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LitGes St.Pölten

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ISSN: 1682-9115 | NR.<strong>65</strong> 2016| PREIS: 7 EURO<br />

<strong>etcetera</strong><br />

HOLZ<br />

L i t e r a t u r u n d s o w e i t e r


2<br />

Holz|Oktober 2016<br />

Editorial<br />

03 Vorwort/Impressum<br />

Heftkünstler<br />

04 Gotthard Obholzer<br />

Interviews<br />

06 Wolfgang Kühn<br />

10 Andreas Priesching<br />

Essay<br />

12 Wolfgang und Florian Mayer König: Gedichte und<br />

Erzählungen aus Holz – Die poetik des holzes<br />

Lyrik<br />

8 Wolfgang Kühn: WOIDVIERTLER u.a.<br />

28 Wolfgang Mayer König: Aus gutem Holz<br />

30 Said: furchtsame götzen<br />

30 Bernadette Sarman: Das Fleisch der Erde<br />

31 Alexander Estis : Einheit, Wärme<br />

31 Klaus Roth: nacht, am dorfrand<br />

33 Andreas Schumacher: Reinholds Gewalttaten<br />

33 Eli S. Solaris: E/INGEHOLZTES ZELT u.a.<br />

46 Jan-Eike Hornauer: Moritat vom kaputten Holzbal-<br />

ken, Logischer Verdacht, Glücklicher Zufall<br />

47 Brigitta Höpler: Das Holzbrett, aus den Flammen<br />

gefallen<br />

47 Daniel Grummt: Stirnholz<br />

Berichte<br />

16 Stefan Balkenhol: Den Holzweg verlassen!<br />

18 All I need is jazz! Int. Jazzfestival Saalfelden<br />

20 Jazz im Hof, 16. - 18. Aug. 2016 St.P<br />

Vereinsleben<br />

54 Schreibwerkstätte im Schloss Drosendorf<br />

Prosa<br />

21 Dine Petrik: Auf dem Holzweg<br />

22 Mario Vötsch: Unter uns<br />

24 Peter Schwendele: Stallleben<br />

26 Stefan Reiser: Warum mein Freund Alexander das<br />

Funkhaus verkauft<br />

27 Doris Kloimstein: Dünnbrettbohrer<br />

32 Kovanda Nicole: Waldrauschen<br />

35 Marco Frohberger: Symptome<br />

38 Falk Andreas Funke: Der Ofen<br />

43 neutro: Splitter<br />

44 Renate Katzer: Die Türe<br />

48 Jörn Birkholz: Waidmannsheil (Auszug)<br />

50 Susanne Klinger: Mein Vater, der Holzarbeiter<br />

51 Gerhard Benigni: Und die Säge, die hat Zähne...<br />

53 Heinz Zitta: Der Resonanzboden<br />

Rezensionen<br />

<strong>65</strong> Manfred Chobot: Doktor Mord & Das Killerphan-<br />

tom. Minikrimis<br />

<strong>65</strong> Jan-Eike Hornauer: Das Objekt ist beschädigt. Zu-<br />

meist komische Gedichte aus einer brüchigen Welt<br />

<strong>65</strong> Max Porter: Trauer ist das Ding mit Federn<br />

66 A. Kötzing/R.Schenk (Hg): Verbotene Utopie<br />

Die SED, die DEFA und das 11.Plenum<br />

66 Gerhard Loibelsberger: Der Henker von Wien<br />

66 Richard Wall: Achill. Verse vom Rande Europas<br />

67 tomer gardi: broken german<br />

67 Susanne Scholl: Warten auf Gianni<br />

67 Barbara Neuwirth: Charin Cross Station London<br />

Inhalt<br />

Cover: Klangbaum Ulme©Gotthard Obholzer


Holz|Oktober 2016<br />

3<br />

Liebe Leserin, lieber Leser!<br />

Holz ist ein breitgefächertes Thema. Verwendbar als Baustoff, Werkstück oder Skulptur, erlebbar<br />

im Wald oder Garten, in der Allee oder im Dickicht, benutzbar als Schuh, Boot, Badekabine, Steg<br />

oder Brücke … Der Holzweg, ist Aufbringungsweg und führt meist nicht weit und die Holzmaske<br />

zeigt auch so wenig wie möglich. Somit ist Holz positiv gesehen, Rohstoff im eigentlichen, materiellen<br />

Sinn - auch für Gedankengänge - oder eben das Gegenteil: die Abwesenheit, der Mangel,<br />

die Fehlleitung.<br />

Ich wünsche Ihnen viele interessante Entdeckungen beim Lesen und Durchstöbern dieses Heftes!<br />

Ihre Eva Riebler-Übleis<br />

Impressum<br />

<strong>etcetera</strong> erscheint 4x jährlich<br />

ISSN: 1682-9115<br />

Richtung der Zeitschrift: Literarisch-kulturelles<br />

Magazin mit thematischem Schwerpunkt.<br />

Namentlich bezeichnete Beiträge geben<br />

die Meinung der Autorin, bzw. des Autors<br />

wieder und müssen mit der Meinung von<br />

Herausgeberin und Redaktion nicht übereinstimmen!<br />

Herausgeber: Eva Riebler-Übleis<br />

Heftredaktion: Susanne Klinger und<br />

Eva Riebler-Übleis<br />

Text und Ilustration © bei den Autoren<br />

Cover und Bilder:<br />

Fotos: siehe © Fotonachweis<br />

Gestaltung: G. H. Axmann<br />

Druck: Dockner, Kuffern 87, A-3125<br />

Medieninhaber:<br />

Literarische Gesellschaft St. Pölten<br />

HG Eva Riebler-Übleis<br />

Büro Steinergasse 3, 3100 St. Pölten<br />

Home: www.litges.at<br />

E–Mail: redaktion@litges.at<br />

LeserInnerservice<br />

Werden Sie Mitglied der LitGes und erhalten<br />

Sie vierteljährlich <strong>etcetera</strong>, die Zeitschrift<br />

für Literatur junger bis arrivierter<br />

AutorInnen mit Prosa- und Lyrikbeiträgen,<br />

Essays, Interviews, Rezensionen und<br />

Künstlerporträts sowie Einladungen zu unseren<br />

Veranstaltungen.<br />

Abonnementspreis:<br />

24 Euro/Jahr = 4 Hefte; Einzelpreis 7 Euro<br />

Bestellung = Überweisung an:<br />

Sparkasse NÖ Mitte-West<br />

BLZ 20256, Konto-Nr. 55137<br />

IBAN: AT422025600000055137<br />

BIC: SPSPAT21<br />

Verwendungszweck: „<strong>etcetera</strong>-Abo“<br />

Bitte, Namen und genaue Anschrift leserlich<br />

auf dem Erlagschein vermerken!<br />

<strong>etcetera</strong> 66 Venedig<br />

6. Dez. 20 Uhr Cinema Paradiso St.P.<br />

Aus dem Heft liest Schauspieler Alex Kuchar.<br />

Moderation Red. Thomas Fröhlich.<br />

Concerto grosso: Italienische Renaissancemusik<br />

mit dem excellenten Quartett<br />

"Die Tandler" aus St.Pölten von und mit<br />

Dr. Adam!<br />

Ausnahmsweise Eintritt 5 Euro für Mitglieder<br />

& 7 Euro für Gäste!<br />

Die nächsten <strong>etcetera</strong>-Ausgaben:<br />

etcetra 67 DRACHE<br />

Vom Weibsteufel zum Papierdrachen, vom<br />

Hl. Georg bis zum Siegfried und ...<br />

Einsendeschluss 25.12.2016<br />

an Redaktion@litges.at<br />

Redaktion: Joh. Schmid, E. Riebler-Ü<br />

LitGes Jour-fixe Schreibwerkstätten:<br />

An jedem 1. Mittw. des Monats um 18 Uhr:<br />

9. Nov., 7. Dez., 4. Jän., 1. Feb. für alle<br />

Schreibenden und ZuhörerInnen LitGes<br />

Büro, Steinergasse 3, 3100 STP<br />

Home/Info: www.litges.at<br />

Die nächsten LitGes Präsentationen:<br />

<strong>etcetera</strong> <strong>65</strong> HOLZ<br />

12. Okt. 19 Uhr Stadtmuseum St. Pölten<br />

Prandtauerstraße 2, mit Lesung der AutorInnen<br />

Gertraud Artner, Christine Korntner<br />

& Ernst Punz sowie dem Heftkünstler Gotthard<br />

Obholzer aus dem Stubaital. Es spielt<br />

Bernadette Käfer Knochenflöte und Harald<br />

Rehak Cajon-Schlagwerk & Yambu.<br />

Buffet, Eintritt frei!<br />

Tagebuchtag der LitGes<br />

19. Okt. 19 Uhr Buchhandlung Schubert<br />

Wienerstraße 6, Sankt Pölten.<br />

Musik: Trio Schwan Gesang & Kontrabass<br />

& Gitarre. Lesende: Brigitte Pokornik und<br />

Romana Maria Jäger. Sekt & Eintritt frei!<br />

Vorwort/Impressum


4<br />

Holz|Oktober 2016<br />

Gotthard Obholzer<br />

Heftkünstler Gotthard Obholzer im Gespräch mit Eva Riebler-Ü.<br />

Riemenschneider (gotischer Bildhauer) steht. Beim<br />

Anblick dieses Altares war ich wie elektrisiert. Auf der<br />

Stelle war mir klar: Ich werde Bildhauer!<br />

Seit 25 Jahren praktizierst Du Yoga und seit 10<br />

Jahren bist Du Yogalehrer. Vor den Unterrichtseinheiten<br />

spielst Du oft Deine Lieblingslied, „der göttliche<br />

Zigeuner“, komponiert von Paramahansa Yogananda,<br />

auf Deinem Harmonium.<br />

Der Liedtext bezeichnet meine Lebens- und Arbeitsweise.<br />

Bist Du ein Zigeuner?<br />

Insoferne, weil ich im Künstlerischen hin- und herzigeunere<br />

zwischen Holz, Bronze und Stein, je nach dem, wie<br />

es mir grad kimt – sprich Bauchgefühl.<br />

©Fotos Eva Riebler-Übleis<br />

Interview<br />

Verbindest Du diese Materialien?<br />

Immer wieder, vor allem Bronze und Stein, aber auch<br />

Holz und Bronze. Die Grundtechniken der Bildhauerei<br />

zu verbinden ist immer spannend. Es sind Skulpturplastiken.<br />

Skulptur heißt immer abtragen und Plastik heißt<br />

erschaffen.<br />

Ergibt das Material die Thematik?<br />

Nicht unbedingt! Ich bin sehr gesteuert von meiner Intuition.<br />

Was raus muss, muss raus!<br />

Wie kamst Du zum Beruf des Bildhauers?<br />

Eigentlich habe ich im Alter von 13 Jahren für das Aufbauwerk<br />

der Jugend in Neustift/Stubaital Spenden gesammelt<br />

und habe mit meinen Kollegen eine Reise auf<br />

der Romantischen Straße Deutschlands gewonnen.<br />

Und diese führte uns u. a. nach Creglingen bei Rothenburg<br />

ob der Tauber, wo der berühmte Altar von Tilmann<br />

Laut Berufsberatung sollte ich Konditor oder Lehrer<br />

werden!<br />

Oder solltest Du den Malerbetrieb deines Vaters<br />

übernehmen?<br />

Wir waren zehn Kinder. Mein jüngster Bruder hat dies<br />

dann übernommen. Mein Vater hat mich zwar die Ausbildung<br />

in der HTL, Fachschule für Holz- und Steinbildhauer,<br />

in Innsbruck machen lassen, aber ich bekam keine<br />

moralische Unterstützung.<br />

Ein Jahr arbeitete ich im väterlichen Betrieb und erlernte<br />

die Technik des Sgrafitto, machte Wappen und<br />

dekorative Bilder etc.<br />

War die Sgrafitto-Technik für Dich zuwenig sinnlich?<br />

Sgrafitto-Arbeiten waren immer Auftragsarbeiten! Und<br />

das ist mir zuwenig frei! Ich konnte mich dabei zu selten<br />

ausleben!


Holz|Oktober 2016<br />

5<br />

Inspiriert Dich die Musik?<br />

Früher habe ich Beethoven beim Schnitzen gehört. Alle<br />

neun in einem Stück durch und in Trance geschnitzt!<br />

Und Beethoven passt nicht zu Stein?<br />

Holz ist für Spontaneität optimal! In seinen Symphonien<br />

lebst Du sein ganzes Leben durch und da ist was los!<br />

Gibt es Zeiten des Stillstandes und der Leere?<br />

Ja, das sind die quälendsten Momente meines Lebens!<br />

Zweifel und Sinnfragen beherrschen mich dann.<br />

Wie kommst Du da wieder raus?<br />

Da hilft nur das Tun! Hirn ausschalten und Intuition ein!<br />

Wie setzt Du die Sinnlichkeit um?<br />

Ich erschaffe viele Akte, meist Frauen. Ich mache von<br />

keiner Skulptur vorher einen Entwurf oder eine Zeichnung,<br />

weil mich das blockiert in meiner gestalterischen<br />

Freiheit!<br />

Es gibt keine Entwurfskizzen?<br />

Nein! Ich zeichne schon, aber keine Skulpturen!<br />

Deine neuen Serien sind Begegnung betitelt.<br />

Ich hatte total interessante Begegnungen und die Inspirationen<br />

wurden sofort umgesetzt! Ich reize das aus bis zum<br />

Exzess! Zeit wird aufgelöst! Deswegen liebe ich diesen Beruf<br />

so! Hier ist die perfekte Verbindung zu Yoga. Wenn du<br />

im Fluss bist, ist es wie eine Meditation.<br />

Schaust Du beim rohen Holz auf die Maserung?<br />

Eigentlich nicht, aber ich versuche materialgerecht zu<br />

arbeiten, d. h. wenn ich einen Carrara Marmorstein bearbeite,<br />

dann werde ich nicht filigran.<br />

Deine Holzskulpturen muss man sich ja auch nicht<br />

nur 40cm groß vorstellen, sondern Dein Klangbaum<br />

hat immerhin 2m Höhe und 1m im Durchmesser.<br />

In den Klangbaum kann man hineingehen. Man ist da unglaublich<br />

beschützt.<br />

Man ist der Kern des Baumes. Ich stand bei einer Vernissage<br />

im Baum und sprach zu 400 Leuten und hatte das<br />

Gefühl des totalen Schutzes.<br />

Machtest Du vorher eine Klangharfe?<br />

Eigentlich wollte ich immer eine Harfe machen.<br />

Wie soll man sich dieses Instrument vorstellen?<br />

Das ist wieder ein ausgehöhlter Ulmenbaum mit einer<br />

Außenseite voller Saiten. Die Stimmung besteht aus zwei<br />

verschiedenen Tönen. Durchs Anklingen entsteht das<br />

ganze Klangspektrum. Das ist unwahrscheinlich und bewirkt<br />

vollkommene Entspannung. Ich betitelte sie Relaxharfe!<br />

Du distanzierst Dich vom Zeitgeist?<br />

Bildhauer zu sein ist in der Kunstszene nicht in! Die Aktionskunst<br />

ist gefragt, aber diese Künstler sind für mich<br />

keine Bildhauer, sondern dies ist eine eigene Kunstrichtung!<br />

In Carrara lernte ich berühmte Bildhauer kennen,<br />

die selber wie Urgestein und richtig geerdet sind.<br />

Darf ich Dich als Urgestein bezeichnen?<br />

Ja, mit Lindenherz!<br />

Gotthard Obholzer<br />

Geb.1959 in Neustift im Stubaital. 1973 - 1977 HTL Innsbruck<br />

für Holz und Steinbildhauerei, Abschluss mit gutem Erfolg. 1981<br />

Meisterprüfung für Holz und Steinbildhauerei. Seit 1982 als<br />

freischaffender Künstler tätig.1984 Anerkennungspreis „Tiroler<br />

Bildhauer”. Seit 1984 zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland.1985<br />

- 1986 Assistent bei Johann Weinhart, Bronzeguss-<br />

Klasse, Art Didacta Innsbruck. 1996 - 2002 Leitung der Aktmodellier-Klasse<br />

der Stubaier Sommerwerkstatt. Ab 2003, Leitung<br />

Aktmodellier-Klasse im eigenen Artelier. 2004, und später Einladung<br />

nach Carrara - Italien Steinbearbeitung bei Hugo Marxer.<br />

Interview


6<br />

Holz|Oktober 2016<br />

Wolfgang Kühn<br />

Beim Festival Glatt&Verkehrt traf Eva Riebler den Autor,<br />

Herausgeber von DUM und den Wald-, Most- und Weinviertelanthologien<br />

der Literaturedition NÖ, Texter und Sänger<br />

Wolfgang Kühn und nahm seine neue CD zum Anlass, ein<br />

Interview über das Waldviertel, Drascheekeksi, das nächste<br />

Leben, DUM und Holz zu führen. Foto Eva Riebler-Übleis<br />

Lieber Wolfgang, Du hast soeben Deine vierte CD, „ka<br />

gmahde wiesn“, herausgegeben. Wurdest Du daher<br />

heuer zum ersten Mal bei Glatt&Verkehrt eingeladen?<br />

Nein, bereits 2004 spielten wir erstmals bei Glatt&Verkehrt<br />

in Spitz!<br />

Auch im tollen Ambiente des Schlosshofes Spitz wie<br />

heuer Erwin Steinhauer?<br />

Ja, auch die erste CD „Kalmuk“ präsentierten wir dort mit<br />

der Gruppe „Zur Wachauerin“. In weiterer Folge spannten<br />

uns die Veranstalter von Glatt&Verkehrt mit den „Strottern“<br />

zusammen. Wir arbeiteten dann ein gemeinsames<br />

Programm für 2005 aus. Einmal sangen die Strottern zu<br />

unseren Liedern und dann umgekehrt. Vor uns traten Otto<br />

Lechner und Josef Hader auf. Er las die Briefe von Thomas<br />

Bernhard. Die Stimmung in der Sandgrube 13 war großartig!<br />

Und weil unser gemeinsamer Auftritt so gut ankam, erschien<br />

dann 2006 die Live CD mit den Strottern!<br />

In den Texten von Dir und den von den Strottern sind ja<br />

Dialekt und Witz durchgängig. Wie siehst Du den Humor<br />

in Deinen Liedern?<br />

Ich arbeite gerne mit Pointen, aber sie kommen zumeist<br />

nicht an den Stellen vor, wo sie erwartet werden!<br />

Durchbrichst Du nicht nur gerne die Erwartungen, sondern<br />

auch die traditionellen Vorstellungen?<br />

Die Sprachspiele entstehen oft durch Ironie. Bei den „waldviertler<br />

stanzen“ hab ich mich sehr auf den Reim konzentriert<br />

und lange herumgefeilt! Z. B. „der Karl aus Gföhl, der<br />

is oft in Öl und d´Lotte, sei Frau, is a meistns blau.“<br />

Der zweite Waldviertel-Text ist positiver gestimmt! Z.B.<br />

heißt das Ende: „ka Mantl, ka Haubm, und Möwen statt<br />

Taubm.“<br />

Ja, ich entwerfe einen Sehnsuchtsort, denn das Waldviertel<br />

ist zwar wunderschön, aber leider wird oft gejammert,<br />

es sei zu kalt! Die ganze CD beinhaltet Lebensentwürfe, die<br />

nicht ganz aufgehen. Der Waldviertler entwirft ein Leben am<br />

Meer, weil ihm so kalt ist. Romeo und Julia, das klassische<br />

Liebespaar, beispielsweise sind verewigt im Lied „Drascheekeksimond“.<br />

Interview<br />

Hast Du beim Entwurf damals gerade Drascheekeksi<br />

gemampft? Bist Du ein Süßer?<br />

Ja, ich hab die hellen mal gesehen und da kam die Assoziation<br />

zum kaasigen Mond!<br />

Wie geht die Liebesgeschichte aus?<br />

Es wird auf das nächste Leben vertröstet! Nr. 7 auf der CD<br />

heißt auch so: „im nächstn lebm“. Es ist wieder ein nicht<br />

geglückter Lebensentwurf. Die meisten Leut` heben sich<br />

vieles für die Pension auf – das ist sozusagen ihr nächstes<br />

Leben – und zu dem kommen sie dann oft nicht mehr!<br />

Du hebst Dir nichts auf; denn du gehst als Texter und<br />

Sänger ja nie in Pension!<br />

Pension ist nicht geplant! Geht nicht!<br />

Ziehst Du Dich von der Zeitschrift DUM, bei der Du seit<br />

Anbeginn, seit einem 1/4 Jhdt. bist, irgendwann zurück?


Holz|Oktober 2016<br />

7<br />

Im Oktober werden wir 24 Jahre alt, Nr. 80 erscheint. Rückzug<br />

geht auch hier nicht – der Alfred Kolleritsch gibt die<br />

„Manuskripte“ ja auch schon über 50 Jahre heraus!<br />

Reigen dazu! Das Ganze hieß: „Mantra in Weitra“. Ein Rikschafahrer<br />

lernte mir die richtige Aussprache. Das war quasi<br />

unser Gastgeschenk an Indien!<br />

Sind Dir die ehrwürdigen Jazzgrößen auf der Bühne ein<br />

Vorbild?<br />

Ja, aktiv bis zum Umfallen! Nur dass die Kraft durch Gefühl<br />

ersetzt wird!<br />

Berufserfahrung ist doch ein Vorteil. Gestaltest Du das<br />

DUM immer vielschichtiger und vielfältiger?<br />

Wir versuchen eine große Bandbreite zu bieten!<br />

Deine Gedanken zu den drei Silben: HOLZ wie Wald<br />

sind …<br />

Nachdem ich gerne im Wald bin, ist für mich Holz etwas<br />

sehr Wichtiges. Ich habe in meinem Zimmer einen Holzboden,<br />

Holzkästen und sichtbare Holztram.<br />

Eine Gitarre aus Holz …<br />

Die hängt an der Wand, aber ich kann nicht drauf spielen!<br />

Du bist seit dem 1. Heft im Team. Was hat sich verändert?<br />

Es ist literarischer geworden, dafür weniger Berichte und<br />

Reportagen. Die Technik ging an uns auch nicht spurlos vorüber<br />

– d.h. moderneres Layout, Homepage etc.<br />

Ist beim Auswählen aus den vielen Einsendungen von<br />

Autoren auch die sparsame Verwendung von Adjektiven<br />

ein Kriterium?<br />

Das ist individuell! Jeder Redakteur bewertet anders. Vor<br />

Jahren hatten wir jemanden im Team, der stets laut aufjaulte,<br />

wenn „gleißende Sonne“ in einem Text vorkam!<br />

Ist Deiner Meinung nach die Lyrik im Verschwinden?<br />

Ich glaube nicht, eher im Gegenteil! Lyrik ist wieder gefragter!<br />

Die Autoren schreiben gerne Lyrik!<br />

Findest Du, dass die Musik auch hier die Emigranten<br />

mit den Einheimischen verbindet?<br />

Bei unseren Liedern besteht wahrscheinlich eine sprachliche<br />

Barriere! Für jeden, der die deutsche Sprache erst<br />

lernt, ist mein Text weit weg! Vor 10, 11 Jahren war ich in<br />

Kolumbien auf ein Festival eingeladen und habe vorher auf<br />

Spanisch erklärt, warum es geht. Meine Texte kamen total<br />

gut rüber durch den Rhythmus in der Sprache! Die Zuhörer<br />

haben über die Musik den Zugang zu den Textinhalten<br />

bekommen. Es ging z. B. um die Hasenjagd (um besoffene<br />

Jaga) oder das Tratschweib – Phänomene, die es in jedem<br />

Land gibt!<br />

Mit der Band „Zur Wachauerin“ spielten wir zweimal in Indien,<br />

in Delhi und Jaipur. Vorort schrieb ich einen Text mit<br />

3-silbigen Wörtern in Hindi und vermischte ihn mit 3-silbigen<br />

aus dem Waldviertel. Die Jungs spielten einen bayrischen<br />

Glaubst Du ein Zuagraster wie Du schätzt das Waldviertel<br />

mehr als ein Waldviertler?<br />

Ja, kann ich mir sehr gut vorstellen! Ich lebe seit 1975 mit<br />

Begeisterung im Waldviertel, vorher war ich 9 Jahre in Traiskirchen,<br />

viel weiter weg vom Wald. Geboren bin ich in Baden<br />

bei Wien …<br />

Findest Du, die Natur macht etwas mit den Menschen?<br />

Ich bin entspannter, wenn ich mehr in der Natur bin!<br />

Hat die Kontemplation vermehrt etwas mit dem Alter<br />

zu tun?<br />

Es liegt vielleicht darin, dass man erkennt, dass man nicht<br />

mehr überall / stets „dabei sein muss” und wenn einmal,<br />

dann dafür umso bewusster!<br />

Konzentration auf die Gegenwart und auf das Wesentliche?<br />

Wo ich jetzt wohne (Langenlois / Zöbing), am Fuß des Heiligensteins<br />

mit Aussichtswarte, ist es praktisch. In 5 Minuten<br />

bin ich im Wald.<br />

Was ist Dein Lieblingsholz?<br />

Eiche Barrique!<br />

Leider! Heute gibt’s nur Kaffee für Dich!<br />

Alle Schaltjahre, wie heuer, trinke ich das ganze Jahr ohnehin<br />

keinen Alkohol! J<br />

Weitere Grundsätze?<br />

Vielleicht ist mein Grundsatz, dass ich keine Grundsätze<br />

habe!<br />

Nachstend die WOIDVIERTLER-Texte.<br />

Interview


8<br />

Holz|Oktober 2016<br />

WOS SI A VIECH SO DENKT<br />

(3)<br />

de<br />

haum<br />

a<br />

an<br />

klopfer,<br />

hot<br />

si<br />

da<br />

specht<br />

denkt,<br />

wiara<br />

de<br />

nordic<br />

walker<br />

durchn<br />

woid<br />

marschiern<br />

gheat<br />

hot<br />

(aus: „wos si a viech so denkt“, Stein Verlag, 2014)<br />

GSTAUNDANE<br />

WOIDVIERTLER<br />

Zehn gstaundne Woidviertler<br />

de haum gern Blunzn gstrickt,<br />

ana hot zu vü dawischt,<br />

und draun is a dastickt!<br />

ana hot in d’Mündung gschaut,<br />

tjo, wos soist do sog’n!<br />

Sechs gstaundne Woidviertler<br />

de fischn in an Teich,<br />

ana hot an Stessa kriagt,<br />

jetzt fischn’s noch de Leich!<br />

Fünf gstaundne Woidviertler<br />

haum’s bis noch Kautzen gschofft,<br />

ana hot a UFO gesegn,<br />

des hot a net vakroft!<br />

Vier gstaundne Woidviertler<br />

san auf a Taunzerei,<br />

an, den hot da Gankerl ghoit,<br />

do woarns glei nur mehr drei!<br />

Drei gstaundne Woidviertler<br />

san grittn auf an Pferd,<br />

ana hot’s va hint aufzoimt,<br />

hot glaubt, daß des so gheart!<br />

Zwa gstaundne Woidviertler<br />

de woitn noch Budweis,<br />

ana hot den Zug vapaßt,<br />

da aundere pickt aum Gleis!<br />

A gstaundna Woidviertler<br />

dea woit a nimmer leben.<br />

hot an Ausflug in die Wei’berg gmocht<br />

und si’ de letzte Ölung geb’n!<br />

(von der CD „in meina wöd“ von ZUR WACHAUERIN, Ö1, 2010)<br />

Lyrik<br />

Nein gstaundne Woidviertler<br />

de woitn Schwammal finden,<br />

ana hot a foisches kost,<br />

jetzt gheart er zu de Blindn!<br />

Ocht gstaundne Woidviertler<br />

de haums oft übertriebn,<br />

ana hot a Schlagl kriagt,<br />

do woarns glei nur mehr siebn!<br />

Siebn gstaundne Woidviertler<br />

de gengan so gern jogn,<br />

A WOIDVIERTL AM MEER<br />

A Woidviertl am Meer<br />

wos brauch i mehr?<br />

In meine Dram<br />

siech i Poimen stott Bam.<br />

A Woidviertl am Meer<br />

des gfollat ma sehr<br />

Lebensgfü pua<br />

und van Winter a Rua!


Holz|Oktober 2016<br />

9<br />

A Woidviertl am Meer<br />

des hättat a Flair!<br />

Stott Hakln am Laund<br />

a Liege am Straund<br />

A Woidviertl am Meer<br />

i gabat ois her<br />

weu i brauch net vü,<br />

so a herrliches Gfü!<br />

A Woidviertl am Meer –<br />

jo gern, bitte sehr!<br />

Nur Saund und Dünen<br />

stott de Wiesn, de grünen!<br />

A Woidviertl am Meer<br />

i entspaunat mi sehr!<br />

nua Olivenkern spuckn<br />

und da Wöd entruckn<br />

A Woidviertl am Meer<br />

ka Lärm, ka Vakehr<br />

nua Luftschlössa baun<br />

und Norrnkastl schaun!<br />

A Woidviertl am Meer<br />

des follat net schwer,<br />

nur freindliche Leit<br />

und tuan wos an gfreit!<br />

A Woidviertl am Meer<br />

des fandat i fair<br />

ka Mauntl, ka Haum<br />

und Möwn stott Taum<br />

A Woidviertl am Meer<br />

i sogs gaunz leger:<br />

a Lebm ohne Sperrstund<br />

und es gaunze Joa gsund!<br />

(von der CD „ka gmahde wiesn“ von ZUR WACHAUERIN, Non<br />

Food Factory, 2016)<br />

WALDVIERTLER STANZEN<br />

da koal aus gfö,<br />

der is oft in ö<br />

und d’lotte sei frau<br />

is a meistns blau<br />

de hanni aus zwetl<br />

warad a fesche gretl<br />

owa am pepi ian mau<br />

do is goa nix drau<br />

da fraunz aus oamschlog<br />

is fia d’menscha a plog<br />

weu eam jede haum mecht,<br />

geht’s eana so schlecht<br />

bei da liesi aus schönboch<br />

do wiad jeda mau schwoch<br />

jo duat gibt’s a gfrett,<br />

weu’s jeda gean hätt<br />

de vroni aus horn<br />

wa für d’liebe geborn,<br />

owa sie findt kan mau,<br />

mit dem si guat kau.<br />

da ferdl aus litschau,<br />

geht so gern auf brautschau,<br />

owa weula nix findt,<br />

foahrt a saufn noch gmind<br />

da hauns aus neigschwendt,<br />

dea hot schiefe zehnt,<br />

owa er hot si drau gwehnt,<br />

daß eam jeda glei kennt<br />

da flurl aus kottes<br />

jo, jo, der hot es<br />

des glick bei de fraun,<br />

er miaßt si nua traun!<br />

da sepp aus hörmauns<br />

is ana dea kauns,<br />

Lyrik


10 Holz|Oktober 2016<br />

es werdsas net glauben,<br />

des eadepfeklaubn!<br />

da rudi aus nöhogn<br />

dea tatat gean „jo“ sogn,<br />

owa de mitzi sogt „na“,<br />

drum bleibta ala.<br />

Andreas Priesching<br />

Susanne Klinger besuchte den Holzkünstler und Tischlermeister<br />

Andy Priesching bei ihm zu Hause in Michelbach;<br />

Michelbach liegt im Bergland des Mostviertels, südöstlich<br />

von St. Pölten.<br />

da sigi aus neipölla<br />

hot händ so groß wia tölla<br />

und greift a wen au<br />

rennan’s olle davau<br />

de mary aus seattle<br />

foahrt maunchmoi noch zwettl<br />

she’s so very amused<br />

weu ma durt so gern schmust<br />

Lyrik/Interview<br />

(von der CD „ka gmahde wiesn“ von ZUR WACHAUERIN, Non<br />

Food Factory, 2016)<br />

Wolfgang Kühn<br />

Geb. 19<strong>65</strong> in Baden, lebt in Zöbing / Langenlois. 1992 DUM – Das<br />

Ultimative Magazin mitbegründet, ebenso wie 1999 das Int. Kulturenfestival<br />

„Literatur & Wein“. Seit 2002 erfolgreich unterwegs<br />

mit dem Projekt „Zur Wachauerin“ und den CDs „Kalmuk“ (2003),<br />

„Live @ Glatt & Verkehrt“ (2006), „in meina wöd“ (2010) und „ka<br />

gmahde wiesn“ (2016). www.zurwachauerin.at 2006 erschien<br />

in der Edition VAbENE der Mundart-Lyrikband „Des Wetta wiad<br />

betta“. Im Steinverlag erschien 2010 der Band „in meina wöd“,<br />

2011 das Hörbuch „aus meina wöd“ und 2014 der Band „wos si<br />

a viech so denkt“. Jüngste Publikation: „fostviecha“ (gemeinsam<br />

mit Andreas Nastl), Stoahoat Verlag 2015. Diverse Crossover-<br />

Projekte, u. a. mit dem Upper Austrian Jazz Orchester, der Singer-<br />

Songwriterin Irmie Vesselsky als Duo VESSELSKY // KÜHN und<br />

der Hiphopperin mieze medusa. www.küve.com Herausgeber der<br />

Anthologien „Mein Waldviertel“ (2014), „Mein Mostviertel“ (2015)<br />

und „Mein Weinviertel“ (2016), alle Literaturedition NÖ.<br />

Lieber Andreas, Du nennst dich Holzkünstler. Was<br />

macht Dich zu einem Holzkünstler?<br />

Die Idee, zum Tischlermeister auch den Holzkünstler anzuhängen,<br />

entstand aus einem Mangelgefühl heraus, das<br />

sich bei mir einstellte, nach den ersten Aufträgen in der<br />

Selbstständigkeit.<br />

Meine Kundschaften in der Tischlerei wissen im Prinzip,<br />

was sie möchten. Jedoch wird oft nicht die Vielfalt der Möglichkeiten<br />

darüber hinaus gesehen. Ein Tisch ist nicht gleich<br />

Tisch.<br />

Als Holzkünstler, der ich bin, kann ich mich wesentlich<br />

mehr einbringen, was natürlich auch ein großes Vertrauen<br />

mir gegenüber voraussetzt, als Person.<br />

Wie viel Freiheit in Deiner Kunstrichtung darfst und<br />

kannst Du Dir selbst erlauben?<br />

In meiner Arbeit geht’s sehr oft um den reinen Zweck, den<br />

die Arbeit erfüllen soll; Tisch ist ein Tisch, Sessel ein Sessel.<br />

Ich bin ja auch natürlich gewissen Normen unterlegen;<br />

Ein Geländer in einem Wohnraum hat bestimmte Normvorschriften<br />

(Abstände der Sprossen z.B.), die ich einhalten<br />

muss. Da führt kein Weg daran vorbei.<br />

Wenn quasi die Grobvorarbeits-Gespräche geführt sind und<br />

die Vorschriften bedacht, dann beginnt mein Persönlichkeits-An-Teil<br />

als Holzkünstler sich miteinzubringen.<br />

Wieso selbstständig?<br />

Um auch diesen Holzkünstler in mir letztendlich befriedigen


Holz|Oktober 2016<br />

11<br />

zu können, was in einem Tischlereibetrieb, der natürlich<br />

auch an der Amortisierung seiner Maschinen interessiert<br />

ist, nicht möglich wäre. Es ist natürlich eine unglaubliche<br />

Verantwortung, die da reinspielt.<br />

Wobei 80% meiner Arbeitszeit die Planung und Vorbereitung<br />

ausmacht – reine Arbeitszeit sind ungefähr 20%!<br />

im Detail passieren durfte und darüber hinaus die Tischplatte<br />

sich an die Raumform anpassen sollte. Aus einem<br />

gewöhnlichem Objekt ein Kunstobjekt zu schaffen ohne<br />

dabei den primären Zweck nicht aus den Augen zu verlieren<br />

– das ist ein großes Stück „harte Arbeit“! Vor allem in<br />

der Vorbereitungsphase.<br />

Ein paar Verszeilen: Was sind Deine Gedanken dazu?<br />

….wenn ich lese astrein, muss ich sehr gefasst sein….<br />

Bedarf immer noch einer Aufklärungsarbeit seitens meiner<br />

Person am Auftraggeber. Baum ohne Äste – was ist<br />

der Wunsch?<br />

Gleichwohl es immer noch solche Forderungen gibt. Für<br />

mich persönlich ein grundsätzlicher Irrsinn – da tauchen<br />

Selektionsgedanken auf, die in mir ein unangenehmes Gefühl<br />

verursachen.<br />

Andy – ich nenne Dir 6 Bäume; gib Du mir je 3 Eigenschaften!<br />

Zwetschge: mühsam, dunkel, besonders<br />

Birne: dick, hart, zäh<br />

Elsbeere: besonders, gleichmäßig, rissig<br />

Buche: gewöhnlich, angenehm, problematisch<br />

Weide: fürsorglich, ruhig, leicht<br />

Erle: orange, weich, freundlich<br />

Eines Tages von der Kunst zu leben – ist das ein Ziel?<br />

Du meinst reine Kunstobjekte herzustellen, die primär<br />

keinen Zweck mehr erfüllen? Mein durchaus sehr ausgeprägter<br />

praktische Ansatz – um den würde ich mir Sorgen<br />

machen. Nein, kann ich mir zurzeit gar nicht vorstellen.<br />

Die Herausforderung wäre dann vielleicht weg. Aber sag<br />

niemals nie. Momentan ist das „auch davon zu leben und<br />

Kinder großzuziehen“ ja ein gewichtiges Argument, das<br />

mich dieses Gedankenmodell nicht fertig spinnen lässt.<br />

(Anmerkung: Andreas ist Vater von 5 Kindern und das<br />

sechste ist unterwegsJ)<br />

Ich Danke Dir für Deine Antworten!<br />

Fotos©Gernot Grodinger/www.gernart.com<br />

Andreas Priesching<br />

Geb. 1981; Tischlereilehre abgeschlossen 1997; Meisterprüfung<br />

2005 und selbstständig seit 2008. Andreas ist verheiratet und<br />

lebt mit seiner Frau und 5 Kindern in Michelbach bei Böheimkirchen.<br />

Nochmal zum künstlerischen Aspekt in Deiner Arbeit<br />

– ist diese immer an 2ter Stelle?<br />

Gegenfrage – ist es nicht auch eine Form von Kunst, den<br />

Auftrag des Kunden sehr zufriedenstellend zu erfüllen<br />

und dabei aus dem entstehenden Objekt ein Kunstobjekt<br />

zu machen? Ich denke da an einen Auftrag, bei dem es<br />

um einen Esstisch für 8 Personen ging, wo Kunstvolles<br />

Susanne Maria Klinger<br />

Geb. 1968 in Amstetten; Vorletztgeborene von 7 Geschwistern;<br />

Mutter von 3 Kindern; eigentlich Hotelassistentin, hat aber den<br />

2ten Bildungsweg eingeschlagen und ist nun dipl. Sozialpädagogin<br />

mit Zusatzausbildungen zur Wald.- &. Tanzpädagogin; immer<br />

schon interessiert am Schreiben, jedoch jetzt erst den Mumm<br />

dazu, auch mal zu veröffentlichen. Redakteurin dieses Heftes.<br />

Interview


12 Holz|Oktober 2016<br />

Wolfgang Mayer König<br />

GEDICHTE UND ERZÄHLUNGEN AUS HOLZ –<br />

DIE POETIK DES HOLZES<br />

Bildbericht von Florian Mayer König<br />

Der heilige Bernhard von Clairvaux, der im elften Jahrhundert<br />

einerseits als begnadeter Prediger auch schon vor leerer Kirche<br />

predigen musste und mit seinem Kreuzzugsaufruf eine<br />

tausendjährige bis in die heutige Zeit andauernde, aktuell<br />

wirksame, kulturell zersetzende, tödliche, humanitär verheerende<br />

Auseinandersetzung der Menschheit beeinflusste,<br />

hält andererseits für den literarisch interessierten Menschen<br />

nachfolgender Generationen fest: „Glaube mir, denn ich<br />

habe es erlebt, du wirst mehr in den Wäldern erfahren als in<br />

Büchern“. So früh zeichnet sich also schon die Skepsis gegenüber<br />

der didaktischen Vermittlungsfunktion der Literatur<br />

ab und im Gegensatz dazu die exemplarische Begeisterung,<br />

die von Wäldern ausgeht: Die Wirkung des Waldes auf die Erlebniswelt<br />

des Menschen, seine Umsetzung in sprachliche,<br />

bildhafte und figürliche Gestaltung - also die Charakterisierung<br />

seiner Kultur und Weltanschauung.<br />

Kein geringerer als der Dichter Peter Rosegger hat wie kein<br />

anderer der pädagogischen Wirkungsweise des Waldes und<br />

des Holzes ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Seine<br />

Essay<br />

Geschichten über die Waldschule und seine Charakterisierung<br />

des Waldschullehrers im Kontext der unvergleichlichen<br />

Strahlkraft und des auf das Wesentliche reduzierenden Geheimnisses<br />

der Wälder führen schnurgerade in das Feld der<br />

modernen Waldpädagogik. Auch der Lehrer und Begründer<br />

der ersten Schweizer Waldschule Corray im Jahr 1912, er gilt<br />

als Pionier der Waldpädagogik, wollte damit „in unserem<br />

Zeitalter der Maschinen ein Gegengewicht in der Erziehung“<br />

setzen. Die ersten für die Waldpädagogik bedeutsamen


Holz|Oktober 2016<br />

13<br />

Waldschulheime gab es dann erst nach dem Zweiten Weltkrieg.<br />

Sie begannen ganzheitlich durch praktisches Erleben<br />

und bildnerische Kreativität ökologische und gesellschaftliche<br />

Zusammenhänge kulturell zu begreifen, anzugreifen<br />

und anzufassen, also zu erfassen. Nur so wollte man der Naturentfremdung<br />

entgegenwirken.<br />

Mit Kopf, Herz und Hand, also verantwortungsbewusst im literarischen<br />

und bildnerischen Sinne zu wirken, galt nunmehr<br />

als das lohnende Feld, um welches die Pädagogik verlängert,<br />

erweitert werden sollte. Das dynamische Begreifen der Zusammenhänge<br />

sollte ohne Konkurrenzkampf erfolgen, so-<br />

dass trotz Weite und Größe der Natur in ihr Geborgenheit als<br />

naturnahem, ästhetischem Lebensraum spürbar wird. Die<br />

psychosozial bedeutend beruhigende Wirkung des Waldes<br />

und des Holzes auf das seelische Gleichgewicht des Menschen<br />

sollte ausgehend von der Schuljugend Verständnis<br />

und Akzeptanz verbreiten. So fügte sich bis auf den heutigen<br />

Tag die Waldpädagogik lückenlos in die Bestrebungen supranationaler<br />

Bildungsplanung ein und ist und war ein fester<br />

Hoffnungsträger auch der „Bildung für nachhaltige Entwicklung”<br />

in der UN Dekade 2005-2014 der Vereinten Nationen.<br />

Viele Generationen von Kindern haben inzwischen die Waldlandschaften<br />

auch in Niederösterreich künstlerisch gestaltet<br />

und ihnen so mit Begeisterung zusätzliches Leben eingehaucht,<br />

sie im wahrsten Sinne des Wortes verzaubert.<br />

Wenn auch das Kinderlachen längst verhallt ist und immer<br />

neue Jahrgänge kommen und gehen, verharren als Hinterlassenschaft<br />

beseelten Gestaltens Gebilde aus Holz, Ästen,<br />

Wurzeln und Moos am Ort und strahlen im Wechselspiel von<br />

Licht und Schatten fort, gleichgültig ob sie erwandert werden<br />

und sich das Auge eines Betrachters auf sie niederlässt, auf<br />

sie einlässt, oder ob sie unbeobachtet dastehen und in der<br />

Stille der Waldeinsamkeit den Tieren ein zusätzliches Betätigungsfeld<br />

für ihre Kämpfe und Spiele bieten. Regen und<br />

Schnee lassen die Bauwerke, hölzernen Symbole, modrigen<br />

und frischen Bauplastiken, wortlosen Gedichte und Erzählungen<br />

aus Holz, Rinde und Tannenzweigen zwar verwittern,<br />

aber der Zufall, der im Gestalten ja nie zu kurz kommen darf,<br />

erbringt eine geheimnisvoll kreative Umarbeitung oder teilweise<br />

Neuschöpfung der kindlichen Kunstwerke. Wenn auch<br />

Essay


14 Holz|Oktober 2016<br />

die Schulkinder nie etwas von Menhiren, von Bauwerken der<br />

Megalithkulturen gehört oder gesehen haben, so durchleben<br />

sie doch instinktiv die Gestaltungs- und Beschwörungspraxis<br />

ihrer frühesten Vorfahren. Dadurch werden ihre kreatürlichsten<br />

und kreativsten Urinstinkte geweckt, die immer dem<br />

Schaffen, dem Aufbauen, dem Leben dienen, nie der Zersetzung,<br />

nie dem herbeigerufenen Untergang; ja höchstens der<br />

bildhaften Beschwörung der eigenen oder kollektiven Ängste,<br />

der eigenen und auch kollektiven Freude, der Geselligkeit,<br />

der problemlosen kindlichen Freundschaft.<br />

Sich die Angst oder die Freude von der Seele reden, noch<br />

besser sie gestalterisch beredt machen, auch darum geht es<br />

hier. Überall finden sich von Kindern gestaltete Ideogramme,<br />

sitzen, richtig passen und richtig Luft haben. Alle Langeweile<br />

scheint verflogen. Die Verlängerung des Spiels war ja nie der<br />

Ernst, sondern immer die Wirklichkeit. Wie könnte man sie<br />

wirklicher erleben, als hier und auf solche Weise. Holzklötze<br />

zu einem Symbol aufgebaut, gleichzeitig zu einem Unterstand<br />

auserwählt, einem Haus, einer Hütte, in welcher wiederum<br />

nur Gedichte wohnen. Ist es ein Dach, welches sich<br />

von einer Behausung zur anderen spannt oder ist es eine<br />

Brücke, eine Gedankenbrücke, auf die wie ein zartes, geripptes,<br />

flüchtiges Wesen schmückend ein Tannenreis gelegt ist?<br />

Der Unterschied zwischen Emotionalem und Kognitivem ist<br />

zu einem Fließgewässer ineinander geflossen und kann jetzt<br />

keine Rolle mehr spielen. Nichts macht sich mehr als bloß<br />

Essay<br />

Schriftzeichen, welche sich aus mehreren bildhaften Bedeutungen<br />

zusammensetzen. Der mühelose, unbeschwerte Umgang<br />

mit- und Gebrauch von Bildzeichen, gleich ob als Wort,<br />

ob als Holzplastik, ob als entstehende Kubatur oder aber als<br />

leerer Hohlraum. Alles erzählt, erweckt Gefühle, verarbeitet<br />

Gefühle, dichtet, verdichtet, kondensiert, komprimiert,<br />

beschränkt auf das Wesentlichste, um von dort aus frei<br />

ausgestalten zu können, bis die Holzobjekte untereinander<br />

und im Bezug auf den rohstoffspendenden Wald als natürlichem<br />

Umraum stimmig – richtig positioniert sind, richtig<br />

Gewusstes breit. Ausgestattet mit der wechselseitigen Doppelnatur,<br />

die nun einmal dem literarischen wie dem bildnerischen<br />

Ausdruck innewohnt. Ausgedrückt in der freiesten<br />

und unbegrenztesten Form, die uns die Kreativität bietet.<br />

Mühelos Grenzen überschreitend zwischen Gedicht und Erzählung,<br />

zwischen Literatur und Malerei, zwischen Malerei<br />

und Holzplastik, zwischen all dem und der Architektur, der<br />

Landschaftsplanung. Hier verführt keine Elektronikindustrie<br />

zum unstillbaren Suchtverhalten der Computerspielenden,<br />

hier gähnt nicht der Schlund der Kommerzfalle des Kriegs-


Holz|Oktober 2016<br />

15<br />

spielzeugs bis ins hohe Erwachsenenalter. Hier dichtet der<br />

Mensch, das Kind in einer Sprache, deren Vielfalt schier<br />

unbegrenzt ist und sich gleichzeitig in einen Lebensraum<br />

einfügt, der ethischer und ästhetischer Maßstab für die<br />

Menschheitsentwicklung ist. Gestalterisch gangbar, jederzeit<br />

machbar. Hier führen, nicht verführen, Handgriffe und<br />

umgesetzte Empfindungen und gemeinschaftliche Gestaltungen<br />

zum Gedicht, dem schlüssigsten und dichtesten, weil<br />

es sich statisch bewährt und das Einzelne ohne das Ganze,<br />

und das Ganze ohne das Einzelne nicht schlüssig ist, und daher<br />

auch nicht existenzfähig wäre. Nein, diesen Fehler begehen<br />

die Kinder nicht, weil sie es instinktiv vermeiden, weil sie<br />

nur allzu gut spüren, dass sie nicht mit den Maßstäben der<br />

gewöhnlichen Welt zu messen brauchen. Weil sich die Kinder<br />

als selbstverständlich vollwertige Schöpfer und Geschöpfe<br />

einbringen. Begleitet in ihrem Tun vom Gesang der Waldvögel,<br />

dem Röhren der Hirsche, dem Rascheln der Käfer, dem<br />

Zirpen der Grillen und dem Flügelschlag der Libellen. Da soll<br />

noch einer sagen, der Wald sei nicht von märchenhaften Gestalten<br />

belebt. Es gibt ja viel mehr, als behauptet wird, zu<br />

geben oder nicht zu geben.<br />

Lassen Sie sich deshalb bewusst auf dieses Abenteuer des<br />

begeisterten Waldes, des wortlosen Gedichtes und der wortlosen<br />

Erzählung aus Holz ein. Versuchen Sie, mit offenen<br />

Augen eines Kindes zu sehen, mit formenden Händen eines<br />

Kindes zu begreifen, und sie werden dadurch eine viel reichhaltige<br />

Wirklichkeit erleben dürfen, als sie bisher hatten.<br />

Wolfgang Mayer König<br />

Geb. 1946. Schriftsteller und Universitätsprofessor. Lebt in Emmersdorf,<br />

Bezirk Melk. Gründer des Österr. Universitätsliteraturforums<br />

„Literarische Situation“. Herausgeber der Literaturzeitschrift<br />

Log. Verfasser von 45 Büchern. Ständiger Delegierter bei<br />

den Vereinten Nationen. Chevalier des Arts et des Lettres der<br />

Französischen Republik u.A. Kulturmedaille des Landes Oberösterreich<br />

etc. Ehrenobmann der LitGes St.Pölten seit 2006.<br />

Florian Mayer König<br />

Geb. 2004. Maler, Zeichner, Filmemacher. Mit fünf Jahren erschien<br />

sein erstes Buch „Meine Bilder meine Welt“, herausgegeben<br />

vom Vizerektor der Kunstuniversität Linz Univ. Prof. Rainer<br />

Zendron. Drei Jahre später erschien in englischer Sprache sein<br />

zweites Buch. Artikel über seine Zeichnungen und Filme in Zeitungen<br />

und Zeitschriften des In- und Auslandes.<br />

Vgl.: Reibeisen, Kulturelemente, <strong>etcetera</strong>. Filme: „Das irdische<br />

Paradies“, „Die Ideallandschaft“, „Ein Sommer in Paris“, „Karneval“.<br />

Essay


16 Holz|Oktober 2016<br />

Stefan Balkenhol<br />

Den Holzweg verlassen!<br />

Stefan Balkenhol, deutscher Bildhauer, zählt zu den renommiertesten<br />

deutschen Künstlern. Sein Markenzeichen sind Figuren<br />

und Skulpturen aus Holz. 2014/15 war Balkenhol in der<br />

Landesgalerie Linz in einer groß angelegten Ausstellung zu sehen.<br />

Das wichtigste Material für Balkenhol ist wohl das Holz,<br />

aber auch Skulpturen, Zeichnungen und graphische Techniken<br />

wie Lithographie und Siebdruck. Seine grob gehauenen<br />

und farbig bemalten Holzskulpturen sind sein Erkennungsmerkmal<br />

als Künstler. Der Mensch steht im Zentrum<br />

seiner Auseinandersetzung, aber auch Tiere und Architekturen.<br />

Balkenhol entwickelt Grundtypen, die er in anderen<br />

Variationen modifiziert verwenden kann. Der Mann<br />

mit schwarzer Hose und weißem Hemd ist wohl sein bekanntester<br />

Figurentypus.<br />

Auffallend sind die durchweg emotionslosen Gesichter seiner<br />

Figuren: Sie starren scheinbar ins Leere oder fokussieren<br />

sich auf einen Punkt. Empathie lösen sie beim Betrachter<br />

eher nicht aus, bleiben stets distanziert, anonym<br />

„Meine Skulpturen erzählen keine Geschichten”, äußerte<br />

sich Balkenhol über seine Figuren. Bewusst lässt er die<br />

Aura des Geheimnisvollen über ihnen kreisen, verleiht<br />

seinen Figuren eine gewisse Starre. Der Künstler fordert<br />

Betrachter und Beobachter heraus, eröffnet Deutungsmöglichkeiten,<br />

denen keine Grenzen gesetzt sind, will Zuschreirichard<br />

wagner©picture-alliance/dpa<br />

Wenn man mit dem Zug von Hamburg-Harburg über die Eisenbahnbrücke<br />

Richtung Hamburg-Dammtor fährt, entdeckt man<br />

mitten in der Elbe einen hölzernen Mann in Menschengröße,<br />

der als Boje in der Mitte des Flusses hin und her schaukelt.<br />

Beim ersten Anblick irritiert Zugreisende diese Figur, denn<br />

der Beobachter überlegt, ob die schwankende Person dort,<br />

real oder eben nur eine Skulptur ist. Der Schöpfer dieser<br />

Holzskulpturen in Menschengröße ist der deutsche, zeitgenössische<br />

Bildhauer Stephan Balkenhol. Geboren wurde<br />

dieser 1957 in Fritzlar, wuchs in Luxemburg und Kassel als<br />

jüngster von vier Söhnen einer Hausfrau und eines Gymnasiallehrers<br />

auf. In Luxemburg besuchte der Künstler die<br />

Europäische Schule, an der sein Vater als Lehrer unterrichtete.<br />

Balkenhol legte sein Abitur in Kassel ab und studierte<br />

anschließend von 1976 bis 1982 an der Hochschule für Bildende<br />

Künste in Hamburg bei Ulrich Rückriem. Dank des<br />

Karl Schmidt-Rottluff-Stipendiums verfolgte er seinen Weg<br />

als zukünftiger Bildhauer.<br />

©Landesgalerie Linz<br />

und geben dem Betrachter Rätsel auf. Dabei ermöglichen<br />

gerade weiche Holzarten wie Pappel oder Wawaholz dem<br />

Künstler ein präzises Herausarbeiten der Gesichts- und<br />

Charakterzüge. Trotzdem wirken die Figuren leblos, starr,<br />

antrieblos.<br />

Präzises Herausarbeiten der Gesichter<br />

Deutungsmöglichkeiten oder Provokation<br />

Bericht


Holz|Oktober 2016<br />

17<br />

bungen oder Eindeutigkeiten von Anfang an vermeiden. Ein<br />

Gesichtsausdruck, ein Lächeln oder auch Weinen würden<br />

zu viel vorwegnehmen.<br />

Wiederholungen oder Markenzeichen<br />

Balkenhol ist jedoch in Künstlerkreisen umstritten. Seine<br />

Wiederholungen in Stilistik und Motivik innerhalb eines<br />

Der Wirkung von Körpern im Raum wollte Balkenhol mit<br />

seiner Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen mehr<br />

Beachtung schenken.<br />

2014/15 zeigte die Landesgalerie Linz in einer groß angelegten<br />

Ausstellung mehrere Menschen- und Tierfiguren Balkenhols<br />

in typisch groß bearbeiteter Form.<br />

Bericht von Cornelia Stahl, LitGes<br />

Werkes haben ihn angreifbar gemacht. Kritiker forderten<br />

neue Wege, Abzweigungen und Variationen des künstlerischen<br />

Schaffens. Balkenhol müsse den „Holzweg” verlassen,<br />

auf dem er sich befinde. Der Künstler lässt sich jedoch<br />

nicht aus der Ruhe bringen oder verunsichern, bleibt bei<br />

seinem Stil und vertraut auf sein Handwerk, das er zweifelsohne<br />

perfekt beherrscht. Ungefähr einhundert Figuren<br />

pro Jahr lässt er aus dem Rundholzsockel entstehen. Seine<br />

höchste Figur ist sechs Meter hoch: Sempre piu` (Immer<br />

mehr), ein Männertorso aus Zedernholz und wurde 2009<br />

temporär im Caesarforum in Rom aufgestellt.<br />

Symbiose zwischen Kunst und Raum<br />

Seine größte Ausstellung erhielt der Bildhauer Balkenhol<br />

2009 in den Deichtorhallen Hamburg. Drei Jahre hatte<br />

er sich akribisch auf dieses wichtige Ereignis vorbereitet<br />

und speziell dafür neue Figuren angefertigt. Balkenhol, der<br />

maßgeblich an der Realisation vor Ort in Hamburg beteiligt<br />

war, platzierte seine Werke eigenhändig, mit der Absicht,<br />

die Symbiose zwischen Kunst und Raum stärker zu betonen.<br />

Seiner Meinung nach ist gegenwärtig bei den meisten<br />

Menschen die zweidimensionale Sichtweise ausgeprägt,<br />

die ein räumliches Sehen vernachlässigt.<br />

©Salzburg Foundation Fotos Manfred Siebinger VG Bildkunst Bonn/<br />

Sphaera, Kapitelplatz und Frau im Fels Toscanihof<br />

Bericht


18 Holz|Oktober 2016<br />

All I need is jazz!<br />

37. Internationales Jazzfestival Saalfelden 2016 25- 28.8.16<br />

LitGes Obfrau Eva Riebler-Übleis war für die Zeitschrift „<strong>etcetera</strong>”<br />

mit dabei. MainStage im Congress, ShortCuts im Nexus,<br />

CityStage am Rathausplatz und 3 Almkonzerte.<br />

www.jazzsaalfelden.com, Fotos© Koppensteiner/E.Riebler-Ü<br />

usw. Am Vorabend, dem Donnerstag ab 21.30 genoss man<br />

im Nexus als Auftakt den beschaulichen, kontemplativen<br />

Sound rund um Bergen/Skandinavien in der empathischen<br />

Musik von Starlite Motel und die witzigen Visuals gemeinsam<br />

mit den schrägen und melodischen Klängen, angesiedelt<br />

zwischen Hip Hop, Pop, Jazz, Rock und Stravinski, des<br />

hervorragenden österreichischen Trios Namby Pamby Boy.<br />

Der Auftakt auf der CityStage war wie immer ein Auftragswerk,<br />

das diesmal mit Shake Stew ziemlich geradlinigen,<br />

überschaubaren klassischen Jazz lieferte.<br />

Bericht<br />

Der Begriff JAZZ ist auslegbar. Dieses Jahr haben die beiden<br />

Programmintendanten Michaela Mayer und Mario<br />

Steidl den Fächer noch weiter gestreut und auf der Alm<br />

z.B. Tango und Meringa von Libertango and guests oder<br />

Volksweisen auf Italienisch oder Steirisch von in Compagnia<br />

mit Ajida a Noar singen & spielen lassen und auf der CityStage<br />

traten außer der österreichischen Ostbeatbend die<br />

russische Otava Yo, die chinesische Dawanggang und eine<br />

Bosnia-Herzogovina Reuniun auf. Zwei gemischte Bands<br />

mit Deutschen, Österreichern, Italienern und 6 Musikern<br />

aus Mali traten auf, die Douba Foli waren ausgewählt worden<br />

sowie die Syrian Links & österreichischen Friends.<br />

Hervorragende Bands und Solisten, vorwiegend aus USA,<br />

Austria, France, Iseland, Germany oder Norway waren bei<br />

den ShortCuts zu vernehmen. Z.B. Jim Black, Marc Ducret<br />

Hervorragend rockig mit hohem Speed unterwegs waren<br />

die Krokofant aus Norwegen und harmonisch in Zwiege-


Holz|Oktober 2016<br />

19<br />

spräche von Instrument zu Instrument die Vincent Courtois.<br />

Am Samstag war das Trio Simon Barkers Chiri mit dem<br />

koreanischen Sänger Base il Dong ein besonderes Erlebnis,<br />

denn er setzte ein koreanisches Märchen in wilde<br />

Schreitöne mit Obertönen um und wurde von dem Trompeter<br />

Scott Tinkler bestens untermalt. Anschließend ging<br />

es stimmungsvoll mit dem Emile Parisien Quintet mit dem<br />

bogen auf die Bühne – wunderbar zu genießen! – Noch<br />

zwei Höhepunkte, die wohl den Sonntag als besten Tag<br />

auswiesen, waren die Schaerer/Biondini/Kalima/Niggli –<br />

Formation mit Jazz- Rapp Stimme des herausragenden Vokalisten<br />

Schaerer – abwechslungsreich, avantgardistisch<br />

und abgerundet eigenwillig! – sowie außer dem Pianisten<br />

Kuhn noch ein Namedropping, nämlich der blinde Pianist<br />

und Vokalist Henry Butler – wirklich einzigartig im Stil des<br />

alten guten New Orleans-Jazz. Steven Bernstein führte mit<br />

diesen, seinen The Hot 9 (neun Instrumentalisten) in den<br />

famosen Klaviervirtuosen und Improvisationskünstler Joachim<br />

Kuhn und dem und z.T. melancholisch Tomeka Reid<br />

Quartet weiter. Genauso Begeisterungsstürme beim Publikum<br />

riefen die Burning Ghosts von Daniel Rosenboom<br />

hervor, die am ehesten für klassische spontane Kompositionen<br />

standen.<br />

Für starken, erlebbaren, oft minimalistischen, durchdachten<br />

Sound standen am Sonntag die Gruppe Susana<br />

Santos Silva und das norwegische Erlend Apneseth Trio,<br />

das mit zartem Schlagzeug sachte, behutsam Fjordmusik<br />

aus den eisigen Weiten in die Hitze des Congresshauses<br />

holte.<br />

Nach fast 30 Jahren trat die ehemalige USA-Collegband<br />

Human Feel wieder in Action und brachte gute, kurze<br />

Kompositionen mit exzellent aufgeladenem Spannungs-<br />

Klang des traditionellen Jazz zurück und entwarf einen<br />

genussvollen, würdigen klassischen Endpunkt des Programms<br />

und des 37. Saalfeldner Jazzfestivals.<br />

Und nächstes Jahr wieder!<br />

Bericht


20 Holz|Oktober 2016<br />

Jazz im Hof<br />

Karmeliterhof Stadtmuseum St.P.<br />

16. bis 18. Aug. 2016<br />

„Jazz me, if you can!“ / so E. Jandl beim Jazzfest Saalfelden<br />

im Jahre 2004 oder 2005<br />

Wie jedes Jahr am Wochenende des Frequency Festivals in<br />

St.P. gab es heuer bereits zum siebten Male ein hochkarätiges<br />

Jazzwochende. Für den Veranstalter, das Magistrat der<br />

Stadt, ist Caroline Berchoteau die hervorragende, umtriebige<br />

Beauftragte. Im Hof des Stadtmuseums St.P. war wie<br />

jedes Jahr Eva Riebler-Übleis für die Litges dabei.<br />

in Gestik, Mimik und Stimmführung war rührend und eher<br />

dem klassischen Fach Operette zuzuordnen. Das Kontrapunktive,<br />

Jazzige war kein Paradigma!<br />

20.8.16:<br />

Das Trio Franz Hautzinger, Matthias Loibner und Peter<br />

Rosmanith war grandios und wartete nicht nur mit der<br />

Drehleier und dem Hang auf, sondern wusste mit eigenen<br />

Stücken zu überraschen und mit Witz und Ironie zu unterhalten.<br />

Ob das Drehen des Karussells im Wiener Prater, das<br />

Zaumzeug-Geklirre oder die Geräusche bei einer Kamel-<br />

Schlittenfahrt, alles wurde vom Publikum goutiert und begeistert<br />

aufgenommen. Ihr Bandname ist noch immer ausständig<br />

sowie die erste CD. Man sollte ihnen statt „Fidibus“<br />

Bericht<br />

Mario Rom's Interzone©Fotos Eva Riebler-Übleis<br />

Diesmal war es weniger der französische Jazz, sondern der<br />

österreichische, der im Vorfeld von Caroline Berchoteau<br />

ausgewählt worden war.<br />

18.8.16:<br />

Weniger Experimentelles als vielmehr schwungvolle Jazzklassiker<br />

gabs bei Mario Rom´s Interzone und genauso<br />

schwungvollen Jazz bei dem überaus vielseitigen Ensemble<br />

mit dem bezeichnenden Namen Synesthetic Octet. Das<br />

sehr junge Ensemble ist wirklich beeindruckend und kompositorisch<br />

wie in der Interpretation herausragend und hat<br />

wie der Titel des Programms „Rastlos“ vorgab noch viel vor<br />

und wird große Erfolge erzielen!<br />

19.8.16:<br />

Das Duo „Timeless“, AsjaValcic am Cello und Klaus Paier<br />

am Akkordeon trug ein bisschen französischen und folkloristischen<br />

Flair in den Jazzhof und kannte keine Grenzen<br />

zwischen Jazz und Folklore. Das Quintett Hiroi mit dem<br />

gelobten Album „Return of the Koi“ war instrumental jazzig,<br />

jedoch die vokale Begleitung durch Boglarka Babiczki<br />

vielleicht den Namen eines ihrer Songs überstülpen. Und<br />

zwar „Die Hawara von Awara“! – einfach köstlich!<br />

Als großes Finale war die Jazzwerkstatt Wien mit den<br />

Strottern auf der Bühne und brachte wirklich genialen Jazz<br />

rund um den Bandsänger Klemens Lendl. Seine Intonation<br />

und Zentriertheit auf jedes Wort und jeden Hauch zogen<br />

das Publikum in den Bann und zollten dem Morbiden und<br />

österreichisch-wienerischen abgrundtiefen Humor Tribut.<br />

–genial!-<br />

Jazzwerkstatt Wien & Strottern©Fotos Eva Riebler-Übleis


Holz|Oktober 2016<br />

21<br />

Dine Petrik<br />

Auf dem Holzweg<br />

Am Weg zur Straßenbahn stehen ihr eines Nachmittags in<br />

der Nebengasse plötzlich riesige Fensterflügel in den Weg.<br />

An die Hausmauer gelehnt, vier schöne, große, robuste Riesenfenster,<br />

zum Abholen bereit, das heißt zum Entsorgen.<br />

Stabiles Holz, das war klar, sie kannte sich aus, und noch<br />

gar nicht alt, in Dreifach-Verglasung, die Glasscheiben alle<br />

intakt, bis auf einen Sprung in einer Scheibe.<br />

Zum Entsorgen, lässt sich hören, ja, die sind Müll, kommen<br />

alle auf den Müllhaufen, auch Flügeltüren und anderes mehr,<br />

sagt der Arbeiter auf ihre Frage. Das Haus wird umgebaut,<br />

der neue Hausherr hätte Plastikfenster bestellt – oder anders<br />

gesagt, Kunststoff. Die sind auch das Beste, das Haltbarste,<br />

setzt der Arbeiter nach. Klar, die da hätten es auch<br />

noch gute sechzig Jahre gemacht.<br />

Die sind Müll, denkt sie beklommen. Müllentsorgung. Wie<br />

entsorgt man so riesige Glasscheiben? Und wie diese stabilen<br />

Holzrahmen? Wird ihnen zuerst das Kreuz gebrochen,<br />

werden sie zerschlagen, zerkleinert, per Hand? mit Maschine?<br />

Und dann in den Müll. Aber was heißt denn da, Müll? Das<br />

Herz tut einem weh, wenn man sich die Zerstörungen der<br />

vielen funktionstüchtigen Gegenstände vorstellt.<br />

Sie hatte den 2-er in der Josefstädter Straße verlassen. Nun<br />

wartet sie in der Ordination des Hals-Nasen-Ohrenarztes<br />

darauf, aufgerufen zu werden. Das linke Ohr fing manchmal<br />

leise zu klopfen an, vielleicht auch zu hacken. Sie muss<br />

unentwegt an die Müllfenster denken, während sie den<br />

Parkettboden im Wartezimmer bestaunt. Knacksende, alte<br />

Fischgrät-Verlegung, stabiles Holz, Holzstäbe hell-dunkel,<br />

zusammenlaufend, wechselnd; schön, nachgedunkelte, alte<br />

Eiche. Was die schon alles ertragen hat - und noch ertragen<br />

wird.<br />

Sie liebte Holz, erkannte Hölzer an ihren Maserungen, an<br />

ihren Gerüchen, sie beroch jedes Holz, inhalierte, wollte hineinkriechen<br />

mit ihrer Nase ins junge Holz, mit den Zähnen<br />

hineinbeißen.<br />

Eiche roch würzig, wenn sie jung war, erregend herb. Die<br />

Linde leicht säuerlich, nicht wirklich gut. Das einzigartige<br />

Zirbenholz, das den Schlaf bringen - und Krankheiten abwehren<br />

soll. Die Kiefer roch harzig, nach Pech - und nein, nach<br />

Schwefel nicht. Die Fichte nach nichts, nach frischer Luft.<br />

Irgendwie gummiartig das Rosenholz. Und Mahagoni roch -<br />

undefinierbar, nach weiter Ferne.<br />

Jetzt sind sie schon wieder da, sagte der Hals-Nasen-Ohrenarzt<br />

zu ihr. Sitzen Sie mit ihren Ohren vielleicht vor einem zugigen<br />

Fenster? Natürlich, der Schreibtisch steht direkt davor,<br />

sagt sie. Also da, ein Rezept für Ohrentropfen. Und lassen sie<br />

ihre alten Holzfenster erst einmal ordentlich dichten!<br />

Dine Petrik<br />

Geb. 1942 im Burgenland, mit 17 Übersiedlung nach Wien, Bürolehrgang,<br />

Fakturistin, Sekretärin, diverse Abendschulungen.<br />

Schreibt und publiziert seit 1990. Freie Autorin. Lyrik und Prosa<br />

in Anthologien, Reiseliteratur, Essays, Feuilletons in div. Österreichischen<br />

Tageszeitungen (Der Standard, Die Presse, Wr. Zeitung)<br />

11 Buchveröffentlichungen. Zuletzt: 2015 der Roman FLUCHT<br />

VOR DER NACHT, 2016 FUNKEN.KLAGEN, beide Bibliothek Verlag<br />

der Provinz.<br />

Liegende©Gotthard Obholzer<br />

Prosa


22 Holz|Oktober 2016<br />

Prosa<br />

Mario Vötsch<br />

Unter uns<br />

Ich weiß nicht, wann sie heute aufgestanden ist, ich musste<br />

früh raus und konnte sie nicht mehr hören. Das passiert selten.<br />

In der Regel ist sie es, die vor mir geht. Wenn die Wohnungstür<br />

zufällt, liege ich noch im Bett, höre halbwach, wie<br />

das Schloss einrastet und die Schlüssel klimpern. Dann ihre<br />

gedämpften Schritte die Treppe runter, die erst nach und<br />

nach bei mir ankommen, ihre Schritte in meinem Kopf, während<br />

sie ja schon längst weg ist. Es sind behutsame Schritte,<br />

ausgewogen, nie hastig oder kopfüber. Selbst wenn sie spät<br />

dran ist, überstürzt sie nichts. Selten, dass sie eine Stufe<br />

überspringen würde.<br />

Schließlich kommt sie unten an, im Eingangsflur, und öffnet<br />

die Haustür. Die Angeln krächzen, das wuchtige Tor fällt zu.<br />

Könnte ich diesem Klang deutlicher nachspüren, diesem Zufallen<br />

des Tores, ich bin sicher, auch darin läge etwas Beherrschtes.<br />

Unter ihrer Obhut wird jede Tür zahm gemacht.<br />

Unmittelbar danach setzt eine konspirative Stille ein, die den<br />

Raum zwischen den Dielen und Decken durchdringt wie ein<br />

Luftzug, eine Stille, die kommuniziert. Es ist nicht so, als ob<br />

nichts gewesen wäre.<br />

Hier endet mein morgendliches Wachhören.<br />

Als hätte sie niemanden sonst erwartet, so selbstverständlich<br />

hat sie damals die Tür geöffnet und mich angelächelt.<br />

Ich stand da mit Paket in der Hand. Der Postbote hatte mich<br />

am Hauseingang abgefangen und gebeten, es für sie entgegenzunehmen.<br />

Es war mittags und sie anscheinend nicht<br />

zu Hause. Also unterschrieb ich, setzte meine Initialen unter<br />

ihren Namen. Agnes Seel. Obwohl ich schon seit Jahren<br />

an diesem Namen vorbeigegangen war, handgeschrieben in<br />

Blockbuchstaben aufs Postfachschild, kam es mir jetzt vor,<br />

als würde ich ihn das erste Mal lesen. Lesen und erfassen.<br />

Nicht bloß anschauen wie die Inschrift eines Denkmals, an<br />

dem man jeden Tag vorbeigeht und doch nicht recht weiß,<br />

was drauf steht.<br />

Sie habe mich schon gehört, sagte sie, als ich an ihrer Tür<br />

stand. Man könne in diesem Haus ja nicht überhören, was<br />

vor sich geht. Ja, erwiderte ich, es gehe sich wie auf zerbrochenen<br />

Eierschalen. Sie dankte herzlich fürs Paket und wir<br />

verabschiedeten uns, ohne weiter vorstellig zu werden. Ich<br />

war schon am Treppenabsatz, da schickte sie mir, das Gesicht<br />

im Türspalt, noch einen Satz hinterher: „Sie hören von<br />

mir.“ Das hatte Witz. Den hatte ich ihr gar nicht zugetraut.<br />

Meine Wohnung ist im zweiten Stock, Agnes Seel wohnt über<br />

mir. Unser Haus ist ein altes Bauernhaus, es wäre der Traum<br />

aller Feuerleger. Alles ist aus Holz, das meiste Eiche. Drei<br />

Etagen werden durch geschlossene Treppen verbunden, die<br />

so steil sind, dass sie fast wie senkrechte Verbindungssprossen<br />

emporragen. Die Flure sind mit breiten Dielen verlegt, an<br />

den Decken sind robuste Balken eingezogen. Auch die Zimmerböden<br />

und die Türen sind aus Eiche, einzig die Wände<br />

haben Vertäfelungen aus Zirbelkiefer. Seitdem ich in diesem<br />

Haus wohne, kenne ich mich mit Holz einigermaßen aus.<br />

Lange konnte ich mich nicht daran gewöhnen, dass ein Haus<br />

stöhnt und krächzt und klagt. Ich hatte das Gefühl, das Haus<br />

leidet unter der Last der Menschen und könnte jederzeit zusammenbrechen.<br />

Heute sehe ich es entspannter: Das Haus<br />

gibt nach, bleibt aber stark. Es ist ein durchgängiger Bewegungsmelder,<br />

der nie schweigt, wenn sich etwas regt. Man<br />

vernimmt jeden Schritt – und Schritte gibt es genug. Auf jeder<br />

Etage sind drei Einzimmerwohnungen, das macht neun<br />

Parteien und achtzehn Beine. Irgendjemand muss da immer<br />

gehen.<br />

Morgens sind ihre Schritte weich und geduldig, fast nachsichtig.<br />

Sie geht ans Fenster, wartet einen Moment, bevor sie<br />

es öffnet. Dann die frische Luft, eine Atempause, die in die<br />

Glieder strömt. Ihr langes graues Haar, so stelle ich mir vor,<br />

ist noch ungekämmt, einzelne Strähnen vom Nachtschweiß<br />

verklebt. Ihr Teint ist blass und wird es auch bleiben, denn<br />

mit Gesichtspuder geht sie sparsam um. Sie wird ihn auftragen,<br />

um die fahlen und trockenen Partien ihres Gesichts zu<br />

kaschieren. Noch aber steht sie am offenen Fenster, unfertig<br />

versunken. Ihre Konturen, milchig und weich, treten hervor<br />

wie die Züge einer Wachsfigur, erscheinen seltsam unbelebt,<br />

aber auch nicht leblos.<br />

Die Begegnung an ihrer Türschwelle war nicht unsere erste,<br />

aber es war die erste, in der wir uns etwas zu sagen hatten.<br />

Immer wieder mal sind wir aneinander vorbeigelaufen, im<br />

Hauseingang, bei den Postfächern, auf den Etagentreppen.<br />

An engen Stellen lässt sie mir bis auf weiteres den Vorrang,<br />

weil ich jünger bin, schneller. Sie nimmt mein Tempo mit Gelassenheit.<br />

Dennoch ist es mir angenehmer, sie über mir zu<br />

hören als vor mir zu sehen. Meine Verlegenheit, ihre Schritte<br />

zu kennen. Die Stille, wenn sie am Fenster steht. Ihre kurze<br />

Morgentoilette. Dass sie nie vor sich herredet. Der Verrat<br />

der Bretter, wenn sie in der Nacht aufsteht. Und wenn


Holz|Oktober 2016<br />

23<br />

sie Besuch hat… Ich gebe zu, manchmal denke ich weiter.<br />

Denke mich oben hinein, bleibe nicht am Boden. Schiebe ihr<br />

eine Haltung unter und schreibe ihr Gedanken zu. Gebe ihren<br />

Augen einen reservierten Ausdruck, nicht zu schwermütig,<br />

nicht zu leichtgläubig. Ich lasse sie Proust lesen und mache<br />

sie tiefsinnig. Nie aber unterstelle ich ihr ein ganzes Leben.<br />

Ich erinnere mich, einmal in einem Museum gewesen zu<br />

sein, in dem ich der einzige Besucher war. Es war eine fremde<br />

Stadt, ein heißer Tag im Hochsommer. Ich kam spät, die<br />

Ausstellung hatte gerade noch eine Stunde offen. Als ich das<br />

Ticket löste und die beiden Damen am Empfangsschalter<br />

sah, wurde mir klar, dass sie und ich die einzigen Menschen<br />

waren, die noch da waren. Eine von ihnen war zuständig für<br />

den Eintritt, die andere für die Aufsicht. Ich hatte sie in ihrer<br />

Plauderei unterbrochen, mehr noch, ihre Plauderei abgebrochen,<br />

denn die Aufsichtsfrau musste ja nun mir folgen.<br />

Das Museum war riesig. Es hatte drei Ebenen, alle Böden<br />

und Treppen waren aus dunkler Eiche, Massivholzdielen. Der<br />

Boden gab nicht nur dem Gehen nach, sondern auch jeder<br />

Gewichtsverlagerung im Stehen. Es war schrecklich. Die<br />

Bretter verrieten meinen Aufenthalt, meinen Versenkungsgrad,<br />

mein Stehvermögen. Schritt für Schritt war ich ihnen<br />

ausgeliefert. Für die Aufseherin war es nicht schwer, meiner<br />

Spur zu folgen. Seitdem ist es mein größter Albtraum, in einer<br />

Ausstellung zu sein, in der es keine Bilder, sondern nur<br />

leere weiße Wände gibt, dazu Aufsichtspersonen, die einem<br />

beim Betrachten dieser Wände zuschauen. Und dabei lauschen,<br />

wie man geht.<br />

Ich suche keine Spuren.<br />

Ich vernehme ihre Abdrücke ohne tieferen Glauben.<br />

Sie tritt und ich schweige.<br />

Unser betretenes Schweigen.<br />

Vor einiger Zeit gab sie mir den Zweitschlüssel zu ihrer<br />

Wohnung: Für-den-Fall-dass… – Es gab bislang noch nie so<br />

einen Fall. Doch darum geht es nicht. Sie kam also runter<br />

und überließ mir ihre Schlüssel. Als ich sie bat, einzutreten,<br />

lehnte sie dankend ab und bestand darauf, mich nicht weiter<br />

zu stören. Noch nie war jemand von uns in der Wohnung des<br />

anderen. Dennoch macht es einen gewaltigen Unterschied,<br />

sie zu hören und gleichzeitig ihre Schlüssel zu haben. Schlüssel<br />

können etwas Banales und Intimes zugleich sein. Sie machen<br />

die Bretter zwischen uns offiziell, aber auch vertraulich.<br />

Bei Dunkelheit sind ihre Schritte verhalten, nahezu lautlos.<br />

Lediglich Bruchstücke einer Bewegung sind zu vernehmen,<br />

kein klares Gehen mehr. Bis selbst diese letzten Zeugnisse<br />

verstummen. Die Stille aber wäre nicht dieselbe, wenn sie<br />

nicht da oben wäre.<br />

Mario Vötsch<br />

Geb. 1977 in Vorau/Steiermark, lebt in Innsbruck. Studierte<br />

Politologie und Soziologie in Wien und lehrt als Sozialwissenschaftler<br />

an den Universitäten Innsbruck und Friedrichshafen.<br />

Mehrere wissenschaftliche Publikationen; literarische Veröffentlichungen<br />

in Literaturzeitschriften (Entwürfe, Landstrich, DUM).<br />

Manchmal wünschte ich, ich könnte fliegen und wäre nicht<br />

mehr nachdrücklich.<br />

Wenn sie spät abends nach Hause kommt, sind ihre Schritte<br />

länger als untertags. Auch härter. Es kommt selten vor, dass<br />

mir ihr Gang neu ist, dass ein gesteigertes oder verzögertes<br />

Intervall mich aufhorchen lässt. Manchmal aber passiert es:<br />

ein verstärkter Nachdruck, ein abgehacktes Auftreten, ein<br />

gedämpftes Hopsen, irgendetwas, das nicht den gewohnten<br />

Gang nimmt.<br />

Ich weiß, ich höre ihr beim Gehen zu.<br />

Ich erlaube mir aber keine wesentlichen Rückschlüsse.<br />

Ich registriere ihre Wegmarken. Fenster, Bett, Sesselrücken,<br />

Küchenschritte, Bad.<br />

Ich will nicht Hermeneutik machen.<br />

Ich belausche nicht.<br />

bla, bla, bla/Birke auf Bronzesockel 2015©Gotthard Obholzer<br />

Prosa


24 Holz|Oktober 2016<br />

Prosa<br />

Peter Schwendele<br />

Stallleben<br />

Die erste Woche in der Mehrzweckhalle ist ganz lustig, ein<br />

bisschen so wie eine große Schlafsackparty. Überhaupt:<br />

Wenn alles neu ist, macht es Spaß, sich gegenseitig zu<br />

beschnuppern. Und die leicht stickige Luft, die Geruchsmelange,<br />

die einem um die Nase wabert, fällt höchstens<br />

positiv auf, macht fast ein wenig high: Ausdünstungsnarkotisierung.<br />

Ich finde übrigens, Saralisa müffelt mit Abstand<br />

am besten.<br />

Aber schon kommen die von den Lang- und Schlappohrfreunden<br />

Südweststadt e.V. hereingehoppelt und machen<br />

unmissverständlich klar, dass ihre Pelztierschau am Wochenende<br />

die weltwichtigste Veranstaltung ist. Wir jungen<br />

Hüpfer schauen noch ein bisschen komisch, wie die ersten<br />

Käfige aufgestellt werden, da holt uns auch schon<br />

die stets um Deeskalation bemühte Stadtverwaltung<br />

raus, von den Karnickelknutschern offenbar auf die rettende<br />

Idee gebracht, wie man dem akademischen Überschuss<br />

auf die Schnelle ein schnuckliges Plätzchen bieten<br />

könnte.<br />

Flott wird gezimmert und gehämmert, alles geht rucki-zucki,<br />

und die beflissenen Beamten versichern, man werde<br />

eine gute Übergangslösung schaffen. In wenigen Wochen<br />

würden ohnehin bereits die ersten unserer Kommilitonen<br />

ihr Studium schmeißen und dann könnten wir, nutznießend,<br />

ihre frei gewordenen Zimmer übernehmen. Der Plan<br />

klingt perfekt. Die Besserwisser („hättet Euch eben früher<br />

um eine Unterkunft kümmern müssen“) und die Snobs<br />

(„selber schuld, wenn Eure Eltern Euch keine Eigentumswohnung<br />

in Eurem Studienort kaufen“) verstummen.<br />

Toll ist, dass es von unserer neuen Behausung nur fünfzehn<br />

Minuten zu Fuß zur Uni sind. Wir bekommen am<br />

ersten Tag ein Starter-Pack überreicht (eine Schale mit<br />

frischen Karotten und ein Päckchen Streichhölzer mit der<br />

Aufschrift „Achtung, nur zum Zähnereinigen verwenden“).<br />

Ein Herr von der Lokalzeitung macht Fotos, als der Baubürgermeister<br />

jedem von uns beim Einzug persönlich die<br />

Hand schüttelt.<br />

Der gesamte Stall ist sehr groß, hat viele Ebenen und bietet<br />

durch seine kompakte Form und seine durchdachte<br />

Gliederung „für jeden Bewohner ein eigenes Reich“, so<br />

zumindest die Schlagzeile in der Zeitung. Von den oberen<br />

Stockwerken bietet sich eine prächtige Aussicht. Jede<br />

einzelne Stalleinheit macht durch die den vorderen Bereich<br />

begrenzende Drahtgitterlösung einen sehr luftigen<br />

Eindruck und bietet Platz für Bett, Schrank sowie Schreibtisch<br />

und lässt sogar noch etwas Raum für das morgendliche<br />

Liegestützenprogramm respektive das abendliche<br />

Workout.<br />

Der Stallverwalter heißt Rabrindranath und ist ein bärtiger,<br />

turbantragender Sikh. Das Weltoffene der Behausung<br />

wird des Weiteren durch seine Gehilfin und Mädchen<br />

für alles unterstrichen, die schwarze Rapperin Mojo-Minzi,<br />

die alle Fragen, die nervende Motherfucker-Neustudiwohnis<br />

so haben, ausschließlich in gereimter Stakkato-Form<br />

beantwortet.<br />

Toll ist vor allem, dass ich den Stall direkt neben Saralisa<br />

bekomme. Saralisa studiert komische Fächer, aber sie<br />

ist sehr nett, hat niedliche Ohren und wenn sie lächelt,<br />

entblößt sie auf eine neckische Art ihre Vorderzähnchen.<br />

Weil die Wände unseres scharf geschnittenen neuen<br />

Heims aus sehr dünnen Spanholzbrettern bestehen, kann<br />

ich, wenn ich in meinem Stall bin, fast alles hören, was Saralisa<br />

in ihrem Stall macht. Zum Beispiel kann ich hören,<br />

wenn sie niest. Ich finde, sie hat ein ganz entzückendes<br />

Niesen.<br />

An der Uni erzählen sie uns wirklich interessante Sachen,<br />

nur muss ich feststellen, dass das Lernen zuhause etwas<br />

mühsam ist, weil nicht nur Saralisa links neben mir, sondern<br />

auch die ganzen anderen, mein Stallnachbar rechts,<br />

und der direkt über und der direkt unter mir, und die übrigen<br />

in den ganzen anderen Stockwerken, niesen und,<br />

ähem, husten und so. Kakophonisch nicht uninteressant,<br />

aber auf Dauer doch ein wenig enervierend.<br />

Saralisa hat sich offensichtlich mit ihrem Stallnachbar von<br />

der anderen Seite angefreundet. Purzelchen. Das finde<br />

ich nicht so schön. Saralisa kann sich natürlich anfreunden,<br />

mit wem immer sie möchte, gar keine Frage, ich finde<br />

es nur schade, dass sie mich kaum noch beachtet, seit<br />

Purzelchen ein Auge auf sie geworfen zu haben scheint.<br />

Purzelchen mit seinem rotmelierten Bartwuchs, dem man<br />

ansieht, dass er täglich intensiven Kontakt zu Kamm und<br />

Schere aufnimmt. Purzelchen mit seiner Hipstermütze,<br />

ohne die er nie vor die Käfigtür tritt, vermutlich, weil seine


Holz|Oktober 2016<br />

25<br />

Ohren zu schief oder zu lang oder einfach nur verknorpelt<br />

sind, so dass er ihren Anblick der Öffentlichkeit einfach<br />

nicht zumuten kann. Soweit zumindest meine Interpretation.<br />

Nicht dass ich eifersüchtig wäre, ich finde es nur<br />

schade. Das mit Saralisa.<br />

Saralisa scheint ihn wirklich zu mögen, heute. Alles ist<br />

friedlich, die Lichter der Stadt glitzern und brechen sich<br />

an den Rändern meiner Maschendrahtstallfront. Nur vom<br />

Stall neben mir kommen komische Geräusche. Ein Kratzen?<br />

Ein Schaben? Nein, es klingt mehr, als würden Saralisa<br />

und Purzelchen miteinander kuscheln. Und sie kichern,<br />

die beiden? Ich höre es genau. Und jetzt? Wieso fängt Saralisa<br />

denn an, zu stöhnen? Oh, sie ist vorsichtig, ja, sie<br />

bemüht sich, sie will ganz, ganz leise sein. Aber es gelingt<br />

ihr nicht. Ich höre sie trotzdem, und sicher nicht nur ich.<br />

Vermutlich hört man sie bis hinunter zu den Containern,<br />

wo das alte Stroh und die Abfälle abgeladen werden. Immer<br />

lauter wird sie, und auch Purzelchen hört sich jetzt an<br />

wie ein richtiger down-to-earth-I`m-the-hammer-you`rethe-nail-purzel.<br />

Kein Zweifel mehr. Saralisa rammelt. Ich<br />

muss sofort hier raus.<br />

Perfomerin scharen, zücke ich unbemerkt mein noch<br />

unbenutztes Streichholzpäckchen und mache dem Spuk<br />

gnadenlos ein Ende. Das dünne, trockene Holz brennt wie<br />

Zunder und die Flammen züngeln hell auflodernd in den<br />

schwarzen Nachthimmel. Aus Stall wird Asche. Und Purzelchen,<br />

das weiß ich, mag keinen Rap.<br />

In dieser Nacht schlafe ich zum ersten Mal auf der Straße.<br />

Bevor ich mich unter meinen Pappkarton kuschle,<br />

schreibe ich, um Missverständnisse zu vermeiden, mit<br />

schwarzem Filzer noch schnell „Mein Name ist Hase…“<br />

drauf.<br />

Peter Schwendele<br />

Geb. 19<strong>65</strong>. Lebt und arbeitet als Journalist im südbadischen<br />

Schopfheim. Zahlreiche Veröffentlichungen von Kurzgeschichten<br />

in Literaturzeitschriften (u.a. Entwürfe, Lichtungen, <strong>etcetera</strong>) und<br />

Anthologien (u.a. „Rosa ist das Grau der Optimisten“ zum Würth-<br />

Literaturpreis 2011). Mehr unter www.peterschwendele.de<br />

Saralisa rammelt.<br />

Die Uni fordert mich total. Was die alles verzapfen.<br />

Saralisa rammelt.<br />

Rabindranath meint, er könne mir keinen anderen Stall<br />

zuweisen. Der bürokratische und logistische Aufwand einer<br />

solchen Aktion sei angesichts der Fülle der Aufgaben,<br />

die er in diesem riesigen Komplex zu bewältigen habe,<br />

einfach nicht zu leisten.<br />

Saralisa rammelt.<br />

Echt keinen Bock, schon wieder spazieren zu gehen.<br />

Saralisa!!!<br />

Langsam muss ich befürchten, dass wir beide – aus unterschiedlichen,<br />

aber nicht voneinander zu trennenden<br />

Gründen - unser Studium vernachlässigen, und so bin<br />

ich zu guter Letzt gezwungen zu handeln. Listig bitte ich<br />

Mojo-Minzi, hinten bei den Containern Heimatlieder aus<br />

aller Welt zu rappen. Das zieht, wie erwartet, und als die<br />

Stallbewohner sich lauschend rund um die begnadete<br />

Sehen, Fühlen, Begreifen/Esche 1991©Gotthard Obholzer<br />

Prosa


26 Holz|Oktober 2016<br />

Stefan Reiser<br />

Warum mein Freund Alexander das Funkhaus verkauft<br />

Prosa<br />

Dass der Alex sein Funkhaus verkauft, ist meine Schuld. Ja,<br />

Sie lesen richtig: Meine Schuld, denke ich, nein, ich weiß es<br />

aus sicherer Quelle, aus allererster Hand genaugenommen,<br />

dass es sich eben nicht so verhält, wie von allen Seiten behauptet<br />

wird, nein, der Verursacher allen Übels bin ich, der<br />

Hauptschuldige: ich, niemand anderer; aber von vorn: Anlässlich<br />

der Hörspielgala im Radiokulturhaus ergab es sich,<br />

dass ich nebenan, im Radiocafé, jemanden kennenlernte.<br />

Sie hatte plötzlich neben mir gestanden und mir zugelächelt<br />

- nicht so, wie Sie denken, und zu meinem Bedauern<br />

nicht aus dem Grund, den ich mir gewünscht hätte, sondern,<br />

wie sich herausstellen sollte, aus einem anderen, weniger<br />

schmeichelhaften, um nicht zu sagen hinterhältigeren, aber<br />

lassen wir das -, jedenfalls konnte ich nicht anders, als sie<br />

anzusprechen. Sofort war ich berauscht von ihrem Witz und<br />

der Schlagfertigkeit, mit der sie meine leicht durchschaubaren<br />

Annäherungsversuche konterte. Habe ich schon erzählt,<br />

dass sie schulterlange, dunkelblonde Haare hatte und<br />

ein schwarzes Kleid trug? Nein? Tut nichts zur Sache, aber<br />

meine Erinnerung wird dadurch lebendiger. Ich beantwortete<br />

ihr, die sie - was für ein glücklicher Zufall! - ebenfalls<br />

Ambitionen hatte, Hörspiele zu schreiben, eine Frage: Eine<br />

persönliche Verbindung, eine Freundschaft zu einem der<br />

Ausgezeichneten sei der Grund für meine Anwesenheit. Sie<br />

blickte zu ihm hinüber, dann drückte sie mir ihr leeres Glas in<br />

die Hand. Nachdem ich für weitere Getränke gesorgt hatte,<br />

schlug sie vor, die Runde zu vergrößern und mit den anderen<br />

anzustoßen. Ich winkte - arglos, wie ich war - meinen Freund<br />

herbei, der mir und ihr (also uns!) nicht gefährlich werden<br />

würde - ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte. Kaum hatte<br />

ich sie ihm vorgestellt, war sie für mich verloren. Nach einer<br />

Weile nutzlosen Rumstehens verließ ich die Szenerie.<br />

Ob ich das einfach so auf mir sitzen ließ? Nein, ich habe<br />

natürlich sofort den Alex angerufen und ihm alles erzählt!<br />

Weil welche Verbindungen der Alex hat, muss ich Ihnen nicht<br />

sagen. „Den Hörspielpreis kann sich dein Freund, also dein<br />

ehemaliger Freund, sonstwo hinstecken“, hat der Alex gleich<br />

gesagt, „der wird von keinem einzigen Sender im deutschen<br />

Sprachraum je wieder einen Auftrag bekommen - und die<br />

Möchtegern-Autorin, das wäre ja gelacht, nicht mal mehr ein<br />

Praktikum. Die werden sehen, wo der Hammer hängt.“ Genau<br />

das waren damals seine Worte.<br />

Kann sein, dass ich, während ich meinem Ärger Luft verschaffte,<br />

etwas übers Ziel hinausschoss, und, einmal in Rage,<br />

ebenso das Radiocafé, womöglich auch die Hörspielgala und<br />

den Großen Sendesaal, also gleich (und völlig zu Unrecht)<br />

die ganze Veranstaltung und alle Räume des Gebäudes in<br />

einem schlechten Licht erscheinen ließ. Das wollte ich nicht.<br />

Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass der Alex wegen dieser<br />

Geschichte das Radiocafé mitsamt dem Funkhaus gleich<br />

zum Verkauf ausschreiben würde! Wie kann ich das jetzt wiedergutmachen?<br />

Stefan Reiser<br />

Geb. 1981 im Innviertel, lebt/arbeitet als Autor und Theatermacher<br />

in Wien/Oberösterreich. Studium der Theater-, Film- und<br />

Medienwissenschaft; Mitglied der GAV. Publikationen in Literaturzeitschriften<br />

(Rampe, Landstrich, Wienzeile, kolik, Sterz, <strong>etcetera</strong>,<br />

Driesch) und Anthologien (u. a. Facetten, JENNY). Mehrere<br />

Auszeichnungen, darunter Einladungen ans Staatstheater Mainz<br />

(2011) und zur Wiesbadener Theaterbiennale (2012), sowie das<br />

DramatikerInnen- und das Romstipendium des Bundeskanzleramtes<br />

(2016). www.stefanreiser.com<br />

Begegnung/Akazie 2016 ©Gotthard Obholzer


Holz|Oktober 2016<br />

27<br />

Doris Kloimstein<br />

Dünnbrettbohrer<br />

Minidrama<br />

Personen:<br />

Er: Heimwerker, ca. 40 Jahre alt, Beruf unbekannt<br />

Sie: Partnerin des Heimwerkers, etwas älter, Sekretärin in<br />

einer Spedition<br />

Hund: Rüde, Alter unbekannt, große Statur, von Rasse<br />

spricht aus Gründen der politischen Korrektheit niemand<br />

Ort: Diele eines Hauses<br />

Zeit: Gegenwart<br />

Er: Kannst du bitte den Hund nehmen?!<br />

Sie: Dein Hund, nicht meiner.<br />

Er: Geh, bitte! Er ist mir da im Weg.<br />

Sie: Dein Problem<br />

Er: Ich arbeite da für uns, in unserem Haus.<br />

Sie: Ah, unser? Noch ist das mein Haus.<br />

Er: (versucht den Hund zu verscheuchen, während er mit<br />

Fußbodenbrettern hantiert) Die ganze Arbeitsleistung der<br />

Sanierung habe bis jetzt ich hier eingebracht.<br />

Sie: Wenn wir Professionisten genommen hätten, wäre<br />

schon längst alles fertig.<br />

Er: Ich arbeite ordentlich, sorgfältig und kostengünstig.<br />

Sie lacht zynisch.<br />

Der Hund beißt in ein Bodenbrett.<br />

Er: Jetzt nimm doch endlich den Hund!<br />

Sie: Der Köter folgt niemandem.<br />

Er: Du hast den Hund so verzogen, seit wir beisammen sind.<br />

Sie: (nun bereits sehr gereizt) Ah, interessant! So siehst du<br />

das!<br />

Er will antworten.<br />

Sie lässt ihn nicht zu Wort kommen.<br />

Sie: Sag jetzt besser nichts!<br />

Er versucht zwei Bodenbretter ineinander zu schieben.<br />

Sie versucht endlich den Hund einzufangen.<br />

Er: Scheiße! Es geht sich nicht aus.<br />

Sie: (lässt den Hund wieder los) Was?<br />

Er: Ums A… geht es sich mit den Bodenbrettern nicht aus<br />

– zu wenig!<br />

Sie: Typisch! Bei dir hapert es an der Logistik. Wenn wir in<br />

der Spedition so planen täten!<br />

Der Hund knurrt sie an.<br />

Er: Ha! Recht hat er, der Hund!<br />

Sie: Gut! Nimm den Hund und schleich dich, du Dünnbrettbohrer!<br />

Er tut, was sie ihm befohlen hat.<br />

Damit endet das Drama, das somit eigentlich keines ist.<br />

Es hat sich gar nicht entwickeln können, das Stück.<br />

Schade für den/die Schriftstellerin und den/die Leser/in.<br />

Doris Kloimstein<br />

Geb. 1959 in Linz, verwurzelt in Innsbruck; lebt und arbeitet in St.<br />

Pölten als Pädagogin, schreibt Lyrik, Prosa, Dramatisches; zahlr.<br />

Preise/Stipendien, u.a. Literaturpreisträgerin des Landes NÖ; Förderpreis<br />

für Wissenschaft und Kunst der Landeshauptstadt St. Pölten;<br />

war mal Obfrau der Litges St.Pölten und Mitbegründerin von @<br />

cetera; Ehrung um Verdienste für die Colônia Tirol durch den brasilianischen<br />

Bundesstaat Espirito Santo; Mitglied im P.E.N.-Club, zur<br />

Zeit Generalsekretärin des Österr. P.E.N.; Literarisches u.a.: Kleine<br />

Zehen. Erzählung.- Edition die Donau hinunter, 2004; Blumenküsser.<br />

Kurzgeschichten aus dem Atlantischen Urwald Brasiliens.- Edition<br />

Innsalz, 2006; Paganini und die Überschwemmten von Saint-Etienne.<br />

2004; zahlr. Lyrikvertonungen: zuletzt: Lazarus und sein Esel.<br />

Ein kleines, heiteres Singspiel über das ewige Leben in einem Aufzug.<br />

Musik: Balduin Sulzer.<br />

Kundalini/Zirbe2015 ©Gotthard Obholzer<br />

Prosa


28 Holz|Oktober 2016<br />

Wolfgang Mayer König<br />

Aus gutem Holz<br />

Aus gutem Holz,<br />

dem Wind flammenfoermig folgen,<br />

während delikate Zypressen<br />

an die reizvollsten Stellen verteilt<br />

zum Himmel ragen,<br />

Sonne fernab festgeschnallt<br />

in die Spirale der Wolken.<br />

Beschirmt von den<br />

schimmernden Pinien,<br />

die sich über uns beugen,<br />

diese noblen und begehrenswerten<br />

Gestalten,<br />

in die Seelen eingebracht scheinen.<br />

Jedes Blätterkleid jedes Nadelkleid,<br />

das sie tragen,<br />

wird zur anziehenden Tracht,<br />

mit der sie sich im Wind wiegen,<br />

im Sturm tanzen,<br />

wild und zerbrechlich.<br />

Die Vornehmheit solcher Bäume<br />

liegt nicht nur in ihrer dunklen Autorität,<br />

ihrer flexiblen Gestalt,<br />

sondern auch in der Art ihrer<br />

unbekümmerten Fügung.<br />

So ermöglichen sie,<br />

dass wir ein- und ausgehen<br />

im Zypressenhain unserer Gedanken,<br />

dass wir uns kühlen in ihrem Schatten,<br />

dass wir unter Bäumen schlendern<br />

ohne Unterlass,<br />

dass unsere Seele sich niederlasse<br />

auf Bäumen, die wir selbst geplanzt,<br />

und dass wir uns erfreuen<br />

am guten Holz unserer Gedanken.<br />

Lyrik<br />

Biografie siehe Seite 15<br />

Aufarbeiten eines Baumes©Gotthard Obholzer


Holz|Oktober 2016<br />

29


30 Holz|Oktober 2016<br />

Said<br />

furchtsame götzen<br />

übergossen mit seide<br />

beäugen aus ihrem versteck<br />

ob das brennholz für einen gott reicht<br />

während sich die bebenden in den staub werfen<br />

bis der blinde gehorsam sie berührt<br />

pfähle dienen hinfort dem gesetz<br />

holt dann das gebet die kulisse ein?<br />

Bernadette Sarman<br />

Das Fleisch der Erde<br />

Das Fleisch der Erde steht vor dir,<br />

du legst deine Hände auf die raue Haut und spürst<br />

durch deine Finger<br />

den Pulsschlag des Herzes.<br />

Du atmest das Kohlenstoffdioxid des Baumes ein und lebst,<br />

während das Fleisch deins zum Atmen braucht.<br />

Deine Hände berühren etwas Klebriges,<br />

Blut, das von der furchigen, ledrigen Haut heruntertropft,<br />

honigfarbene Tränen.<br />

Fasst dir schulbewusst an den Hals, an welchem versteinertes<br />

Blut im Spätabendsommerlicht funkelt.<br />

Denkst an den bis zur Perfektion geschliffenen Mahagoniesstisch<br />

in deinem Speisesaal,<br />

an deine gewaltige, weitumfassende Bibliothek mit über tausend<br />

Folianten, die seit über hundert Jahren dort ruhen und<br />

schweigend auf das faulende Ende ihres Daseins warten.<br />

Lyrik<br />

Said<br />

Geb 1947 in Teheran und kam 19<strong>65</strong> nach München. Nach dem<br />

Sturz des Schah 1979 betrat er zum ersten Mal wieder iranischen<br />

Boden, sah aber unter dem Regime der Mullahs keine Möglichkeit<br />

zu einem Neuanfang in seiner Heimat. Seither lebt er wieder im<br />

deutschen Exil.<br />

Vielfache Auszeichnungen: 1992, Civis-Hörfunkpreis; 1996, Preis<br />

der Stadt Heidelberg „literatur im exil“; 1997, Stipendium Villa Aurora<br />

(Los Angeles, USA); 1997, Hermann-Kesten-Medaille; 2002<br />

Adelbert-von-Chamisso-Preis; 2006, Goethe-Medaille. 2010, Litraturpreis<br />

des Freien Deutschen Autorenverbands. 2014, Verdienstkreuz<br />

am Bande. 2016, Friedrich-Rückert-Preis. www.said.at<br />

Werke: mukulele. ein märchen mit bildern von katharina grossmann-hensel.<br />

2007 (auch auf Chinesisch) psalmen. 2007 (auch<br />

auf Französisch, Englisch und Griechisch) der engel und die tauben<br />

(erzählungen). 2008 das haus, das uns bewohnt. 2009 ruf<br />

zurück die vögel(gedichte). 2010 das niemandsland ist unseres<br />

(essays). 2010 ein brief an simba (mit bildern von gabriele hafermaas).<br />

2011 hans mit der hütte (mit bildern von maren briswalter).<br />

2012 parlando mit le phung. 2013 schneebären lügen nie (mit bildern<br />

von marine ludin). 2013 (auch auf Japanisch) auf der suche<br />

nach dem licht(gedichte) 2016.<br />

All die Bücher, die auf deinem Nachttisch ruhen, weil Mitternachtslektüre.<br />

An das Feuer, das jeden Abend im Kamin lodert und dämonisch<br />

nach dem Fleisch der Erde leckt, das schreit und<br />

sterbend sein letztes Quäntchen Sauerstoff aushaucht,<br />

das dein Kohlenstoffdioxid ist.<br />

So zerstören wir uns,<br />

schlachten das letzte Stück Fleisch der Erde aus unserer<br />

Umgebung und vernichten uns selbst.<br />

Halten uns ein Gewehr an den Kopf und drücken ab.<br />

Und wir merken es nicht.<br />

Bernadette Sarman<br />

Geb. 2001. Geht derzeit ins Gymnasium Sacré Coeur Wien. In<br />

ihrer Freizeit schreibt sie oft und gerne und besucht auch ab<br />

und zu das Literaturhaus in Wien. Mitgründerin des Blogs „Buchstapelsalat”.


Holz|Oktober 2016<br />

31<br />

Alexander ESTIS<br />

Einheit<br />

Inhalt und Form, sagst du mir stolz,<br />

Einst du in deinen Wälzern.<br />

Wie wahr: Die Blätter sind aus Holz,<br />

Die Sprache auch ist hölzern.<br />

Wärme<br />

Ein Dichter hat mir jüngst so innig vorgeschwärmt:<br />

Wie uns Literatur bisweilen doch erwärmt!<br />

Wahr, dachte ich, als ich die große Wärme spürte,<br />

Die sein Roman in meinem Ofen produzierte.<br />

Alexander ESTIS<br />

Geb. 1986 in Moskau. Studium der Latinistik und Germanistik.<br />

Lehrte Ältere Deutsche Literatur und Sprachgeschichte an verschiedenen<br />

Universitäten; derzeit an der Universität Zürich. Autor<br />

wissenschaftl. Aufsätze, dichterischer Übersetzungen und essayistisch-literarischer<br />

Arbeiten. Zuletzt erschienen: Sprüche des<br />

Russen in Lichtungen 146 (2016).<br />

Klaus Roth<br />

nacht<br />

im traum knarren<br />

die alten eichenstufen<br />

als ob da einer nach oben geht<br />

vielleicht ein wiedergänger<br />

vielleicht ich selbst<br />

als ob da einer nach oben geht<br />

auf den dachboden der erinnerung<br />

um all die vergessenen kisten zu öffnen<br />

mit den fotoalben schulheften poesiealben<br />

märchenbüchern kinderzeichnungen<br />

und sich zu verlieren in fernen welten<br />

am dorfrand<br />

das endlose unkraut<br />

der rost der gleise<br />

und die risse<br />

im holz der schwellen<br />

der bahnhof<br />

seit jahren<br />

verfallen<br />

und vergessen<br />

ich lege das ohr<br />

auf die schlafenden schienen<br />

und lausche in die vergangenheit<br />

später entdecke ich<br />

auf dem vergilbten fahrplan<br />

alte wahrheiten über abschiede<br />

und neue begegnungen<br />

Begegnung/Ahorn©Gotthard Obholzer<br />

Klaus Roth<br />

Geb1957, Übersetzer literarischer und kunstwissenschaftlicher<br />

Texte, Autor und bildender Künstler in München. Bild und Textbeiträge<br />

in Anthologien und Literaturzeitschriften.<br />

Auszeichnungen/Stipendien: Diploma di Merito / Premio „Città di<br />

Napoli“ (Accademia Internazionale Partenopea Federico II), Neapel<br />

2011 Autorenwerkstatt des Lyrik-Kabinetts München, 2005/2006<br />

Lyrik


32 Holz|Oktober 2016<br />

Kovanda Nicole<br />

Waldrauschen<br />

Ich gehe zur Arbeit, hatte er gesagt. Immer wieder gehe er<br />

zur Arbeit.<br />

Die Forstwirtschaft sei ein altes, ehrenwertes Gewerbe,<br />

hatte er gesagt, und er sei stolz darauf, die vom Sturm geknickten<br />

Bäume wegzuschaffen und das Dickicht zu lichten,<br />

damit die Jungbäume gesund wachsen konnten.<br />

Stolz und Pflichtbewusstsein, hatte er gesagt, das wären<br />

seine Begleiter auf den Weg in den Wald, wenn er seine<br />

harte Arbeit verrichtete. Erfüllung und Befriedigung würde<br />

er verspüren.<br />

Denn in der heutigen Zeit von Umweltverschmutzung und<br />

Computer gesteuerten Menschen, so hatte er gesagt, gehöre<br />

er zu der aussterbenden Art der Naturfreunde, deren<br />

Lebensinhalt die Erhaltung und Nachhaltigkeit war.<br />

Kräftige Arme, kräftige Beine und eine wind- und sonnengegerbte<br />

Haut. Große, starke Hände, die zupacken konnten.<br />

Und sie liebte ihn genau dafür. Für seine Kraft und seinen<br />

Stolz jeden Tag in den Wald gehen zu müssen, um das zu<br />

bewahren, was langsam verschwand.<br />

Sie liebte den Duft nach Moos und Holz in seinem Haar.<br />

Sein zufriedenes Gesicht, wenn er nach getaner Arbeit<br />

nach Hause kam. Seine Geschichten über Borkenkäferund<br />

Pilzbefälle, während sie seine harzverkrusteten Hosen<br />

wusch und seine moschusgetränkten Hemden bügelte.<br />

Deshalb liebte sie ihn, deshalb hatte sie ihn geheiratet und<br />

deshalb war sie glücklich.<br />

Ich gehe zur Arbeit, hatte er gesagt. An jenem Tag, als er<br />

seine Thermoskanne, die sie ihm immer richtete, vergessen<br />

hatte. Sie war ihm nachgeeilt, durch den Wald, das<br />

Unterholz, bis hin zu der alten Blockhütte, die er als Geräteschuppen<br />

nutzte.<br />

Und dort konnte sie es sehen, seine Erfüllung und Befriedigung,<br />

durch das kleine Fenster. Zierlich und blond gelockt;<br />

weiße Haut, die sich an seiner gegerbten rieb. Er durchforstete<br />

sie, lichtete sie, fällte sie bis sie sturmgebeutelt<br />

umknickte.<br />

Seine Frau wurde ebenso vom Sturm gebeutelt. Sie hatte<br />

er nie so nachhaltig gefällt.<br />

Ich gehe zur Arbeit, hatte er gesagt. Immer wieder gehe er<br />

zur Arbeit.<br />

Eine Arbeit, die er liebte und die ihn erfüllte. Und sie hatte<br />

ihn dafür geliebt.<br />

Im Rauschen des Waldes ging sie nach Hause und wartete.<br />

Er kam wie immer pünktlich, in seinem moschusgetränkten<br />

Hemd und den harzverkrusteten Hosen.<br />

Auch in dieser Nacht lagen sie nebeneinander. Er schlief<br />

und roch nach Moos und Fichten. Sie hörte das Rauschen<br />

des Waldes, das Tosen des Sturms, noch immer in ihr hallen.<br />

Ich gehe zur Arbeit, sagte er am Morgen und verließ das<br />

Haus. Sie folgte ihm mit der Axt<br />

Nicole Kovanda<br />

Geb. 1981 in Wien, Büroangestellte. Veröffentlichung von Kurzgeschichten<br />

und Gedichten in Anthologien und Literaturzeitschriften.<br />

Absolventin der Leondinger Akademie für Literatur<br />

2010/2011 und Teilnahme an der Master Class 2012 des Vereins<br />

für neue Literatur in Krems. Leitung von Workshops für Kreatives<br />

Schreiben, Kurzprosa und Gedichte. nicole-lovanda.jimdo.com<br />

Prosa<br />

Klangbaum mit eingewachsenem Eisenhaken/2014©Gotthard Obholzer


Holz|Oktober 2016<br />

33<br />

Andreas Schumacher<br />

Reinholds Gewalttaten<br />

Warum ich voll Freude das Stuhlbein zersägte,<br />

Pianos zerlegte und Zweige zerschnitt?<br />

Warum ich den Förster des Landes verbannte,<br />

Fagotte verbrannte und Faune verstieß?<br />

Warum ich beim Vesper die Bretter entwandte,<br />

Gitarren entmannte und Espen entging?<br />

In der Gummizelle frag ich<br />

mich, was ich mir dabei dachte,<br />

Eli S. Solaris<br />

E/INGEHOLZTES ZELT<br />

a schiges enttropft<br />

den gesichtern<br />

aus papierglut<br />

in deren haut<br />

sich farben<br />

bleich.....winden<br />

bis eingeknitterte<br />

stunden ihre worte<br />

atmen und die<br />

weiße see erblüht<br />

doch bohren sie, weshalb ich’s machte,<br />

aus Bosheit, Neid, verletztem Stolz?<br />

So sag ich „Schrank“ und schrei heraus:<br />

„Aus abgrundtiefem Fass auf Holz!“<br />

Andreas Schumacher<br />

Geb.1981 in Bietigheim-Bissingen, lebt in Walheim und schreibt<br />

Lyrik und Prosa. Zuletzt erschien „Die Zeckenbürstenkatzentreppe.<br />

Szenen und Erzählungen“ im Chaotic Revelry Verlag. www.<br />

andreasschumacherinfo.de<br />

im aufschmelzen<br />

des bleischattens<br />

dehnt sich die zeit<br />

nacht ist dem<br />

schreibfieber ein<br />

eingeholztes zelt<br />

F/EUER ERNEUERT<br />

d ie jahresringe<br />

sind dem<br />

dürstenden<br />

stamm<br />

eine....kreissäge<br />

hinter dem<br />

schweigen des<br />

bastes entflammt<br />

der harzwunde<br />

ihr entwässertes<br />

..........mark<br />

das grobjährige<br />

baumgesicht entbindet<br />

sich von seinem<br />

tüpfelkargen holzverband<br />

entrollt der verebbung<br />

der osmose über die<br />

Lyrik


34 Holz|Oktober 2016<br />

schattenkante<br />

des pulsblattes<br />

wo unterdruck<br />

tobt sedimentiert<br />

in holzstrahlen<br />

waldfinsternis<br />

in moosgrüne<br />

luftwurzeln<br />

flicht veraschtes<br />

sich seine<br />

borkige urne<br />

in der kernhölzer<br />

sich hinter<br />

zellwänden zu ruß<br />

.....verscharren<br />

nur feuergewaschenen<br />

treibt der nachglut<br />

reifholz<br />

neuen.......wassern zu<br />

Anmerkung der Autorin: Verkernung ist der Prozess, bei dem innere<br />

Wasserleitbahnen des Stammes unterbrochen werden und Zellen absterben.<br />

Das Holz innerer Schichten, das sich dadurch verfärbt, bezeichnet<br />

man als Kernholz. Verfärbt es sich nur insignifikant oder gar<br />

nicht, bezeichnet man es als Reifholz. Tüpfel sind Kanäle in der Sekundärwand<br />

der Pflanzenzelle, an denen Stoffaustausch stattfindet.<br />

knorriger<br />

verglaster donner<br />

aus frost und wahn<br />

verschlingt die<br />

wurzeln des mondes<br />

von der baumrinde<br />

die mich...... barg<br />

verholzt in der<br />

ungeborgenheit<br />

seiner eigenen<br />

sprossung<br />

unbewusst<br />

das blinde<br />

.............astauge<br />

Eli S. Solaris<br />

Geb. 1986 in Berlin, lebt in London, Wien und Hong Kong. Doktorandin<br />

in Synthetischer Biologie, forscht an Entwicklung neuer<br />

Krebswirkstoffe. Studium an ETH Zürich, Harvard und Imperial<br />

College London, mehrere Auszeichnungen. Arbeitet in Think-Tank<br />

für Zukunftstechnologien und erstem Roman. „Dunkle Energie“,<br />

Seitenstechen #2 (Homunculus Verlag) im Druck.- „Superpreis-<br />

Anthologie“ (Metamorphosen, Das Prinzip der sparsamsten Erklärung,<br />

Verbrecher Verlag) - „Neue Wege“ Anthologie (Sperling).<br />

B:LINDEN AUGES SPROS-<br />

SUNG (EXIL 83H.3)<br />

Lyrik<br />

l asse den<br />

staubigen tau<br />

zerfließen ins<br />

grüne toben<br />

der dornen<br />

vermische chaos<br />

mit den winden<br />

die meinen<br />

heckenhänden<br />

aus ihrer<br />

verwachsung<br />

steigen<br />

Medusa/Bronze 1987©Gotthard Obholzer


Holz|Oktober 2016<br />

35<br />

Marco Frohberger<br />

Symptome<br />

„Auf dem Holzweg”<br />

Das Leben ist ein sehr langer Weg.<br />

Agnes lief so langsam, als müsste sie sich jeden einzelnen<br />

Schritt genau überlegen. Sie war den ganzen Tag nicht<br />

draußen gewesen und zögerte, bis es nicht mehr ging. Ihre<br />

Streifzüge durch das Gelände der Stadt waren Versuche,<br />

das Zurückliegende abzuschütteln. Versuche. Unter den<br />

Schatten der schweren, grünen Linden war sie gelaufen,<br />

vorbei an langen Reihen aus Tischen und Stühlen, jede<br />

Menge Leute. Gelächter, Stimmen, die in der Hitze zerblätterten.<br />

Den Lärm aufnehmend war sie mit den Händen in<br />

den Taschen der viel zu warmen Jacke, stur und scheinbar<br />

einem unbekannten Ziel zustrebend, gleich weiter gelaufen.<br />

Die Geräusche des Sommers: die Brise, der Staub in den<br />

Straßenrinnen und das Geplärre, und schließlich die Kinder.<br />

Agnes verkrampfte dann immer und hielt die Luft an und<br />

schleppte sich rasch zurück in ihre Straße, um dort auszuatmen.<br />

Die Kinder. Sie war eine Frau, die niemand sah<br />

in ihrem schmutzigen Anorak, den langen, fettigen Haaren,<br />

den Pantoffeln, in denen ihre kleinen, schwieligen Füße<br />

steckten, ihre Beinchen, dünnen, weißen Stecken gleich,<br />

und dann der Blick, der in die Sehnsucht hineinglitt, das<br />

Sehen in die Weite, das Wünschen.<br />

Kurz darauf verschwand Agnes im alten Haus in der Fehrbelliner<br />

Straße, in der sie aufgewachsen war. In der Straße,<br />

in der sich über die Jahrzehnte nichts geändert hatte.<br />

Ihre Wohnung lag in einem aus den Trümmern der Nachkriegszeit<br />

wieder aufgebautem Haus mit hohen Decken<br />

aus Stuck, verwinkeltem Hinterhof, einem großen Keller<br />

mit einer Kohleschütte. Agnes zog sich am gusseisernen<br />

Geländer das Treppenhaus hoch. Der Putz bröckelte, kleine<br />

Wunden, die dem Haus das Herrschaftliche entzogen.<br />

Das Haus verrottete zusehends. Diese ganze Atmosphäre<br />

hatte sich im Haus verhärtet, als wäre es schon verloren.<br />

Agnes zählte die Jahre ihres Lebens, das in den hauchdünnen<br />

Schichten Farbe steckte. Sie wusste, dass das Haus<br />

viele Leben beherbergt hatte und der Eindruck, als wäre<br />

der zweite Weltkrieg noch nicht vorbei, noch nachwirkte.<br />

Agnes glaubte, dass auch ihr Leben irgendwann in diesen<br />

Wänden verschwand.<br />

Im obersten Stockwerk sperrte sie die Wohnungstüre auf.<br />

Sie rief in den Flur, dass sie wieder zurück sei, aber da war<br />

nur die Stille. Langsam schloss Agnes hinter sich die Tür<br />

und legte ihre Jacke ab. Auf der Anrichte deponierte sie<br />

den Schlüssel, neben einem überquellenden Aschenbecher<br />

und einer leeren Milchflasche, in der vertrocknete Tulpen<br />

ihre Köpfe hängen ließen. Die verschüttete Asche gab ihr<br />

das vertraute Gefühl, als wäre noch jemand hier. Agnes lief<br />

zuerst in ihr altes Kinderzimmer, das nun von ihrer Tochter,<br />

Aline, bewohnt wurde. Die Zimmertüre kratzte über den<br />

Dielenboden und verdrängte kurz die Stille, dann war das<br />

Fenster zu hören, das sie öffnete, frische Luft, ein kaum<br />

hörbares Schlurfen über den Boden, Gekicher, dann kam<br />

Agnes wieder zurück und ging in die Küche.<br />

Dort, wo außer einem Holztisch, drei Stühlen, von denen einer<br />

kürzere Beine hatte, und einem offenen Schrank nichts<br />

war, holte sie aus dem Schrank ein Glas getrocknete Tomaten,<br />

eingepackten Toast, aus dem Kühlschrank Schinken,<br />

Gurken und etwas Käse. Sie reihte alles auf dem Holztisch<br />

auf, wie sie es hervorholte, goss ein Glas Leitungswasser<br />

ein, machte noch eine Packung Zigaretten auf und setzte<br />

sich. Umständlich fischte sie zwei oder drei getrocknete<br />

Tomaten auf einen Teller, biss von einer ab und schnitt den<br />

Käse. Nebenher zündete sie sich eine Zigarette an. Dann<br />

horchte sie in die Räume hinein. Sie wusste noch genau,<br />

wie es früher gewesen war, als Mutter heißes Wasser für<br />

den Tee aufgesetzt und den Esstisch hergerichtet hatte,<br />

bevor der Vater von der schweren Arbeit zurückgekehrt<br />

war, sich mit rußgeschwärzten Händen an den Küchentisch<br />

setzte, um sich eine Zigarette anzustecken. Niemand hatte<br />

etwas gesagt. Vaters Blick war dann immer starr geradeaus<br />

aus dem Fenster in den Hof gegangen, als würde dort<br />

etwas warten, das nur er sehen konnte. Zusammen waren<br />

alle am Küchentisch gesessen, der Tee dampfte, das Brot<br />

gerade so dick aufgeschnitten, dass es noch für den Rest<br />

der Woche reichte, der Tee gestreckt, weil er teuer war, und<br />

die Worte gedämpft, weil der Lärm der Maschinen ihn irgendwann<br />

hatte wahnsinnig werden lassen. Nachdem der<br />

Vater zum Waschen gegangen war, hatte die Mutter gesagt,<br />

lass dir mal gesagt sein, Agnes, wenn wir tot sind, wird das<br />

alles einmal dir gehören. Da hatte Agnes nicht gewusst,<br />

dass sie nichts hatte.<br />

Mit der Zeit wechselte das Licht, die Schatten wurden länger,<br />

über den Himmel zogen schwere Wolken. Die Stille der<br />

Wohnung wurde bald zu einem Dröhnen und war nicht einmal<br />

mehr als Vorstellung möglich.<br />

Die Finsternis. Agnes war aufgestanden und ins Kinderzim-<br />

Prosa


36 Holz|Oktober 2016<br />

Prosa<br />

mer gelaufen. Gepolter, das Fenster wurde geschlossen,<br />

dann wieder Gekicher. Der Geruch der Tage, Wochen, der<br />

unter der Zimmertür hervorkroch, der mit ihr schlief, der sie<br />

morgens zuerst weckte und der überall war, in allen Räumen.<br />

Sie konnte ihn sehen, sie konnte ihn nicht nur mehr<br />

riechen. Agnes schloss die Kinderzimmertüre und löschte<br />

das Licht in der Küche. Das machte sie immer, setzte sich<br />

ans Fenster, wenn die Luft noch angenehm war vom Tag,<br />

die Ruhe sich über der Stadt ausbreitete, die Lichter in den<br />

anderen Wohnungen die Nacht nicht ganz Schwarz ließen.<br />

Agnes hielt dann inne, horchte, nahm die Stimmen aus den<br />

Nachbarwohnungen auf, überlegte, wie das Leben der Anderen<br />

war. Links unten, im ersten Stock, sah sie der Familie<br />

zu, wie sie am Küchentisch miteinander aßen, redeten,<br />

gemeinsam aufräumten. Die Sehnsucht nach einem Leben<br />

aus den anderen Wohnungen war zu einer anderen Form<br />

von Überleben geworden.<br />

Draußen wurde es ruhiger. Über den dunklen Asphalt fuhren<br />

jetzt nur noch wenige Autos. Auf den Balkonen gegenüber<br />

wurden Blumen gegossen, das Wasser tropfte. Der<br />

Abend war ein Summen. Ganz allmählich ließ die Wärme<br />

nach. Aber das machte nichts. Agnes zog dann ihr Nachtkleid<br />

über, so wie sie es von ihrer Mutter geschenkt bekommen<br />

hatte und ging noch einmal in das Kinderzimmer. Mit<br />

langsamen Schritten stakste sie über den Dielenboden, sie<br />

kannte die Stellen, an denen er nicht lärmte. Es brannte nur<br />

das Nachtlicht. Im Halbdunkel suchte Agnes den Weg zum<br />

Kinderbett. Ihr früheres Zimmer. Sie hatte nicht viel geändert,<br />

die Tapeten, die Farbe, die schweren Möbel waren die<br />

gleichen geblieben. Das Zimmer erschien ihr so klein, alles<br />

war klein, das Bett, der Stuhl, der Tisch, der irgendwann<br />

rot gewesen war. Aline lag im Bett. Im rosaroten Licht des<br />

Nachtlichts sah ihr Gesicht seltsam starr aus. Aufmerksam<br />

fuhr Agnes über das Köpfchen, strich durch das Haar. Sie<br />

spürte auf einmal die Stille von solcher Heftigkeit, dass<br />

nichts mehr ging. Es war, als würden ihr die Bedeutungen<br />

aller Dinge plötzlich verborgen bleiben. Als würde sich alles<br />

auflösen, zu einer anderen Form zusammenfinden und<br />

wieder einen neuen Sinn ergeben. Sie stand auf und ging.<br />

Agnes machte Licht im Badezimmer und sah ihr Gesicht.<br />

Die Schatten unter den Augen und das Dunkle darin, die<br />

hohe Stirn und die gegerbte Haut, als reibe die Zeit wie ein<br />

riesiger Schleifstein an ihrer Oberfläche. Sie sah auf ihre<br />

Hände herab, drehte das Wasser auf und spülte sich unter<br />

Schmerzen die Haare aus den Fingern, die der Tochter ausgegangen<br />

waren.<br />

Agnes schlief nicht. Sie schlief nie. Die Nacht war ihr wie<br />

ein Raum, den sie nicht verließ. Nur ins Kinderzimmer ging<br />

sie immer wieder, immerzu. Eine stetige Unruhe, von der<br />

sie getrieben, am Ende immer sentimental und nachdenklich<br />

zurück blieb. Als könnte es ihre letzte Nacht gewesen<br />

sein.<br />

Agnes war schon müde. Immer wenn sie sich ins Bett legte,<br />

die Augen schloss, begannen die riesigen, unter Schmerzen<br />

heranwehenden Formen der Dunkelheit sich über ihrem<br />

Horizont zu bewegen. Ein unkenntliches Gesicht, eine<br />

in die Stille hineinschneidende Stimme, schrill, obskur.<br />

Agnes sprang dann immer auf und lief ins Kinderzimmer.<br />

Die Wohnung war ruhig in den Nächten. Eine Insel im<br />

nichts, die dahin trieb auf einem See ohne Ufer. Das Küchenfenster<br />

zum Hof stand weit offen. Wenn alles ruhig<br />

war, die Geräusche sie verlassen hatten, ein dunkler, fingerdünner<br />

Streifen über ihrem Kopf im Himmel, wenn sie<br />

ihn aus dem Fenster steckte, sah Agnes auf ihr Leben, das<br />

sich aus leichten Brüchen zusammensetzte und die Narben,<br />

kleine Erhebungen unterschiedlicher Größe und Form,<br />

zu Symptomen verwachsen waren, die ihr zeigten, dass alles<br />

kleine Möglichkeiten waren, deren Kraft, nach ihnen zu<br />

greifen, nie gereicht hatte.<br />

Noch eine Weile war ihr Blick hinaus gegangen, während<br />

über ihr der Himmel langsam aufklarte. Auf der anderen<br />

Seite, der Straßenseite, erloschen die Laternen. Die Schatten<br />

nahmen ab im zunehmenden Licht.<br />

Im Kinderzimmer zog sie die Vorhänge auseinander, öffnete<br />

das Fenster, ließ frische Luft ein, die schwere Luft raus,<br />

und rückte den Stuhl, auf dem sie nachts gekauert hatte,<br />

eingedenk der Sorgen und Beunruhigungen des jüngsten<br />

Morgengrauens, zurecht. Jetzt, im Hellen, kleine, gerahmte<br />

Zeichnungen von Aline. Dann setzte sich Agnes an den<br />

Bettrand, saß eine Weile so da in der Stille und betrachtete<br />

den kleinen Körper, die Wölbung unter der Decke, als verlor<br />

sich das Kind darunter. Agnes legte ihre Hand in die ihrer<br />

Tochter und sah über sie hinweg. Dann kniff sie die Augen<br />

ein wenig zusammen und wartete, bis es vorbei war. Agnes<br />

strich über das Köpfchen, durch das Haar und sammelte in<br />

stoischer Ruhe die neuen Büschel vom Kopfkissen zusammen.<br />

Anschließend war ihr Gang ins Bad wie mechanisch.<br />

Agnes setzte Teewasser auf, holte Milch aus dem Kühlschrank<br />

und aus einem Schrank etwas Müsli. In einer<br />

Schüssel rührte sie herum, lange, bis sie sich Löffel um<br />

Löffel in den Mund schaufelte.<br />

Der Himmel über der Stadt wurde blau. Agnes schlüpfte


Holz|Oktober 2016<br />

37<br />

aus ihrem Nachtkleid und zog sich die Jacke über, steckte<br />

die Hände in die Taschen. Schlüsselbund, Zigaretten, ein<br />

paar Münzen, mehr nicht. In ihren Pantoffeln ging sie hinaus.<br />

Draußen, die Landschaft, das stetige Summen der<br />

Welt. Sie ging langsam. Nie ging sie die gleiche Strecke.<br />

Mal waren die Tage verschwommen oder dunstig, dann wieder<br />

klar, der Boden war nass geschwitzt, die Hitze machte<br />

ihr zu schaffen. Sie lief ziellos durch die Stadt, schwankte,<br />

aber es interessierte niemanden, bis sie wieder zurückkehrte.<br />

Und wieder wartete sie auf die Nacht. Weit nach Mitternacht,<br />

vielleicht schon nahe am Morgengrauen, ging sie<br />

ins Kinderzimmer. Alles war jetzt nur noch mechanisch,<br />

wie schon alle Nächte zuvor. Im Halbdunkel glitt sie durch<br />

den Raum, tastete sich voran, wie Tausende Male schon, an<br />

Alines Bett. Agnes legte sich hinein, schmiegte sich an Aline,<br />

das war die zärtlichste Geste, weil nichts anderes mehr<br />

ging. Nichts konnte sie mehr sehen. Sie lag nur still da,<br />

wartete auf einen Moment, wartete darauf, dass sich etwas<br />

löste, in ihr. Eine Konstante, wie wenn man eine Verbindung<br />

kappt und dann alles tot ist.<br />

Die Erschöpfung. Noch bevor sie einschlief wusste sie,<br />

dass sie, wenn sie die Augen wieder aufschlug, wieder hier<br />

erwachen würde. Agnes schloss die Augen und tauchte ein.<br />

Agnes schlief ein.<br />

Marco Frohberger<br />

Geb. 1980 in Fürth, Bayern; studierte Belletristik. Kurzgeschichten<br />

(Prosa) in den Jahren 2005 bis 2008 in der Zeitschrift Kurzgeschichten<br />

veröffentlicht. Mit dem Titel Zeit im Jahr 2006 den<br />

Wettstreit der Literaturplattformen gewonnen, Wettbewerber aus<br />

Deutschland, Österreich und der Schweiz. Texte zum internationalen<br />

Antho? – Logisch! Literaturpreis 2016 im edition karo Literaturverlag,<br />

Berlin, 2016.<br />

Liegende/2015 Weide©Gotthard Obholzer<br />

Prosa


38 Holz|Oktober 2016<br />

Prosa<br />

Falk Andreas Funke<br />

Der Ofen<br />

Der Ofen! Wie er seinen Ofen liebt. Das gusseiserne Küchenschätzchen.<br />

Die wohlige, ja würzige Wärme, der<br />

Holzfeuerduft, der den Raum parfümiert. Nichts von dem<br />

Staubgeruch der Gaszentralheizung. Trocken und banal.<br />

Und Holzheizen ist ja noch mehr: Es beginnt schon im<br />

Wald mit dem Sammeln von Kiefernzapfen, von Reisig, von<br />

Holzresten, die nach Fällungen liegen bleiben. Da machen<br />

sich die Waldarbeiter nicht mal die Mühe, sie wegzuschaffen.<br />

Das übernimmt er: Ansgar Blömecke, der Resteverwerter,<br />

der Waldgänger, der Sammler. Er braucht keinen<br />

Sammelschein. Nur einen Rucksack. Er lässt sich halt nicht<br />

erwischen. Freut sich sogar am Kribbelgefühl, das seinen<br />

Bauchraum befällt, wenn er gegen die städtische Forstsatzung<br />

verstößt. Hat was von letzter Freiheit und allerletztem<br />

Abenteuer. Von Robin Hood-Dasein. Von Wilderei. Aber ja.<br />

Und dann, wenn die Ofenzeit kommt, kann er zusehen, wie<br />

die Flammen hinter der Glasscheibe lecken, sich hermachen<br />

über das Räuberholz. Das Feuer ist ein heißhungriges<br />

Tier, dem er, Ansgar Blömecke, die Scheite zum Fraß vorwirft.<br />

Ab durch die Luke, hinein ins Geflacker. Wie schnell<br />

und gierig das Feuertier erst mal das Nadelholz und die<br />

Kiefernzapfen verschlingt. Damit beginnt das Anfeuern.<br />

Und dann – schon gemächlicher – geht es ans Buchenholz.<br />

Mit dem Buchenholz lässt es sich Zeit. Überzieht es mit<br />

flachen, blauen Flammen. Ein Orientteppich aus Gas. Das<br />

ist Genießertum. Holzfeinschmeckerei. Ja, so ein Küchenofen<br />

ist schon ein anderer Schnack. Urwärme. So was wie<br />

Großmuttergemütlichkeit. Und seine Großmutter hat ja immerhin<br />

noch mit Kohlen geheizt. Erinnerungen machen so<br />

schön, machen so bittersüß melancholisch.<br />

Dass er sich hat breit schlagen lassen! Vom Freund. Vom<br />

fordernden Freund: wir müssen mal raus aus unseren Höhlen.<br />

Weg von der Alltagsstadt. Dem Winter entfliehen. Rein<br />

in den Sonnensüden. Malaga oder so. Und der Verkaufsmensch<br />

im Reisebüro hat diese Redewendung vom Winterentfliehen<br />

gleich übernommen. Da musste er, Ansgar Blömecke,<br />

unwillig schlucken. Er will gar nicht vor dem Winter<br />

fliehen. Gerade nicht vor dem Winter. Der Winter ist Ofenzeit.<br />

Wann soll man denn sonst das Holz verheizen? Und da<br />

zwingt man ihn, die Koffer zu packen? Um schon morgen<br />

schwerbeladen auf den Bahnhof gehen zu müssen? S-Bahn<br />

zum Flughafen. Dort Treffen mit dem Freund. Der ihn, den<br />

unwilligen Ansgar Blömecke, mit dem breitesten Lächeln<br />

empfängt. So sieht Vorfreude aus. Der Freund ganz euphorisch:<br />

Na, schauen wir heute Abend in einer Bar an der Sonnenküste<br />

den deutschen Wetterbericht und lachen uns in<br />

die Fäustchen?<br />

Er lacht nicht. Er hat sich breit schlagen lassen. Und wer<br />

breit geschlagen ist, dem ist nicht zum Lachen. Woher<br />

dieser Begriff des sich Breitschlagenlassens eigentlich<br />

kommt? Wahrscheinlich, das denkt er, von der Körperstrafe<br />

des Räderns. – Aber er will sich seinen Unmut nicht anmerken<br />

lassen. Will kein Spielverderber sein. Der Freund<br />

ist immerhin sein einziger Lebensmensch. Wenn er den<br />

nicht hätte! Dann hätte er keinen. Nur seinen Ofen. Und<br />

niemanden, mit dem er die Urwärme teilen könnte. Man<br />

unternimmt viel gemeinsam. Oder sitzt auch nur zuhause<br />

am Küchentisch. Und redet. Ohne den Freund könnte er,<br />

Ansgar Blömecke, mit keinem reden. Mit wem denn sonst?<br />

Dem Freund gegenüber will er den fröhlichen Mitreisenden<br />

geben. Aber fröhlich sieht anders aus. Irgendwie merkt<br />

man ihm sein Innenleben doch an. Glaubt er. Weiß er.<br />

Nun komm schon, sagt der Freund. Kannst ja mal zwei Wochen<br />

auf deinen Ofen verzichten. Der Freund nimmt den<br />

Ofen nicht ernst. In welchem Ton er von ihm spricht! Das<br />

O von Ofen pathetisch verlängert. Schön und gut, sagt er,<br />

(was soll das heißen, denkt Blömecke: schön und gut?),<br />

aber das Leben liegt im Erleben. Und dazu müsse man raus.<br />

In die weite Welt hinein. (Hänschen Klein, denkt Blömecke).<br />

Und zwar in den Süden. An der Uferpromenade stehen und<br />

atmen. Atmen, wie man es nur am Meer stehend kann. Der<br />

Freund sieht Blömecke an, als stünde er schon am Meer<br />

und als sehe er in Blömeckes Augen dem Wellentosen entgegen.<br />

Ein Anflug von Fernweh versetzt Blömecke einen<br />

Stich ins Herz. Keinen richtigen Stich, aber ein Stichlein.<br />

Das war der Moment, in dem er sich breitschlagen ließ.<br />

Und es bald schon wieder bereut. Am Meer stehen! Doch<br />

erst mal ans Meer gelangen. Und dann: Das Meer ist schon<br />

lange nicht mehr nur das Meer. Diese Begleitmusik. Touristen.<br />

Banalitätsmenschen, von denen man sich abheben<br />

möchte. Und doch nur einer von ihnen ist. Die Uferpromenade;<br />

das könnte auch eine stark befahrene Straße sein.<br />

Und der Strand von Verkaufsständen befallen. Abzocke


Holz|Oktober 2016<br />

39<br />

auch im Hotel. Das Zimmermädchen ist freundlich, weil<br />

man ihm einen Geldschein gibt. Das Frühstücksbuffet ist<br />

schon nach drei Tagen Routine. Volk, das sich bedient. Und<br />

er, Blömecke, mittendrin. Im T-Shirt. Bereits der frühen<br />

Tageshitze geschuldet. Jemand neben ihm hustet in den<br />

Brotkorb. Blömecke vergeht der Appetit. Wie ihn das alles<br />

anödet. Ja, zuhause könnte er den Ofen anmachen und die<br />

Füße hochlegen. Dem Feuer bei der Arbeit zusehen. Hier<br />

kann er nur den Kellnern zusehen. Arme Burschen. Flink<br />

und überfreundlich auf Trinkgeld erpicht. Blömecke ist es<br />

peinlich. Das Gönnerhafte, das er an einem Tischnachbarn<br />

beobachtet, der einem der Kellnerburschen einen Geldschein<br />

auf die Handfläche drückt. Heimlichtuerisch. Kokett.<br />

Und der Bursche macht einen Diener! Anachronistisch<br />

wie ein Handkuss. Blömecke könnte kotzen.<br />

Überhaupt dieser Name. Sein Name. Blömecke – dazu<br />

kann er nicht stehen. Selbst in Deutschland klingt dieser<br />

Name lächerlich. Nach Blähungen. Und Gemecker. Blähungen<br />

mit Gemecker. Aber im Ausland ausgesprochen<br />

ist dieser Name nichts als grotesk. Schon das wäre Grund<br />

genug, den Urlaub abzusagen. Aber wem will er, Blömecke,<br />

das erzählen? Dem einzigen Freund? Um dem Freund eine<br />

Freude zu machen, nur deshalb fährt er doch überhaupt<br />

mit! Vielleicht auch, weil er befürchtet, der Freund könne<br />

ihm, Blömecke, seine Freundschaft entziehen. Vor lauter<br />

Enttäuschung. Der Ofenmensch Blömecke: das ist doch<br />

ein Langweiler. Ein Hasenfuß. Soll er sich doch hinter seinem<br />

Ofen verkriechen. Mit so einem ist man doch nicht<br />

befreundet. Aber nein. Mit dem verpasst man das Leben.<br />

Aber ja. Also: Blömecke will nicht, er muss in diesen Urlaub<br />

fahren. Aus Freundschaftserhaltung. Denn Einsamkeit ist<br />

das Schlimmste. Und weit davon ist man nicht entfernt.<br />

Ohne Frau. Ohne Kinder. Mit nur einem einzigen Freund.<br />

Und es eilt. Er müsste packen. Der Flieger geht doch schon<br />

morgen. Er, Blömecke, hat getrödelt. Seit Wochen. Seine<br />

Reisetasche steht schlaff und leer auf dem Sofa. Aber er<br />

bringt es nicht fertig, auch nur eine Hose aus dem Schrank<br />

zu nehmen und in den Bauch der Tasche zu legen. Die Tasche<br />

ist ein hungriges Tier, das gefüttert werden will. Sie<br />

wird keine Ruhe geben, bis sie randvoll ist. Nein. Blömecke<br />

beschließt nicht, sich zu betrinken. Aber er fängt mit dem<br />

Trinken an. Er müsste wissen, wo das endet. Er weiß es. Er<br />

macht Feuer. Ein letztes mal. Ein Abschiedsfeuer. Mit dem<br />

Glas in der Hand sitzt Blömecke auf dem Küchenstuhl und<br />

schaut in die Flammen. Es hilft alles nichts. Er muss packen.<br />

Egal was, egal wie. Das Taschentier gibt keine Ruhe.<br />

Blömecke trinkt. Trinkt auf Ex. Und reißt sein Zeug aus den<br />

Schränken. Und stopft es dem Taschentier in den Rachen.<br />

Zwischendurch geht er wieder in die Küche, um sich nachzuschenken.<br />

Die Ofenwärme empfängt ihn mit einem Wehmutshauch.<br />

Blömecke legt Holz nach. Der Ofen ist auch ein<br />

Tier. Auch ein Tier, das fressen will.<br />

Er sieht ins Feuer als sehe er fern. Schwer steht er auf und<br />

öffnet noch eine Flasche. Lässt sich mit dem vollen Glas in<br />

der Hand zurück in den Sessel fallen. Der Wein schwappt<br />

über. Spritzt wie Blut. Blömecke trinkt. Trinkt schneller als<br />

er es gewohnt ist. Er will früh das Bewusstsein verlieren.<br />

Morgen muss er zum Bahnhof. Zum Flughafen, wo ihn der<br />

Freund erwarten wird. Reisefieber im Gesicht. Reisefieber.<br />

Blömecke erinnert sich, dass er als Kind die Hitze des Reisefiebers<br />

spürte in der Nacht, bevor es losging. Bevor er<br />

mit den Eltern im VW-Käfer durch einen Sommertag über<br />

die Autobahn fuhr. Dem Süden und den Großeltern entgegen.<br />

Der Süden roch. Nach Bergluft und Maische von der<br />

Stadtbrauerei. Reisefieber. Nein. Blömecke reisefiebert<br />

nicht mehr. Die Hitze kommt jetzt vom Ofen und auch vom<br />

Wein. Wie er ins Bett kommt, der schwankende, weinbespritzte<br />

Blömecke, das gehört schon mehr in den Schlaf als<br />

ins Wachsein. Er weiß nichts mehr. Verliert das Bewusstsein<br />

in dem Moment, als er das weiche Nachgeben der Matratze<br />

unter sich spürt.<br />

Die Großeltern! Sie kommen ins Zimmer. Mit blauen Gesichtern.<br />

Angemalt als wollten sie auf die Bühne. Blau<br />

auch die Haare, gefärbt, der Großvater sogar überblau,<br />

ultramarin, nur am Kinn und am Hals ist er schwarz. Das<br />

kommt vom Tod, denkt Blömecke. Da hat der Tod schon<br />

seine Zeichen gesetzt. Ganz nah ist der Großvater jetzt, nah<br />

an Blömeckes Gesicht. Blömecke weicht zurück. Er riecht<br />

den Tod. Der Tod geht vom Großvater aus, weht von den<br />

schwarzen Stellen. Blömecke stürzt. In den Abgrund der<br />

Hölle. Die gar nicht so tief ist. Weil er früh schon auf den<br />

Boden schlägt. Holzboden. Die Hölle hat einen Holzboden,<br />

auf den Blömecke aufgeschlagen ist.<br />

Er öffnet die Augen. Es ist schon hell. Sein Kopf. Was wälzt<br />

sich in seinem Kopf um die eigene Achse? Ein Mühlstein.<br />

Blömecke liegt auf dem Boden. Mit Decke und Kissen. Die<br />

Uhr! Warum hat er die Uhr nicht gehört? Den Radiowecker.<br />

Gegen die Richtung des Mühlsteinrades wendet er seinen<br />

Prosa


40 Holz|Oktober 2016<br />

Prosa<br />

Kopf, um auf die Zahlenanzeige des Radioweckers zu sehen.<br />

Nein! Unmöglich. In seiner Brust explodiert etwas. Adrenalin.<br />

So lange kann er nicht geschlafen haben. Der Zug! Der<br />

Flieger! Er sollte längst auf der Bahn sein. Das Zeitpolster,<br />

das in seiner Abreiseplanung lag, ist bereits großzügig verbraucht.<br />

Auf dem Holzboden liegend im Vergessensrausch.<br />

In Ansgar Blömeckes Kopf flackern Bilder: der dramatische<br />

Film seiner verpassten Abreise. Der Freund am Flughafen<br />

wartet nicht mehr. Steigt allein in den Flieger. Schulterzuckend.<br />

Er wird seine Freundschaft mit Blömecke überdenken.<br />

Überdenken müssen. Wie kann man mit jemandem<br />

befreundet sein, der den Gebrauch eines Mobiltelefons<br />

ablehnt? Noch nicht einmal fragen kann man ihn, wo er<br />

bleibt. Auf einmal versteht Blömecke den Sinn von Mobiltelefongesprächen.<br />

Warum jemand sagt, wo er ist und<br />

wann er woanders zu erscheinen gedenkt. Es handelt sich<br />

um Menschen, denen eine Abreise zu misslingen droht.<br />

So wie jetzt ihm, Blömecke. Natürlich hat er auch vorher<br />

schon den Sinn von Mobiltelefongesprächen gekannt. Und<br />

sich amüsiert. Heimlich. Diese ständigen Ortsangaben. Ja,<br />

können die Leute denn nicht vernünftig planen? So wie er,<br />

Blömecke, plant: passgenau und verlässlich.<br />

Von wegen verlässlich. Eigentlich hat er nicht mal die Zeit<br />

für eine Katzenwäsche. Aufs Zähneputzen verzichtet er.<br />

Kein lustiges Gurgeln vor dem Spiegel. Er reißt die Sachen<br />

vom stummen Diener, die Sachen, die er gestern schon<br />

trug. Wahrscheinlich zu warm für den Süden. Egal. Ins<br />

Schwitzen gerät er jetzt eh`. Kein Frühstück. Es wird ja im<br />

Flieger was geben. Wenn er den überhaupt noch erwischt.<br />

Aber ja. Das Zeitpolster müsste reichen. Knapp könnte es<br />

werden. Sicher, der Freund wird sauer sein und nicht ohne<br />

angefressenen Kommentar auf die Uhr schauen, wenn Blömecke<br />

endlich in der Wartezone erscheint. Abgehetzt, aber<br />

erleichtert. Doch soweit ist er noch lange nicht. Er muss<br />

los. Noch ein Wehmutsblick auf den Ofen in der Küche. Der<br />

ist verlässlich niedergebrannt, ausgegangen in friedlicher<br />

Asche. Der Anblick versetzt Blömecke einen Wehmutsstich.<br />

Zum Glück hat er gestern gepackt. Er geht zum Sofa, auf<br />

dem das Taschentier steht. Hat selber Schuhe und Mantel<br />

schon an. Und der Brustbeutel hängt um den Hals, wölbt<br />

sein Hemd über dem Bauch. Mit allen Papieren. Auch der<br />

Brustbeutel lag vorbereitet schon auf dem Schreibtisch.<br />

Jetzt nur noch die Tasche greifen und los.<br />

Blömecke glaubt es nicht. Glaubt nicht das Gewicht des<br />

Taschentiers, das er nun anhebt und das seinen Arm mit<br />

Gewalt nach unten reißt. Ein Magnet, den es zum Gegenpol<br />

zieht. Er muss mit Kraft gegensteuern und schon diese<br />

erste Anstrengung provoziert einen Schweißausbruch. Und<br />

ein Schmerzstoß fährt in seinen Kopf, ein Erinnerungsgruß<br />

an den gestrigen Abend. Was hat er alles in die Tasche<br />

gepackt? Im Suff. Blackout. Aber jetzt die Tasche wieder<br />

öffnen und aussortieren, was überzählig ist? Dann kann er<br />

den Abflug vergessen. Es hilft alles nichts. Er muss mit diesem<br />

Taschenkoloss reisen. Was man sich antut. Kein Tier<br />

wäre dazu in der Lage. Zugvögel fallen ihm ein. Zugvögel<br />

mit Reisetaschen. Das Bild bringt ihn zum Lachen. Während<br />

er schon den Schlüssel hinter sich abzieht. Unaufgeräumt<br />

lässt er seine Wohnung zurück. Das Weinglas auf<br />

dem Küchenboden festgeklebt in einem dunkelrot getrockneten<br />

Kranz. So wird es noch dastehen, wenn er wieder<br />

nachhause kommt. In zwei Wochen. Mein Gott, denkt er,<br />

in zwei Wochen. Und hofft, dass er seinen Flieger verpasst.<br />

Hofft insgeheim, hofft mit Hintertürchen.<br />

Die Bahn steht auf dem Gleis. Bewegungslosigkeit mitten<br />

auf freier Strecke. Eine Lautsprecherstimme gibt bekannt,<br />

dass man erst weiterfahre, nachdem man einen bevorrechtigten<br />

Zug durchgelassen habe. Blömecke lehnt sich zurück.<br />

Natürlich. Die Bahn. Damit war zu rechnen. Darauf hatte er<br />

sein Zeitpolster ausgelegt. Nun ist es dahingeschmolzen.<br />

Er schaut auf die Uhr. Abflug in fünfundzwanzig Minuten.<br />

Er wird am Abend versuchen, den Freund im Hotel zu erreichen.<br />

Um sich zu erklären. Verschlafen im Abschiedssuff.<br />

Nein. Das kann er nicht zugeben. Er könnte Krankheit<br />

vorschützen. Mit gespielter Heiserkeit dem Freund etwas<br />

vordramatisieren. Aber vielleicht ist der Freund gar nicht<br />

mitgeflogen. Blömecke schluckt. Der bevorrechtigte Zug<br />

donnert vorüber. Die Bahn ruckt an. Und rollt auf den Flughafen<br />

zu. Auf zum letzten Gefecht, sagt Blömecke, als der<br />

Waggon unter Pfeiftönen seine Türen öffnet. Völker hört<br />

die Signale. Das war halblaut vor sich hingesprochen. Blömecke<br />

spricht oft halblaut vor sich hin. Er greift das Taschentier<br />

und eilt auf die Rolltreppe zu.<br />

Geschlossen. Der Schalter, an dem sein Flug abgefertigt<br />

werden sollte ist bereits geschlossen. Womit zu rechnen<br />

war. Noch zehn Minuten und der Flieger hebt ab! Er wedelt<br />

mit seinem Flugticktet vor dem Gesicht einer uniformierten<br />

Frau, die sich hinter dem geschlossenen Schalter zu schaf-


Holz|Oktober 2016<br />

41<br />

fen macht. Empfängt einen Vorwurfsblick. Aber immerhin:<br />

Die Frau nimmt Blömecke das Flugticket ab, studiert<br />

es, schüttelt den Kopf und telefoniert mit abgewandtem<br />

Blick. Er hält den Atem an. Wenn er es schafft, so lange<br />

den Atem anzuhalten, bis die Frau ihn wieder ansieht, dann<br />

ist er gerettet. Dabei hätte er auch nichts dagegen ungerettet<br />

zu bleiben. Aber das ist jetzt ein Sport. Atem anhalten<br />

und warten. Sein oder nicht Sein. Die Frau nickt und<br />

sagt ja. Immer noch mit abgewandtem Blick. Blömeckes<br />

Herzschlag. Da scheint was zu klappen. Die Frau legt auf.<br />

Und sieht ihn an. Während sie die Schaltertür öffnet und<br />

ihm entgegenkommt. „Folgen Sie mir.“ Blömecke lässt den<br />

Atem los. Ihm wird schwindelig. Er hätte den Atem keine<br />

Sekunde länger anhalten können. Und muss doch rennen.<br />

Der uniformierten Frau hinterher. Mit dem Taschtentier in<br />

der Hand. Das fette Vieh. Schwer. Vollgefressen. Aber jetzt<br />

weiß er, dass er den Flieger bekommt. Und rennt auf die<br />

Sicherheitsschleuse zu, durch die die Uniformfrau gerade<br />

verschwindet.<br />

Er wird gehalten. Jemand reißt ihn zurück. Jemand hat ihn<br />

am Kragen gepackt und zurückgerissen. In der Sicherheitsschleuse.<br />

Wie konnte er glauben, einfach so durch<br />

die Sicherheitsschleuse rennen zu können? Groteske Vorstellung.<br />

Der Uniformierte, der ihn zurückgerissen hat,<br />

schaut ihm nun ins Gesicht. Kopfschüttelnd. Aber wohl<br />

auch belustigt. Das wird er noch nicht erlebt haben, dass<br />

ein Reisender in solch plumper Weise versucht hat, die Sicherheitsschleuse<br />

zu überwinden. Aber die Frau von der<br />

Fluggesellschaft ist schon zurückgekehrt und erklärt dem<br />

Sicherheitsmenschen die Lage. Der scheint sich von dieser<br />

Erklärung nicht beeindrucken zu lassen. Nein, das Gepäck<br />

muss ganz normal durch den Scanner. Wo kämen wir hin?<br />

Eine Bombe, die an Bord eines Flugzeugs gelangt, weil der<br />

Bombenleger durch die Sicherheitsschleuse gerannt ist.<br />

Hallo?<br />

Blömecke reibt sich den Nacken. Der schmerzt noch vom<br />

zurückgerissen werden. Als hätte man ihm eine Schlinge<br />

um den Hals gelegt und zugezogen. Mundtrockenheit.<br />

Bitterer Gaumengeschmack. Er bräuchte einen Schluck<br />

Wasser. Jetzt erst spürt er wieder, dass er einen Kopf hat<br />

– vom Trinken. Als er seine Reisetasche auf das Transportband<br />

stellt, erschrickt er über das Geräusch, das er dabei<br />

verursacht. Das klingt dumpf. Als bestehe der Inhalt nicht<br />

aus Kleidungsstücken, sondern aus harten Gegenständen.<br />

Jetzt bricht ihm der Schweiß aus. Wieder. Was hat er hinein<br />

getan in die Tasche? Gestern. Im Suff. Außerdem fällt<br />

ihm ein, dass die Tasche ja viel zu schwer ist. Wie war das<br />

noch? Wieviel Kilo darf Reisegepäck wiegen? Soll jetzt daran<br />

sein Abflug noch scheitern? Kurz vor Schmitz Backes?<br />

Die Reisetasche verschwindet im Schlund des Sicherheitsscanners.<br />

Und erscheint wieder durchleuchtet auf dem<br />

Bildschirm des Sicherheitsmenschen.<br />

Aber was ist das? Blömecke glaubt es nicht. Ohne Ordnung<br />

erscheint das Durcheinander, das auf dem Bildschirm sichtbar<br />

wird. Was zu erwarten war. Aber da sind nicht nur Kleidungsstücke<br />

zu sehen. Was sind das für Dinger? Klötze? Der<br />

Sicherheitsmensch stutzt. Runzelt die Stirn und sieht Blömecke<br />

an. Hat er einen Wahnsinnigen erwischt? Blömecke<br />

zuckt mit den Schultern. Sein Herz hämmert. Ich weiß auch<br />

nicht, sagt er, als der Sicherheitsmensch die Tasche an sich<br />

zieht, die aus dem Schlund des Durchleuchtungsschachtes<br />

wieder herausfährt. Immer noch schaut der Uniformierte<br />

Blömecke an. Der Sicherheitsmensch scheint sich nicht sicher<br />

zu sein. Ob er die Tasche öffnen soll oder ob es besser<br />

wäre, einen Vorgesetzten zu informieren. Flughafenpolizei,<br />

denkt Blömecke. Männer in schwarzen, kugelsicheren Jacken,<br />

Männer mit Helmen und ohne erkennbare Gesichter.<br />

Die sichern die Umgebung und warten in vorsichtigem Abstand<br />

auf den Polizeiroboter, dessen surrende Greifarme<br />

das Taschenobjekt bearbeiten werden. Da wird Blömecke<br />

schon verhört. Aber er weiß doch nichts. Mein Gott, er hat<br />

gesoffen. Wegen eines Urlaubs, zu dem er sich hat breitschlagen<br />

lassen. Zu einer Reise, die er nicht will. Im Grunde<br />

trägt er keine Verantwortung. Die Verantwortung trägt sein<br />

Freund. Der schon im Flieger sitzt. Oder?<br />

Das zirpende Geräusch, mit dem ein Reißverschluss geöffnet<br />

wird. Der Anblick Blömeckes hat dem Sicherheitsmenschen<br />

offenbar genügt, um sich von dessen Harmlosigkeit<br />

zu überzeugen. Ein leichter Ärger darüber steigt in<br />

Blömecke auf. Die Frau von der Fluggesellschaft schaut<br />

auf die Uhr. Sagt nichts. Blickt nun wie Blömecke über die<br />

Schulter des Sicherheitsmenschen, der gebeugt über die<br />

Taschenöffnung in deren Inhalt kramt. Zerknüllte Sachen.<br />

Pfeifen. Bücher. Zahnputzzeug. Und Holzscheite! Ofenholz!<br />

Blömecke hat Feuerholz in die Tasche gepackt. Eine<br />

Ladung, die für einen ganzen Abend reichen würde! Aber<br />

ja! Der Sicherheitsmensch und die Frau von der Fluggesellschaft<br />

tauschen Blicke. Was sind das für Irre, die heute<br />

Prosa


42 Holz|Oktober 2016<br />

verreisen? Wieder schaut die Frau von der Fluggesellschaft<br />

auf die Uhr und sagt zum Sicherheitsmenschen, dass er<br />

sich Zeit lassen soll. Den Abflug könne man eh vergessen.<br />

Abflughalle mit dem Duft nach Harz und Tannenwald. Ölig<br />

und würzig. So wie nur Heimat duften kann, Heimat, in deren<br />

Küche ein gusseiserner Ofen steht.<br />

Blömeckes Herz hüpft. Sein Holz! Kein Abflug! Er wird versuchen,<br />

es dem Freund zu erklären. Dann muss der Freund<br />

entscheiden, ob er weiter sein Freund bleiben will. Aber<br />

er, Ansgar Blömecke, braucht nicht zu verreisen. Er kann<br />

Feuer machen. Heute Abend. In seiner Küche. Mit seinem<br />

Holz. Sie haben wohl keinen Ofen, sagt er zum Sicherheitsmenschen,<br />

der ihn wieder fragend ansieht. Und dann alles<br />

zurück in die Tasche packt: Zerknüllte Sachen, Pfeifen, Bücher,<br />

Zahnputzzeug und Holzscheite. Wunderbare Nadelholzscheite.<br />

Sie parfümieren den Sicherheitsbereich der<br />

Falk Andreas Funke<br />

Schreiber und Leser, Jahrgang 19<strong>65</strong>, geboren und geblieben in<br />

Wuppertal. Seit 2001 Veröffentlichungen in div. Anthologien, Zeitschriften<br />

und beim Westdeutschen Rundfunk. Seit 2001 Mitarbeiter<br />

des Satiremagazins „Italien“, Wuppertal. Bislang drei Bücher,<br />

Tier und Tor, 2004; Ballsaal für die Seele, 2010 (jeweils Turmhut-<br />

Verlag), Krause, der Tod und das Irre Lachen (Verlag Thomas Tonn,<br />

2012) Andreas.Funke@arbeitsagentur.de<br />

Prosa<br />

Relaxharfe/Rüster (Ulme) 2015©Gotthard Obholzer


Holz|Oktober 2016<br />

43<br />

neutro<br />

Splitter<br />

Er soll sie holen kommen. Jemand hat Zucker auf dem<br />

Boden verstreut. Wenn er sich auf diesen Sessel setzt…<br />

Er kann nicht mehr spielen, weil er in seinem Finger… Sie<br />

laufen sich über den Weg. So können sie Fliegen mit einer<br />

Klappe schlagen. Das Haus ist für sie allein zu groß. Die Kinder<br />

kommen nicht mehr so oft zu Besuch. Dieser Moment,<br />

in dem sie immer wieder daran vorbeigefahren sind… Sie<br />

bleiben nicht mehr auf dem Parkplatz stehen, weil sie weiter<br />

müssen. Er erinnert sich nicht mehr, wann er sie zuletzt<br />

hautnah gesehen hat. Dafür ist sie noch zu jung gewesen.<br />

Er will sich von seinem Kreuz auf sie herabstürzen. Er<br />

braucht nicht auf sich aufzupassen. Meistens wächst der<br />

Schwanz in verkürzter Form nach. Von ganz oben kann er<br />

nicht gekommen sein. Der König trägt ein gelbes Stirnband,<br />

wenn er seine Mitspieler über das Feld dirigiert. Alle müssen<br />

verfügbar sein, um zufrieden sein zu können. Seine Ausstrahlung<br />

ist ein Naturprodukt. Jeder spürt seine gewachsene<br />

Kraft auf der Suche nach Füllmaterial. Die Motorsäge<br />

klingt nicht wie das Röhren eines Hirsches. Sie sollte stehen<br />

bleiben, wenn er das Harz von der Rinde kratzt.<br />

Solange sie nicht nachwachsen, können an den Gipfeln<br />

der Hauswände auch keine Figuren mehr hängen. Sein Gesichtsausdruck<br />

ähnelt zu sehr dem im Rückspiegel. Sobald<br />

sie ihre Wurzeln nicht mehr spüren… Nach einigen Jahren<br />

müssen die Stützpfeiler ausgetauscht werden. Sie versuchen<br />

sich weg zu denken, sobald der Ausblick unverstellt<br />

bis zum Horizont reicht. Der schiefere Balkon kann kein Anknüpfungspunkt<br />

bleiben. In dem Zimmer, in dem ihre Mutter<br />

jetzt…<br />

Der Holzsplitter wird erst unter dem Vergrößerungsglas<br />

sichtbar. Sollte er bereits zu tief in die Haut vorgedrungen<br />

sein, könnte er beim Herausziehen abbrechen. Er wird lediglich<br />

ein kleines Stück brauchen, bis er vor dem Eingangspunkt…<br />

Die Entfernung eines Fremdkörpers kann schmerzen.<br />

Sie erzählen ihnen, wo sie schon überall gewesen sind.<br />

Kleinere Splitter erfordern noch keine ärztliche Behandlung.<br />

Es ist gänzlich ungefährlich nicht jedes Mal nachzusehen.<br />

Solange er nicht über die Straße geht… An den Haken könnte<br />

er genauso einen Spiegel hängen. Dass sie die Erste ist, die<br />

nicht mehr nur die Hände faltet, sondern sie wiederverwendet...<br />

Er hat sie zuerst wieder zurückgewollt.<br />

Er soll seine Verwandten nicht immer so wild in die Luft werfen,<br />

sondern aufheben. Warum dieser Gang so lange… Diese<br />

Bürste nimmt beim Schrubben gerade wenig genug von den<br />

Dielen. Nicht mehr nur beim Barfußgehen… Es wird kaum<br />

etwas geändert. Sie können ihnen nicht mehr böse sein,<br />

dass sie sie zurechtgebogen haben. Ein Gesicht kann zwar<br />

gegossen sein, aber die Kreuzigung lässt sich nicht mehr aus<br />

dem Glauben ziehen. Ihre Anspielung bedeutet, dass dieser<br />

Forderung nichts mehr entgegenzusetzen ist. Sein Todesurteil<br />

wird dadurch weder bewiesen noch entkräftet.<br />

neutro<br />

sind Anna Neuwirth, geb. 1986 in Wien und Martin Troger,<br />

geb.1982 in Bozen, beide wohnhaft in Bad Vöslau, erstellen seit<br />

2015 Bild-Texte. Seit 2016 arbeiten sie öffentlich am neutro-Foto-<br />

Text-Blog auf www.neutro.at. Veröffentlichungen in Zeitschriften<br />

wie SUPER Edition, DUM, Komplex-Kulturmagazin Innsbruck und<br />

keine!delikatessen.<br />

Prosa


44 Holz|Oktober 2016<br />

Renate Katzer<br />

Die Türe<br />

Johann schlurfte durch das Dorf, ein Dreihundertseelendorf<br />

in 931 Metern Seehöhe. Er hatte ein Vorhaben,<br />

eines seiner seltenen. Seine Holzschuhe klapperten –<br />

durchbrachen die vormittägliche Stille, in der die meisten<br />

Bewohner ihren Geschäften nachgingen.<br />

Johann war ein alter Mann mit schlurfendem Gang und<br />

sanftem Gemüt. Er kam mit wenigen Worten aus, sein<br />

Leben lang schon.<br />

Jetzt ging er über den Kirchplatz, am Friedhof vorbei, ließ<br />

das Gasthaus links liegen, grüßte eine Nachbarin, die es<br />

eilig hatte. Ihm war es recht.<br />

Dann betrat er die Tischlerwerkstätte von Konrad,<br />

Meister über Fensterstöcke, Türen und Särge. Konrad<br />

blickte kurz auf und klopfte die Sägespäne von der blauen<br />

Schürze.<br />

Ein gemurmeltes, Guten Morgen, ging zwischen beiden<br />

hin und her.<br />

Schweigen.<br />

Doch es musste etwas besprochen werden, war beiden<br />

klar. Konrad witterte eines seiner seltenen Geschäfte,<br />

(abgesehen vom verlässlichen Sarggeschäft). Er trug<br />

Sorge, wer wohl seinen eigenen zimmern würde? Er<br />

sollte einen im Vorrat halten, überlegte er.<br />

Konrad war ein schweigsamer Mann, Johann, wie wir<br />

wissen, auch. Wenn man mit Holz zu tun hat, wird man<br />

so, sparsam mit Worten. Höchstens am Sonntag ließ der<br />

Meister ein paar Sätze aus, lächelte fallweise dazu – am<br />

Sonntag hatte Konrad Zeit, Worte zu verschwenden.<br />

Natürlich suchte man nach ihm, rief ihn.<br />

Tagelang. Mann an Mann durchsuchten das Gebiet, seinen<br />

Radius.<br />

Bis auf den heutigen Tag ist nicht erwiesen, dass er sich<br />

irgendwo wieder eingefunden hätte.<br />

Renate Katzer<br />

Geb. 1945 stammend aus den Tiefen des Bregenzerwaldes, in<br />

Salzburg schreibend lebend. Schreibt immer, am liebsten Gedichte.<br />

Veröffentlichungen in Anthologien. Gedichtband: „ Ins<br />

Wort fallen“, Edition Weinviertel. Lyrikpreis 2010, Forum Land NÖ.<br />

Lesungen.<br />

Er brauche eine Türe, ließ sich Johann vernehmen.<br />

So, sagte Konrad. Der Fall ging in Richtung Auftrag.<br />

So einfach wie möglich, du brauchst dir nicht viel Mühe zu<br />

machen. Ich brauche sie lediglich zum ein,-und ausgehen.<br />

Sagte es und wandte sich zur Türe, es ging auf Mittag zu.<br />

Jawohl, hörte er Konrad noch sagen, es wird dauern.<br />

Johann nickte und schlurfte seinen Weg zurück.<br />

Prosa<br />

Der Sommer verlief ereignislos. So gegen Herbst hin<br />

kam Johann nicht mehr heim.<br />

Er ist aus dem Haus gegangen, hinauf in den Wald, vielleicht?<br />

Enstehen des Klangbaumes/2014©Gotthard Obholzer


Holz|Oktober 2016<br />

45<br />

Venus und Klangbaum/2014©Gotthard Obholzer


46 Holz|Oktober 2016<br />

Jan-Eike Hornauer<br />

Moritat vom kaputten<br />

Holzbalken<br />

Ein Balken litt an Holzwurmfraß.<br />

Er war ganz voller Löcher.<br />

Und pfiff der Wind, war das kein Spaß:<br />

Er fror dann noch und nöcher.<br />

Glücklicher Zufall<br />

Luther<br />

nagelte<br />

seine Thesen<br />

an die<br />

Kirchentür<br />

Bis eines Tages dies geschah:<br />

Er brach – krach-wumms – entzwei.<br />

Es ging nicht ihm und keinem nah.<br />

Was war denn schon dabei?<br />

Man hackte ihn zu Brennholz klein<br />

– das tat noch etwas weh –<br />

und warf ihn in ein Feuer rein.<br />

Er fror nicht mehr, war nicht allein,<br />

und sanft ging’s in die Höh’.<br />

Logischer Verdacht<br />

Gut,<br />

dass diese<br />

aus Holz war<br />

und nicht etwa<br />

aus Glas<br />

Sonst hätte es<br />

die Reformation<br />

vielleicht nie<br />

gegeben<br />

Wer<br />

auf dem<br />

Holzweg<br />

sich befindet<br />

ist oft<br />

besonders<br />

leicht<br />

entflammbar<br />

Lyrik<br />

Jan-Eike Hornauer<br />

Geb. 1979, leidenschaftlicher Textzüchter aus München. studierte<br />

Germanistik und Soziologie in Würzburg. Jüngster Solo-Lyrikband:<br />

»Das Objekt ist beschädigt – zumeist komische Gedichte aus einer<br />

brüchigen Welt«, muc Verlag 2016. - siehe Rezension S. <strong>65</strong>.<br />

www.textzuechterei.de


Holz|Oktober 2016<br />

47<br />

Brigitta Höpler<br />

aus den Flammen gefallen<br />

auf den Boden neben der Scheune<br />

Holz zu Holz<br />

hätte Feuer verbreiten können<br />

bin vorher erloschen<br />

mit leisem Zischen<br />

flammenbeschrieben<br />

gesprungen zerklüftet<br />

geblieben auf der kühlen Erde<br />

nicht mehr Holz und noch nicht Kohle<br />

hinterlasse schwarze Spuren<br />

bezeichne die Dinge<br />

Das Holzbrett<br />

in der Küche.<br />

Hausarbeit.<br />

Handarbeit.<br />

Hände, bei der Arbeit,<br />

beim Schneiden,<br />

Zerschneiden,<br />

Einschneiden.<br />

Freiwillig und unfreiwillig<br />

eingeschnittene Linien<br />

werden zu Geschichten.<br />

Jeden Tag.<br />

Immer wieder.<br />

Daniel Grummt<br />

Stirnholz<br />

Stirn schlägt auf Holz<br />

der Kopf bleibt darauf liegen<br />

minutenlang<br />

regungslos<br />

sieht albern aus<br />

und hilft auch nichts<br />

der Körper richtet sich wieder<br />

Blick schaut auf<br />

ins Leere<br />

Gedanken<br />

kreisend<br />

um sich selbst<br />

drehend, drehend<br />

mit dem Stuhl<br />

um die eigene Achse<br />

schnell, schneller<br />

schwindeliger Taumel<br />

und abermals:<br />

Stirn schlägt auf Holz<br />

der Kopf bleibt darauf liegen<br />

minutenlang<br />

regungslos<br />

sieht albern aus<br />

und hilft auch nichts<br />

der Körper richtet sich wieder<br />

Blick schaut auf<br />

ins Leere<br />

Gedanken<br />

kreisend<br />

um sich selbst<br />

drehend, drehend<br />

mit dem Stuhl<br />

um die eigene Achse<br />

schnell, schneller<br />

schwindeliger Taumel<br />

und abermals:<br />

Stirn schlägt auf Holz<br />

...<br />

Brigitta Höpler<br />

Geb. 1966 in Wien, verheiratet zwei Kinder, Kunsthistorikern,<br />

Autorin, Schreibpädagogin . www.brigittahoepler.at<br />

Daniel Grummt<br />

Geb.1984, arbeitet/lebt zurzeit in Jena. Studium der Soziologie<br />

an der Uni Dresden. Seit 2015 wissschftl. Mitarbeiter Uni Jena.<br />

Lyrik


48 Holz|Oktober 2016<br />

Prosa<br />

Jörn Birkholz<br />

Waidmannsheil<br />

»Ich will in Wald!«<br />

»Was?«<br />

»Komm, lass uns in Wald fahren.«<br />

Mit dieser Idee konfrontierte mich Iza eines schönen Sonntagmorgens.<br />

»In den Wald heißt das.«<br />

»Ja, ja, weißt du wie man’s auf Polnisch sagt?«<br />

»Ne.«<br />

»Na also, dann lern erst mal polnisch, bevor du mich hier<br />

großkotzend verbesserst.«<br />

»Großkotzig.«<br />

»Was?«<br />

»Nichts egal.«<br />

»Wo ist hier Wald?«<br />

»Gute Frage, hier in der Gegend ist mir nichts Größeres bekannt.<br />

«<br />

»Ich will aber in richtigen Wald, und nicht son kleinen<br />

Scheiß.«<br />

»Ist mir schon klar.«<br />

»In Polen ist viel Wald.«<br />

»Ja, mag sein.«<br />

»Gib mal Laptop.«<br />

Morgens war Iza grammatikalisch immer etwas nachlässig.<br />

Sie beugte sich im Bett über mich rüber und hob es vom<br />

Fußboden auf. Ich hatte ihren tollen Hintern vorm Gesicht,<br />

und konnte mir ein Arschtätscheln nicht verkneifen.<br />

»Lass das!«, quakte sie, fügte aber schnell noch ein Versöhnliches<br />

»Nicht jetzt« hinzu.<br />

Ich ließ es und sie kam wieder hoch. Mit großem Eifer begann<br />

sie Wald und Deutschland zu googeln.<br />

Ich zündete mir eine Zigarette an, obwohl ich morgens eigentlich<br />

ungern rauche, aber Sucht ist Sucht.<br />

»Gib mir auch eine.«<br />

Ich gab ihr eine und rauchend googelte sie weiter.<br />

»Hier ich hab was Geiles!«, ereiferte sie sich plötzlich.<br />

»Das ist in Bayern, Baby, n bisschen weit fürn Tagesausflug«,<br />

sagte ich, nachdem ich flüchtig die Seite überflogen<br />

hatte.<br />

»Kurwa«, entgegnete sie, »aber hier ist ja nichts.«<br />

»Dann google doch mal Niedersachsen.«<br />

»Dobra.«<br />

Nach fünf Minuten hatten wir uns für die Südheide bei Celle<br />

entschieden. Große Waldflächen versprach Wikipedia und<br />

nachdem wir noch schnell die Zugverbindungen gecheckt<br />

hatten, ging es bereits eine Stunde später los Richtung<br />

Hauptbahnhof. Der Bahnhof war angenehm leer. Sonntags<br />

um kurz nach zehn vormittags ist anscheinend eine gute<br />

Zeit zum Verreisen. Wir standen auf dem Bahnsteig und<br />

warteten zusammen mit nur einem Herren, dessen rechtes<br />

Bein rot und extrem angeschwollen war. Sein Hosenbein<br />

hatte er fast bis zum Schritt hochgekrempelt. Fünf Minuten<br />

bevor unser Zug einfuhr, füllte sich der Bahnsteig. Im<br />

Zug bekamen wir einen Sitzplatz, fast ein Grund zum Feiern.<br />

Kaum saßen wir, musste Iza pinkeln, war ja klar. Sie<br />

huschte zum Klo. Ich sah das Rotbein, es schleppte sich<br />

durch den Zug und verkündete, dass es obdachlos sei, ein<br />

kaputtes Bein habe – was ich bestätigen konnte – das ihm<br />

weh tue, und dass es um eine kleine Spende bittet. Keiner<br />

spendete ihm etwas, nicht mal Trost. Ich auch nicht, ich<br />

stellte mich schlafend, als es an mir vorbei humpelte – ich<br />

war nicht in der Stimmung für Obdachlose mit rotem Bein,<br />

da war ich nicht anders als die anderen, vermutlich nicht<br />

obdachlosen Fahrgäste im Zug. Vielleicht lag es auch daran,<br />

dass das Rotbein vorhin mit uns ganz entspannt am<br />

Bahnsteig gestanden hatte. Hätte er uns dort angequatscht,<br />

hätte ich ihm wahrscheinlich was gegeben, da hätte<br />

es sich spontan aus der Situation heraus ergeben können.<br />

Immerhin waren wir zu der Zeit die Einzigen auf dem Bahnhof.<br />

Vielleicht hätten wir ihn sogar gefragt – Iza bestimmt,<br />

wie ich sie kenne - was mit seinem Bein los sei, interessiert<br />

hätte es mich schon. Aber er beachtete uns nicht, Pech<br />

gehabt, jetzt beachtete ich ihn nicht, ich bin halt ein Arsch.<br />

Iza kehrte zurück.<br />

»Klo war voll gekotzt, voll eklig.«<br />

»Wahrscheinlich Partypeople von heut Nacht.«<br />

»Schläfst du?«<br />

»Ne.«<br />

»Hätte mich auch gewundert, wir haben heut Nacht fast<br />

zehn Stunden durchgepennt. Ich bin hellwach.«<br />

»Ich hab ja auch nicht geschlafen.«<br />

»Aber du hattest die Augen zu?«<br />

»Ja und, heißt ja nicht, dass ich geschlafen hab.«<br />

»Ist ja gut, entspann dich.«<br />

»Bin entspannt.«<br />

»Das merkt man.«<br />

Sie lächelte und küsste mir flüchtig auf den Mund. Iza war<br />

bester Laune, soviel war mal sicher. Ich stellte fest, dass es<br />

mir ähnlich ging. Sie schaute aus dem Fenster und summte


Holz|Oktober 2016<br />

49<br />

zufrieden vor sich hin. In Ottersberg stieg ein mit unzähligen<br />

Farbspritzern besudelter Typ ein, der drei verpackte Bilder<br />

mit sich führte und sich uns gegenübersetzte. Er grinste<br />

mich an, ich grinste zurück. Er trug eine gelbe FDP Werbemütze.<br />

Ein Künstler mit Humor, sowas gibt’s selten, dachte<br />

ich. In Sottrum stieg er wieder aus. Flüchtige Begegnungen<br />

des Lebens. Iza lehnte mit geschlossenen Augen am Fenster<br />

und schlief - sie hatte es nicht mal mitbekommen. Eine<br />

Stunde später waren wir am Ziel. Celle – eigentlich war mir<br />

mehr nach einer Stadtbesichtigung, und dann später vielleicht<br />

noch irgendwo ein Bier zu zwitschern. Aber Iza wollte<br />

davon nichts wissen, sie wollte in Wald, daran war nicht zu<br />

rütteln, im Grunde auch keine so schlechte Idee, dachte<br />

ich, das Wetter spielte jedenfalls mit, solide zwanzig Grad,<br />

leichte Bewölkung, ein normaler Norddeutscher Hochsommertag<br />

eben. Und letztendlich hatten wir es ja auch genauso<br />

geplant. Man wirft in letzter Minute keine Pläne um, und<br />

läuft einmal quer durch eine Altstadt und zieht sich dann<br />

irgendwo noch ein Bier rein. Nein, nein, heute war wandern<br />

gehen angesagt! Wandern gehen - schon eine absurde<br />

Bezeichnung. Manchmal hatte Iza recht, in Deutschland<br />

muss selbst das Wandern noch mit einem Gehen ergänzt<br />

werden, es ist schließlich ein Unterschied ob man wandert<br />

oder geht, reines Gehen ist wahrscheinlich viel zu trivial.<br />

Gehen hingegen wird zum Wandern, wenn man sich dafür<br />

solch erhabene Plätze wie die Berge oder den Wald ausgesucht<br />

hat. Ist der Zielort lediglich der nächste Pennymarkt<br />

oder das Klo, bleibt man brav beim Gehen. Ich wandere zu<br />

Rewe oder zur Toilette klingt ja auch ein bisschen aufgesetzt.<br />

Wie man wohl auf Polnisch »ich gehe wandern« sagt,<br />

gibt es diese Bezeichnung überhaupt? Ich könnte Iza fragen,<br />

tue es aber nicht, ich gönne ihr keinen Triumph. Die<br />

polnische Sprache gibt da sicher etwas her, aber ich will es<br />

gar nicht wissen.<br />

Nachdem wir uns bei einem pausbäckigen Busfahrer nach<br />

dem Weg erkundigt hatten, stiegen wir ein, und ließen uns<br />

zum Wald, beziehungsweise in Richtung Wald fahren, weit<br />

war es nicht.<br />

Da waren wir also, dreißig Minuten später standen wir irgendwo<br />

im Wald. Iza hatte kein Interesse gezeigt, zuvor das<br />

Wanderwegschild am Waldrand zu studieren.<br />

»Ich will selbst erkunden«, verkündete sie, »typisch Deutsch,<br />

alles wird genau vorgeschrieben, wo man zu gehen hat.«<br />

»Dient doch nur zur Orientierung«, wandte ich ein.<br />

»Brauchen wir nicht, ich kann mich selbst sehr gut orientieren.«<br />

Und so trotteten wir los. Die Sonne blinzelte zwischen den<br />

Baumkronen der Fichten hervor. Irgendwo piepte ein Vogel<br />

recht penetrant, ständig den selben Ton ausstoßend.<br />

Es roch nach Natur. Iza tänzelte durch die Gegend, blickte<br />

nach links und rechts, wies mich auf Besonderheiten hin,<br />

wie auf am Boden liegende bizarre Baumwurzeln oder andere<br />

naturgeschaffene Sehenswürdigkeiten. Wann war ich<br />

das letzte Mal im Wald gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern.<br />

Es dürfte irgendwann in der Kindheit gewesen sein.<br />

Auf irgendeiner Klassenfahrt, ich weiß noch, dass ich stolz<br />

wie Otze war, ein Eichhörnchen auf einem Baum fotografiert<br />

zu haben. Das Vieh hatte auf dem Foto die Größe einer<br />

Stecknadel, da ich die Aufnahme aus etwa fünfzig Metern<br />

Entfernung gemacht hatte. Das Foto existiert heute noch,<br />

vor ein paar Jahren entdeckte ich es im Familienalbum.<br />

Meine Mutter hatte es eingeklebt, und in Schönschrift<br />

„Max übt sich als Tierfotograf“ daneben geschrieben. Ob<br />

sie es ernst meinte, oder ob sie mich damit verarschen<br />

wollte, entzog sich meiner Kenntnis, wie ich meine Mutter<br />

kannte, vermutete ich ersteres. Keine Eichhörnchen weit<br />

und breit, dafür aber ein Reh, dem wir in die Quere kamen,<br />

das uns aus einiger Entfernung einen kurzen Moment in<br />

leichter Schockstarre dümmlich anstarrte und dann die<br />

Flucht ergriff.<br />

»Niedlich!«, rief Iza aus, nachdem das Tier im Unterholz<br />

verschwunden war. »Hast du gesehen, wie es die Ohren<br />

angelegt hat?«<br />

»Ja.«<br />

»Es gefällt mir hier.«<br />

»Ja, ist okay.«<br />

»Ich will lange hierbleiben, also nörgel nich rum, dass du<br />

bald nach Hause willst.« ...<br />

Beginn eines Romans. Fortsetzung unter www.litges.at/etcetra<br />

Jörn Birkholz<br />

Geb.1972, lebt in Bremen. Studium der Geschichts- und Kulturwissenschaften<br />

an der Uni Bremen. Autor und Kritiker. War 2012<br />

für den 14. Irseer Pegasus nominiert. Sein Romanerstling Deplatziert,<br />

erschien 2009 und befindet sich mittlerweile in vierter<br />

Auflage. Sein zweiter Roman Schachbretttage erschien im März<br />

2014 bei Folio. Zuletzt erschien: Der schönste Ort der Welt, Diogenes,<br />

November 2015. www.literaturport.de/Joern.Birkholz/<br />

Prosa


50 Holz|Oktober 2016<br />

Susanne Klinger<br />

Mein Vater, der Holzarbeiter<br />

Mein Vater war Gedichteschreiber,<br />

er schrieb Gedichte ohne Unterlass, jahrzehntelang und er<br />

trank..<br />

Mein Vater war Liedermacher, er schrieb Lieder, immer der<br />

Liebe gewidmet und er trank…<br />

Mein Vater arbeitete mit Holz, nein nicht als Tischler oder<br />

Zimmermann, ein einfacher Holzarbeiter, jahrelang und er<br />

trank…<br />

Es ist schwierig in Erinnerungen zu schwelgen die nicht vorhanden<br />

sindes ist beinahe unmöglich nicht zumindest eine<br />

Zeitlang abzuwerten um sich selbst aufwerten zu können.<br />

Tochter eines Alkoholikers zu sein, heißt auch ohne Selbstwert<br />

aufzuwachsen, immer auf der Hut vor Eventualitäten,<br />

die auch pure Angst bedeuten konnten, vor dem, was sich<br />

immer wieder ankündigte, wenn er betrunken nach Hause<br />

kam, Angst vor einem Menschen, der prägender nicht sein<br />

konnte.<br />

Mein Vater war Holzarbeiter und brachte immer den Duft<br />

frisch geschnittenen Holzes mit nach Hause.<br />

Auf wieviele Erinnerungen hätte ich aber auch verzichten<br />

können, dacht ich mir manches Mal.<br />

Wieviel Schmerz wäre mir erspart geblieben, wär ich nicht<br />

so neugierig gewesen — auf ein Leben außerhalb des bisherigen.<br />

Wieviel glaubte ich wissen zu müssen über mich, ohne zu<br />

bedenken, wieviel Schmerz Kindheitsprägungen bedeuten<br />

können?<br />

Wissen zu wollen, unbedingt, wer ich bin, warum ich so bin,<br />

wie ich bin — das versprach ich mir von Gesprächen, Analysen<br />

und dem Körpergedächnis, ohne zu ahnen, dass die<br />

Seelenlandschaft und die Verwirrung uferlos sein können.<br />

Wer wäre ich geworden, ohne all dem, hab ich mich oft<br />

gefragt und dabei meine Neugier verflucht und doch…die<br />

Erinnerungen sind ein Teil von mir und warten darauf, neu<br />

aufgerollt zu werden, von der Person, die ich heute bin,<br />

erwachsen genug, um die Schubladen neu zu ordnen und<br />

dabei schon längst Vergessenes neu zu definieren und zu<br />

bewerten mit der nötigen Portion Verständnis auch dafür,<br />

dass manches nie heilen kann, aber umarmt werden will<br />

von mir.<br />

Susanne Klinger<br />

Geb. und aufgewachsen in U-Hausmening; Tanz &. Waldpädagogin,<br />

Dipl. Sozialpädagogin; geht gerne ins Theater und ins Kino;<br />

liest Gedichte und versucht sich seit kurzem im Schreiben; besonders<br />

die 45 - Sec. Texte bei den Schreibwerkstätten der LitGes<br />

(jeden 1. Mittw. um 18 h im Büro) haben es ihr angetan.<br />

Prosa<br />

©Gotthard Obholzer, Atelieransicht Stubaital


Holz|Oktober 2016<br />

51<br />

Gerhard Benigni<br />

Und die Säge, die hat Zähne...<br />

Schnitt. Blattwechsel.<br />

Weinkrampf (nicht zu verwechseln mit „Mein Kampf“)<br />

Anne und Frank. Unsäglich verliebt. Romantik purpur.<br />

Roter Faden. Liebe. Lust. Leidenschaft. Anfangs. Später<br />

dann. Leiche. Verstümmelt. Säg sie, säg sie, Lover. Mehrere<br />

Teile. Ohne Happy End.<br />

Schnitt. Blattwechsel.<br />

Blattgold<br />

Das beschwingte Sägewerk „Blattgold“ wurde von dem<br />

Holzgroßindustriellen und Gelegenheitskomponisten Johann<br />

Blatter ursprünglich bereits im Jahr 1973 als Einmannstück<br />

für Holzsägeinstrumente konzipiert.<br />

Nach zahlreichen Überarbeitungen wurde es vergangenen<br />

Mai im Kalkbergstadion von Bad Segeberg als Orchesterversion<br />

für singende Sägen uraufgeführt. Siebenundsiebzig<br />

singende Sägen, unplugged, ohne Beteiligung von<br />

Motor-, Kreis- und Stichsägen, vom Blatt gespielt. Die<br />

handverlesenen Stücke reihten sich unter der zackigen<br />

Dirigenz von Jan Schneider nahtlos aneinander. Besondere<br />

Beachtung fand das mit Spannung erwartete Laubsägensolo.<br />

Die mehrminütige Präzisionsarbeit des virtuos<br />

hantierenden Solisten Erich Holzer begeisterte maßlos<br />

und rührte das fachkundige Publikum vorwiegend in den<br />

vordersten Reihen zu Spänen in den Augen.<br />

Das Grande Finale bildete ein schnittiges Vierergespann<br />

aus Bogensägern, das durch heulende Fuchsschwänze<br />

untermalt wurde.<br />

Mit etwas Verspätung setzten kurz vor Ende zwei Zugsägen<br />

ein. Dieser kleine Schnitzer wurde jedoch professionell<br />

überspielt, ohne der Aufführung den Wind aus den<br />

Sägen zu nehmen. Alles in allem kann der gelungene Konzertabend<br />

als ein Sägen für die anwesende Menschheit<br />

angesehen werden. Schenkt man dem Bad Segeberger<br />

Lokalblatt Glauben.<br />

Schnitt. Blattwechsel.<br />

Die zersägte Jungfrau<br />

Das hat sie nun von ihrer ständigen Forderung nach Halbe-Halbe.<br />

Beim Wein spricht man von Gärung.<br />

Auch beim Holz. Die damit bezeichnete Eckverbindung<br />

von zwei Holzteilen schreibt sich jedoch anders, nämlich<br />

mit e und h.<br />

Begehrt sind seltene und teure Weine. Doch auch die können<br />

mitunter holzig schmecken, ohne dass es sich gleich<br />

um einen Verschnitt handelt.<br />

Und trinkt man zu viel Wein, besteht die Gefahr, Gicht<br />

zu bekommen und keinen Weinkrampf. Aber geeichte<br />

Kampftrinker kennen keinen Scherz.<br />

Schnitt. Blattwechsel.<br />

Unrunning Sushi<br />

Nokogiri. Das klingt doch nach Nigiri-Sushi. Mjam, jam,<br />

jam. Sofort online bestellen. Doch stopp! Halt! Wo geht<br />

denn der Link hin? Sägenspezi – der Sägenzubehörspezialist.<br />

Und was steht da? Nokogiri arbeitet auf Zug. So, so,<br />

ein japanischer Lokführer? Nein, so einfach lässt sich das<br />

nicht ins Deutsche übertragen. Nagasaki ist schließlich<br />

auch kein kleiner Reisweinbeißer. No way. No-go. Nokogiri<br />

ist eine sehr sensible japanische Säge, die infolge ihrer<br />

geringen Blattstärke und der fehlenden Schränkung unter<br />

Druck keine Leistung bringt. Klein und fein. Von wegen<br />

big in Japan.<br />

Schnitt. Blattwechsel.<br />

Musculus serratus anterior<br />

Der vordere Sägemuskel gehört zur hinteren Gruppe der<br />

Schultergürtelmuskulatur. Die Bezeichnung „serratus“<br />

bedeutet sägezahnartig und stammt vom gezackten Ursprung<br />

des Muskels an den Rippen.<br />

Bei einer Brustvergrößerung mittels Silikonimplantat<br />

spielt der vordere Sägemuskel eine besondere Rolle. Das<br />

Implantat kann so eingesetzt werden, dass es fast komplett<br />

mit Muskulatur bedeckt wird. Das Implantatfach<br />

besteht dabei zum Teil aus den gelösten Ansätzen des<br />

Sägemuskels und bietet dem Silikongelkissen somit einen<br />

Rundumaufprallschutz.<br />

Prosa


52 Holz|Oktober 2016<br />

Schnitt. Blattwechsel.<br />

Schnitt. Blattwechsel.<br />

Nicht schlecht, Herr Brecht!<br />

Um es mit Brecht zu sagen, nicht mit Marianne Sägebrecht,<br />

sondern mit Bertolt: „Wer die Dreigroschenoper nicht ehrt,<br />

ist den Messer nicht wert.“ Kein Fallfehler. Der Messer.<br />

Der Mackie. Nicht Donald’s. Mackie Messer. Dieser Hurensohn.<br />

Spannende Figur. Ein berühmt-berüchtigtes Theaterstück.<br />

Mit Vorspiel und schmutzigen Bildern. Doch erst<br />

die Musik macht das Werk zu einem kurtweilligen Stück.<br />

Die Platte besteht nicht aus Vinyl, sondern aus Ede, Jimmy,<br />

Münz-Matthias, Hakenfinger-Jakob, Trauerweiden-Walter<br />

und Säge-Robert. Mackies Gangstertruppe. Und die arme<br />

Polly Peachum rennt durch die Hochzeit mit Mackie voll ins<br />

offene Messer. Der Groschen fällt. Zwei weitere auch. Dann<br />

der Vorhang. Großes Kino.<br />

Anmerkung: In der aktuellen Inszenierung am Theater an<br />

der Wien stimmbändigt Tobias Moretti die Moritat von Mackie<br />

Messer.<br />

Allgemeiner Tenor: gar nicht zum Einrexen. Nur Schäfer-Elmayer<br />

vergriff sich bei seiner Kritik im Ton und tanzte damit<br />

aus der Reihe.<br />

Szegediner Gulasch im Zwiespalt mit der österreichisch-ungarischen<br />

Diphthongie<br />

Ausgesprochen gut hat es geschmeckt. Doch Geschmäcker<br />

sind bekanntlich verschieden. Aussprachen auch.<br />

Szegediner leitet sich unumstritten von Szeged [ßägäd] ab,<br />

einer Stadt im südlichen Ungarn. Unabhängig vom Würzgrad<br />

beginnend mit scharfem S. Kein Schegediner. Und ä<br />

statt e. Indessen kommt bei Gulyás ein sch am Ende. Sch<br />

statt s. So ein Gulyás, das ist ein Rinderhirt. Wenn man<br />

also schon meint, das Szegediner mit anderen Gulaschen<br />

in einen Topf werfen zu müssen, dann zumindest bitte nicht<br />

mit Schweinefleisch.<br />

Das Schweinsgulasch heißt nämlich Pörkölt oder Paprikás.<br />

Mit sch, eh schon wissen. Doch dieses Fettnäpfchen sollte<br />

man lieber auslassen und stattdessen gleich einen ausgelassenen<br />

Mulatschag feiern. Da denken bestimmt alle<br />

an Piroschka. Oder doch besser bei einheimischer Hausmannskost<br />

à la Hackschnitzel bleiben?<br />

Schnitt. Blattwechsel.<br />

Schnitt. Blattwechsel.<br />

Stichwort Stichsäge<br />

Sprichwörtliche Randnotiz<br />

Wo gesägt wird, fallen Späne. Wo gespannt wird, fallen Hüllen.<br />

Nur weil zuerst die Kreissäge unrund läuft und einen dann<br />

auch noch die Stichsäge im Stich lässt, muss man nicht<br />

gleich vom Fluch und Sägen der modernen Technik sprechen.<br />

Schnitt. Blattwechsel.<br />

Schnitt. Blattwechsel.<br />

Uneingeschränkte Schlussoffensive<br />

Gehet hin mit Gottes Sägen!<br />

Weibliche Prostatabeschwerden<br />

Prosa<br />

Die Sägepalme ist eine zwittrige Fächerpalme. Ihr Stamm<br />

steht selten aufrecht und ist mit ausdauernden Blattscheiden<br />

bedeckt. Aus den Früchten der Sägepalme werden<br />

Phytopharmaka gegen benigne Prostatahyperplasie gewonnen.<br />

Was manche Feministin extremeren Auswuchses<br />

dabei auf die Palme bringt: Entgegen sämtlichen Bestrebungen<br />

der Gleichbehandlung bleibt die gutartige Vergrößerung<br />

der Vorsteherdrüse auch weiterhin ausschließlich<br />

Männern vorbehalten.<br />

Gerhard Benigni<br />

Wurde 1973 in Villach geboren. Dort lebt, arbeitet und schreibt<br />

er auch. Sein erstes Buch „Fertigteilparkettboden. Im Niedrigenergiereihenhaus.“<br />

ist 2015 erschienen, sein zweites Buch „Der<br />

Usambaraveilchenstreichler auf dem Weg zum Südpol“ im April<br />

2016 bei SchriftStella. Mehr über den Autor: www.gerhardbenignialleineistdochvielzukurzalshomepagename.at


Holz|Oktober 2016<br />

53<br />

Heinz Zitta<br />

Der Resonanzboden<br />

Herr Paul macht eine Führung durch das neu adaptierte<br />

Resonanzmuseum.<br />

„Bitte achten Sie auf den Klang Ihrer Absätze auf dem Holzfußboden.“<br />

Was meint er?<br />

„Nein, mit Turnschuhen geht das nicht. Vielleicht die Dame<br />

hier?“<br />

Er zeigt auf eine Besucherin mit rotem Minirock, pinken<br />

Strümpfen und roten, hochhackigen Schuhen.<br />

„Würden Sie für uns einmal mit Ihren Absätzen im Takt<br />

klopfen?“<br />

Dabei tippt er selbst mit seinen Schuhen ein Da-da-da-da<br />

auf den Boden.<br />

Die pink bestrumpfte Dame wirkt sichtlich überrascht, aber<br />

dann folgt sie der Aufforderung und klappert mit ihren High<br />

Heels ebenfalls da-da-da-da.<br />

„Hören Sie, der warme Klang? Das ist Fichte.“<br />

Wo bin ich hier gelandet? Holzsorte erkennen durch Absatzklappern?<br />

„Und wenn Sie mir in den nächsten Raum folgen“, fährt<br />

Herr Paul fort, „dann kann ich Ihnen den Unterschied zwischen<br />

Ahorn und Buche erklären. Hier, die linke Hälfte des<br />

Raums ist hochwertiges Ahornfurnier.“<br />

Furnier als Parkettboden? Ist das nicht etwas dünn?<br />

„Wir verwenden mehrschichtig verleimte Ahornfurniere,<br />

um den gewünschten Klang zu erreichen. Bitte, gnädige<br />

Frau, könnten Sie für uns wieder?“<br />

Und er deutet mit seinen Schuhen an, dass Frau Pinkstrumpf<br />

nochmals ihre High Heels einsetzen soll. Was sie<br />

auch gleich tut, diesmal mit mehr Selbstbewusstsein und<br />

beachtlichem Rhythmusgefühl: daa, da-daa, da-da-da-dada-daaa.<br />

Die anderen Besucher lachen. Was ist das hier? Eine kindergerechte<br />

Darstellung, um den an sich trockenen Museumsalltag<br />

aufzulockern? Oder hat das doch einen ernsthaften<br />

Hintergrund?<br />

„Diese Schaustücke …“, beginnt Herr Paul seine Erklärung.<br />

Schaustücke? Aber der Raum ist doch ganz leer?<br />

„Diese Schaustücke …“, setzt Museumsführer Paul nochmals<br />

an und zeigt auf den Holzfußboden, „sind Leihgaben<br />

der Firma Bösendorfer. Die Firma hat über 100 Jahre Erfahrung<br />

mit der Holzauswahl für Resonanzböden.“<br />

Wen interessiert die Resonanz eines Holzfußbodens? Bösendorfer?<br />

Machen die nicht Klaviere?<br />

„Die Resonanzböden“, erklärt Herr Paul, „sind das Geheimnis,<br />

das Know-how schlechthin der Bösendorfer Konzertflügel.<br />

Der durch die Kombination von Fichte, Ahorn und<br />

Buche erreichte Klang ist weltweit einzigartig.“<br />

Aha! Und weil das beim Klavier „Resonanzboden“ heißt,<br />

kann man ihn auch auf dem Boden verlegen und so zu<br />

einem Museumsstück machen, wird mir die Sache allmählich<br />

klar.<br />

„In diesem Haus, dem Resonanzmuseum der schönen<br />

Klänge, werden alle Stimmen eingefangen und wie durch<br />

einen riesigen Resonanzboden verstärkt.“<br />

Herumtrampelnde Besucher mit Stöckelschuhen als Quelle<br />

schöner Musik? Ein ganz neuer Ansatz und billiger als eine<br />

Eintrittskarte für das Neujahrskonzert.<br />

Heinz Zitta<br />

Geb.1950, lebt in Villach und arbeitete als Entwicklungs-<br />

Ingenieur in der Elektronik-Industrie. Kreatives Schreiben<br />

ist für ihn ein willkommener Ausgleich zu den exakten Anforderungen<br />

seines technischen Berufs.<br />

Seine literarischen Interessen umfassen Kurzgeschichten,<br />

Satire und Reiseberichte. Bisher einige Veröffentlichungen<br />

in Anthologien. heinz.zitta@netcompany.at<br />

Prosa


54 Holz|Oktober 2016<br />

Vereinsleben<br />

Schreibwerkstätte im Schloss Drosendorf<br />

Zum 14. Mal residierte die LitGes St. Pölten im Schloss<br />

Drosendorf.<br />

Im historischen Ambiente weilten 14 AutorInnen aus<br />

ganz Österreich anläßlich der Schreibwerkstätte und holten<br />

sich vom Schloss, der schönen Altstadt sowie dem<br />

Schlossgarten innerhalb und ausserhalb der Mauern zahlreiche<br />

Ideen.<br />

In dieser Schreibwoche, unter der Leitung von Eva Riebler,<br />

Obfrau der LitGes, wurden am Morgen zur Auflockerung<br />

innerhalb von 45 Sek. Schreibzeit Texte erstellt. Die Themenvielfalt<br />

dieser kurzen Miniaturen oder Assoziationen<br />

war groß: z.B. Nacktschnecke, Umleitung, Ackerblume.<br />

Grüßen, Kaiser, Rolle, Watte, Schluss oder Strich….<br />

Themen zu oft nur 20 Min. Arbeitszeit lauteten wie folgt:<br />

Geh`ma Schaumrollen schaun!, Und wie kommst Du auf<br />

diese Idee?, Wem die Stunde schlägt!, Holzweg, Maske,<br />

Bachbett, Er hängte ihr eine Kette um, …Und jetzt Luft<br />

und Liebe!, Ich grüße Dich!, Blick zum Himmel ….<br />

Fotos©Eva Riebler-Üleis<br />

1. Reihe von links: Christine Huber, Christine Korntner, Gerti Artner, Renate Katzer, Milena Guger-Zuser, Eva Riebler, Elfriede<br />

Starkl, Ernst Punz<br />

2. Reihe von links: Marlen Kühnel, Eva Maria Miksche, Hans Peter Ausserhofer, Ingrid Messing, Gabriela Bellevue, Karl<br />

Michael Miller


Vereinsleben Holz|Oktober 2016<br />

55<br />

14. Lesung der Literarischen Gesellschaft =<br />

Litges St. Pölten im Weiß Bad von Drosendorf,<br />

sogenannte Kabinenlesung.<br />

Ihre Prosa und Lyrikwerke wurden in einer Abschlusslesung<br />

am 4. August 2016 im ehemaligen alten Bad, genannt Weiß<br />

Bad am Ufer der Thaya ab 16 Uhr dargeboten.<br />

Es wurde zeitweise aus einer Holzumkleidekabine vorgetragen.<br />

Die TeilnehmerInnen konnten sich über langjährige<br />

BesucherInnen und neue ZuhörerInnen freuen. Die zauberhafte<br />

Kulisse des Naturbades, schönes Wetter und sehr abwechslungsreiche<br />

und kreative Wortschöpfungen mit zum<br />

Teil schauspielerischen Einlagen trugen zum großen Erfolg<br />

der Lesung bei.<br />

Die Stadtgemeinde Drosendorf unterstützte die LiteratInnen<br />

mit Beistellung der Sesseln, Tische und einer Aussendung<br />

in der Gemeindezeitung.<br />

Dafür herzlichen Dank .<br />

Gertraud Artner<br />

Thema: Er hängte ihr eine Kette um<br />

Die Kettenfrau<br />

Mit kräftigen Bürstenstrichen beendete Sissi ihre tägliche<br />

Abendtoilette. Sie hob den Kopf und betrachtete ihr Spiegelbild:<br />

Nicht schlecht für ihr Alter, sie konnte zufrieden<br />

sein. Das meinte wohl auch Herrmann, der mit leuchtenden<br />

Augen hinter sie getreten war. Er legte ihr eine Kette um<br />

den Hals und flüsterte in ihr Ohr:“Für immer mein!“<br />

„Ach, Herrmann“, schmunzelte Sissi,“du hast unseren<br />

Hochzeitstag nicht vergessen. Erinnerst du dich noch<br />

an das Lebkuchenherz, das du mir damals am Kirtag geschenkt<br />

hast? Für immer Dein - so muss es heißen!“ Herrmann<br />

blieb ernst, seine Hände lagen jetzt auf ihren Schultern<br />

und hielten sie fest. „Unsinn“, brummte er,“du gehörst<br />

mir. Das war die letzten 33 Jahre so und daran wird sich<br />

auch in Zukunft nichts ändern.“<br />

Sissi fröstelte, ihre Nacktheit unter dem dünnen Nachthemd<br />

wurde ihr unangenehm bewusst. Die Kette lag<br />

schwer auf ihrer Brust und schnitt Ihr in den Nacken. Doch<br />

nach 33 Ehejahren konnte sie eine Szene wie diese nicht<br />

wirklich überraschen, ebenso wenig die dezente Whiskyfahne<br />

Herrmanns, die sie beiläufig registrierte.<br />

Mitt einer geschickten Drehung entwand Sissi sich dem<br />

Griff ihres Mannes und blickte ihm in die Augen. Dann<br />

bewegte sie sich ein paar Schritte zurück. Wollte sie tanzen?<br />

Es war eher ein Hüpfen, wie Flugversuche, zuerst nur<br />

einzelne kleine Sprünge, dann immer schneller, die Kette<br />

hüpfte mit. Immer höher und wie von Sinnen sprang Sissi<br />

mit klirrender Kette um den völlig erstarrten Herrmann und<br />

rief: “Na los, worauf wartest du? Lass uns anstoßen auf diesen<br />

Freudentag!“<br />

Thema: Blick zur Wand<br />

Über die Bedeutung des freien Blickes<br />

Ich möchte nicht so weit gehen, Bewohnern enger Gebirgstäler<br />

von vorneherein einen Hang zur Engstirnigkeit zu unterstellen.<br />

Ebenso wenig ist das Leben in weitläufigen Ebenen<br />

ein Garant für geistige Weitsicht und Aufgeschlossenheit.<br />

Für meine Person kann ich aber mit Sicherheit sagen: Wenn<br />

mir etwas wirklich unangenehm ist, dann ein Sitzplatz mit<br />

Blick zur Wand. Um wie viel gemütlicher, ja privilegierter<br />

hingegen ist es, mit dem Rücken zur Wand die Räumlichkeiten<br />

zu überblicken, die Geschehnisse zu verfolgen, auch<br />

aktiv teilzunehmen: Kellner rufen, Gäste beobachten und<br />

kommentieren, Bekannte begrüßen... einfach herrlich!<br />

Der erzwungene Blick zur Wand über längere Zeit ist Folter,<br />

Folter, Folter. Es macht mich rasend, wenn ich an die grausamen<br />

Strafen in der Volksschule vor gar nicht so langer<br />

Zeit denke: in der Ecke stehen mit Blick zur Wand. Schande<br />

über euch Sadisten und Kinderquäler! Möget ihr in der Hölle<br />

schmoren!<br />

Gabriela Belveus<br />

Blick zur Wand<br />

Vater hatte ihr ein ganz kleines Lied beigebracht am Klavier.<br />

So wie Vater wollte sie einmal spielen! Hingerissen von den<br />

Melodien und direkt aus dem Himmel fallenden Klängen,<br />

die aus Vaters warmen Händen flossen, einfach aus seinen<br />

Fingern kamen. Sie hatte ihn gebeten, es ihr beizubringen.<br />

Aber jetzt.<br />

Auf dem weißen Laken klopfen die Kinderfinger.


56 Holz|Oktober 2016<br />

Vereinsleben<br />

Nichts klang, auch im Kopf hörte es auf zu klingen. Zuhause<br />

war weit, weit weg.<br />

Zwölfbettzimmer.<br />

In der Nacht war die Mutter erschienen, schöner noch, viel<br />

schöner als sie jemals schön war.<br />

Den Blick der Mutter einsaugen. Der nur für sie geneigte Kopf<br />

der Mutter schnitt dem Kind in die Seele. Ins Herz, das konnte<br />

sie nicht sagen oder fühlen oder denken. Daran war sie<br />

vor wenigen Tagen operiert worden. Denken konnte sie überhaupt<br />

nicht, nur schwer daliegen und hin und wieder weinen.<br />

Seele, so was hatte sie in Religion gehört. So was gibt es. So<br />

was hat sie bestimmt. Wunderbar hell und wirklich muss die<br />

sein, wenn auch unsichtbar.<br />

Im Blick die Wand mit den cremeweißen Einbaukästen –<br />

wenn doch, dann in welchem, aber ob überhaupt, - war ihr<br />

Trevira-Faltenröckchen aufbewahrt worden? Mit dem sie<br />

hierher gekommen, das hier deponiert worden war! Denn nie<br />

hatte sie in den so kurzen und wenigen Momenten des Öffnens<br />

eine auch nur winzige materielle Spur des Röckchens<br />

erspähen können – was eine große Sehnsucht war, nach<br />

einem lieben Gruß einer milden und vertrauten Welt.<br />

Sie hätte es so gerne gesehen, ihr Rockerl.<br />

Im tausendsten Blick zur Wand, nichts eingefangen, nichts<br />

aufgetaucht. Und nirgends mehr die Augen der Mutter.<br />

Eine Stunde mit Straßen- und Stadtbahn, hatten sie ihr erklärt.<br />

Ausschließlich sonntags zwischen 13h30 und 14h30<br />

Besuchszeit.<br />

Es muss erwähnt werden, die Operation ist gelungen.<br />

Und die Besuchszeiten haben sich grundlegend verändert<br />

und verbessert. Kein Vergleich.<br />

Milena Guger -Zusser<br />

Thema: Holzweg<br />

Holzweg<br />

Wie kamst du auf die Idee<br />

das Licht abzudrehen<br />

die Türen zu öffnen<br />

aus dem Haus zu gehen<br />

und den Rosenstrauch verwelken zu lassen?<br />

Wie kamst du auf die Idee<br />

das Gras über Geschichten wachsen zu lassen<br />

die erzählt gehört<br />

die aufgeschrieben<br />

die eingebrannt in die steinerne Mauer<br />

ihren Platz haben<br />

wie Springbrunnen<br />

mit Glasperlen leicht<br />

wollte ich das Zeitlose aufbewahren<br />

der Sprung in der Mauer<br />

hat mir gezeigt<br />

es ist gut das Chaos<br />

die Mauer lebt<br />

Sie erzählt das Namenlose<br />

die Geschichten die erzählt<br />

werden könnten<br />

und sich im Winde verlieren<br />

der Sprung in der Mauer<br />

ist weit zu sehen<br />

Tannennadelhaar<br />

Ich raste<br />

Leben im Galopp<br />

die Pferde keuchten<br />

und ließen ihre feuchten Leiber glänzen<br />

Loch im Waldboden stoppte meinen Highway<br />

Tannennadelhaar<br />

im braunverschmierten Gesicht<br />

ließen bläuerne Sternenbilder<br />

meine Nase kitzeln<br />

erdiges Lachen wehte im Wind<br />

Holzweg ward Gold Weg<br />

geworden


Vereinsleben Holz|Oktober 2016<br />

57<br />

Ernst Punz<br />

Thema A: Der Pfau schlägt ein Rad<br />

stammte aus dem kleinen Nest Straßing. Doch sein künstlerischer<br />

Einfallsreichtum machte es ihm leicht aus Namen<br />

und Ort einen Künstlernamen zu formen: Holzweg.<br />

Was macht der Pfau mit seinem Rad?<br />

Pfau hieß mit wirklichem Namen Olivian Zanck. In jungen<br />

Jahren hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht hat, bei<br />

Gelegenheiten, in denen man Ausdrücke wie toll, super<br />

oder wow ausruft, einfach nur „pfau“ zu sagen. Es war unvermeidlich,<br />

dass ihn seine Spielkameraden und Schulkollegen<br />

nicht Pfau nannten.<br />

Pfau war sonst ein lieber Mensch, belesen, gebildet und<br />

meist ein wenig vorsichtig und zurückhaltend. Das einzige<br />

Negative das man über Pfau sagen konnte, ist, dass<br />

er Opernsängerinnen nicht mochte und gelegentlich faule<br />

Witze über sie machte. Pfau war ein begeisterter Sportler,<br />

aber leider auch ein wenig jähzornig.<br />

Eines Tages, Pfau nahm damals an den Krähwinkler Radsporttagen<br />

teil, passierte es. Pfau fiel von seinem Mountainbike.<br />

Wäre dies im tiefen Wald passiert, auf der grünen<br />

Heide oder auf der hohen Alm, hätte es weiter kein Aufsehen<br />

gemacht. Das Missgeschick ereignete sich aber in<br />

der Zieleinfahrt. Zahlreiche Menschen säumten den Pfad<br />

zum Ruhm und jubelten Pfau zu. Dieser riss voreilig, zirka<br />

18 Meter vor dem Ziel, die Hände in die Höhe, begann zu<br />

schlingern, stürzte auf den Asphalt.<br />

Jeder andere Radsportler wäre in dieser Situation wieder<br />

aufgesprungen und mit nur wenigen Sekunden Verspätung<br />

durchs Ziel gebraust. Hier aber wurde Pfau sein Jähzorn<br />

zum Verhängnis. Wie wild drosch er auf sein Mountainbike<br />

ein. Dem Radioreporter, der vom Rennen live berichtete,<br />

blieb zuerst die Spucke weg, konnte sich jedoch nach einigen<br />

Schrecksekunden wieder sammeln und wollte den<br />

Zuhörern zuhause an den Radiogeräten die Dramatik der<br />

Augenblicks in seiner ganzen Aggressivität schildern und<br />

brüllte in sein Mikrofon: „Pfau schlägt sein Rad.“<br />

Ob man ihn zu den bildenden Künstlern zählen durfte oder<br />

zu den Poeten oder gar zu den Komponisten, das war sein<br />

ganzes Leben hindurch nicht wirklich zu klären. Immer<br />

dann, wenn ihm eine Bilderausstellung gelungen war und<br />

auch Niederschlag in der Presse gefunden hatte, drängte es<br />

ihn zur nächsten Kunstform. Herrlichen Gemälden folgten<br />

großartige Gedichte und diesen wieder Oratorien, die in ihrer<br />

Größe und Gewalt mit Leichtigkeit jeden Kirchenchor<br />

überforderten. Holzweg ließ sich nicht gerne einordnen.<br />

Bis schließlich ein im Grunde wohlgesonnener Kulturkritiker<br />

den Fehler beging, am Schluss einer wohlwollenden Kritik<br />

anzumerken, das Holzweg ein noch viel größerer Künstler<br />

sein könnte, als er schon sei, wenn es ihm endlich gelänge,<br />

all seine kreative Kraft zu bündeln und er sich nur mehr<br />

in einer einzigen Kunstgattung verwirklichen würde. Der<br />

Kulturkritiker, ein feinsinniger Formulierer, hatte sich zu<br />

allem Überdruss auch noch hinreißen lassen, seine Kritik<br />

mit dem auf der Hand liegenden, aber banalen Kalauer zu<br />

beenden: Holzweg, sie sind auf dem Holzweg! Dieser eine<br />

Satz, der wirklich keine literarische Großtat war und nicht<br />

einmal Leute zum Schmunzeln brachte, die sonst über Bierzeltwitze<br />

lachen, hatte Holzweg, man kann es nicht anders<br />

sagen, das künstlerische Genick gebrochen.<br />

Tagelang grübelte Holzweg in seiner Stube, wechselte sodann<br />

in seine Galerie, um dort ebenfalls tagelang zu grübeln.<br />

Schließlich begab er sich in die Dorfkirche von Straßing<br />

und erklomm die Chorempore. Nacheinander riss er<br />

alle hölzernen Orgelpfeifen aus ihren Verankerungen – die<br />

Orgelpfeifen aus Zink interessierten ihn nicht – und warf<br />

sie in hohem Bogen hinunter ins Kirchenschiff. Dies wäre<br />

vielleicht zu verheimlichen und in aller Stille zu reparieren<br />

gewesen, wenn nicht zur selben Zeit der sonntägliche Gottesdienst<br />

mit versammelter Kirchengemeinde stattgefunden<br />

hätte.<br />

Thema: Holzweg<br />

Erinnerungen an Holzweg<br />

So geschehen an einem drüben Novembersonntag im Jahre<br />

Schnee. Seither hat man von Holzweg nichts mehr gehört.<br />

Keine Gedichte, keine Oratorien und auch Bilder hat er keine<br />

mehr gemalt.<br />

Eigentlich hieß er mit bürgerlichem Namen Feichtinger und<br />

Was lehrt uns diese Begebenheit? Man soll erstens künst-


58 Holz|Oktober 2016<br />

Vereinsleben<br />

lerische Menschen nicht in Schubladen stecken, schon gar<br />

nicht in hölzerne. Und zweitens soll man auf keinen Fall<br />

Schabernack mit ihren Namen treiben. Man tut der Kunst<br />

damit nichts Gutes.<br />

Ingrid Messing<br />

Und hängte ihr eine Kette um: Schattenplatz<br />

Sie lag im Liegestuhl vor dem Ferienhäuschen. Sie bewegte<br />

sich nicht, hatte die Augen geschlossen. Das Buch:<br />

Erfolgreiche Lebensläufe war bei Seite 295 auf ihren<br />

Schoß geglitten. Keine der erfolgreichen Lebensläufe ist<br />

geschieden, dachte sie.<br />

Die Sonne drang in ihren Schattenplatz ein. Sie drehte sich<br />

von ihr weg. Das Buch fiel in den Sand.<br />

Ich könnte zum Strand gehen, die Nordsee mit den Füßen<br />

fühlen. Aber wenn er wiederkommt, verpassen wir uns.<br />

Sie horchte nach Motorengeräuschen von Autos. Schlafen<br />

würde nicht gehen, Kreuzworträtseln zur Not, mit den Leuten<br />

in den anderen Ferienhäuschen reden, unmöglich, im<br />

eigenen Ferienhäuschen alles umräumen, keine Lust.<br />

Sie schaute auf die Armbanduhr und seufzte nach innen.<br />

Jetzt war er schon drei Stunden weg. Allein.<br />

Für uns gilt: Jeder macht, was er will! Seine Stimme klar<br />

und hell um sie herum.<br />

Aber ich möchte gern mit rumfahren.<br />

Er hatte seine Augen zusammengekniffen, sie angesehen.<br />

Zusammen nur, wenn beide etwas zusammen machen wollen!<br />

Sie zog die Beine an und drückte sich tiefer in den Stoff<br />

des Liegestuhls.<br />

Ja, hatte sie gesagt.<br />

Drei Stunden und 15 Minuten weg, und die Sonne ließ<br />

auch nicht nach. Kein Schatten mehr. Sie versuchte ihr<br />

Gesicht noch mehr wegzudrehen.<br />

Sie griff in den Sand unter ihrem Liegestuhl ließ ihn zwischen<br />

den Fingern ihrer Hand hindurchgleiten. Immer wieder.<br />

Ja, so ging’s. So konnte sie warten.<br />

Wir sind zwei gleichberechtigte Partner! Seine Worte. In<br />

ihr.<br />

Sie griff nach den erfolgreichen Lebensläufen, fuhr mit<br />

dem Daumen über die Seitenränder und schob dann die<br />

Lebensläufe außer Reichweite.<br />

Hans Peter Ausserhofer<br />

Holzweg<br />

Buchführung eines Lebens/ Unvollständig und lückenhaft<br />

Ich bin auf dem Holzweg, war es schon immer, ohne es zu ahnen,<br />

und er führte mich hierher. Vorgezeichnet war er mir, eingeritzt<br />

in den Stamm meines Stammbaumes, das Erbe meiner<br />

Großväter und meines Vaters. Holz war ihr täglich Brot.<br />

Holz ist der vergängliche Körper eines Lebewesens. Mit seinen<br />

Wurzeln klammert es sich an Flussufer, an steile Berghänge,<br />

es dreht und verrenkt sich, bekommt Halt, gibt Halt.<br />

Fällt der Baum, geht das Leben, zurück bleibt Holz, das<br />

Fleisch des Baumes.<br />

Schon als kleiner Junge kletterte ich auf Bäume, verspürte<br />

dabei Angst, tat es dennoch – weiß der Teufel, warum.<br />

„Du wolltest ihn fühlen, den Holzweg.“<br />

Holzspielzeug, das ich verbinden konnte, das Holzkreuz in<br />

Großmutters Küche, die ungepolsterten hölzernen Kirchenbänke<br />

– frühe Kindheitserinnerung. In der Schule saßen wir<br />

auf Holzsesseln vor Holztischen.<br />

Damals waren die Fernsehgeräte fast so tief wie breit, das<br />

Programmniveau höher – oder ich weniger anspruchsvoll?<br />

– das Bild schwarz-weiß, der Kanalwechsel beschwerlich,<br />

der Sendeschluss berauschend. Captain Kirk und Mr. Spok<br />

suchten neue Welten und verscheuchten die Klingonen;<br />

Käpt’n Ahab humpelte mit seinem Holzbein über das Deck<br />

und hielt Ausschau nach Mobby Dick, Pinoccio erwachte zum<br />

Leben, war oft eine Nasenlänge voraus; in der Werkstatt von<br />

Schreinermeister Eder nistete sich ein Kobold ein, und der<br />

Film „Roots“ – Wurzeln – kratzte am glänzenden Lack der<br />

Vereinigten Staaten.<br />

Die Schule beendete ich mit mäßigem Erfolg. Der Schulweg<br />

war nicht der meine. Ich nahm den Holzweg, wurde Tischler.<br />

Möbeltischler.<br />

Möbel werden aus Spanplatten gemacht, und Spanplatten<br />

haben mit Holz so viel zu tun wie Fischstäbchen mit Fisch.<br />

Jahrelang tischlerte ich vor mich hin, Spanplatte für Spanplatte,<br />

Fischstäbchen für Fischstäbchen. Unzufriedenheit gärte<br />

in mir, ließ mich den Arbeitgeber wechseln, aber auch dort<br />

nur Fischstäbchen. Neuerlicher Wechsel und wieder Fischstäbchen…!<br />

Ich hatte mich verirrt, war auf dem Holzweg. Mir<br />

fehlte der Mut ihn zu verlassen, hatte Familie, Verantwortung.<br />

Womit sollte ich sonst unseren Lebensunterhalt verdienen?<br />

Konnte nur tischlern, sonst nichts.<br />

Ich begann wieder zu klettern, diesmal an Felswänden. Hatte


Vereinsleben Holz|Oktober 2016<br />

59<br />

dabei Angst, tat es dennoch – weiß der Teufel, warum.<br />

„Du armer Teufel, warst auf der Suche nach deinem Holzweg.“<br />

Zu zweit kletterten wir eine Wand hoch. Ich umklammerte<br />

Felsnasen, krallte meine Finger in Felsritzen. Auf einem Absatz<br />

stand ein kleiner, knorriger Baum. Es schien mir, als wäre<br />

er auf dem Holzweg. Hier oben, inmitten der Felsen, konnte<br />

doch unmöglich ein Baum wachsen. Aber er war da, und ich<br />

kletterte weiter, entlang der scheinbaren Unmöglichkeit.<br />

Noch immer tischlerte ich mit Fischstäbchen. Der Holzweg<br />

wurde zum Hohlweg, ohne Ausblick nach links und rechts,<br />

nur noch die fade Mitte. Versuchte herauszukommen aus<br />

dem Hohlweg, ihm zu entkommen, schaffte es nicht, die Böschung<br />

war hoch und sandig. Lustlos ging ich in und an die<br />

Arbeit.<br />

Es gibt Momente, die teilen das Leben in ein Davor und Danach.<br />

Ein Kabarett-Künstler kam in unsere Stadt. Zwei Monate<br />

zuvor kaufte ich zwei Karten, für meine Frau und mich.<br />

Aber bei der Vorstellung war der Platz neben mir leer. Uns<br />

beiden standen schwere Monate bevor, der Ausgang war ungewiss.<br />

Enttäuscht war ich vom Programm des Künstlers, doch dann<br />

teilte er mein Leben in ein Davor und Danach.<br />

In einem minutenlangem Redefluss hinterfragte er unsere<br />

Gesellschaft, blieb aber nicht bei Politik und Wirtschaft hängen,<br />

er hinterfragte auch den Bürger, den kleinen Mann von<br />

der Straße, letztendlich hinterfragte er uns, sein Publikum.<br />

Die Botschaft hinter den Worten – lasst euch nicht alles gefallen,<br />

nicht für dumm verkaufen, wir haben Verantwortung<br />

für das, was wir tun oder nicht tun.<br />

Er packte uns bei den Schultern, rüttelte uns auf, hielt jedem<br />

einen Spiegel vor. Tausend Menschen saßen vor tausend<br />

Spiegeln, und es wurde still. Kein Husten, kein Räuspern, kein<br />

Lachen, kein Applaus, nur Betroffenheit, weil es einen selbst<br />

betrifft. Mir sprach er aus tiefster Seele, endlich einer, der<br />

das sagt, was ich fühle. Ich sah auf den leeren Platz neben mir<br />

und begann zu klatschen. Langsam, mit Nachdruck klatschte<br />

ich als Erster in die Stille hinein, hörte ein zweites Klatschen,<br />

ein drittes. Am Ende waren wir nur fünf oder sechs, von tausend,<br />

die Position bezogen. Vielleicht hatten auch sie eine<br />

schwere Zeit vor oder hinter sich, und die Tausend nur Angst,<br />

sich zu blamieren. Für mich war es das erste Mal, daß ich<br />

mich so weit hinauslehnte.<br />

Ein Freund heiratete, wählte mich zum Trauzeugen. Ich suchte<br />

ein Geschenk und kam zum Schreiben. Erbärmlich waren die<br />

ersten Gehversuche, aber es machte Spaß.<br />

Zweiter Bildungsweg<br />

Papier ist Zellulose, und Zellulose ist Holz. Da war er wieder,<br />

mein Holzweg.<br />

Das schriftstellerische Schreiben erlernte ich in einer ausgedienten<br />

Prothesenmacherei. In den Kellerräumen lagen noch<br />

die hölzernen Füße und Beine, in der Werkstatt hingen die<br />

Werkzeugkästen, gefüllt mit Stemmeisen, Hobel, Säge, Hammer<br />

und Beißzange. Unter den Kästen Werk- und Hobelbänke,<br />

der Holzfußboden knarrte und ächzte bei jedem Schritt.<br />

Auf einer Fensterbank stand ein leerer Leimtopf, auf einer<br />

anderen ein Gipstopf, auch leer. Ich hab nachgesehen. Es<br />

war beinahe eine Tischlerwerkstatt, ähnlich jener von Meister<br />

Eder. Nur der Pumuckl fehlte. In diesen Räumen, in denen<br />

Versehrten Hoffnung gegeben wurde, lernte ich nicht nur<br />

das Schreiben, sondern auch das Fragenstellen. Wer fragt,<br />

braucht Mut. Ich aber hatte Angst, tat es dennoch; weiß der<br />

Teufel, warum.<br />

„???“<br />

Zuerst fragte ich nur mich selbst, schon bald tat ich es im<br />

kleinen Kreis von Freunden und Bekannten, redete nur leise,<br />

wurde mit der Zeit mutiger, lauter. Ausgelacht hat man mich<br />

selten, und wenn, dann meist zu Recht.<br />

Jetzt frage ich danach, ob es sein könnte, dass Schriftsteller<br />

und Literaten die Prothesenschnitzer einer Gesellschaft sind,<br />

die dafür sorgen, dass ein Volk noch wenigstens humpeln<br />

kann, nachdem ihm von Holzköpfen die Beine ausgerissen<br />

wurden. Und wer bitte pflegt die gepeinigte Volksseele, damit<br />

sie nicht so verkümmert wie die von Käpt’n Ahab?<br />

Bin ich mit diesen Fragen auf dem Holzweg?


60 Holz|Oktober 2016<br />

Vereinsleben<br />

Christine Huber<br />

Thema: Bachbett<br />

Ich sitze beim Bachbett am Kamp.<br />

Das rostbraune, eisenhaltige Wasser purzelt zwischen den<br />

riesigen Granitblöcken<br />

und verschiedenen Wasserläufen an mir vorbei.<br />

Purzelkamp, Großer Kamp, Kleiner Kamp, Stiller Kamp, Ritterkamp…<br />

Viele Namen haben die Kampflüsse bis sie sich zu einem<br />

großen Fluss vereinen.<br />

Lobet und preiset!<br />

Der Blick geht zum Himmel.<br />

Michael Klaus Miller<br />

Thema: Gemma Schaumrollen schauen<br />

Kirtag<br />

Das Wasser erzählt mir seine Geschichte.<br />

Es erzählt vom Meer, von Erdbewegungen, Naturkatastrophen,<br />

dem Werden des Flusses<br />

und von den Menschen, die in dieser unberührten Natur<br />

leben.<br />

Ich spüre die Kraft des Wassers.<br />

Geborgenheit, Zuversicht, Vertrauen, Liebe zur Schöpfung<br />

breiten sich aus.<br />

Ich werde ruhig.<br />

Ich bin glücklich.<br />

Thema: Blick zum Himmel<br />

Liebes-Himmel<br />

Rosen-Himmel<br />

Im 7. Himmel sein<br />

Zwischen Himmel und Erde<br />

Zornes-Himmel<br />

Himmelsleiter<br />

Tears in heaven<br />

Der Himmel heilt<br />

So-sei- es-Himmel<br />

Gnaden-Himmel<br />

Freuden-Himmel<br />

Jubilate- Deo-Himmel<br />

Alle Orte da<br />

tragen gemeinsam eisern<br />

Pflichtbewußtsein fort<br />

Gebäck auch nur Mehl<br />

oberflächlich, nicht aber<br />

Kennenlernlüste<br />

Überall und woher<br />

Schaumrolle muß sofort her<br />

wo bleibt Begegnung?<br />

Thema: Und jetzt Luft und Liebe<br />

Luft und Liebe<br />

Orchidee beginnt<br />

ihr Liebeswerben morgens<br />

Tautropfenspiele<br />

Der Kuß der Farben<br />

umarmt Liebespaar sanft, schön<br />

Neuentdeckungen<br />

Musik, die entspringt<br />

glühende Liebe bleibend<br />

Metamorphose<br />

Thema: Und, wie kamst du auf diese Idee?<br />

„Himmel“ - so lautet ein Bilderzyklus von mir.<br />

Er erzählt von verschiedenen Stadien und Zuständen hier<br />

auf Erden und im Himmel.<br />

Er endet mit dem goldenen Jubilate-Deo-Himmel.<br />

Unbekannt schön<br />

Gestern hatten sie sich getroffen. Am Brunnen. Das Wasser<br />

erzeugte kleine Regenbögen.


Vereinsleben Holz|Oktober 2016<br />

61<br />

Moos konnte man erkennen, wenn man genauer hinsah.<br />

Noch während des Kirtages war die Sympathie beider zueinander<br />

gestiegen. Sie, die an diesem Abend als Kellnerin<br />

während des Kirtages aushalf, hatte ihn gleich von Anfang<br />

an durch ihr geheimnisvolles Lächeln in staunendes Interesse<br />

versetzt. Dieses war geblieben.<br />

Kurz vor Ende des Festes hatte sich eine Gelegenheit zu<br />

einem kurzen Gespräch ergeben. Heute hatten sie sich getroffen.<br />

Die Spannung stieg. Ob er sie zuerst reden, fragen<br />

ließ? Aussagen, liebevoll gemacht, gleich hinterfragen. Wer<br />

bist du? Wie, woher bist du auf diese, jene Idee gekommen?<br />

Ihre Phantasie glich lichtleitendem Wasser, grün und doch<br />

in den buntesten Farben. Alles wie unter elektrischer Spannung.<br />

¨Du¨, ¨Du¨ ist da. Ansprache, umschlinge mich!<br />

Lasse mich dich entdecken!¨ Ich freue mich dich zu treffen!¨,<br />

sagte sie. Ihre Augen glänzten so wie während des<br />

Kirtages, strichen über mich. Ich hätte sie gerne geküßt.<br />

Doch dazu kam es noch nicht.<br />

Christine Korntner<br />

Thema: Gemma Schaumrollen schau’n<br />

Kirtagsmusi<br />

Von Geschäften heimwärts braust<br />

im flotten Cabrio der Doktor Zaust<br />

im dunklen Anzug mit Krawatte,<br />

weil er zum Umzieh’n sonst nichts hatte,<br />

nur seinen Laptop in der Taschen<br />

auf dem Sitz neben sich. Jetzt was zum Naschen,<br />

denkt er, und was zum Essen,<br />

drauf hätt ich fast vergessen.<br />

Und plötzlich, kommt ihm vor,<br />

drängt Kirtagsmusi an sein Ohr,<br />

und Bratenduft kommt auch in Wogen.<br />

Schon ist der Doktor abgebogen,<br />

um sich im Gedränge umzusehen<br />

und einen Hendlgriller zu erspähen.<br />

Bald darauf, mit einem Stanitzel,<br />

drin Pommes und ein Schnitzel,<br />

zieht er ein paar Runden,<br />

um unbemannte Weibsen zu erkunden<br />

für ein klitzekleines Abenteuer<br />

zur Geschäftsreisenquasiabschlußfeier.<br />

Unpasssend wie nur was<br />

im dunklen Anzug durch das Gras<br />

stapft er zum Schießstand, Ringelspiel,<br />

bis zum Tanzboden durchs Gewühl.<br />

Und dort, neben der Schank,<br />

sitzt ein blonder Engel auf der Bank.<br />

Er denkt: Ist das ein frischer Happen,<br />

den wird ich mir schnappen!<br />

Schnell wird das Schnitzel deponiert,<br />

mit Grandezza weltmännisch hofiert;<br />

das Mägdelein, verwirrt<br />

vom dunklen Anzug, wird entführt<br />

und hängt nun in seinem Arm<br />

mitten drin im Tänzerschwarm.<br />

Bald hört man den Doktor schnaufen:<br />

Schatz, was soll ich dir denn kaufen?<br />

Schaumrollen, eine oder zwei,<br />

haucht die schöne Lorelei.<br />

Und vom Zuckerschaum verklebt,<br />

hat das Mägdelein gebebt;


62 Holz|Oktober 2016<br />

Vereinsleben<br />

er hat ihr den Zucker weggeküsst,<br />

wie das so am Kirtag ist.<br />

Wieder zu Hause angekommen<br />

sieht er die Gattin nur verschwommen.<br />

Sie fragt: Wo treibst du dich herum?<br />

Er hängt ihr eine Kette um<br />

aus böhmischen Granaten,<br />

die viel mehr gekostet hatten<br />

als die Schaumrollen im blonden Haar –<br />

gestern, als es so viel schöner war.<br />

Thema: Und jetzt (……) Luft und Liebe<br />

Ödipus<br />

Lieb Mütterlein hat mich verlassen.<br />

Ich, Ödipus, steh’ auf der Strassen,<br />

ohne Schutz und ohne Halt.<br />

Wo ist eine weibliche Gestalt,<br />

die mich an ihren Busen drückt,<br />

in meine wunde Seele blickt,<br />

sich um den verlass’nen Buben kümmert,<br />

dem schon das Grau im Haare schimmert?<br />

Wer macht so gut wie Mutter<br />

für mich Mohnnudeln mit Butter?<br />

Wer bügelt mir jetzt meine Hosen,<br />

wem schenk ich zum Muttertag jetzt Rosen?<br />

Wer liebt mich ohne Hemmung,<br />

hilft mir aus der Verklemmung?<br />

Wer lehrt mich aktiv lieben, werben?<br />

Hab nur gelernt zu erben,<br />

bin Bewunderung und Lob gewohnt,<br />

wurd’ von jedem Misserfolg verschont.<br />

Welche Frau kann mich verstehn?<br />

Wie soll das mit mir weiter geh’n?<br />

Eine Idee hab ich jetzt nur:<br />

Ich fahr auf Krankenkassa-Kur.<br />

Elfriede Starkl<br />

Lesen im Waldbodenbuch<br />

Der Nadelteppich lässt die Schritte sanft einsinken. Hie<br />

und da ein Knacksen von einem Ast .Licht dringt kleinfleckig<br />

und zaghaft durch. Es ist zu dunkel, dass Gräser wachsen.<br />

Am Wegrand strecken sich Farne zur Sonne. Der Fichtenwald<br />

ist eng bepflanzt. Ich habe Mühe durchzukriechen.<br />

Da bildet sich ein Nadeldach, etwas Helles blitzt hervor. Ein<br />

Steinpilz, in der Nacht gewachsen, bahnt sich seinen Weg<br />

zur Luft. Wo ein Pilz wächst, ist ein anderer nicht fern. Als<br />

ob sie Blickkontakt wünschten! Unterirdisch ist ihre Verbindung,<br />

unsichtbar und geheimnisvoll. Mir scheint Zwerge<br />

wohnen unter Pilzen und Elfen treiben Schabernack mit<br />

mir, wenn sie einen Ast in Form eines Schwammerls auf<br />

den Weg legen. Ich liebe den Duft des dunklen Waldes,<br />

kann Pilze förmlich riechen. Frisch geschlagenes Holz verwöhnt<br />

die Sinne und Brombeeren überraschen im Herbst.<br />

Der Nadelwald steht immer grün, nur im Winter, in der Kälte,<br />

starrt er schwarz im Schnee.<br />

Renate Katzer<br />

Thema: Holzweg<br />

Der Flößer<br />

Stämme<br />

im tosenden Rausch<br />

des stürzenden<br />

Wassers<br />

verklausen sich<br />

Spielzeug in<br />

Riesenhand mit<br />

brüllendem Lachen an<br />

die Wand geschleudert<br />

so hast du mein<br />

Herzhaus zerschmettert<br />

meinen Gefühlen freien Lauf gelassen<br />

im ruhigen Wasser<br />

der Flößer leitet mich<br />

lautlos – wohin?


Vereinsleben Holz|Oktober 2016<br />

63<br />

Marlen-Christine Kühnel<br />

Thema: … und jetzt Luft und Liebe<br />

Genüsslich räkelt sie sich am Liegestuhl, ihre braungebrannte<br />

Haut glänzt im Duft von Kokosöl, ihre Augen ruhen<br />

unter dem Dunkel der grünumrandeten Brille.- Stille. -<br />

Diese wohltuende Unendlichkeit, ohne Zeit und Raum. Nur<br />

die Thaya strömt unbeeinflusst ihrem Ziel entgegen, um<br />

sich mit der March zu vereinen. Die Fluten brechen sich an<br />

den klobigen Felsen, die ihr den Weg versperren.<br />

Dieses Rauschen dringt unter die Haut, erfrischt die Sonnenbadende.<br />

Dort: Ein Vogel lockt mit seinem Gesang. In<br />

der Ferne rattert ein Motorrad. Drüben am Feld wird die<br />

Ernte eingebracht, der Mähdrescher wirbelt Staub auf. Mit<br />

sanfter Hand streicht der Wind ihr Gesicht. - Stille. -<br />

Nichts da, keine Gedanken stören die allumfassende Natur,<br />

die Schönheit des Augenblicks. Ein Blinzeln. Dort unten hat<br />

der Silberreiher seinen Beobachtungsposten eingenommen.<br />

Jetzt sind sie schon zwei, zwei Seelen an einem Fluss,<br />

eingebettet im Thayatal, fern von Hektik und Massenflucht,<br />

fern vom Alltag und Medientumult. Nur sie und er, der<br />

stolze Vogel dort. All das mitnehmen in die Schwüle der<br />

Stadt, aufs Nachtkastl stellen in schwülen Sommernächten,<br />

wenn die Gäste im Lokal unten durch die Straße grölen<br />

und offene Fenster keine Abkühlung bringen. Einrahmen in<br />

den silbernen Halter und auf die Wand hängen, als Panoramabild<br />

über den Schreibtisch. Ja, der Platz wäre gut! Dann<br />

könnte sie immer an diesen Sommer denken, an das Ufer<br />

der Thaya, an die wohltuende Stille, an den Silberreiher, der<br />

sich majestätisch in die Luft erhebt und den zappelnden<br />

Fisch davonträgt.<br />

Eingebettet in die kühlende Luft der Thaya träumt sie von<br />

der Liebe. Von dem, was sie früher als Liebe verstanden<br />

hat. Heute ist sie Liebe, nichts anderes.<br />

„Träumst du von mir?“ Im weichen Gras hat sie seine<br />

Schritte nicht gehört. Lautlos hat er sich ihr genähert. Jetzt<br />

steht er vor ihr. Bleich, vom Büroalltag gezeichnet, seine<br />

Augen müde.<br />

Ärgerlich erhebt sie sich. „Wie hast du mich gefunden?“<br />

„Ich kenne dich gut, ich weiß, wo du dich zurückziehst,<br />

wenn du flüchtest, wenn du unsere Beziehung in Frage<br />

stellst. Wenn du meinst von Luft und Liebe kann man leben!“<br />

„Ich tue es! Hier und jetzt! Und damit hast du nichts mehr<br />

zu tun! Bitte, lass mich in Frieden!“<br />

„Aber!“<br />

„Kein Aber!“<br />

„Wir müssen reden!“<br />

„Alles ist bereits gesagt!“<br />

Sie geht zum Ufer der Thaya, steigt die wenigen Stufen ins<br />

kühlende Nass und taucht unter. Die grüne samtige Flut<br />

umfängt sie, trägt sie weiter, lässt sie treiben, dorthin wo<br />

Liebe wächst ohne Frage, ohne Thesen, ohne Erklärungen,<br />

der die Mathematik zugrunde liegt.<br />

Flussabwärts taucht sie wieder auf. Der Liegestuhl bleibt<br />

ihm.<br />

Im Luftkurort wohnt Liebe. Ihr bleibt Drosendorf, die Thaya<br />

und die Stille.<br />

Und ihm? Fragen, nichts als Fragen ….<br />

45 Sekundentexte<br />

Umleitung<br />

Wohin? Ach geh,<br />

drüben, ein Schild ich seh,<br />

ein Schild, rot und weiß,<br />

dort gehts im Kreis,<br />

und hier das Feld …<br />

sich in den Weg uns stellt …<br />

Serviette<br />

Dein Honigmund …<br />

die Lippen so weich …<br />

die Serviette dient dazu<br />

deine Lippen zu berühren,<br />

ich wollte, ich wäre sie!<br />

Nacktschnecke<br />

Klebrig die Spur<br />

über den Weg,<br />

Löcher im Salat,<br />

eingeschleppt von irgendwo,<br />

wie so vieles heute!


64 Holz|Oktober 2016<br />

Vereinsleben<br />

Gertraud Artner<br />

Geb.1948 in St. Pölten, Dr. phil., Akademie der Bildenden<br />

Künste (Meisterkl. Hausner) u. Soziologie<br />

Uni. Wien. Ausbildung zur Maltherapeutin, lebt in<br />

Wien u. STP. Kunstvermittlerin. Im LitGes-Vorstand.<br />

Hanspeter Ausserhofer<br />

I bin da Hofer, da AusserHofer Hanspeter, 62er<br />

Jahrgang, bin Tiroler. Veröffentlichungen? Hob i<br />

erschreckend wenig! Auszeichnungen? Brauch i<br />

des? Freude beim Schreiben? Beschämend hoch!<br />

Renate Katzer<br />

Geb.1945. Schreibt immer am liebsten Gedichte.<br />

Veröffentlichungen in Anthologien. Gedichtband:<br />

„Ins Wort fallen“, Edition Weinviertel. Lyrikpreis<br />

2010, Forum Land NÖ. Lesungen.<br />

Ernst Punz<br />

Geb. 1960 in Scheibbs, schreibt Theaterstücke,<br />

Drehbücher auf Englisch für einen Spielfilm, war freier<br />

Mitarbeiter ORF-NÖ, NÖN, ist in der Emmausgemeinsch.<br />

StP tätig. Freund gepflegter Selbstironie.<br />

Ingrid Messing<br />

Geb. 1949 in Metzlingen/Deutschland, pensionierte<br />

Lehrerin, lebt seit drei Jahren in Niederösterreich,<br />

Veröffentlichungen in verschiedenen<br />

Literaturzeitschriften und Anthologien.<br />

Marlen-Christine Kühnel<br />

Lebt, arbeitet als Dichterin in Wien. Schreibt seit<br />

ihrer Jugend. Buchveröffentlichungen und Publikationen<br />

in: Innsalz, LOG, <strong>etcetera</strong> ..., vor allem Literatur<br />

mit NÖ- und Waldviertelschwerpunkt.<br />

Gabriela Belvues/Claudia Behrens<br />

Lebt, arbeitet in Wien u. einem kl. Dorf nahe Retz.<br />

Jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Faschismus<br />

u. Auswirkung in Familie u. Psyche. Hat große<br />

Familie, ist Pädagogin, Lebensberaterin.<br />

K. Michael Miller<br />

Lebt in Wien, Mag. Phil., studierte Politwissenschaften,<br />

Verwaltungsangestellter in St.Pölten.<br />

Spielt Gitarre, singt u. freut sich auf Drosendorf!<br />

Christine Huber<br />

Geb. in Wien, lebt in Herzogenburg.1983 Beginn<br />

der intensiven künstlerischen Auseinandersetzung<br />

und Studium Malerei und Grafik.<br />

Christine Korntner<br />

Geb. 1941/Wien, kaufm. Tätigkeit. Red. der lit.<br />

Zeitschr. BEGEGNUNG; Mitglied lit. Vereinigungen,<br />

schreibt Kurzprosa, Essays, Satiren, Gedichte, hält<br />

Vorträge zu Doderer, Keller, Nestroy, Erika Mitterer.<br />

Milena Guger-Zusser<br />

Wohnt in Scheibbs. Schreibt mit Leidenschaft, Lyrik<br />

und Prosa. 2011 Lyrikpreis, Forum Land „roter<br />

Mohn”. 2010 und 2011 Buchveröffentlichungen<br />

„Milenas Poesie, Milenas Sprachbilder”.<br />

Elfriede Starkl<br />

Geb. 1948 in St.Pölten, Tagesfreizeit, Drachen<br />

bauen, schreiben tut mir gut!<br />

Eva Maria Miksche<br />

Geb. 1943 in Wien, kaufm. Angestellte; tätig in<br />

wissenschftl. Aidsforschung; ehrenamtli im Allgem.<br />

Bildungshaus Kard. König; schreibt Kurzprosa<br />

und Lyrik.<br />

Eva Riebler-Übleis<br />

Geb. in Steyr, studierte Germanistik/Geografie<br />

u.a. in Salzburg. Bild. Künstlerin, intern. Ausstell.<br />

Rio bis Peking ... (Eisenradierung/Acryl/Öl), Leiterin<br />

d. Schreibwerkstätte, Litges, HG "<strong>etcetera</strong>".


Rezensionen Holz|Oktober 2016<br />

<strong>65</strong><br />

Manfred Chobot:<br />

Doktor Mord & Das Killerphantom.<br />

Minikrimis<br />

220 und 212 Seiten<br />

Löcker Verlag, Wien 2015<br />

ISBN 978-3-85409-749-5<br />

und 978-3-85409-768-6<br />

Jan-Eike Hornauer:<br />

Das Objekt ist beschädigt.<br />

zumeist komische Gedichte<br />

aus einer brüchigen Welt.<br />

München: muc Verlag<br />

GbR, 2016, 210 s.<br />

ISBN 978-3-9815181-5-3<br />

Max Porter:<br />

Trauer ist das Ding mit Federn.<br />

München: Hanser Berlin im<br />

Carl Hanser Verlag München,<br />

2015. 124 Seiten.<br />

ISBN: 978-3- 446- 24956-1<br />

Schwarze Krimis Schwarzes Cover, schwarze Geschichten,<br />

schwarze Titel: »Doktor Mord« und »Das Killerphantom«.<br />

Manfred Chobot brachte die zwei Bände<br />

seiner Minikrimis im Wiener Löcker Verlag heraus, 52<br />

und 36 Geschichten, und schwarz ist zumal auch der<br />

Humor. Ist es die Kürze der Texte, dass sie für zwischendurch<br />

so exzellent geeignet scheinen, oder sind es die<br />

schrulligen Figuren und skurrilen Begebenheiten, die<br />

der Autor uns erzählt? Wahrscheinlich beides.<br />

In »Tod eines Jägers« kommt ein Achtzehnjähriger zu<br />

Tode, was von der Polizei als Selbstmord abgetan wird..<br />

Der Text ist nicht einmal zwei Seiten lang, liest sich fast<br />

wie ein Zeitungsbericht und gibt viele Möglichkeiten,<br />

aber keine Sicherheit. Diese Technik ist typisch für viele<br />

Geschichten, einzelne Texte enden sogar mit einer offenen<br />

Frage. Chobot liebt es, mögliche Begebenheiten<br />

und Verbrechen zu suggerieren, überlässt es aber gänzlich<br />

den Leserinnen und Lesern, sich ein Bild zu machen.<br />

Der »Diamanten-Händler« wird tot aufgefunden. Der<br />

Autor serviert gleich zwei mögliche Mörder – die<br />

Geschäftspartnerin und ehemalige Geliebte sowie<br />

einen Kunden –, wieder in einem zeitungsnahen Stil<br />

und ohne sich auf irgendetwas festzulegen. Dann, am<br />

Schluss der zweieinhalb Seiten, ein überraschender<br />

Absatz mit einer dritten Möglichkeit – ein Kollege, der<br />

dem Händler eine Menge Geld schuldet –, während<br />

der abschließende Satz lapidar vermerkt, dass bei dem<br />

mutmaßlichen Raubmord keinerlei Wertgegenstände<br />

mitgenommen wurden.<br />

Die Minikrimis ziehen ihren Humor aus den hingeworfenen<br />

Informationen, aus der Anspielung auf etwas,<br />

das man gewiss schon irgendwo mal gelesen hat, und<br />

aus dem geradezu frechen Stilmittel, inhaltlich alles<br />

offen zu lassen. Geschichten für zwischendurch? Ja,<br />

mit einem gewichtigen Vorbehalt: Denn aufhören ist<br />

schwer, und wer einmal eintaucht in die Welt von Chobots<br />

kauzigen Minikrimis, ist flugs am Ende des Buches<br />

angelangt. Gut, dass es zwei davon gibt .. Klaus Ebner<br />

Kein Süßholzraspeln! Jan-Eike Hornauer, geb. 1979<br />

in Lübeck, ist charismatischer Textzüchter, freier Lektor,<br />

Herausgeber, Germanist und Soziologe aus München.<br />

Seinen erster Lyrikband betitelte er mit „schallende<br />

Verse“, er treibt sich fleißig im Internet um und gab die<br />

Lyrikanthologie u.a. „Wenn Liebe schwant“ heraus.<br />

Da der Autor in vielen Gedichten das lyrische Ich verwendet,<br />

verwechselt man leicht dieses mit seiner Person<br />

und spricht ihm wohl selbst vor allem die sexuellen<br />

Erfahrungen zu. Besonders reizvoll S. 16 „Betrügereien“<br />

in dem die Ehefrau die heiße, leidenschaftliche Rolle der<br />

Geliebten übernimmt. …Ach, die Rollen waren gut, die<br />

wir hatten Ewigkeiten: Die Geliebte – heiße Glut; und daheim<br />

die ernsten Seiten. Ach wieso jetzt dieser Bruch? Mit<br />

der Gattin sie betrogen! …Ernst wird`s werden oder aus<br />

mit der Heißesten von allen. – Oh mein Weib, es ist ein<br />

graus, was ist Dir bloß eingefallen!<br />

In seinen Tier-Gedichten vergisst er ebenfalls nicht auf<br />

die leckere Triebhaftigkeit: Die Netzgiraffe: hart gefleckt<br />

– was schon Begehrlichkeiten weckt. Sowie: Glückgehabt:<br />

Wenn unter meiner Bettendecke ´ne leck`re Schnecke ich<br />

entdecke, ist meistens eine Frau drumrum. Wär` ich ein<br />

Igel, wär` das dumm.<br />

Auch wenn die meisten Gedichte von Liebe und Liebe<br />

zum weiblichen Körper handeln, kommt niemals Kitsch,<br />

Pathos oder eben Süßholzraspeln auf. Der Autor kümmert<br />

sich niemals um Kleinkram – das lasse er die Gärtner<br />

machen (S. 83) - , er geht immer direkt aufs Ganze,<br />

zielgerichtet auf witzigen, spritzigen Inhalt, der keine<br />

Blüten treibt, auch nicht des Rhythmus oder Metrik wegen.<br />

Sexualität und deren Erfüllung sind genauso Antriebskraft<br />

zum Schreiben wie das Philosophieren über<br />

Vergänglichkeit, Politik, Animalisches, Menschliches<br />

oder Fuß&Ball. Zügig schreitet er durch die Genres und<br />

reicht dem Leser stets neue Ein- und Ansichten. Er klagt<br />

nie an und spottet nicht auf Kosten anderer. Ein humorvoller,<br />

sprachvollendeter Band – ein wunderbares Werk!<br />

Häppchenweise zu genießen! Eva Riebler-Übleis<br />

Manchmal fühlt sich das Leben grau an, bisweilen<br />

sogar schwarz. So oder so ähnlich jedenfalls<br />

muss es sich für Dad angefühlt haben. Dad, der<br />

gerade Witwer geworden ist und jetzt mit zwei kleinen<br />

Kindern allein ist, pragmatisch handelt, denn zuerst<br />

kommt ihm die Frage nach der Organisation des täglichen<br />

Kleinkrams „für die Jungs“, seine beiden Söhne<br />

in den Sinn. Doch wer jetzt einen Ratgeber in Sachen<br />

Trauerarbeit vermutet, liegt vollkommen daneben,<br />

denn schließlich kommt noch eine Krähe mit ins Spiel.<br />

Ja, eine Krähe, die eines Tages vor der Tür steht, läutet<br />

und in Dad´s Haus eindringt, unangemeldet, und von<br />

nun an eine dominante Rolle einnimmt, komische<br />

Witze reißt. Das klingt merkwürdig, aber wir dürfen<br />

nicht vergessen, dass es sich bei Max Porter um einen<br />

englischen Autor handelt. Britischer Humor ist also<br />

angesagt!<br />

Die Hoffnung ist ein Federding<br />

Der Titel des Buches ist vermutlich eine Anlehnung an<br />

Emily Dickinson: „Die Hoffnung ist ein Federding, das in<br />

der Seel´ sich birgt und Weisen ohne Worte singt und<br />

niemals müde wird“.<br />

Max Porter zeichnet ein knappes Figurenspiel aus Dad,<br />

den zwei Jungs (Söhne) und der Krähe, die jeweils<br />

einzeln zu Wort kommen, eine Art inneren Dialog führen,<br />

streckenweise miteinander in Dialog treten. Ein<br />

anspruchsvolles Debüt hat der leidenschaftliche Buchhändler<br />

Max Porter, Jahrgang 1971, vorgelegt. Das<br />

bewährte Lyriker-Übersetzer-Duo, bestehend aus Uda<br />

Strätling und Matthias Göritz, hat es nun übersetzt.<br />

Herausgekommen ist ein wunderbares Buch über<br />

Glück, Familie, Verlust und Inspirationen, besonders<br />

die von Ted Huges.<br />

Ansruchsvollen Lesern empfohlen!<br />

Cornelia Stahl


66 Rezensionen<br />

66 Holz|Oktober 2016<br />

A. Kötzing/R.Schenk (Hg):<br />

Verbotene Utopie<br />

Die SED, die DEFA und das<br />

11.Plenum<br />

Berlin: Bertz+Fischer, 2015.<br />

ISBN: 978-3-8<strong>65</strong>05-406-7<br />

Gerhard Loibelsberger:<br />

Der Henker von Wien<br />

Roman<br />

Meßkirch: Gmeiner Verlag<br />

2016. 274 S.<br />

ISBN: 978-3-8392-1732-0<br />

Richard Wall:<br />

Achill. Verse vom Rande<br />

Europas – Als Artist in<br />

Residence im H. Böll-Cottage<br />

Bilder von Martin Anibas.<br />

Literaturedition NÖ 2016. 111 S.<br />

ISBN 978-3-902717-34-4<br />

19<strong>65</strong> existierte in der DDR eine Kahlschlag-<br />

Politik. Kunstwerke und DEFA-Filme fielen der Zensur<br />

zum Opfer. „Verbotene Utopie“ beschreibt Hintergründe<br />

und Folgen dieser Politik.<br />

Schon der Titel „Verbotene Utopie“ irritiert. Utopie gilt als<br />

Motor neuer Ideen. Diese soll verboten sein? Klingt zunächst<br />

unwirklich! Die 1946 gegründete DEFA- deutsche<br />

Film Aktiengesellschaft geriet bereits 19<strong>65</strong>, nach dem<br />

11.Parteitag der SED, in die Negativschlagzeilen. Die<br />

Autoren analysieren die Hintergründe des Kahlschlag-<br />

Plenums, schauen zurück auf 1951, den Formalismusstreit,<br />

der die Schaffung sozialistischer Helden in der<br />

Kunst forderte. Nach dem Mauerbau 1961 keimte Hoffnung<br />

unter den Künstlern, dass sich alles ändern würde.<br />

Ab 1962/63 setzte man Gegenwartsstoffe filmisch um,<br />

z.B. in „Beschreibung eines Sommers“ von Ralf Kirsten.<br />

Diese Reformbestrebungen waren SED-konformen Anhängern<br />

ein Dorn im Auge. Folglich wurden zwölf DEFA-<br />

Filme nach dem 11.Plenum des ZK der SED 19<strong>65</strong> wegen<br />

staatsfeindlicher Szenen verboten. „Spur der Steine“ &<br />

„Denk bloß nicht, ich heule“ (beide 19<strong>65</strong>/66) von Frank<br />

Vogel; „Das Kaninchen bin ich“ (19<strong>65</strong>/66) Kurt Maetzig<br />

und „Karla“ v. Herrmann Zschoche und Ulrich Plenzdorf<br />

blieben bis 1990 unter Verschluss.<br />

Dahinter liegende Menschenbilder untersucht Michael<br />

Wedel, am Beispiel des Films „Der verlorene Engel“. Der<br />

Bildhauer Ernst Barlach fühlte sich in der DDR als „Emigrant<br />

im eigenen Land“ und sprach stellvertretend für<br />

regimekritische Künstler. Die von Ralf Kirsten verfilmte<br />

Biographie Barlachs „Der verlorene Engel“ (19<strong>65</strong>/66)<br />

wurde erst 1970/71 freigegeben.<br />

Die vorliegende Dokumentation der verbotenen Filme<br />

ist einmalig. Dazugehörige Audio-CD mit Original-Tonaufnahmen<br />

vom 11.Plenum des ZK der SED 19<strong>65</strong> ( Erich<br />

Honecker, Christa Wolf, Walter Ulbricht u.a.) vermittelt<br />

die Atmosphäre des Kahlschlag-Plenums. Dank DVD-<br />

Box: Verbotene Filme (Icestorm) sind DEFA-Raritäten<br />

aus dem „Giftschrank“ nun öffentl. erlebbar! Corn. Stahl<br />

Ein neuer Fall für Oberinspector Nechyba Wien<br />

im ersten Weltkrieg, die Bevölkerung hungert und der<br />

Schwarzmarkt und Schleichhandel mit Lebensmitteln<br />

steht in voller Blüte. Doch trotz der Knappheit an Lebensmitteln<br />

liegt Oberinspector Nechyba eine Sache<br />

gewaltig im Magen. Ein als „die Quelle“ bekannter<br />

Schleichhändler entledigt sich Schritt für Schritt all<br />

seiner Konkurrenten. Dabei bedient er sich eines sauber<br />

geknüpften Stricks, mit dem er seine Opfer zur<br />

Abschreckung brutal stranguliert. Als es sich bei dem<br />

nächsten Erhängten um einen hochrangigen Beamten<br />

des k. u. k. Kriegsministeriums handelt, erkennt Nechyba,<br />

dass dieser Fall wohl nicht nur über die Grenzen<br />

der gewöhnlichen Verbrechen in der Unterwelt<br />

hinausgeht, sondern dass sich auch sein eigener Kopf<br />

schon längst in der Schlinge das Mörders befindet.<br />

Mit Der Henker von Wien schließt der 1957 in Wien<br />

geborene Autor Gerhard Loibelsberger an seine Reihe<br />

historischer Kriminalromane rund um den brummigen,<br />

schwergewichtigen Oberinspector Joseph<br />

Maria Nechyba an. Wie schon die Vorgängerromane<br />

Die Naschmarkt-Morde, Reigen des Todes und Mord und<br />

Brand zeichnet sich auch der neueste Roman Loibelsbergers<br />

durch profunde Kenntnisse des alten Wien aus<br />

und ist gespickt mit einer ordentlichen Portion Wiener<br />

Schmäh. Dass der Autor sein Handwerk versteht,<br />

zeigen sowohl eine Nominierung 2010 für den Leo-<br />

Perutz-Preis der Stadt Wien und die 2014 erhaltene<br />

Auszeichnung des silbernen HOMER Literaturpreises.<br />

Der Henker von Wien ist ein Kriminalroman wie er im<br />

Buche steht, rätselhaft, mit einem überraschenden<br />

Ende und garantiert den Leserinnen und Lesern einen<br />

spannenden und unterhaltsamen Ausflug in das<br />

Wien des ersten Weltkriegs. Stoff für einen packenden<br />

Krimi-Abend.<br />

Alexander Artner<br />

Die erste Assoziation beim Blick auf den Buchdeckel<br />

nach dem Öffnen der Postsendung war Ferse, die<br />

sprichwörtliche, aber gleich nach dem ersten Durchblättern<br />

des Buches ist klar: Die irische Insel Achill ist<br />

gemeint.<br />

Richard Wall war in Island November 2014 Artist in<br />

Residence im Heinrich Böll-Cottage. Dort sind die Gedichte,<br />

die in diesem von Martin Anibas so kongenial<br />

illustrierten Buches publiziert sind, entstanden: Auf<br />

Deutsch in der Muttersprache des Autors und einige<br />

auch primär auf Englisch, weil sich dies dort wohl so<br />

fügt.<br />

Viele wollen Artist in Residence sein, wenige werden<br />

erwählt. Dem Auserwählten kann dies zum Segen<br />

oder Fluch werden, wenn er dann in der Residenz sitzt<br />

und zum Schreiben verdammt ist, noch dazu in einer<br />

Gegend, die für Kühle, Nieselregen und Nebel bekannt<br />

ist. Für den Autor ist der Aufenthalt segensreich geworden,<br />

wunderbare Gedichte sind entstanden. Sie<br />

evozieren beim Leser, bei der Leserin, nicht einfach<br />

altbackene Metaphern zum Themenkomplex „Meer,<br />

Insel, Wind und Wellen“, sondern rufen jenes Bauchgefühl<br />

hervor, das mit dem Intellekt in einen emotionalen<br />

Streit gerät, der endlos sein muss, wenn er nicht<br />

mit einem Fragezeichen abrupt beendet wird. Nach<br />

dem Fragezeichen kann niemand mehr einen Punkt<br />

setzen. Die Gedanken müssen weiter kreisen, solange<br />

die eigene Existenz andauert.<br />

Wie schreibt der Autor so treffend …<br />

„ Sand knirschte<br />

wo mir das Schuhwerk weiterhalf<br />

in diesem Räderwerk<br />

aus Schreiten und Sinnieren …“<br />

Das Nachwort des Autors und seine Anmerkungen zu<br />

Heinrich Bölls Irlandbild gehören auch ganz wesentlich<br />

zu diesem so besonderen Gedichtband Achill.<br />

Doris Kloimstein


Rezensionen Holz|Oktober 2016<br />

67<br />

tomer gardi:<br />

broken german<br />

Roman. Graz-Wien: Droschl,<br />

2016, 142 S.<br />

ISBN 978-3-85420-979-9<br />

Susanne Scholl:<br />

Warten auf Gianni<br />

Eine Liebesgeschichte in 7 J.<br />

Szb.-Wien, Residenz,<br />

2016. 216 S.<br />

978-3-7017-1667-8<br />

Barb. Neuwirth:<br />

Charin Cross Station London<br />

Andr. Schnell, Zeichng.<br />

Brunn a.Geb. 2013<br />

Confusibombus, 62 S.<br />

ISBN 978-3-9503475-4-8<br />

Auf dem Holzweg. Tomer Gardi, geb. 1974 im Kibbuz<br />

Dan in Galiläa, hat ein echt holpriges Werk verfasst. In<br />

gebrochenem Deutsch, in der Sprache von Emigranten,<br />

Deutsch-Lernenden bzw. im sog. Gastarbeiterdeutsch.<br />

Die Grammatik und Rechtschreibung ist bewusst so<br />

gehalten, dass man den Fortgang des Geschehens noch<br />

verfolgen kann, jedoch sich an den unkorrekten oder fehlenden<br />

Fallendungen, Pronomen sowie der Dehnungen<br />

und intuitiv wechselnden Groß- Kleinschreibung massiv<br />

im Verständnis oder schnelleren Auffassen gestört fühlt.<br />

Nach 35 Jahren Deutschkorrektur in der Oberstufe in einer<br />

Schule, in der bis 80% der Schüler Deutsch als Fremdsprache<br />

oder Zweitsprache vorweisen, war ich genau mit diesem<br />

rudimentären Sprachgebrauch konfrontiert. Nichts<br />

Neues unter der Sonne!<br />

Allerdings nicht sinnvoll für den Schreibenden wie den<br />

Lesenden, denn beide werden um eine inhaltliche Qualität<br />

gebracht. Mit gesprochenem Deutsch könnte man<br />

nämlich auch sinnvolle oder bewusst sinnlose, witzige,<br />

dadaistische etc. Semantikzusammenhänge oder Sprachspielereien<br />

formulieren. Die sprachliche Facette könnte<br />

blühen und unter dem Motto: die Menschheit und ihr<br />

Alphabet ergäben sich Wörter, die leben, aufleben und<br />

beleben!<br />

Zugutehalten kann man dem Autor, dass er psychologisch<br />

spannend und diese Sprechweise durchhaltend schreibt.<br />

Der Handlungsträger ist Radili Anuan, der ein Schreibstipendium<br />

in Graz gewinnt, um dort dieses Werk „broken<br />

german“ zu schreiben oder in Berlin anzutreffen ist. Er ist<br />

jung, trinkt am liebsten Bier, stottert zeitweise, beschreibt<br />

die Menschen, die er sieht oder trifft.Wie poetisch oder<br />

lähmend diese Sprache maximal sein kann, sei in Beispielen,<br />

von der letzten Seite, kurz herausgewürfelt:<br />

Ich geh ein Schritt rein, steh da drinnen, bei der Eingang.<br />

Am Computer sitzen die Menschen, chatten und surfen<br />

oder mit Headsets an, und der leise Geflüster, …, der von<br />

akkustischgeschützten Kabinen ins Raum rein .In diesem<br />

Sinne: Und ich verabschiede mich von sie! Eva riebler-ü<br />

Sommerlektüre mit Psychologie. Nach „Emma<br />

schweigt“, 2013 ein weiterer Roman Susanne Scholls<br />

mit psychologischem Feingefühl für Frauenträume;<br />

in diesem Fall Verstiegenheiten und Lebensfremde.<br />

Die Hauptfigur Lilly wird bezeichnenderweise mit 33<br />

Jahren nicht nur von ihrer Mutter oder ihren Brüdern<br />

immer noch „Mädi“ genannt. Sie ist traurig, dass nach<br />

10 Jahren ihr Lebenspartner, von dem sie sich ein<br />

Kind erträumte, sich verabschiedet hat und eine neue<br />

Flamme, „das blonde Gift“ geschwängert und geheiratet<br />

hat. Sie findet mit so viel Selbstmitleid ausgestattet,<br />

keinen adäquaten Partner und nach dem tragischen<br />

Tod ihrer Kindheitsfreundin auch keine neue<br />

Busen-Freundin mehr. Bildet sich jedoch ein, diesen in<br />

ihrem Sommerbekannten des alljährlichen Sardinienurlaubes,<br />

sehen zu können. Sie versteigt sich in Fernträume,<br />

wenn sie nach drei Wochen Urlaub wieder im<br />

regnerischen Wien ihrer ungeliebten, stressigen Arbeit<br />

nachgeht. So steht sie nach 7 Jahren mit 40 wieder vor<br />

dem Gedanken: Flucht ins Träumen. Diesmal erwägt<br />

sie, sollte sie vielleicht nicht bis Sardinien, sondern bis<br />

Argentinien davonrennen.<br />

Die Autorin fügt sentimentale Träume und Selbstgespräche<br />

ein und zeigt uns, dass man/frau eben nicht<br />

der Realität auf diese Weise entkommen kann. Dass<br />

scheinbare Winkelzüge, sich jemanden als Partner<br />

einzufangen, zwecklos sind und das Arbeiten an sich<br />

selbst sinnvoll wäre!<br />

Daher: Gratulation zu diesem tiefenpsychologischen<br />

Roman!<br />

Die geeignete Lektüre nicht nur für selbstmitleidaffine<br />

Frauen!<br />

Eva Riebler-Übleis<br />

Textcollagen – Geschenke. Barbara Neuwirth,<br />

Obfrau des PODIUMS Neulengbach, gibt gerne in Kooperation<br />

mit bildenden KünstlerInnen ihre Publikationen<br />

heraus. Dieses Mal hat Sie mit der aus Mödling und auch<br />

dort im kunstraumarcade vertretenen Grafikerin und<br />

Malerin Andrea Schnell gemeinsam ein Werk gestaltet.<br />

Die 20 Tuschzeichnungen/Collagen sind in Originalgröße<br />

und beschränken sich in freier Manier auf das Wesentliche<br />

– auf den Kopf oder die Büste eines Menschen. Ausdrucksstark<br />

sind nicht nur Gestus von Pinsel oder Tuschfeder,<br />

sondern auch der Aufbau und die formale räumliche<br />

Lösung jedes Blattes. – Für mich ein Geschenk! – „Jeg<br />

har en gave til deg.“, wie es im Text S. 27 heißt: ---eine<br />

alte Frau, wie eine „Spielkameradin der Kindheit“, überreicht<br />

der handelnden Figur unerwartet ein Geschenk,<br />

und das an ihrem 32. Geburtstag in Bergen/Norwegen!<br />

Und genauso überraschend und phantasievoll sind alle<br />

Erzählungen Barbara Neuwirths. Sie haben nicht nur ein<br />

offenes Ende, sondern werden immer wieder fix verortet,<br />

sei es in einer Cross Station oder in Narvik oder unter<br />

dem Waldviertler Himmel, um dann umso schneller die<br />

Verankerung loszulassen und in Zeiten und Geschehnisse<br />

zu reisen und einzutauchen. Traumhaft und schemenhaft<br />

ist auch die Poesie der Sprache: S. 39 …“ nun warf ein<br />

totes Heer seinen Schatten auf den See und strebte heran<br />

zum Ufer, an dem ich auf einem Stein gesessen war.<br />

Ich stand auf und starrte in den Schatten und mein Hals<br />

wurde lang.“ … „Jenseits der Wassermassen am Strand<br />

eines anderen Kontinents war das Pochen wieder in die<br />

Erde gedrungen, hatte sich durch die Adern des Bodens<br />

zu den Städten bewegt und war an den Ziegelpanzern<br />

der Keller vorbeigeflossen. Ich hörte wie die Welle leise<br />

an die Ziegeln pochte.“ – Diese Erzählung „Das Blut“ ist<br />

sensationell und doch so bedächtig formuliert!<br />

Wer selten schöne Zeichnungen und sensible, duftige<br />

und dann wieder erdige, realistische Erzählungen liebt,<br />

sollte diesen Band, leider nur in einer Auflage von 150<br />

Stück, nicht missen!<br />

Eva Riebler-Übleis


www.litges.at

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