11.11.2016 Aufrufe

etcetera 65

LitGes St.Pölten

LitGes St.Pölten

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

36 Holz|Oktober 2016<br />

Prosa<br />

mer gelaufen. Gepolter, das Fenster wurde geschlossen,<br />

dann wieder Gekicher. Der Geruch der Tage, Wochen, der<br />

unter der Zimmertür hervorkroch, der mit ihr schlief, der sie<br />

morgens zuerst weckte und der überall war, in allen Räumen.<br />

Sie konnte ihn sehen, sie konnte ihn nicht nur mehr<br />

riechen. Agnes schloss die Kinderzimmertüre und löschte<br />

das Licht in der Küche. Das machte sie immer, setzte sich<br />

ans Fenster, wenn die Luft noch angenehm war vom Tag,<br />

die Ruhe sich über der Stadt ausbreitete, die Lichter in den<br />

anderen Wohnungen die Nacht nicht ganz Schwarz ließen.<br />

Agnes hielt dann inne, horchte, nahm die Stimmen aus den<br />

Nachbarwohnungen auf, überlegte, wie das Leben der Anderen<br />

war. Links unten, im ersten Stock, sah sie der Familie<br />

zu, wie sie am Küchentisch miteinander aßen, redeten,<br />

gemeinsam aufräumten. Die Sehnsucht nach einem Leben<br />

aus den anderen Wohnungen war zu einer anderen Form<br />

von Überleben geworden.<br />

Draußen wurde es ruhiger. Über den dunklen Asphalt fuhren<br />

jetzt nur noch wenige Autos. Auf den Balkonen gegenüber<br />

wurden Blumen gegossen, das Wasser tropfte. Der<br />

Abend war ein Summen. Ganz allmählich ließ die Wärme<br />

nach. Aber das machte nichts. Agnes zog dann ihr Nachtkleid<br />

über, so wie sie es von ihrer Mutter geschenkt bekommen<br />

hatte und ging noch einmal in das Kinderzimmer. Mit<br />

langsamen Schritten stakste sie über den Dielenboden, sie<br />

kannte die Stellen, an denen er nicht lärmte. Es brannte nur<br />

das Nachtlicht. Im Halbdunkel suchte Agnes den Weg zum<br />

Kinderbett. Ihr früheres Zimmer. Sie hatte nicht viel geändert,<br />

die Tapeten, die Farbe, die schweren Möbel waren die<br />

gleichen geblieben. Das Zimmer erschien ihr so klein, alles<br />

war klein, das Bett, der Stuhl, der Tisch, der irgendwann<br />

rot gewesen war. Aline lag im Bett. Im rosaroten Licht des<br />

Nachtlichts sah ihr Gesicht seltsam starr aus. Aufmerksam<br />

fuhr Agnes über das Köpfchen, strich durch das Haar. Sie<br />

spürte auf einmal die Stille von solcher Heftigkeit, dass<br />

nichts mehr ging. Es war, als würden ihr die Bedeutungen<br />

aller Dinge plötzlich verborgen bleiben. Als würde sich alles<br />

auflösen, zu einer anderen Form zusammenfinden und<br />

wieder einen neuen Sinn ergeben. Sie stand auf und ging.<br />

Agnes machte Licht im Badezimmer und sah ihr Gesicht.<br />

Die Schatten unter den Augen und das Dunkle darin, die<br />

hohe Stirn und die gegerbte Haut, als reibe die Zeit wie ein<br />

riesiger Schleifstein an ihrer Oberfläche. Sie sah auf ihre<br />

Hände herab, drehte das Wasser auf und spülte sich unter<br />

Schmerzen die Haare aus den Fingern, die der Tochter ausgegangen<br />

waren.<br />

Agnes schlief nicht. Sie schlief nie. Die Nacht war ihr wie<br />

ein Raum, den sie nicht verließ. Nur ins Kinderzimmer ging<br />

sie immer wieder, immerzu. Eine stetige Unruhe, von der<br />

sie getrieben, am Ende immer sentimental und nachdenklich<br />

zurück blieb. Als könnte es ihre letzte Nacht gewesen<br />

sein.<br />

Agnes war schon müde. Immer wenn sie sich ins Bett legte,<br />

die Augen schloss, begannen die riesigen, unter Schmerzen<br />

heranwehenden Formen der Dunkelheit sich über ihrem<br />

Horizont zu bewegen. Ein unkenntliches Gesicht, eine<br />

in die Stille hineinschneidende Stimme, schrill, obskur.<br />

Agnes sprang dann immer auf und lief ins Kinderzimmer.<br />

Die Wohnung war ruhig in den Nächten. Eine Insel im<br />

nichts, die dahin trieb auf einem See ohne Ufer. Das Küchenfenster<br />

zum Hof stand weit offen. Wenn alles ruhig<br />

war, die Geräusche sie verlassen hatten, ein dunkler, fingerdünner<br />

Streifen über ihrem Kopf im Himmel, wenn sie<br />

ihn aus dem Fenster steckte, sah Agnes auf ihr Leben, das<br />

sich aus leichten Brüchen zusammensetzte und die Narben,<br />

kleine Erhebungen unterschiedlicher Größe und Form,<br />

zu Symptomen verwachsen waren, die ihr zeigten, dass alles<br />

kleine Möglichkeiten waren, deren Kraft, nach ihnen zu<br />

greifen, nie gereicht hatte.<br />

Noch eine Weile war ihr Blick hinaus gegangen, während<br />

über ihr der Himmel langsam aufklarte. Auf der anderen<br />

Seite, der Straßenseite, erloschen die Laternen. Die Schatten<br />

nahmen ab im zunehmenden Licht.<br />

Im Kinderzimmer zog sie die Vorhänge auseinander, öffnete<br />

das Fenster, ließ frische Luft ein, die schwere Luft raus,<br />

und rückte den Stuhl, auf dem sie nachts gekauert hatte,<br />

eingedenk der Sorgen und Beunruhigungen des jüngsten<br />

Morgengrauens, zurecht. Jetzt, im Hellen, kleine, gerahmte<br />

Zeichnungen von Aline. Dann setzte sich Agnes an den<br />

Bettrand, saß eine Weile so da in der Stille und betrachtete<br />

den kleinen Körper, die Wölbung unter der Decke, als verlor<br />

sich das Kind darunter. Agnes legte ihre Hand in die ihrer<br />

Tochter und sah über sie hinweg. Dann kniff sie die Augen<br />

ein wenig zusammen und wartete, bis es vorbei war. Agnes<br />

strich über das Köpfchen, durch das Haar und sammelte in<br />

stoischer Ruhe die neuen Büschel vom Kopfkissen zusammen.<br />

Anschließend war ihr Gang ins Bad wie mechanisch.<br />

Agnes setzte Teewasser auf, holte Milch aus dem Kühlschrank<br />

und aus einem Schrank etwas Müsli. In einer<br />

Schüssel rührte sie herum, lange, bis sie sich Löffel um<br />

Löffel in den Mund schaufelte.<br />

Der Himmel über der Stadt wurde blau. Agnes schlüpfte

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!