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ISSN: 1682-9115 | NR.70 NR70 2017| PREIS: 7 EURO<br />

<strong>etcetera</strong><br />

RITUALE<br />

L i t e r a t u r u n d s o w e i t e r


2<br />

RITUALE|Dezember 2017<br />

Editorial<br />

3 Vorwort/Impressum<br />

4 Zum Geleit<br />

Dramolett<br />

48 Paul Roland: The Last Victim<br />

Prosa<br />

5 Thomas Ballhausen: Ghost Box Lukrez<br />

8 Renate Aichinger: Schauer über Sonnenheim<br />

10 Michael Ziegelwagner: Ohne Titel<br />

13 Rupprecht Mayer: Drei kurze Texte<br />

14 Hannah Bründl: Desmond stays at home and does<br />

his pretty face/Daily Make-up Slutwalk<br />

21 Gerhard Hallstatt: Wintersonnenwende auf dem<br />

Schneeberg<br />

24 Sophie Reyer: Wolfszeit<br />

28 Althea Müller: Maria<br />

32 Daniel Krčál: Belladonna, pretty name for a slave …<br />

40 Hanno Millesi: Kalte Ekstasen<br />

43 Katharina Müller: Grenzfall<br />

47 Camille R. Meyer: Two Stories<br />

57 Daniel Weber: Eine weiße Katze<br />

60 Squirella Oakhorn/Charly Blood: Der Doppler aus<br />

dem All<br />

65 Sylvia Treudl: Letztes Ritual<br />

Bericht<br />

67 21. Philosophicum Lech: Mut zur Faulheit<br />

Die Arbeit und ihr Schicksal: Manfred Koch<br />

Vereinsleben<br />

69 Rückschau LitArena VIII und Tagebuchtag 2017<br />

Rezensionen<br />

70 Anna Baar: Als ob sie träumend gingen<br />

70 Valentine Goby: Kinderzimmer<br />

70 Elisabeth Strasser: 0-1-0-1<br />

71 P.Janke/T. Kovacs (Hg): Schreiben als Widerstand:<br />

Elfriede Jelinek & Herta Müller<br />

71 Livia Klingl: Lauter Fremde!<br />

71 Ragnar Helgi Ólafsson: Denen zum Trost, die sich<br />

in ihrer Gegenwart nicht finden können<br />

Lyrik<br />

16 Peter Paul Wiplinger: Ein Gedicht schreiben<br />

18 Jazra Khaleed: Drei Gedichte<br />

42 Daniela Chana: Drei Gedichte<br />

46 Maria Seisenbacher: Gedichte<br />

53 Georg Leß: Zeremonien der Tierkörperverwertung.<br />

Vier Gedichte<br />

56 Martina Winter: Die große Taufe zu Hamm/West-<br />

falen<br />

Heftkünstler<br />

©Markus Mickl/maupi.<br />

Inhalt<br />

Chris Saupper (A)<br />

Art Director, Producer und Fotograf. Studium Bildtechnik und Kamera,<br />

Institut für Film und Fernsehen, Wien. Arbeitet mit den Medien<br />

Fotografie und Video. Lebt in Wien. Kontakt: cps@maupi.com<br />

Ausstellung im Stadtmuseum St. Pölten 7.12.2017 bis 14.1.2018


RITUALE|Dezember 2017<br />

3<br />

Liebe Leserinnen und Leser!<br />

Ja, Wir feiern das siebzigste Heft „<strong>etcetera</strong>“! Und das Thema RITUALE passt vorzüglich!<br />

Denken Sie an ihre alltäglichen Rituale – oder lieber nicht – denn man braucht Rituale zum<br />

Wohlfühlen und für den geordneten Tagesablauf. Verändern ist oft schwer und gemeinsame<br />

Rituale schützen, formieren und schirmen die Gemeinschaft ab und bilden den Zugehörigkeitssinn.<br />

Gehören Sie zu uns und vergessen Sie auch heuer nicht auf das Ritual der Einzahlung des<br />

Mitgliederbeitrages von 28,-- Euro!<br />

Ein frohes Fest und einen sinnvollen Jahresausklang<br />

wünscht Ihre Eva Riebler<br />

Impressum<br />

<strong>etcetera</strong> erscheint 4 mal jährlich<br />

ISSN: 1682-9115<br />

Richtung der Zeitschrift: Literarisch-kulturelles<br />

Magazin mit thematischem Schwerpunkt.<br />

Namentlich bezeichnete Beiträge geben<br />

die Meinung der Autorin, bzw. des Autors<br />

wieder und müssen mit der Meinung von<br />

Herausgeberin und Redaktion nicht übereinstimmen!<br />

Herausgeber: Eva Riebler-Übleis<br />

Heftredaktion: Thomas Fröhlich/Thomas<br />

Ballhausen<br />

Text und Ilustration © bei den Autoren<br />

Cover/Bilder: Chris Saupper<br />

Gestaltung: G. H. Axmann<br />

Druck: Dockner, Kuffern 87, A-3125<br />

Medieninhaber:<br />

Literarische Gesellschaft St. Pölten<br />

HG Eva Riebler-Übleis<br />

Büro Steinergasse 3, 3100 St. Pölten<br />

Home/Info: www.litges.at<br />

E–Mail/Einsendungen: redaktion@litges.at<br />

LeserInnerservice<br />

Werden Sie Mitglied der LitGes und erhalten<br />

Sie vierteljährlich <strong>etcetera</strong>, die<br />

Zeitschrift für Literatur. Mit Prosa- und<br />

Lyrikbeiträgen, Essays, Interviews, Rezensionen<br />

und Künstlerporträts sowie Einladungen<br />

zu unseren Veranstaltungen.<br />

www.litges.at/newsletter<br />

Abonnementspreis:<br />

28 Euro/Jahr = 4 Hefte; Einzelpreis 7 Euro<br />

Bestellung = Überweisung an:<br />

Sparkasse NÖ Mitte-West<br />

BLZ 20256, Konto-Nr. 55137<br />

IBAN: AT422025600000055137<br />

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Verwendungszweck: „<strong>etcetera</strong>-Abo“<br />

Bitte Namen und genaue Anschrift leserlich<br />

auf dem Erlagschein vermerken!<br />

Heftbestellungen: einzelne Exemplare<br />

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für alle Schreibenden/ZuhörerInnen! Jeden<br />

ersten Mittw. im Monat zu vorgegebenen<br />

Themen. Schreibzeit 45 Sek. - 20 Min.<br />

LitGes Büro, Steinerg. 3, STP, 18 Uhr<br />

Die nächsten <strong>etcetera</strong>-Ausgaben:<br />

Etcetera Heft 71<br />

Zusammenwachsen - zusammen wachsen.<br />

Vom Wert der Integration<br />

Redaktion: Eva Riebler/Johannes Schmid<br />

Einsendeschluss 15. Dez. 2017<br />

Etcetera Heft 72<br />

Tanz auf dem Vulkan - von innerer und<br />

äußerer Hitze - oder: Was bringt uns zum<br />

Glühen?<br />

Redaktion: Eva Riebler<br />

Einsendeschluss 15. März 2018<br />

Etcetera Heft 73<br />

Höhle - Von Bären und anderen Menschen<br />

Redaktion: Eva Riebler<br />

Einsendeschluss 15.Juni 2018<br />

Die nächsten LitGes Präsentationen:<br />

Etcetera Heft 70 RITUALE:<br />

7. Dez. 19 Uhr, Stadtmuseum St.Pölten,<br />

Lesende: Althea Müller & Michael Ziegelwagner,<br />

Vernissage Fotograf/Heftkünstler<br />

Chris Saupper. Didgeridoo/Electronics<br />

Kitana Project.<br />

Moderation: Ballhausen & Fröhlich<br />

Vorwort/Impressum


4<br />

RITUALE|Dezember 2017<br />

Zum Geleit<br />

Nach den zum Teil unsäglichen Polit<strong>rituale</strong>n der letzten<br />

Monate nun also — gleichsam zum Entgiften — literarische<br />

Rituale! Das Interesse an der Teilnahme war groß<br />

— es gab mehr als 80 (!) Einsendungen & nur ein kleiner<br />

Teil davon konnte aus Platzgründen seinen Weg in diese<br />

Ausgabe finden. Die Auswahl haben wir uns nicht leicht<br />

gemacht, da die Qualität des Eingesandten oft überdurchschnittlich<br />

hoch war. In einem schweißtreibenden<br />

Redaktionsritual wurde jene Zusammenstellung erarbeitet,<br />

die Sie nun in den Händen halten.<br />

Eins war vorab klar: Es sollte eine abwechslungsreiche,<br />

stilistisch und inhaltlich unterschiedliche Textsammlung<br />

sein, quer durch und über alle Form- und Genregrenzen<br />

hinweg. So finden Sie klassische „Literaturpreisliteratur“<br />

neben avancierter Trashästhetik, lyrische Kontemplation<br />

neben deftigen Horrorstories und pointierte Kurz- und<br />

Kürzestgeschichten neben hintersinniger Satire.<br />

Da treffen kleine weiße (und herzige) Wiener Friedhofs-<br />

Katzerln auf Ritualmörder in Whitechapel, ostösterreichische<br />

Ritualtrankler auf Außerirdische und Mirsan-mir-Apologeten<br />

auf Belladonna-Süchtige. Und zu<br />

guter (?) Letzt wartet noch ein „Letztes Ritual“ auf die<br />

pt. Leserinnen und Leser. Die Kunststrecke der vorliegenden<br />

Ausgabe wurde vom Fotografen Chris Saupper<br />

gestaltet. Seine eigene für uns gestaltete Serie knüpft<br />

Verbindungen zwischen rituellen Aspekten und mythologischen<br />

Momenten, zwischen tänzerischer Choreografie<br />

und kämpferischer Strategie.<br />

Wir wünschen Ihnen auf jeden Fall viel Freude bei Ihren<br />

jeweiligen Lese- und Rezeptions<strong>rituale</strong>n (von vorn<br />

bis hinten, von hinten nach vorn, Einzelnes rauspicken<br />

etc.)! Wenn ihnen das Schmökern im aktuellen ETCETE-<br />

RA auch nur halb so viel Spaß macht wie uns das Redigieren,<br />

kann eigentlich nichts mehr schief gehen.<br />

Zum Geleit<br />

In diesem Sinne rituelle Grüße und bereichernde Lesestunden.<br />

Thomas Fröhlich & Thomas Ballhausen<br />

Fotos © Chris Saupper


RITUALE|Dezember 2017<br />

5<br />

„Firmament of fact. And you,<br />

like everything else<br />

that moves.“<br />

Paul Auster: Gnomon<br />

I Venus<br />

Komm, spiele Muse, zieh Dich aus, doch langsam, wie<br />

zum Mitschreiben.<br />

Keine Sorge, nur mein unschön verdrehter Blick (wortwörtlich,<br />

schlage das ruhig nach) wird Dich treffen. Kein<br />

Strich mehr als nötig.<br />

Sei mir Ausdruck der Gemachtheit, von metrischen Vektoren.<br />

Ein Text durchdringt den anderen, kurvenreich.<br />

Von den Marginalien aus schreibe ich auf Dich zu, mich<br />

durch die Schleier deklinierend.<br />

Ein ungesagter Name.<br />

Alles, nur nicht ewig. Ein einziger Übergang, exakt und<br />

permanent.<br />

Kein Gefabel von Göttern in dieser Mechanik, wir verfallen<br />

einfach jeden Tag ein wenig mehr.<br />

In dieses letzte Geheimnis treten wir berichtsfrei ein,<br />

jetzt fassen wir nur die Ränder. Schriftlich immer schärfere<br />

Belege geben, doch niemals Zeuge sein.<br />

Dann wieder ein verwaister Raum und Fallen ohne Ende,<br />

kaum auszumachen.<br />

Ein selten gelecktes Nichts, ein Aufflackern.<br />

Thomas Ballhausen<br />

Ghost Box Lukrez<br />

Sichtbarkeit fügt sich der Form, Lust auf Möglichkeiten<br />

stellt sich ein.<br />

Hing hier kein Buch an der Wand, Blatt an Blatt, doch<br />

durch und durch platonisch.<br />

Ein auftauchendes Tier, das mich ansieht, völlig blank.<br />

II clinamen<br />

Reisen, nicht schlafen. Ein müder Schmerz, der sich den<br />

Arm entlangzittert.<br />

Alles bleibt in Bewegung, gleich einer traurigen Maschine.<br />

Die letzte Schicht fällt nie.<br />

Anrufen, freilegen, abgelenkt sein. Fatal abweichend gewinnt<br />

Schönheit kurz Gestalt.<br />

Prosa


6 RITUALE|Dezember 2017<br />

Die Welt ist alles, was gefallen ist.<br />

Strahlender Staub, der nach Schutzfaktoren verlangt. Zeit<br />

stellt sich ein, ganz beiläufig.<br />

Hier wirken Kräfte, nur die Kleinsten bleiben bestehen. Der<br />

Rest entfällt auf flackernde Bilder, ausgedeutet. Schwankende<br />

Grundlagen für neue Regeln.<br />

Theoretisiere, aber bitte nicht farblos. Die Linie bringt<br />

mich auf Ideen.<br />

In den Vororten des Begehrens, kriecht knirschend die Kälte<br />

heran. Es wird nicht viel verlangt, hin und wieder möchte<br />

man eben mit dem Vornamen angesprochen werden.<br />

Die Erinnerung an diesen rechnenden Blick, the last twist<br />

of the knife<br />

Und rede mir nicht mehr von Liebe.<br />

Und rede mir nicht mehr von Liebe.<br />

Und rede mir nicht mehr von Liebe.<br />

Auf dem Abstellgleis parken die feinstofflichen Götter, ein<br />

unerreichbares Abseits. Diese Leitung ist völlig tot, jedes<br />

Opfer vergebens.<br />

Bemühe Dich nicht, das kann mit diesem belasteten Zoo<br />

nicht gut ausgehen. I do dream you.<br />

IV simulacra<br />

Gespenstische Spiegelungen, ganz Phantome und Umrisse,<br />

girls on film.<br />

Nichts ist ohne die Bilder, die uns zutreiben, Sehen prägen.<br />

Hier hilft kein Maß mehr, für den Rest haben wir den Hexameter.<br />

Kein Traum ist vor ihnen sicher, hier fressen sich die Gezeiten<br />

ins Gemäuer meiner Küste.<br />

III anima<br />

Freilich, fürs Betasten sind sie nicht gemacht. Es bleibt wenig<br />

mehr, als ein übler Geschmack im Mund.<br />

Prosa<br />

Ich halte das Versprechen, indem ich es breche. Was sich<br />

in der Spur mitschreibt ist das Ungelebte, also ein Wort,<br />

das die Begegnung mit der Wirklichkeit nicht übersteht.<br />

Die Hölle ist längst eingetreten, fünf gewährte Sinne bestätigen<br />

es mir. Wir büßen bereits.<br />

Alles andere verbuchen wir unter der Kategorie Dunkle Erfindungen,<br />

aber das ist ohnehin mehr als genug.<br />

Everybody knows that the war is over. Everybody knows that<br />

the good guys lost.<br />

Mehr gibt es nicht zu fürchten, wenig sonst zu erwarten.<br />

Das ist eine der Antwort, die ausständig bleiben wird.<br />

Die Endlichkeit der Verbindungen, eine Gegend zugeschlagener<br />

Türen, Du kennst das doch auch.<br />

Das Dunkel des Körpers, der sich nachts an meiner Seite<br />

regt, nebenan oder Lichtjahre entfernt. Reden wir besser<br />

nicht von Distanz.<br />

Die Täuschungen laufen in alle Richtungen zugleich, wortwörtliche<br />

Liebe (schon wieder) gesellt sich hinzu wie ein<br />

halbgelesenes Buch (wenn überhaupt).<br />

Eine hastig ausgewachsene Neigung, kurzweilig, bald<br />

kommt sie an ihre City Limits.<br />

Ich nur ich sein kann, kurzsichtig. Und als Zugabe mache<br />

ich für Dich Schluss mit mir, das ist alles, was ich noch<br />

bieten kann.<br />

Wie aus dem Sehen das Verstehen geschlagen sein will,<br />

hier blühen hin und wieder noch Wunden.<br />

Wenn wir abzuhauen versuchten, wäre es von Vorteil, nackt<br />

zu sein?<br />

Zähne und Worte säen, Schlangen ernten.<br />

Du kannst mich später hassen, aber jetzt tanze.


RITUALE|Dezember 2017<br />

7<br />

V fortuna<br />

Eine Mängelwelt mit zu lauter Vernunft gemahnt an<br />

Unvorstellbares. Verwackelte Nächte, in denen wir uns<br />

noch nicht verloren hatten.<br />

Für diese vergängliche Wirklichkeit gibt es geheime Seitentüren,<br />

die abgepackten Elemente flimmern an ihren<br />

Rändern. An diesen Schwellen wurde einst gekämpft.<br />

Verflechtungen ergeben sich scheinbar wie von selbst.<br />

Hier streift man gelegentlich eine größere Schuld.<br />

An Körpern fehlt es nicht, das Licht müht sich aus der<br />

Ferne heran, erhellt grausame Gäste und die Zwänge der<br />

Natur.<br />

Das sich einstellende Gefühl ertappter Schuld kommt<br />

mit der Plötzlichkeit eines Blitzes, eine stürmische Plage<br />

folgt später.<br />

Von der Klippe aus hat man einen schönen Ausblick auf<br />

den Untergang, Sencha dämpft den Schmerz.<br />

Die Hit-Listen des Versenkten, Verzeichnisse des Gesunkenen,<br />

ein Atlas verödeter Plätze. Also, bei all diesen<br />

Bruttoregistertonnen: Warum läuft das Meer nicht über?<br />

Mittels der Linien mache ich Erfahrungen mit der eigenen<br />

Geschichte, selten war ich so durchscheinend.<br />

Ein leckgeschlagener Körper, sich mischender Sand,<br />

ohne Aussicht auf Ordnung.<br />

Falte ein Eselsohr in manche Tage, aber diesen lass einfach<br />

aus. Die Schreie ändern sich, auf Könige ist schlicht<br />

kein Verlass.<br />

The beatings will continue until morality improves.<br />

Das Morgen immer wieder neu aus der Musik der Sprache<br />

zu schälen ist Teil dieser Arbeit.<br />

Alles was versprochen ist, ist ein Buch, ganz lebendiger<br />

Körper der Literatur.<br />

Einen Versuch wagen, einen weiteren. Es gibt immer<br />

wieder ein Ende der Welt.<br />

Betrachten wir die Umstände doch unverstellt. Wir werden<br />

völlig tot sein, wenn wir schließlich gestorben sind.<br />

Es hat sich ausgezeichnet.<br />

Das sagt sich so leicht: Verliere nicht die Nerven, das ist<br />

bloß das Ende.<br />

Zwischen Rhythmus und Anstand versuchsweise den<br />

Takt halten, meine Berührung der Toten verankern sie in<br />

der Gegenwart.<br />

So ein kalter, kleiner Körper, so viel Unvermögen zur<br />

Trauer.<br />

Ja, dieses Bild existiert wie alle anderen auch, aber das<br />

scheint einfach nicht unsere Realität zu sein.<br />

VI lumen<br />

Wie alles seine Beschaffenheit zu haben scheint, Wolken<br />

oder auch wilde Bestien.<br />

Ein entzündeter Wind gibt kleine Zeichen vor, Verkehrshinweise<br />

für hölzerne Wege.<br />

Thomas Ballhausen<br />

Geb. 1975 in Wien, Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler.<br />

Lehrbeauftragter an der Universität Wien und der Universität<br />

Mozarteum Salzburg, Leiter der Pressedokumentation an der<br />

Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur/<br />

Literaturhaus Wien. Internationale Tätigkeit als Herausgeber,<br />

Vortragender und Kurator. Herausgeber der Buchreihe „Bibliothek<br />

der Nacht“ (Edition Atelier, Wien). Mehrere selbständige<br />

literarische und wissenschaftliche Veröffentlichungen, zuletzt<br />

u.a. „Gespenstersprache“ (2016) und „Mit verstellter Stimme“<br />

(2017). Demnächst erscheint „Fauna” (2018; gemeinsam mit E.<br />

Peytchinska)<br />

Prosa


8<br />

RITUALE|Dezember 2017<br />

Prosa<br />

Renate Aichinger<br />

Schauer über Sonnenheim<br />

Da schau her.<br />

Jetzt sind die schon so nah.<br />

Herzlich willkommen. Steht auf unserer Türmatte. Ja. So<br />

sind wir. Offen. Herzig. Bei uns daheim. Im gesegneten<br />

Zuhause. Und in der Tür hängt er. Der Hausfrieden, der<br />

glückselige, weil der Krieg weit weg. Und wenn man<br />

weiter rein geht, wenn man der Sache auf den Grund,<br />

hängt er: der für uns so viel gelitten, der ist aber leicht<br />

zu übersehen, weil er im toten Winkel, wir haben ihn nur<br />

leicht umgehängt, weil wir ja nicht immer an sein Leiden<br />

erinnert werden wollen, weil wir da lieber woanders hinschauen,<br />

aber abgehängt haben wir ihn noch nicht, zur<br />

Sicherheit, weil man ja nie wissen kann und stören tut er<br />

da ja nicht. Hängt da über der Eckbank, im toten Winkel,<br />

im rechten Eck.<br />

Hier wohnen wir. Seit Generationen. Haben uns unser<br />

kleines Reich geschaffen. Übernommen von den Eltern.<br />

Das Haus. Und ausaufgebaut. Passiv. Wir lassen lieber<br />

arbeiten, Geld und Menschen. Schwarz. Wir tragen Sonne<br />

in Heim und Herzen. Weil wir auf der Sonnenseite,<br />

weil wir immer auf die Butterseite fallen, sind wir wer.<br />

Und haben was. Vor. Mit Sonnensegel. Davor das Paradies.<br />

Parzelliertes Grün. Da kann man sich und seinen<br />

Traum bequem niederlassen, im Fertighaus. Und immer<br />

schön aufessen, damit das Wetter auch morgen schön.<br />

Schau. Hier hat jeder sein kleines Reich. Nettadrett. Unser<br />

Hochzeitsfoto in einem schicken Rahmen. Wir haben<br />

was geschaffen. Was aufgebaut. Auf vorhandenes Generationenfundament.<br />

Und unser netter Herr von der Bank<br />

macht sich auch ein Bild von unserem Rahmen. Soll er<br />

doch.<br />

Tür an Tür, Bett an Bett. Getrennt durch eine Wand, die<br />

alles mithört. Weil wir unseren Nächsten lieben. Wir haben<br />

keine Geheimnisse. Wir haben es uns so eingerichtet.<br />

Mit uns. Und jetzt wollen wir gemütlich sein. Gemeinsam<br />

beim Glaserl Schnapsen ums Pummerl.<br />

Aber da gibt es ein Problem: Über der Gemütlichkeit hat<br />

sich ein Tief ausgebreitet. Wolken ziehen auf. Hoch oben<br />

über Sonnenheim: Schau. Da kommen die, das geht<br />

doch nicht, das geht sich doch nicht aus. Und jetzt fängt<br />

es gleich an zu regnen und das mitten im Sommer, das<br />

hätte es früher nicht gegeben, das ist alles im Klimawandel<br />

inbegriffen. Den kriegen wir gleich mit dazu. Als<br />

Willkommensgeschenk.<br />

Herzlich willkommen, beim Eintreten. Weil das noch von<br />

unseren Eltern und wir Werte weitergeben. Wenn wir sie<br />

schon erben. Wenn die sterben. Das gilt für alle, die es<br />

bringen und uns was bringen, was rein- und einbringen,<br />

so lauten die Devisen, dann haben wir auch was davon<br />

und nichts dagegen, dann nehmen wir sie auch gern auf<br />

und herzlich. Und bringen sie unter.<br />

Aber, wenn die nicht mal eine Visakarte, da klaffen doch<br />

die sozialen Schichten. Cultureclash statt bares Cash –<br />

das bringt uns doch nichts. Das müssen die doch auch<br />

verstehen. Wir können uns ja auch nicht einfach ins Boot<br />

setzen. Und aus dem Vollen schöpfen. Weil der ganze<br />

Fluss voll. Die wollen doch zu uns. Hast du zugesperrt.<br />

Doppelt. Wenn es doch schlecht werden soll. Und es soll<br />

ja noch schlechter. Sonnensturm. Hat sich angekündigt,<br />

im Gegensatz zu ihnen. Die haben sich nicht angekündigt.<br />

Warum kommen die denn? Zu uns. Ausgerechnet.<br />

Haben sich nicht gemeldet, nicht zu Wort und nicht beim<br />

Amt. Aber die müssen sich auch hinten anstellen. Am<br />

richtigen Schalter. Bei der richtigen Beamtin. Die haben<br />

sich nicht angemeldet. Da war nirgends eine Ankündigung<br />

zu lesen. Die haben ihr Land einfach gekündigt,<br />

und jetzt sind sie da. Da hätte ja ein Aushang. Weil hier<br />

gelten andere Regeln. Da müssen auch die sich dran halten.<br />

Weil wir uns auch dran halten. Damit wir in Ruhe. Ja,<br />

in Ruhe vor allem. Und Frieden. Wir können auch nicht<br />

einfach Rasen mähen, wenn’s uns passt, wir können<br />

auch nicht einfach den Rasen nicht mähen, wenn’s uns<br />

passt. Weil wir gemein, also, weil wir eine Gemeinschaft.<br />

Die sich Rechenschaft schuldet – und der Bank Geld.<br />

Und jetzt kommen die. Die Geschwommenen, die so viel<br />

auf sich genommen, Kinder haben die mitgeschleppt,<br />

denen wurde alles genommen. Auch die Würde. Das<br />

letzte Gut. Das tut uns sehr leid, aber da können wir<br />

nichts tun. Dagegen. Die sollen nicht so schauen. Nicht<br />

so dreinschauen. Die. Die sind so viele. So viele Augen,<br />

die uns anstarren. Da schauen wir lieber gleich weg.<br />

Geschlossen und solidarisch. Weil wir uns das nicht antun<br />

wollen, das Elend, weil wir uns damit nicht belasten<br />

wollen. Weil es uns schon reicht, dass wir unser Konto<br />

belasten. Wo bleiben denn wir? Außer auf der Strecke.<br />

Wir sind nicht auf der Reise. Das sind doch die. Und jetzt<br />

sollen wir die Verlierer? Was, wenn wir alle untergehen?<br />

Da rettet uns unser Bier-Schnitzel-Schwimmreifen auch


RITUALE|Dezember 2017<br />

9<br />

nicht. Wo kommen wir denn da hin, wenn die einfach<br />

herkommen. Das ist ja alles eine Sauwirtschaft. Und<br />

wir. Wir gehen unter. Aber wir sind nicht daher geschwommen,<br />

auch nicht auf der Nudelsuppe. Wir sind<br />

da. Im Wirtshaus. Wir waren schon immer hier. Seit<br />

drei Generationen – und das ist immerhin eine mehr<br />

als die Gastarbeiter. Da haben wir das Bleiberecht.<br />

Was haben wir denn noch? Eine Scheißangst. Um unsere<br />

Existenz. Wir leben schon lang vom Ersparten<br />

unserer Eltern. Und jetzt kommen die. Hast du zugesperrt.<br />

Sicher. Schauer sind angesagt. Wir machen mal<br />

lieber nicht auf. Vorsichtshalber. Weil, was da so in den<br />

Zeitungen.<br />

Was haben wir denn noch zu verlieren? Recht muss<br />

Recht, rechts muss rechts. Wo bleiben denn sonst wir,<br />

außer auf der Strecke und am Ende noch ohne Pendlerpauschale.<br />

Wir. Die Wirtschaftsleichen, liegen am<br />

Grund ohne jemals wirklich einen besessen zu haben.<br />

Abbezahlt. Grundlos.<br />

Aber damit ist nun Schluss. Die haben keinen. Grund.<br />

Dass sie hierher. Dass die da so reinplatzen. Dass sie<br />

hier ihre Zelte. Aufschlagen. Sind einfach da. Und belegen<br />

unsere Bank. Die schlafen da einfach. Drauf. Wir<br />

schlafen auch nicht gut. Wegen der Bank. Weil wir den<br />

Kredit. Weil wir draufzahlen.<br />

Wir müssen uns abschotten. Alles dicht. Jalousien runter.<br />

Menschlichkeit. Mit Ablaufdatum. Stempel drauf –<br />

und raus. Aus. Wir müssen dringend die Hecken schützen.<br />

Die dürfen wir jetzt nicht mehr stutzen. Hecken<br />

und wir dicht. Hackevoll.<br />

Ja, geschlossen müssen wir auftreten, fest entschlossen<br />

damit die kapieren, dass wir geschlossen. Dazu<br />

kann man ganz offen stehen. Das verstehen die dann<br />

schon, auch wenn sie nicht unsere Sprache. Weil sie<br />

andere Mütter. Weil die nicht unsere Nächsten. Da<br />

kommen sie den ganzen langen Weg hier her und dann<br />

sprechen die nicht mal unsere Sprache. Wie sollen wir<br />

die denn verstehen? Wir müssen aufpassen, weil die<br />

sich nicht anpassen, wie sollen sie denn auch, ohne<br />

Pass. Die werden immer mehr. Die werden bleiben.<br />

Ohne Recht. Ohne Titel. Aber den braucht man hier,<br />

weil ohne Titel ist man ein großes Nichts.<br />

Wir kennen euch nicht, wir fahren da nicht hin auf Urlaub.<br />

Weil es uns zu fremd. Wie ihr. Ihr müsst uns was<br />

bringen. Versteht ihr? Ein Mitbringsel. Dann kommen<br />

wir ins Geschäft. Mit eurem Plastiksackerl können wir<br />

nichts anfangen. Ihr müsst uns was einbringen. Wenn ihr<br />

schon nichts mitbringt. Weil ihr nichts habt. In eurem<br />

Nichturlaubsland. Ihr Habenichtse.<br />

Wir haben auch nichts. Nicht einmal Schuld. Die trifft<br />

uns nicht. Die soll die anderen treffen. Weil wir waren es<br />

bestimmt nicht. Wir mähen den Rasen immer pünktlich.<br />

Und gründlich. Weil wir ja wir. Weil wir die Gruppe. Wir<br />

brauchen Schuldzuweisungen. Weil Überweisungen können<br />

wir keine mehr tätigen. Die bleiben liegen. Wie die<br />

Toten im Massengrab Mittelmeer.<br />

Schau. Jetzt sind sie schon fast da. Zu nah. Das ist ja<br />

ein Kommen und Bleiben hier. Das mögen wir überhaupt<br />

nicht, wenn uns da wer besuchen kommt, so ohne Voranmeldung.<br />

Die haben ja nicht einmal einen Meldezettel.<br />

Schauer ziehen über unser Sonnenheim, überschwemmen<br />

uns. Und die. Mit ihren Plastiksäcken. Schwimmen<br />

oben.<br />

Wir müssen unserem Ärger Luft und ein Kreuzerl machen.<br />

Wir werden mehr und bald muss man unsere Stimme<br />

hören, bald reden wir wieder mit, in der Regierung.<br />

Weil wir eine Lösung, weil der Hausfrieden, schief. Wir<br />

machen das, was wir immer schon am besten konnten.<br />

Wir schauen einfach nicht hin. Wir schauen einfach nach<br />

dem Rechten und rechts dran vorbei.<br />

Das muss doch alles seine Ordnung. Wir kehren. Nicht<br />

vor der eigenen Tür, lieber ihnen den Rücken.<br />

Und die Türmatte. Die nehmen wir gleich mit und rein.<br />

Renate Aichinger<br />

Geb.1976 in Salzburg, studierte Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte;<br />

Regisseurin und Textbereitstellerin u.a. am Jungen<br />

Schauspielhaus Zürich, Leiterin des Bürgertheaters am Landestheater<br />

Niederösterreich (Nestroy-Spezialpreis 2015); im Herbst<br />

2016 erschien nach „WELT.ALL.TAG” und „wundstill” (edition<br />

laurin) ihr drittes Buch „#endeln” im Berger Verlag, div. Veröffentlichungen<br />

in Anthologien und Zeitschriften,; nominiert durch<br />

ULNOE zum Internationalen Lyrikprojekt VERSOPOLIS 2016 (Einladung<br />

zum Felix Poetry Festival 2017, Belgien), Schwazer Stadtschreiberin<br />

2015, Rauriser Förderungspreis, Künstlerstipendium<br />

Villa Decius, Krakau, Siegergedicht aus Österreich beim European<br />

Poetical Tournament 2013, nominiert für den Retzhofer Dramapreis<br />

2003 & 2011, eingeladen zu Texte 3, Luxemburg 2002; lebt<br />

jetzt in Wien und leitet die Offene Burg; www.renateaichinger.at<br />

Prosa


16 RITUALE|Dezember 2017<br />

Peter Paul Wiplinger<br />

Ein Gedicht schreiben<br />

Lyrik<br />

ich soll mit der hand<br />

ein gedicht schreiben<br />

sagte heute zu mir die frau<br />

prof. dr. paternostro-sluga<br />

im donauspital in wien<br />

in das ich vor mehr als<br />

zehn wochen eingeliefert<br />

worden bin nach einem unfall<br />

nachdem mich ein radfahrer<br />

der gegen die einbahn fuhr<br />

auf dem fußgängerübergang<br />

niedergemäht hatte mit folge<br />

trümmerbruch des rechten<br />

geknickten oberarmkopfes<br />

samt lädierung der schulter<br />

ich soll ein gedicht schreiben<br />

sagte die frau doktorin zu mir<br />

und fügte noch hinzu egal was<br />

sie dann schreiben ganz egal<br />

wichtig ist nur daß sie schreiben<br />

und zwar mit ihrer rechten hand<br />

die halbseitig nervengeschädigt ist<br />

damit das nicht so bleibt wie es ist<br />

damit die feinmotorik wiederhergestellt<br />

wird denn das ist wichtig für sie und<br />

für ihre handschrift damit ihnen diese<br />

erhalten bleibt als zeichen ihrer identität<br />

also schreibe ich deshalb diese zeilen hier<br />

auf eine strikte ärztliche Anordnung hin<br />

ob das nun ein gedicht ist oder auch nicht<br />

das ist überhaupt nicht wichtig nein wichtig<br />

ist nur daß ich mich dazu zwinge zu schreiben<br />

auch wenn mir dabei der ganze arm bis hinauf<br />

zur schulter wehtut aber ich muß schreiben<br />

damit die handmotorik wiederhergestellt wird<br />

damit meine handschrift damit das schriftbild<br />

wieder genauso ausschaut wie vor dem unfall<br />

dieses schreiben dieses gedichtschreiben ist<br />

also nichts anderes als ein widerstandsakt<br />

es geht hier nicht um die schaffung von literatur<br />

ein gedicht schreiben als widerstandsakt<br />

das ist nicht schlecht das entspricht mir<br />

denn ich akzeptiere nicht alles gemäß<br />

dem spruch es ist eben wie es ist<br />

selbst wenn dem wirklich so ist oder wäre<br />

widerstand zu leisten egal wogegen das ist<br />

eine handlung nach moralischer kategorie<br />

widerstand leisten nicht nur zu leiden<br />

das ist der auftrag den man sich selber gibt<br />

deshalb schrieb ich diesen text dieses gedicht<br />

Wien, 11.-12.5.2017<br />

Peter Paul Wiplinger<br />

Geb. 1939 in Haslach, Oberösterreich Schriftsteller und künstlerischer<br />

Fotograf. Lebt seit 1960 in Wien. Studium der Theaterwissenschaft,<br />

Germanistik, Philosophie. Vorwiegend Lyriker.<br />

Gedichte übersetzt/publiziert in mehr als 20 Sprachen. Bisher<br />

47 Buc<strong>hp</strong>ublikationen, hunderte Artikel in Anthologien und Zeitschriften.<br />

Zahlreiche Rundfunksendungen im Inland und im Ausland.<br />

Weitere Informationen: www.wiplinger.eu


RITUALE|Dezember 2017<br />

17<br />

Lyrik


www.litges.at

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