<br />
Humor. Ist es die Kürze der Texte, dass sie für zwischendurch<br />
so exzellent geeignet scheinen, oder sind es die<br />
schrulligen Figuren und skurrilen Begebenheiten, die<br />
der Autor uns erzählt? Wahrscheinlich beides.<br />
In »Tod eines Jägers« kommt ein Achtzehnjähriger zu<br />
Tode, was von der Polizei als Selbstmord abgetan wird..<br />
Der Text ist nicht einmal zwei Seiten lang, liest sich fast<br />
wie ein Zeitungsbericht und gibt viele Möglichkeiten,<br />
aber keine Sicherheit. Diese Technik ist typisch für viele<br />
Geschichten, einzelne Texte enden sogar mit einer offenen<br />
Frage. Chobot liebt es, mögliche Begebenheiten<br />
und Verbrechen zu suggerieren, überlässt es aber gänzlich<br />
den Leserinnen und Lesern, sich ein Bild zu machen.<br />
Der »Diamanten-Händler« wird tot aufgefunden. Der<br />
Autor serviert gleich zwei mögliche Mörder – die<br />
Geschäftspartnerin und ehemalige Geliebte sowie<br />
einen Kunden –, wieder in einem zeitungsnahen Stil<br />
und ohne sich auf irgendetwas festzulegen. Dann, am<br />
Schluss der zweieinhalb Seiten, ein überraschender<br />
Absatz mit einer dritten Möglichkeit – ein Kollege, der<br />
dem Händler eine Menge Geld schuldet –, während<br />
der abschließende Satz lapidar vermerkt, dass bei dem<br />
mutmaßlichen Raubmord keinerlei Wertgegenstände<br />
mitgenommen wurden.<br />
Die Minikrimis ziehen ihren Humor aus den hingeworfenen<br />
Informationen, aus der Anspielung auf etwas,<br />
das man gewiss schon irgendwo mal gelesen hat, und<br />
aus dem geradezu frechen Stilmittel, inhaltlich alles<br />
offen zu lassen. Geschichten für zwischendurch? Ja,<br />
mit einem gewichtigen Vorbehalt: Denn aufhören ist<br />
schwer, und wer einmal eintaucht in die Welt von Chobots<br />
kauzigen Minikrimis, ist flugs am Ende des Buches<br />
angelangt. Gut, dass es zwei davon gibt .. Klaus Ebner<br />
Kein Süßholzraspeln! Jan-Eike Hornauer, geb. 1979<br />
in Lübeck, ist charismatischer Textzüchter, freier Lektor,<br />
Herausgeber, Germanist und Soziologe aus München.<br />
Seinen erster Lyrikband betitelte er mit „schallende<br />
Verse“, er treibt sich fleißig im Internet um und gab die<br />
Lyrikanthologie u.a. „Wenn Liebe schwant“ heraus.<br />
Da der Autor in vielen Gedichten das lyrische Ich verwendet,<br />
verwechselt man leicht dieses mit seiner Person<br />
und spricht ihm wohl selbst vor allem die sexuellen<br />
Erfahrungen zu. Besonders reizvoll S. 16 „Betrügereien“<br />
in dem die Ehefrau die heiße, leidenschaftliche Rolle der<br />
Geliebten übernimmt. …Ach, die Rollen waren gut, die<br />
wir hatten Ewigkeiten: Die Geliebte – heiße Glut; und daheim<br />
die ernsten Seiten. Ach wieso jetzt dieser Bruch? Mit<br />
der Gattin sie betrogen! …Ernst wird`s werden oder aus<br />
mit der Heißesten von allen. – Oh mein Weib, es ist ein<br />
graus, was ist Dir bloß eingefallen!<br />
In seinen Tier-Gedichten vergisst er ebenfalls nicht auf<br />
die leckere Triebhaftigkeit: Die Netzgiraffe: hart gefleckt<br />
– was schon Begehrlichkeiten weckt. Sowie: Glückgehabt:<br />
Wenn unter meiner Bettendecke ´ne leck`re Schnecke ich<br />
entdecke, ist meistens eine Frau drumrum. Wär` ich ein<br />
Igel, wär` das dumm.<br />
Auch wenn die meisten Gedichte von Liebe und Liebe<br />
zum weiblichen Körper handeln, kommt niemals Kitsch,<br />
Pathos oder eben Süßholzraspeln auf. Der Autor kümmert<br />
sich niemals um Kleinkram – das lasse er die Gärtner<br />
machen (S. 83) - , er geht immer direkt aufs Ganze,<br />
zielgerichtet auf witzigen, spritzigen Inhalt, der keine<br />
Blüten treibt, auch nicht des Rhythmus oder Metrik wegen.<br />
Sexualität und deren Erfüllung sind genauso Antriebskraft<br />
zum Schreiben wie das Philosophieren über<br />
Vergänglichkeit, Politik, Animalisches, Menschliches<br />
oder Fuß&Ball. Zügig schreitet er durch die Genres und<br />
reicht dem Leser stets neue Ein- und Ansichten. Er klagt<br />
nie an und spottet nicht auf Kosten anderer. Ein humorvoller,<br />
sprachvollendeter Band – ein wunderbares Werk!<br />
Häppchenweise zu genießen! Eva Riebler-Übleis<br />
Manchmal fühlt sich das Leben grau an, bisweilen<br />
sogar schwarz. So oder so ähnlich jedenfalls<br />
muss es sich für Dad angefühlt haben. Dad, der<br />
gerade Witwer geworden ist und jetzt mit zwei kleinen<br />
Kindern allein ist, pragmatisch handelt, denn zuerst<br />
kommt ihm die Frage nach der Organisation des täglichen<br />
Kleinkrams „für die Jungs“, seine beiden Söhne<br />
in den Sinn. Doch wer jetzt einen Ratgeber in Sachen<br />
Trauerarbeit vermutet, liegt vollkommen daneben,<br />
denn schließlich kommt noch eine Krähe mit ins Spiel.<br />
Ja, eine Krähe, die eines Tages vor der Tür steht, läutet<br />
und in Dad´s Haus eindringt, unangemeldet, und von<br />
nun an eine dominante Rolle einnimmt, komische<br />
Witze reißt. Das klingt merkwürdig, aber wir dürfen<br />
nicht vergessen, dass es sich bei Max Porter um einen<br />
englischen Autor handelt. Britischer Humor ist also<br />
angesagt!<br />
Die Hoffnung ist ein Federding<br />
Der Titel des Buches ist vermutlich eine Anlehnung an<br />
Emily Dickinson: „Die Hoffnung ist ein Federding, das in<br />
der Seel´ sich birgt und Weisen ohne Worte singt und<br />
niemals müde wird“.<br />
Max Porter zeichnet ein knappes Figurenspiel aus Dad,<br />
den zwei Jungs (Söhne) und der Krähe, die jeweils<br />
einzeln zu Wort kommen, eine Art inneren Dialog führen,<br />
streckenweise miteinander in Dialog treten. Ein<br />
anspruchsvolles Debüt hat der leidenschaftliche Buchhändler<br />
Max Porter, Jahrgang 1971, vorgelegt. Das<br />
bewährte Lyriker-Übersetzer-Duo, bestehend aus Uda<br />
Strätling und Matthias Göritz, hat es nun übersetzt.<br />
Herausgekommen ist ein wunderbares Buch über<br />
Glück, Familie, Verlust und Inspirationen, besonders<br />
die von Ted Huges.<br />
Ansruchsvollen Lesern empfohlen!<br />
Cornelia Stahl
66 Rezensionen<br />
66 Holz|Oktober 2016<br />
A. Kötzing/R.Schenk (Hg):<br />
Verbotene Utopie<br />
Die SED, die DEFA und das<br />
11.Plenum<br />
Berlin: Bertz+Fischer, 2015.<br />
ISBN: 978-3-8<strong>65</strong>05-406-7<br />
Gerhard Loibelsberger:<br />
Der Henker von Wien<br />
Roman<br />
Meßkirch: Gmeiner Verlag<br />
2016. 274 S.<br />
ISBN: 978-3-8392-1732-0<br />
Richard Wall:<br />
Achill. Verse vom Rande<br />
Europas – Als Artist in<br />
Residence im H. Böll-Cottage<br />
Bilder von Martin Anibas.<br />
Literaturedition NÖ 2016. 111 S.<br />
ISBN 978-3-902717-34-4<br />
19<strong>65</strong> existierte in der DDR eine Kahlschlag-<br />
Politik. Kunstwerke und DEFA-Filme fielen der Zensur<br />
zum Opfer. „Verbotene Utopie“ beschreibt Hintergründe<br />
und Folgen dieser Politik.<br />
Schon der Titel „Verbotene Utopie“ irritiert. Utopie gilt als<br />
Motor neuer Ideen. Diese soll verboten sein? Klingt zunächst<br />
unwirklich! Die 1946 gegründete DEFA- deutsche<br />
Film Aktiengesellschaft geriet bereits 19<strong>65</strong>, nach dem<br />
11.Parteitag der SED, in die Negativschlagzeilen. Die<br />
Autoren analysieren die Hintergründe des Kahlschlag-<br />
Plenums, schauen zurück auf 1951, den Formalismusstreit,<br />
der die Schaffung sozialistischer Helden in der<br />
Kunst forderte. Nach dem Mauerbau 1961 keimte Hoffnung<br />
unter den Künstlern, dass sich alles ändern würde.<br />
Ab 1962/63 setzte man Gegenwartsstoffe filmisch um,<br />
z.B. in „Beschreibung eines Sommers“ von Ralf Kirsten.<br />
Diese Reformbestrebungen waren SED-konformen Anhängern<br />
ein Dorn im Auge. Folglich wurden zwölf DEFA-<br />
Filme nach dem 11.Plenum des ZK der SED 19<strong>65</strong> wegen<br />
staatsfeindlicher Szenen verboten. „Spur der Steine“ &<br />
„Denk bloß nicht, ich heule“ (beide 19<strong>65</strong>/66) von Frank<br />
Vogel; „Das Kaninchen bin ich“ (19<strong>65</strong>/66) Kurt Maetzig<br />
und „Karla“ v. Herrmann Zschoche und Ulrich Plenzdorf<br />
blieben bis 1990 unter Verschluss.<br />
Dahinter liegende Menschenbilder untersucht Michael<br />
Wedel, am Beispiel des Films „Der verlorene Engel“. Der<br />
Bildhauer Ernst Barlach fühlte sich in der DDR als „Emigrant<br />
im eigenen Land“ und sprach stellvertretend für<br />
regimekritische Künstler. Die von Ralf Kirsten verfilmte<br />
Biographie Barlachs „Der verlorene Engel“ (19<strong>65</strong>/66)<br />
wurde erst 1970/71 freigegeben.<br />
Die vorliegende Dokumentation der verbotenen Filme<br />
ist einmalig. Dazugehörige Audio-CD mit Original-Tonaufnahmen<br />
vom 11.Plenum des ZK der SED 19<strong>65</strong> ( Erich<br />
Honecker, Christa Wolf, Walter Ulbricht u.a.) vermittelt<br />
die Atmosphäre des Kahlschlag-Plenums. Dank DVD-<br />
Box: Verbotene Filme (Icestorm) sind DEFA-Raritäten<br />
aus dem „Giftschrank“ nun öffentl. erlebbar! Corn. Stahl<br />
Ein neuer Fall für Oberinspector Nechyba Wien<br />
im ersten Weltkrieg, die Bevölkerung hungert und der<br />
Schwarzmarkt und Schleichhandel mit Lebensmitteln<br />
steht in voller Blüte. Doch trotz der Knappheit an Lebensmitteln<br />
liegt Oberinspector Nechyba eine Sache<br />
gewaltig im Magen. Ein als „die Quelle“ bekannter<br />
Schleichhändler entledigt sich Schritt für Schritt all<br />
seiner Konkurrenten. Dabei bedient er sich eines sauber<br />
geknüpften Stricks, mit dem er seine Opfer zur<br />
Abschreckung brutal stranguliert. Als es sich bei dem<br />
nächsten Erhängten um einen hochrangigen Beamten<br />
des k. u. k. Kriegsministeriums handelt, erkennt Nechyba,<br />
dass dieser Fall wohl nicht nur über die Grenzen<br />
der gewöhnlichen Verbrechen in der Unterwelt<br />
hinausgeht, sondern dass sich auch sein eigener Kopf<br />
schon längst in der Schlinge das Mörders befindet.<br />
Mit Der Henker von Wien schließt der 1957 in Wien<br />
geborene Autor Gerhard Loibelsberger an seine Reihe<br />
historischer Kriminalromane rund um den brummigen,<br />
schwergewichtigen Oberinspector Joseph<br />
Maria Nechyba an. Wie schon die Vorgängerromane<br />
Die Naschmarkt-Morde, Reigen des Todes und Mord und<br />
Brand zeichnet sich auch der neueste Roman Loibelsbergers<br />
durch profunde Kenntnisse des alten Wien aus<br />
und ist gespickt mit einer ordentlichen Portion Wiener<br />
Schmäh. Dass der Autor sein Handwerk versteht,<br />
zeigen sowohl eine Nominierung 2010 für den Leo-<br />
Perutz-Preis der Stadt Wien und die 2014 erhaltene<br />
Auszeichnung des silbernen HOMER Literaturpreises.<br />
Der Henker von Wien ist ein Kriminalroman wie er im<br />
Buche steht, rätselhaft, mit einem überraschenden<br />
Ende und garantiert den Leserinnen und Lesern einen<br />
spannenden und unterhaltsamen Ausflug in das<br />
Wien des ersten Weltkriegs. Stoff für einen packenden<br />
Krimi-Abend.<br />
Alexander Artner<br />
Die erste Assoziation beim Blick auf den Buchdeckel<br />
nach dem Öffnen der Postsendung war Ferse, die<br />
sprichwörtliche, aber gleich nach dem ersten Durchblättern<br />
des Buches ist klar: Die irische Insel Achill ist<br />
gemeint.<br />
Richard Wall war in Island November 2014 Artist in<br />
Residence im Heinrich Böll-Cottage. Dort sind die Gedichte,<br />
die in diesem von Martin Anibas so kongenial<br />
illustrierten Buches publiziert sind, entstanden: Auf<br />
Deutsch in der Muttersprache des Autors und einige<br />
auch primär auf Englisch, weil sich dies dort wohl so<br />
fügt.<br />
Viele wollen Artist in Residence sein, wenige werden<br />
erwählt. Dem Auserwählten kann dies zum Segen<br />
oder Fluch werden, wenn er dann in der Residenz sitzt<br />
und zum Schreiben verdammt ist, noch dazu in einer<br />
Gegend, die für Kühle, Nieselregen und Nebel bekannt<br />
ist. Für den Autor ist der Aufenthalt segensreich geworden,<br />
wunderbare Gedichte sind entstanden. Sie<br />
evozieren beim Leser, bei der Leserin, nicht einfach<br />
altbackene Metaphern zum Themenkomplex „Meer,<br />
Insel, Wind und Wellen“, sondern rufen jenes Bauchgefühl<br />
hervor, das mit dem Intellekt in einen emotionalen<br />
Streit gerät, der endlos sein muss, wenn er nicht<br />
mit einem Fragezeichen abrupt beendet wird. Nach<br />
dem Fragezeichen kann niemand mehr einen Punkt<br />
setzen. Die Gedanken müssen weiter kreisen, solange<br />
die eigene Existenz andauert.<br />
Wie schreibt der Autor so treffend …<br />
„ Sand knirschte<br />
wo mir das Schuhwerk weiterhalf<br />
in diesem Räderwerk<br />
aus Schreiten und Sinnieren …“<br />
Das Nachwort des Autors und seine Anmerkungen zu<br />
Heinrich Bölls Irlandbild gehören auch ganz wesentlich<br />
zu diesem so besonderen Gedichtband Achill.<br />
Doris Kloimstein
Rezensionen Holz|Oktober 2016<br />
67<br />
tomer gardi:<br />
broken german<br />
Roman. Graz-Wien: Droschl,<br />
2016, 142 S.<br />
ISBN 978-3-85420-979-9<br />
Susanne Scholl:<br />
Warten auf Gianni<br />
Eine Liebesgeschichte in 7 J.<br />
Szb.-Wien, Residenz,<br />
2016. 216 S.<br />
978-3-7017-1667-8<br />
Barb. Neuwirth:<br />
Charin Cross Station London<br />
Andr. Schnell, Zeichng.<br />
Brunn a.Geb. 2013<br />
Confusibombus, 62 S.<br />
ISBN 978-3-9503475-4-8<br />
Auf dem Holzweg. Tomer Gardi, geb. 1974 im Kibbuz<br />
Dan in Galiläa, hat ein echt holpriges Werk verfasst. In<br />
gebrochenem Deutsch, in der Sprache von Emigranten,<br />
Deutsch-Lernenden bzw. im sog. Gastarbeiterdeutsch.<br />
Die Grammatik und Rechtschreibung ist bewusst so<br />
gehalten, dass man den Fortgang des Geschehens noch<br />
verfolgen kann, jedoch sich an den unkorrekten oder fehlenden<br />
Fallendungen, Pronomen sowie der Dehnungen<br />
und intuitiv wechselnden Groß- Kleinschreibung massiv<br />
im Verständnis oder schnelleren Auffassen gestört fühlt.<br />
Nach 35 Jahren Deutschkorrektur in der Oberstufe in einer<br />
Schule, in der bis 80% der Schüler Deutsch als Fremdsprache<br />
oder Zweitsprache vorweisen, war ich genau mit diesem<br />
rudimentären Sprachgebrauch konfrontiert. Nichts<br />
Neues unter der Sonne!<br />
Allerdings nicht sinnvoll für den Schreibenden wie den<br />
Lesenden, denn beide werden um eine inhaltliche Qualität<br />
gebracht. Mit gesprochenem Deutsch könnte man<br />
nämlich auch sinnvolle oder bewusst sinnlose, witzige,<br />
dadaistische etc. Semantikzusammenhänge oder Sprachspielereien<br />
formulieren. Die sprachliche Facette könnte<br />
blühen und unter dem Motto: die Menschheit und ihr<br />
Alphabet ergäben sich Wörter, die leben, aufleben und<br />
beleben!<br />
Zugutehalten kann man dem Autor, dass er psychologisch<br />
spannend und diese Sprechweise durchhaltend schreibt.<br />
Der Handlungsträger ist Radili Anuan, der ein Schreibstipendium<br />
in Graz gewinnt, um dort dieses Werk „broken<br />
german“ zu schreiben oder in Berlin anzutreffen ist. Er ist<br />
jung, trinkt am liebsten Bier, stottert zeitweise, beschreibt<br />
die Menschen, die er sieht oder trifft.Wie poetisch oder<br />
lähmend diese Sprache maximal sein kann, sei in Beispielen,<br />
von der letzten Seite, kurz herausgewürfelt:<br />
Ich geh ein Schritt rein, steh da drinnen, bei der Eingang.<br />
Am Computer sitzen die Menschen, chatten und surfen<br />
oder mit Headsets an, und der leise Geflüster, …, der von<br />
akkustischgeschützten Kabinen ins Raum rein .In diesem<br />
Sinne: Und ich verabschiede mich von sie! Eva riebler-ü<br />
Sommerlektüre mit Psychologie. Nach „Emma<br />
schweigt“, 2013 ein weiterer Roman Susanne Scholls<br />
mit psychologischem Feingefühl für Frauenträume;<br />
in diesem Fall Verstiegenheiten und Lebensfremde.<br />
Die Hauptfigur Lilly wird bezeichnenderweise mit 33<br />
Jahren nicht nur von ihrer Mutter oder ihren Brüdern<br />
immer noch „Mädi“ genannt. Sie ist traurig, dass nach<br />
10 Jahren ihr Lebenspartner, von dem sie sich ein<br />
Kind erträumte, sich verabschiedet hat und eine neue<br />
Flamme, „das blonde Gift“ geschwängert und geheiratet<br />
hat. Sie findet mit so viel Selbstmitleid ausgestattet,<br />
keinen adäquaten Partner und nach dem tragischen<br />
Tod ihrer Kindheitsfreundin auch keine neue<br />
Busen-Freundin mehr. Bildet sich jedoch ein, diesen in<br />
ihrem Sommerbekannten des alljährlichen Sardinienurlaubes,<br />
sehen zu können. Sie versteigt sich in Fernträume,<br />
wenn sie nach drei Wochen Urlaub wieder im<br />
regnerischen Wien ihrer ungeliebten, stressigen Arbeit<br />
nachgeht. So steht sie nach 7 Jahren mit 40 wieder vor<br />
dem Gedanken: Flucht ins Träumen. Diesmal erwägt<br />
sie, sollte sie vielleicht nicht bis Sardinien, sondern bis<br />
Argentinien davonrennen.<br />
Die Autorin fügt sentimentale Träume und Selbstgespräche<br />
ein und zeigt uns, dass man/frau eben nicht<br />
der Realität auf diese Weise entkommen kann. Dass<br />
scheinbare Winkelzüge, sich jemanden als Partner<br />
einzufangen, zwecklos sind und das Arbeiten an sich<br />
selbst sinnvoll wäre!<br />
Daher: Gratulation zu diesem tiefenpsychologischen<br />
Roman!<br />
Die geeignete Lektüre nicht nur für selbstmitleidaffine<br />
Frauen!<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Textcollagen – Geschenke. Barbara Neuwirth,<br />
Obfrau des PODIUMS Neulengbach, gibt gerne in Kooperation<br />
mit bildenden KünstlerInnen ihre Publikationen<br />
heraus. Dieses Mal hat Sie mit der aus Mödling und auch<br />
dort im kunstraumarcade vertretenen Grafikerin und<br />
Malerin Andrea Schnell gemeinsam ein Werk gestaltet.<br />
Die 20 Tuschzeichnungen/Collagen sind in Originalgröße<br />
und beschränken sich in freier Manier auf das Wesentliche<br />
– auf den Kopf oder die Büste eines Menschen. Ausdrucksstark<br />
sind nicht nur Gestus von Pinsel oder Tuschfeder,<br />
sondern auch der Aufbau und die formale räumliche<br />
Lösung jedes Blattes. – Für mich ein Geschenk! – „Jeg<br />
har en gave til deg.“, wie es im Text S. 27 heißt: ---eine<br />
alte Frau, wie eine „Spielkameradin der Kindheit“, überreicht<br />
der handelnden Figur unerwartet ein Geschenk,<br />
und das an ihrem 32. Geburtstag in Bergen/Norwegen!<br />
Und genauso überraschend und phantasievoll sind alle<br />
Erzählungen Barbara Neuwirths. Sie haben nicht nur ein<br />
offenes Ende, sondern werden immer wieder fix verortet,<br />
sei es in einer Cross Station oder in Narvik oder unter<br />
dem Waldviertler Himmel, um dann umso schneller die<br />
Verankerung loszulassen und in Zeiten und Geschehnisse<br />
zu reisen und einzutauchen. Traumhaft und schemenhaft<br />
ist auch die Poesie der Sprache: S. 39 …“ nun warf ein<br />
totes Heer seinen Schatten auf den See und strebte heran<br />
zum Ufer, an dem ich auf einem Stein gesessen war.<br />
Ich stand auf und starrte in den Schatten und mein Hals<br />
wurde lang.“ … „Jenseits der Wassermassen am Strand<br />
eines anderen Kontinents war das Pochen wieder in die<br />
Erde gedrungen, hatte sich durch die Adern des Bodens<br />
zu den Städten bewegt und war an den Ziegelpanzern<br />
der Keller vorbeigeflossen. Ich hörte wie die Welle leise<br />
an die Ziegeln pochte.“ – Diese Erzählung „Das Blut“ ist<br />
sensationell und doch so bedächtig formuliert!<br />
Wer selten schöne Zeichnungen und sensible, duftige<br />
und dann wieder erdige, realistische Erzählungen liebt,<br />
sollte diesen Band, leider nur in einer Auflage von 150<br />
Stück, nicht missen!<br />
Eva Riebler-Übleis
www.litges.at