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ISSN: 1682-9115 | NR.<strong>67</strong> 2017| PREIS: 7 EURO<br />
<strong>etcetera</strong><br />
DRACHEN<br />
L i t e r a t u r u n d s o w e i t e r
2<br />
DRACHEN|März 2017<br />
Editorial<br />
03 Vorwort/Impressum<br />
Idee<br />
4 Ideenfindung: Eva Riebler-Übleis<br />
6 Drachen überall: Eine Betrachtung von Eva<br />
Riebler-Übleis<br />
Heftkünstler<br />
8 Josef Winkler: Der Kampf mit dem Bild<br />
Essays<br />
10 Wolfgang Mayer König: Der gehörnte Siegfried<br />
und sein Drache<br />
24 Egyd Gstättner: Wie ich den Lindwurm verschluckt<br />
habe<br />
27 Johannes Schmid: Der heilige Georg<br />
Interviews<br />
12 Anna Rubin: In die Luft gebaut<br />
15 Gerald Axelrod: Von einem Wüterich, der hieß<br />
Fürst Dracula aus der Walachei<br />
20 Franz Sales Sklenitzka<br />
Bericht<br />
22 Július Koller: Ein U.F.O.-naut spielt Pingpong<br />
Gertraud Artner aus dem mumok<br />
Rezensionen<br />
58 Josef Linschinger: Zahlen + Farben<br />
58 Wolfgang Mayer-König: Das begeisterte Wort<br />
58 Maria Eliskases: Im Blauen Zug<br />
59 Franz Sales Sklenitzka: ABC für Drachenfreunde<br />
59 Franz Sales Sklenitzka: Drachen haben nichts zu<br />
59 lachen<br />
59 Egyd Gstättner: Karl Kraus lernt Dumm Deutsch<br />
60 H.J. Wimmer/M. Steinfellner: Sprachvorspiele<br />
60 Gerhard Benigni: Der Usambaraveilchenstreichler<br />
auf dem Weg zum Südpol<br />
60 Heidi Kastner: Tatort Trennung<br />
61 Andrea Pesata: der flug des habichts<br />
61 Elisabeth Reichart: Frühstück bei Fortuna<br />
61 Dietmar Füssel: Wiederholte Geburten<br />
62 Martina Tischer: Die Göttin in mir<br />
62 Ilse Kilic: Das sich selbst lesende Buch<br />
62 Axel Karner: Der weiße Zorn<br />
63 Gerhard Loibelsberger: Killer-Tschick<br />
63 Richard Schuberth: Karl Kraus<br />
63 Jonis Hartmann: Bordsteinsequenzen<br />
Dank für die Bildrechte<br />
an Josef Winkler/Anton Figl/Christian Klasan<br />
Inhalt<br />
Prosa<br />
30 Caroline M. Herzog: Nezha und das tosende Meer<br />
34 Oliver Jung-Kostick: Die Saat des Drachen u.a.<br />
38 Doris Kloimstein: Drachen<br />
42 Falk Andreas Funke: Siegfried und die Drachen-<br />
schützer<br />
44 Peter Paul Wiplinger: Du böses Kind<br />
46 Peter Mitmasser: D r a c h e<br />
47 Ingrid Messing: Von Menschen und Drachen<br />
48 Heinz Zitta: Im Rachen des Drachen<br />
50 Erich Sedlak: Letzte Worte an einen Hausdrachen<br />
52 Elfriede Starkl: Meine Drachenwelt<br />
Lyrik<br />
33 Raoul Eisele<br />
40 Andrea Kraus: Siegfried Drachentöter<br />
55 Brigitte Pokornik: Ein letzter Hauch<br />
57 Jordi Rabasa-Boronat: Der Drache<br />
LitGes - Präsentation der Literaturzeitschrift<br />
ETCETERA<br />
mit dem Thema VENEDIG am Donnerstag, den<br />
23.03.2017 um 18:30 Uhr in der Buchhandlung<br />
MORD UND MUSIK, Lindengasse 22, 1070<br />
Wien. Es liest der Heftautor Daniel Weber.<br />
Jour-fixe 2017<br />
Wie immer jeden 1. Mittwoch (01.03., 05.04., 03.05., 07.06., 05.07.,<br />
02.08., 06.09., 04.10., 08.11., 06.12.) jeweils um 18:00 Uhr im Büro<br />
der LitGes St. Pölten, Steinergasse 3, 3100 St. Pölten Schreibwerkstätte<br />
für alle Schreibinteressierten und Zuhörer zu einem vorgegebenen<br />
Thema. Dauer der Schreibzeit 45 Sek. bis 20 Min.!<br />
Leitung: Eva Riebler - Übleis (keine Anmeldung erforderlich)
DRACHEN|März 2017<br />
3<br />
Liebe Leserinnen, Liebe Leser!<br />
Ein spannendes Thema, erst bei der näheren Beschäftigung damit, wusste ich, dass eine<br />
Denkviertelstunde zu wenig sei! Über Mythos zur Infrage-Stellung und zur Dekonstruktion bis<br />
zum neuen Strukturieren reichte der Denkfächer. Der Gewinn war für mich und ist für Sie nun<br />
greifbar. Studieren Sie die Facetten dieses Themas! Vielleicht kommen Sie wie ich im Zuge der<br />
Recherchen darauf, dass Sie im Zeichen des chinesischen Drachens geboren wurden.<br />
Sie finden eine ganz tolle Auswahl an exklusiven Primär- wie Sekundärtexten vor - dafür bedanke<br />
ich mich bei allen Autorinnen und Autoren!<br />
Und weil die Zeitschrft auch im 31. Jahr ihres Bestehens nicht untergehen will, ersuchen wir Sie um den Mitgliedsbeitrag<br />
(Daten s. u.) für 2017!<br />
Ihre Eva Riebler-Übleis<br />
Impressum<br />
<strong>etcetera</strong> erscheint 4x jährlich<br />
ISSN: 1682-9115<br />
Richtung der Zeitschrift: Literarisch-kulturelles<br />
Magazin mit thematischem Schwerpunkt.<br />
Namentlich bezeichnete Beiträge geben<br />
die Meinung der Autorin, bzw. des Autors<br />
wieder und müssen mit der Meinung von<br />
Herausgeberin und Redaktion nicht übereinstimmen!<br />
Herausgeber: Eva Riebler-Übleis<br />
Heftredaktion: Joh. Schmid, E. Riebler-Ü<br />
Text und Ilustration © bei den Autoren<br />
Cover und Bilder: Josef Winkler<br />
Fotos: siehe © Fotonachweis<br />
Gestaltung: G. H. Axmann<br />
Medieninhaber:<br />
Literarische Gesellschaft St. Pölten<br />
HG Eva Riebler-Übleis<br />
Büro Steinergasse 3, 3100 St. Pölten<br />
Home: www.litges.at<br />
E–Mail: redaktion@litges.at<br />
LeserInnerservice<br />
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Lyrikbeiträgen, Essays, Interviews, Rezensionen<br />
und Künstlerporträts sowie Einladungen<br />
zu unseren Veranstaltungen.<br />
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24 Euro/Jahr = 4 Hefte; Einzelpreis 7 Euro<br />
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Die nächsten <strong>etcetera</strong>-Ausgaben:<br />
<strong>etcetera</strong> 68 KÖPFE<br />
Vom Dank an würdige Köpfe.<br />
Einsendeschluss 15. März 2017<br />
Redaktion: Eva Riebler-Übleis<br />
an: redaktion@litges.at, Betreff KÖPFE<br />
<strong>etcetera</strong> 69 LitArena VIII<br />
Literaturwettbewerb für Autorinnen und Autoren<br />
unter 27. siehe www.litges.at/LitArena<br />
Einsendeschluss 15. Juni 2017<br />
Redaktion: Cornelia Stahl<br />
Die nächsten LitGes Präsentationen:<br />
LitGes Heftpräsentation „<strong>etcetera</strong>” <strong>67</strong><br />
08. März 2017, 19 Uhr Stadtmuseum 3100<br />
St.Pölten, Prandtauerstr. 2.<br />
Gespräch über Dracula und den Drachenorden<br />
etc. mit Gerald Axelrod. Über den<br />
Drachentöter Georg berichtet Johannes<br />
Schmid. Aus dem Lindwurmland liest Sarkastisches<br />
der Autor Egyd Gstättner.<br />
Flötenspieler Johann Falter aus Pöchlarn<br />
beruhigt mit sieben verschiedenen Flöten<br />
den feuerspeienden Drachen.<br />
Moderation: Eva Riebler-Übleis<br />
Vorwort/Impressum
4<br />
DRACHEN|März 2017<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Über die Ideenfindung und den Künstler Josef Winkler<br />
Idee<br />
Wieso trägt dieses Heft mit dem Heftkünstler Josef Winkler<br />
ausgerechnet den Titel DRACHEN? Wie soll das zusammenpassen?<br />
Ja, Josefs Acryl- und Mischtechnikarbeiten bewundere ich<br />
seit 10 Jahren, war auf seiner Ausstellung Art Austria (ermöglicht<br />
durch den Galeristen Anton Figl) im Rahmen der<br />
Kunstmesse im Leopoldmuseum 2015 (auch 2017 stellt<br />
Figl alleine den Künstler Josef Winkler aus) und möchte<br />
ihn schon lange in „<strong>etcetera</strong>“ präsentieren.<br />
Er ist für mich der authentischste Künstler.<br />
Seine abstrakten Werke rufen aufgrund der steten Verwandlung<br />
und der vielfach gezeichneten/gemalten<br />
Kreuze, Zeichen und Ziffern oder Kreise oder Totenköpfe<br />
die Assoziation „Metamorphose“ hervor, wie auch mehrere<br />
Ausstellungen und Kataloge diesen Titel trugen: „Josef<br />
Winkler von Alpha bis Omega. Erotische und existentielle<br />
Metamorphosen, Gesamtschau 2011: Josef Winkler. Metamorphosen<br />
und auch die Ausstellung 2016 bei Anton<br />
Figl in St. Pölten hieß: Metamorphosen. Werkschau 2016.<br />
Namen gebend war ein rötlich gehaltenes Bild mit abstraktem<br />
Totenkopf.<br />
„Metamorphose beschreibt als Ausstellungstitel vor allem<br />
auch all jene bildnerischen Um- und Verwandlungen, die<br />
der Künstler innerhalb seiner vor etwa 25 Jahren gefundenen,<br />
primär gegenstandslosen, dem Informel nahestehenden<br />
Sprache immer wieder aufs Neue vollzieht. Durch<br />
die in der Ausstellung gezeigten Werke ziehen sich somit<br />
beide Aspekte: Metamorphose im Sinne einer Umwandlung<br />
des Lebendigen in andere, uns kognitiv nicht zugängliche<br />
Zustände, und Metamorphose im Sinne eines Wandels<br />
von Form und Gestalt. - … Erstgenannter Aspekt (der<br />
der Metamorphose) läuft wie ein Basso continuo durch<br />
Josef Winklers Bild- und Gedankenwelt, indem innerhalb<br />
seiner gegenstandslos wirkenden Formulierungen Formund<br />
Gestaltelemente auftauchen können, die an menschliche<br />
Köpfe bzw. Schädel, an (Fluss-)Steine oder andere<br />
organische und anorganische Versatzstücke von Natur erinnern.<br />
Hinzu gesellen sich bisweilen skripturale Zeichen<br />
wie Kreuze, Ziffern und Buchstaben, die sich gerne zu<br />
formelartigen Inschriften vereinen oder auch Zahlenfolgen<br />
und Wörter bilden wie etwa „alpha omega“ oder eben<br />
„Metamorphose“. Anfang und Ende, Kontinuität und Abbruch,<br />
Symbole der Ratio und des Archetypischen treffen<br />
hier gleichwertig aufeinander – und hinterfragen damit<br />
die uns geläufigen Trennungen zwischen Leben und Tod,<br />
Traum und Wirklichkeit, Gegenwart und Vergangenheit<br />
…“, so Lucas Gehrmann über die Arbeit Josef Winklers.<br />
Winkler selbst schreibt im Katalog Alpha bis Omega:<br />
„Man braucht ein Konzept, ohne literarisch zu sein, aus<br />
dem man schöpfen kann. Von der Geburt bis zum Tod ist<br />
alles, was Leben ausmacht – Sexualität, Leiden und Probleme<br />
– neben den Standortbestimmungen des Alters, in<br />
denen die Summe der Erfahrungen mitschwingt, in diese<br />
künstlerische Aussage integriert. Dies ist meine Spange<br />
von Alpha zu Omega: die Erotik, die sich nach Freud<br />
wie ein roter Faden durchs Leben zieht, all die kleinen<br />
Tode, die man auch in der Vereinigung erlebt. Beim Malen<br />
bin ich ein vollkommen eruptiver Mensch, der die Farbe<br />
und den Inhalt benützt, um sich in seiner Sprache auszudrücken.<br />
Viele Dinge im Leben werden geistig-seelisch<br />
erfasst und man kann nicht achtlos vorübergehen, alles<br />
hat Bedeutung, es gibt aber Schwerpunkte. Der Künstler<br />
sollte in seiner Zeit Seismograph sein, nicht politische<br />
Dinge aufsaugen und sich für einen politischen Maler<br />
ausgeben oder Psychotherapeut, der mit seinen Bildern<br />
heilen will, sondern die Inhalte sollen substantiell sein.“<br />
Das Wort „Metamorphose“ hätte also Hefttitel sein können,<br />
jedoch dachte ich an die siebenköpfigen, stets nachwachsenden<br />
Häupter der Hydra, und so wurde das Thema<br />
abstrahiert.<br />
Im Hintergrund hörte ich gleichzeitig zu meinem Denkprozess<br />
ein Rascheln. Die Drachenbauerin Elfriede Starkl<br />
hatte ein Objekt vervollständigt und probierte die Flugfähigkeit.<br />
Schon ertönte ihre Stimme: Machst Du einmal<br />
ein Drachenheft?<br />
Drachen als Thema ist für Literaten sicher ein weitläufigeres<br />
Feld der Ideenfindung und Betätigung.<br />
Außerdem las ich unvermutet das Wort „Georg“ im Bericht<br />
zu Winklers Alpha – Omega Ausstellung von Brigitte<br />
Borchhard-Biebaumer. Diese meinte, der Kampf Winklers<br />
mit seinen Bildern, bis er ihnen den letzten stimmigen<br />
Schliff gegeben habe, assoziiere den „Georgskampf“.
DRACHEN|März 2017<br />
5<br />
Es stimmt, oft habe ich ihm bei seinen Kursen in der<br />
Schupfengalerie Herzogenburg über die Schulter geschaut,<br />
wenn er mit äußerster Konzentration und intensivem<br />
Duktus ein Bild vollendete. Erst wenn das Bild<br />
„stimmte“, trat er von der Staffelei zurück und legte den<br />
Pinsel und die breite Spachtel weg. An diesem Prozess<br />
des Schaffens teilzuhaben, war schon Gewinn genug!<br />
Automatisch hielt man den Atem an und versuchte die<br />
individuelle Bildsprache zu enträtseln. Es herrschte nach<br />
einem Zustand des Chaos nun plötzlich kreative Ordnung!<br />
Das Motiv war stets Vergänglichkeit/Veränderung.<br />
Durch grafische Zeichen oder ausgeschabte Kratzer veränderte<br />
sich auch immer die zuvor ausgewogene Form,<br />
die dann wieder neu gesucht werden musste. Ein stetes<br />
zueinander Beziehen und ineinander Greifen von Farben<br />
und Formen ist wesensbestimmend. Winkler überlagert<br />
und durchdringt von außen in die Bildmitte und umgekehrt.<br />
Er wandert von der Tiefe auf die Bildoberfläche und<br />
nimmt das Maltuch in die Linke um die Oberfläche wegzuwischen,<br />
damit der Untergrund sichtbar wird. Er bringt<br />
Assoziationen von kleinen Details zu großen Kreisen oder<br />
Galaxien. Zeichen und Symbole sind oft nicht eindeutig,<br />
sondern mehrdeutig interpretierbar. Er schaut, ob genügend<br />
Licht (Weiß) im Bild ist und ob die Komposition<br />
schlüssig und spannend sei. Ein plötzlicher Tupfer leuchtendes<br />
Rot kann den ganzen Aufbau wieder ins Wanken<br />
bringen oder hat eben zur richtigen Bildgestaltung gerade<br />
noch gefehlt.<br />
Er reduziert Farbe, da er weiß, dass Buntheit gefährlich<br />
ist, da man sich in deren Sensationen verliert.<br />
Lustiger Weise sagt er, er male nicht gerne!, aber er sei<br />
ein Besessener! Dabei besucht er jeden Wochentag sein<br />
Atelier, trainiert mit den Hanteln und malt dann. Gelingt<br />
ein Bild nicht, muss es komplett übermalt werden,.<br />
Nur wenige Bilder sind seiner Meinung nach perfekt auf<br />
Dauer. Sie waren es zum Zeitpunkt der Vollendung, als<br />
sie gemalt wurden.<br />
Als er nach seiner Zeit als Galerist (damals war er bereits<br />
mit dem Galeristen Anton Figl bekannt) nach Jahrzehnten<br />
wieder zum Pinsel griff, hatte er das Glück unbedarft wie<br />
ein Kind malen zu können und nicht materiellem Streben<br />
sich unterwerfen zu müssen. Unbeschwert zog er seine<br />
breiten Malbahnen und genoss die spontane Kritzelei.<br />
Er ist sich stets selber treu geblieben!<br />
Es geht ihm um Offenheit und die eigene Sprache. Offenheit<br />
im Sinne von „durchscheinend”, d. h. die Farb- und<br />
Arbeitsschichten eines vorherigen Prozesses scheinen<br />
irgendwo im Bild durch – und Offenheit gegenüber dem<br />
Betrachter, denn jedes Bild soll mit diesem einen Diskurs<br />
führen, zumindest dazu einladen.<br />
In diesem Sinne ….!<br />
Auf der Wiener Akademie studierte er bei Josef Dobrowsky<br />
und ließ sich auf die „lyrische Abstraktion“ ein. Sein<br />
Vorbild war der spanische Maler Tapies in seiner Reduziertheit.<br />
Seine Acrylarbeiten hält er in letzter Zeit meist in Grau,<br />
Weiß, etwas Braun und Rosa oder Schwarz. Seinem Stil<br />
fügte er in den letzten Jahren das Aufbringen mit Materialien,<br />
wie Sand, bei.<br />
Außer auf Leinwand und Papier arbeitet er zuletzt sehr<br />
gerne auf quadratischen Holzplatten, auf denen man besser<br />
kratzen und dynamischer Kraft und Gestik einsetzen<br />
kann.<br />
Winklers Bilder sind stets ehrlich, ohne Kapriziösität entstanden.<br />
Er spielt sich stets frei und bringt sich selber zu<br />
100 % ins Bild ein.<br />
Idee
6<br />
DRACHEN|März 2017<br />
Idee<br />
Drachen überall<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Wo/wann gab es Drachen, oder gab es nie welche? Waren<br />
die Funde stets Haifisch-, Delphin-, Walfischknochen oder<br />
Reste und Erzählungen/Geschichten von Krokodilen sowie<br />
Dinosauriern?<br />
Wieso steht ein Lindwurm aus Stein gehauen am Hauptplatz<br />
Klagenfurts und sieht aus wie die Abbildung aus der<br />
„Historia animalium“ des italienischen Zoologen Ulisse Aldrovandi<br />
(1522-1605)? Ist es vielleicht der versteinerte Rhinozerosschädel,<br />
der in Klagenfurt gefunden wurde, der zur<br />
Lindwurmsage führte?<br />
Einzeln gefundene Fossilien erklären allerdings nicht die<br />
weltweite Verbreitung des Drachenglaubens und das Aussehen<br />
eines Drachen. Muss er doch ordentliche Tatzen mit<br />
Klauen, einen langen biegsamen Schwanz oder schlangenartigen<br />
Körper, eventuell Hörner und lange Barthaare – falls<br />
er ein chinesischer Drache sein soll -, auf alle Fälle Flügel<br />
und einen schuppigen Panzer haben sowie Feuer speien<br />
können und natürlich furcht-/grauenerregend auftreten<br />
und dreinschauen!<br />
Der Ausgangspunkt des Drachenglaubens könnten gefundene<br />
Saurierknochen sein, die auf Riesen-Dinos hinweisen.<br />
Heute gibt es ja noch kleinere Urenkel, z.B. die Warane, die<br />
Kragenechsen und die Flugechsen, die ja Draco volans, also<br />
fliegender Drache, heißen. Als Prototyp des Drachens gilt<br />
natürlich der Waran oder das Krokodil, falls man ihm das<br />
fehlende Feuerspeien verzeiht! Bereits in der Han-Dynastie<br />
des alten Chinas gab es vom Hof offiziell ernannte Drachenzüchter.<br />
Im Norden Chinas lebten einst Alligatoren und Krokodile,<br />
die erst ausstarben, als das Klima kälter und trockener<br />
wurde (siehe: Ditte und G. Bandini, DTV 2002: Das<br />
Drachenbuch S. 146 ff). Ebenda: laut - Dragan, Raymond<br />
Anthony: The Dragon in Early Imperial China. Unveröfftl.<br />
Diss, Toronto 1993 - heißt das Krokodil in China „Schuppendrachen“<br />
= jiaolong und der Alligator „hornloser Drachen“<br />
= chilong. Allerdings leben Krokodile und Alligatoren nicht<br />
in Berghöhlen, sondern eher im/am Wasser und werden<br />
nicht, wie auf Abbildungen zu sehen, die Kaiserlichen Kutschen<br />
gezogen haben. Außerdem besitzen diese ja keine<br />
Hörner, Bart oder Flügel, daher muss das Nebeneinander<br />
von Drachen und Alligatoren/Krokodilen offiziell bewusst<br />
gewesen sein. Geehrt werden sie ja in China immer noch<br />
durch die alljährliche Tradition der Drachen-Umzüge zu<br />
Festen und Drachenboot-Rennen! Das Rennen ist eines der<br />
drei wichtigsten Feste und nahm früher oft den Charakter<br />
einer Seeschlacht an. Die mit 50 Mann besetzten Boote sowie<br />
die Zuschauer bewarfen sich mit Steinen und anderen<br />
Projektilen, was auch tödlich enden konnte. Niemand half<br />
da einem ins Wasser Gefallenen. Schließlich soll der Flussgott<br />
ja auch seine Opfer haben! Entstanden dürfte dieses<br />
Spektakel aus Fruchtbarkeitsriten und Opferungen an die<br />
in den Seen wohnenden Drachengottheiten. Verbunden<br />
sind sie heute noch mit Weihen der Boote und religiösen<br />
Riten, durchgeführt nicht von den Ruderern, sondern von<br />
den Zusehern. Bis ins 19. Jhdt. hatten auch die Schmugglerboote<br />
und Piraten Drachenboote. Heute allerdings sind<br />
„Fernöstlicher Drache“ Das Drachenbuch S. 123<br />
diese zu auffällig! Heutzutage gibt es z.B. anlässlich eines<br />
Flößerfestes in Mecklenburg bereits Drachenbootrennen,<br />
die Boote lassen sich wunderbar gestalten und im Zuge der<br />
Fantasy-Bewegung hält die positive Besetzung des Drachens<br />
Einzug.<br />
Auch musste so manches Gebäude in China ein großes<br />
Loch als Durchblick für den in den Bergen wohnenden Drachen<br />
bekommen. Er will ja schließlich von seiner Höhle aus<br />
das Meer sehen! (z.B. sah ich in Hongkong statt des bankrott<br />
gegangenen Repulse Bay Hotels ein neues Gebäude<br />
mit großem (ca. 400 m 2 ) Loch.)<br />
In China ist der Drache der Hüter der östlichen Himmelsrichtung<br />
und eines der 12 „Jahres- und Stundentiere“. Auch<br />
die Lage der Gräber der Ming-Kaiser in Peking sind auf einer<br />
Seite mit einem Drachenberg flankiert und auf der anderen<br />
mit einem Tigerberg. Das sichert gute Energie, denn<br />
beide Tiere sind unzertrennlich wie Wind und Wasser und
DRACHEN|März 2017<br />
7<br />
sind laut Feng Shui ständig wechselseitig sich beeinflussende<br />
Pole wie Yin (Tiger) und Yang (Drache).<br />
Der chinesische Drache ist also nicht wie meist in der<br />
abendländischen Tradition nur „böse“! (auch nicht der Drache<br />
Fafnir in der Edda, der weise Ratschläge an Sigurd gibt)<br />
.Von einem Drachen (siehe wiederum oben : Das Drachenbuch)<br />
stammte bereits im 3. Jahrtausend v. Chr. der legendäre<br />
Gelbe Kaiser Huangdi ab oder der berühmte Konfuzius.<br />
Der Drache war eng mit den chin. Kaisern verknüpft<br />
und galt nicht nur als Symbol des Ostens, der aufgehenden<br />
Sonne und des Frühlingsregens, sondern auch als Symbol<br />
der Tugend, Macht und Würde.<br />
Allerdings waren nur die fünfzehigen Drachen dem Kaiser<br />
„Germanisches Monster“ Mitgardschlange - Jörmungand, S. 114<br />
vorbehalten. Der mit vier Zehen blieb für das Volk und der<br />
mit drei den Japanern (S. 126).<br />
In Europa konnte es schon mal vorkommen, dass man z.B.<br />
im 16. Jhdt. ein Bild eines in der Türkei gefangenen Krokodils,<br />
lateinisch beschriftet mit „Crocodil“, auf Deutsch mit<br />
„Lindwurm“ übersetzte.<br />
Zu Ehren unserer europäischen Drachen/Lindwürmern wurden/werden<br />
keine Rennen veranstaltet, vielmehr wurden<br />
sie – wie natürlich auch in China – von Drachentötern und<br />
Rittern bekämpft/getötet oder ihnen Opfer gebracht, wie<br />
Schafe, Kühe oder Jungfrauen. Vor wenigen Jahren war in<br />
Bayern, Kreis Traunstein/Chiemsee eine tatsächlich sogenannte<br />
„Jungfrauenhöhle“ ausgegraben worden. Es befanden<br />
sich Gebeine von 100 jungen Mädchen/Frauen darin!<br />
Wenn wir im Herbst Drachen aus Papier basteln und steigen<br />
lassen, wird es wohl kein Ritual zu Ehren der Drachen<br />
sein. Sondern unsere Flugdrachen sollen wie der kleine<br />
Flugdrache, die Echse „Draco volans“, die in Asien mit ihren<br />
Hautsegeln immer noch von Baum zu Baum gleitet, ein<br />
Erlebnis des Segelns und Fliegens darstellen.<br />
Die Fantasy-Schiene lässt die alten Märchen und Legenden<br />
vergessen oder eben wieder verbrämt aufleben. Der<br />
Drache bekommt ein neues Image, sei es in Trickfilmen,<br />
Filmen, Musicals, Comics, Kinder- und Jugendbüchern. (siehe:<br />
Das Drachenbuch S. 229) Drachenspiele sind seit 1974,<br />
als das Echtzeit-Rollenspiel Dungeons & Dragons auf den<br />
Markt kam, sehr beliebt und - dem Zeitgeist entsprechend<br />
- actionreich.<br />
Die Fantasy-Welt lässt den Drachen weiterleben und setzt<br />
ihn erfolgreich ein.<br />
Burkhard Sievers stellt verschiedene Möglichkeiten auf, einen<br />
Drachen zu behandeln oder ihm beizukommen:<br />
1. Heroisch: „Du musst ihn töten!“<br />
2. Magisch, wie im Märchen „Der Froschkönig“: „Küss ihn!“<br />
3. Als chinesische Version: „Er ist der Herr der Weisheit<br />
und des Regens!“<br />
4. Als Science-Fiction-Ansatz: „Reite ihn!“<br />
5. Als Lösung des einsamen Kindes: „Lass uns Freunde<br />
sein!“<br />
Und vieles mehr lesen Sie im antiquarisch erhältlichen,<br />
sehr pointiert und unglaublich spannend zu lesenden<br />
Werk von Ditte Bandini (studierte Völkerkunde, Religionsgeschichte,<br />
Indologie, arbeitet an der Heidelberger Akademie<br />
der Wissenschaften) und Giovanni Bandini (studierte<br />
Indologie, Vergl. Religionswissenschaft, Indische Kunstgeschichte):<br />
Das Drachenbuch. DTV München, 2002, 262 S.,<br />
ISBN 3-423-24318-X<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Geb.1952 in Steyr, studierte in Salzburg Germanistik & Geografie,<br />
unterrichtete an der HAK STP. Gab zwei Lyrikbände mit figurativen-<br />
und Landschafts-Bildern heraus. Ist Bildende Künstlerin - vorwiegend<br />
Grafik & Acryl. Stellte in Stockholm, Rio, Peking, Brünn,<br />
Pennsylvania u.a. Lebt in St.P./Pottenbrunn seit 1980. Seit 2003<br />
Obfrau der LitGes und HG v. "<strong>etcetera</strong>" und Leiterin der Jour-fixe<br />
Schreibstätten sowie der Schreibwoche auf Schloss Drosendorf.<br />
Mitglied des PEN-Ö und PEN international.<br />
Idee
8<br />
DRACHEN|März 2017<br />
Josef Winkler<br />
Der Kampf mit dem Bild<br />
Eva Riebler führte im Atelier der Schupfengalerie Herzogenburg<br />
2016, anlässlich eines seiner jährlichen Workshops vorot<br />
ein Interview mit dem Wiener Maler Josef Winkler. 15.11.<br />
1925 Skorpion/Aszendent Löwe, Fotos Eva Riebler-übleis<br />
Unabhängigkeit, nicht nur von Malmitteln und diversen<br />
Techniken?<br />
Das liegt in meiner Natur. Ich bin nicht der Typ, der sich unterordnen<br />
kann. Höchstens dem Bild ordne ich mich unter!<br />
Liegt Deinen Bildern ein Thema zugrunde? (kompositorischer<br />
Prozess)<br />
Grundsätzlich nein, ich habe aber zwei Stoßrichtungen, das<br />
ist Alpha und Omega, Anfang und Ende und das Thema Metamorphose.<br />
Dein Lieblingsthema ist Metamorphose: So hieß in der<br />
Landhaus-Brücke Deine Solo-Ausstellung 2016, und<br />
auch Deine Papierarbeiten hatten im Katalog von 1999<br />
den Übertitel: Von Alpha bis Omega, Erotische und existentielle<br />
Metamorphose.<br />
Was bedeutet Metamorphose für Dich?<br />
Nicht Lieblingsthema sondern Grundthema! Das ganze Leben<br />
ist Verwandlung, auch der Geschlechtsverkehr ist Verwandlung.<br />
Auch die Zeugung ist Metamorphose. Die Jahreszeiten<br />
sind ständiger Prozess…<br />
Interview<br />
Du bist mit 90 Jahren ein Kämpfer, so auch in der Malerei<br />
– kann man das so sagen?<br />
Ja! Ich arbeite ohne Waffe!<br />
Kämpfst Du mit der Malerei wie mit dem Drachen?<br />
Wenn Malerei als Kampf bezeichnet wird, als seelische Resonanz<br />
des Künstlers, dann geht’s nur so. Weil man sich voll<br />
und ganz einbringt. Es ist die Auseinandersetzung zwischen<br />
Bild und mir. Meistens gewinnt das Bild! Und so soll es ja<br />
auch sein!<br />
Du bezeichnest Dein Atelier als „Folterkammer“, wieso?<br />
Ja, wenn die Gestaltung eines Bildes nicht die dekorative<br />
Auseinandersetzung ist, dann ist es ein Kampf. Wenn ich<br />
das Atelier aufsperre, dann bin ich für niemanden zu sprechen.<br />
Es gibt nur mehr das Bild und mich!<br />
Wie wichtig ist für Dich die persönliche Freiheit und<br />
Du malst expressiv gestisch.<br />
Nicht immer! Ich höre auf den Resonanzboden meines Inneren.<br />
Es ist abhängig von der Tagesverfassung. Ich hasse<br />
Wiederholungen, ich habe eine panische Angst davor! Das<br />
Expressive im missverstandenen Sinn geht in das Dekorative!<br />
Wie sehr sammelst Du Dein Inneres beim Malprozess?<br />
Fast 100-prozentig. Wenn ich male bin ich einem zeitlosen<br />
Zustand! Ich weiß nicht wie lange ich male, wenn ich dabei<br />
bin….<br />
Deine Malerei wurde seit den 90ern immer mehr abstrakt.<br />
Hie und da tauchen Köpfe, meist Totenschädel,<br />
und Schriftzeichen oder Zahlen auf. Gehören diese zum<br />
Gestischen oder zum Informellen?<br />
Für mich ist es eigentlich ein Gestaltungsprozess, der Totenkopf<br />
taucht einfach auf. Er ist nicht Dekoration. Also eher<br />
Informelle Malerei. Das Gestische überschneidet sich mit<br />
dem Formellen. Die informelle Malerei hat sich erweitert.<br />
Beim Abstrakten gibt es immer Formen. Beim Informellen<br />
nicht.<br />
Als Surrogat kommt wieder Alpha und Omega oder Metamorphose<br />
heraus.
DRACHEN|März 2017<br />
9<br />
Welche Rolle spielt die Vergänglichkeit für Dich? Wie<br />
korrelieren Vergänglichkeit und Zufall?)<br />
Ich versuche nicht mich mit dem Vergänglichen zu beschäftigen.<br />
Die künstlerische Tätigkeit passiert im Jetzt!<br />
Ist die Bezeichnung „schön“ als Atribut für Deine Bilder<br />
für Dich ein Schimpfwort?<br />
Nein, aber nicht korrekt! Denn für mich ist Kunst entweder<br />
Rot ist es, falls man Erotik von einer Farbe ableitet.<br />
Ich kenne ein Werk mit dem Titel: „seelisches Selbstportrait“<br />
von Dir. Warum ist es das düsterste Bild, das<br />
ich je gesehen habe?<br />
Ja, dieses Selbstportrait war eigentlich ein Zustandsportrait.<br />
Diese Bild war eine Standortbestimmung meiner<br />
Befindlichkeit. Ich habe damit abgeschlossen: „Ich bin ein<br />
Kriegskind.“ Diese Zeit habe ich malerisch auszudrücken<br />
versucht.<br />
Was ist für dich das Resultat Deines Oevres?<br />
Ich stelle mich jeden Tag in Frage! Jedes Bild ist für sich ein<br />
Unikat! Jedes Bild ist ein täglicher Kampf und ich weiß nie,<br />
ob am nächsten Tag mir das wieder gelingt!<br />
gut oder schlecht. Schön ist dekorativ.<br />
Du sagtest einmal: „Dort, wo die Worte aufhören, beginnt<br />
das Bild erst seine Entfaltung!“ Heißt das, Du<br />
möchtest über Deine Bilder nicht sprechen?<br />
Ja, wenn ich das Bild erst erklären muss, dann ist das Bild<br />
schlecht!<br />
Warum bringst Du die Acrylfarben rein auf den Bildträger<br />
und mischst erst dort, statt auf der Palette?<br />
Es erleichtert mir die expressive Malerei. Der Weg von der<br />
Palette zum Bild ist ein Leerlauf.<br />
Ich kenne kein Blau oder Grün in Deinen Bildern ….<br />
Ja weil Erdfarben mehr meiner seelischen Befindlichkeit entsprechen.<br />
Ich fühle mich dann noch mit Rot verbunden …<br />
Ist Rosa und Rot für Dich die Farbe der Erotik?<br />
Josef Winkler<br />
Geb. 1925 in Wien, lebt in Wiener Neustadt, Atelier in Wien. Besuchte<br />
1946 die Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt.<br />
1947/48 Studium an der Akademie der bildenden Künste bei<br />
Josef Dobrowsky und Herbert Boeckl. 1948-1950 Stipendiat an<br />
der Art School in Guildford, London/Großbritannien. Zu Beginn<br />
der Wiener Schule des Phantastischen Realismus verbunden, verschrieb<br />
sich dem Kunsthandel und widmet sich wieder seit 1990<br />
als freischaffender Künstler der Malerei. Nun ausschließlich im<br />
Stil des abstrakten Expressionismus.<br />
Ausstellungen (Auszug)<br />
2017 Art Austria, Leopoldmuseum Wien in der Galerie Anton Figl<br />
2016 Landhausgalerie ST.P., Galerie Anton Figl Schreinerg. St.P.,<br />
Kunst- und Antiquitätenmesse Laxenburg und Künstlerhaus Wien<br />
2014/15 2x Klasan Galerie und „Highlights der Art Austria“ in der<br />
galerie Figl im Leopold Museum, Wien<br />
2012 Kunst im Senat, „Josef Winkler: Arbeiten auf Papier“, Wiener<br />
Neustadt<br />
2011 Galerie Wolfgang Exner, „Vorsicht Farbe“, Wien und artmark<br />
2009 artmark galerie, Wien u.a. Galerie 16, Wien,<br />
2005 Galerie Wolfgang Exner, „Stripes-Lines-Colours“, Exner "Reduktionen“,<br />
Figl Galerie Modern Art. St.P.<br />
2001 Evelyn County Estate Gallery, Melbourne/Australien<br />
2000 Galerie Wolfrum, „Frühe Graphik der Wiener Schule“, Wien<br />
Galerie Kunstraum, „Winkler x 2“, Wien und Kunstverein Bad Salzdetfurth,<br />
Schlosshof Bodenburg, Deutschland<br />
Kunsthandel Metropol, „From Alpha to Omega“, Wien<br />
Galerie Kunstfehler, „Spurensicherung“, Wien<br />
1995 Galerie Wolfrum, „Nicht nur die Farbe Blau“, Wien<br />
1992 Österreichisches Parlament, Wien<br />
Interview
10 DRACHEN|März 2017<br />
Wolfgang Mayer König<br />
Der gehörnte Siegfried und sein Drache<br />
Die jüngere Moritat einer älteren Ballade<br />
Essay<br />
Dort oben taumelt mein alternder Drache, bevor er gänzlich<br />
erblindet, wird Gras über dem Schnee stehen. Wir<br />
fördern versteinerte Linden zu Tage, fixieren sie vor dem<br />
Eingang zur Höhle des Drachen. Ich sehe sie immer noch<br />
nutzlos dastehen, in unzulänglicher Länge aufwärts ragen.<br />
Wie einer Sage entrissen, bäumt er sich ein letztes Mal<br />
auf, wie zum Spott über den Unterschied zwischen ihm,<br />
dem altersschwachen, mehr verschleimt hüstelnden als<br />
effizient Feuer speienden Drachen und der muskulösen<br />
Kleinheit, Gedrungenheit und dümmlichen Blondheit von<br />
Siegfrieds eigentlich lächerlicher Gestalt, die allerhand<br />
Sprungakrobatik auf sich nehmen muss, um den alten<br />
Herren mit solcher Herumstichelei doch noch unterzukriegen.<br />
Als fatalistisches Symbol für das Geschehenlassen<br />
eines solchen Blutbades, schaukelt im Wind, die<br />
Schwerkraft mildernd, ein Lindenblatt hernieder, und das<br />
ausschließlich, um die verletzbare Stelle, angesichts solcher<br />
schnöder Vollkommenheit, aber auch eines solchen<br />
Übermaßes an unbeobachtet geglaubter Unverletzlichkeit,<br />
zu markieren. Wäre ja gar nicht notwendig gewesen.<br />
Denn die Verletzlichkeit bestand ja schon vorher; sie<br />
bestand einfach darin, dass Siegfried stets den Mangel<br />
empfinden musste, dass er vaterlos, also herkunftslos<br />
war. Die anderen deutschen Helden kämpften immer und<br />
überall, weil sie stets auf der Suche waren nach der einen<br />
Anerkennung eines gütig Grenzen setzenden Regiments<br />
eines Vaters, den viele jedoch nicht kannten. Sie waren<br />
ja immer auf der Suche danach unterwegs gewesen. Die<br />
meisten der deutschen Heldenfiguren, wie Siegfried, Parzifal<br />
oder Tristan, aber auch viele deutsche Politiker der<br />
Gegenwart, kannten ihre Väter nicht. Wenn eine bildhafte<br />
Darstellung für sie aufzutreiben war, konnte ihnen das<br />
wenigstens niemand nehmen. Die unbekannte Herkunft<br />
Siegfrieds verlockte zur Ausgestaltung seiner Jugendgeschichte,<br />
mündete im Lied vom „hürnen Seyfried”, im<br />
Volksbuch vom gehörnten Siegfried. Die Dimension solch<br />
verordneter und eingefädelter Gehörntheit, und damit frevelhaft<br />
missbrauchter Gutmütigkeit, erreicht tragisches<br />
Ausmaß. Was durch die Brautwerbung eines merowingischen<br />
Fürsten in das burgundische Königshaus hinein<br />
begann, konnte nur dann mit einer Einheiratung erfolgreich<br />
enden, wenn vorerst der Gatte beseitigt war. Hier<br />
könnte auch kein Schwert „Balmung” oder „Gram” oder<br />
auch „Grimm” helfen, weil im Unterschied zu einem alternden<br />
Drachen menschliche Hinterlist und Tücke stets<br />
gewaltsamer sind als alle Schwerter dieser Welt. Weil<br />
auch der Gutgläubige letzten Endes stets schutzlos und<br />
damit machtlos ausgeliefert ist, den unter jede Bestialität<br />
reichenden Niederungen des Lebens wirkungsvoll zu<br />
begegnen. Die sogenannte Liebe macht es auch leicht,<br />
die weibliche Ichbezogenheit wissentlich oder unbewusst<br />
zu instrumentalisieren, leicht, die Treue als patriarchalisch<br />
und veraltet abzuqualifizieren. Die Männer zu Profilierungs-<br />
und Kampfmaschinen abzustempeln und für<br />
sich selbst gleichzeitig erotische Freiräume zu schaffen.<br />
Angestachelt von den Distanzfantasien der Dichter und<br />
Sänger, sich nur aus der Entfernung unerreichbar zu nähern.<br />
Während der Gatte die bittere Wirklichkeit des Niedergangs<br />
und der Preisgabe an die Lächerlichkeit durchmacht.<br />
Dabei ging es immer nur um die geheime Macht<br />
der Frau, begehrenswert, verlockend und anziehend zu<br />
wirken und lieblich auszuschauen, aber tatsächlich kälter<br />
als der Tod zu sein. Der Geste der Männer nicht abgeneigt,<br />
aber schlussendlich doch auch auf ihre kampfbedingte<br />
Entsorgung insgeheim bedacht, berechnend und<br />
gefühlskalt die eigene geschlechtliche Stellung dabei<br />
auszuspielen. Völlig verfehlt also der immer wiederkehrende<br />
sprichwörtliche Vergleich mit dem Drachen oder<br />
„Hausdrachen”. Dem ohnehin durch seine Herkunftslosigkeit<br />
von Haus aus für sein Leben geschwächten Held<br />
wird so der Rest gegeben. Das Publikum war stets auf die<br />
Präsenz solcher Helden ausgerichtet. Die Söhne hätten in<br />
spielerischem Kampf dagegen aufbegehren können. Aber<br />
die Fortsetzung des Spiels ist nie der Ernst, sondern immer<br />
nur die Wirklichkeit, die den Menschen einholt, gleich<br />
wo er steht. Es sollte ihm kein Vorbild fehlen, an dem er<br />
sich messen, an dem er sich reiben kann. Kinder wollen<br />
unbedingt an einem Punkt ihres Lebens, die Anerkennung<br />
beider Elternteile erlangen können, so selbstbewusst sie<br />
auch sein mögen. So gelänge auch die Zueinanderfindung
DRACHEN|März 2017<br />
11<br />
der Geschlechter, wenn jemals irgendein Vorbild erlebbar<br />
gewesen wäre. Es genügt keineswegs, mit dem offenen<br />
Geheimnis von Zuneigung, sich mit solchem Liebesadel<br />
ausgestattet, an die empfindsame Seele des Publikums<br />
zu wenden, das, der uferlosen Freiheit der liebenden Augenblicksempfindung<br />
wegen, den Liebenden alle Ränke<br />
verzeihen soll, die sie beispielsweise an den betrogenen<br />
Ehegatten begehen. Hier werden bedenkenlos Beziehungen<br />
diesseits und jenseits der Lust zerstört, in den<br />
Krieg geschickte Männer verheizt und ihnen im Eventualfall<br />
danach, nicht einmal mehr die Rolle des Heimkehrers<br />
zugebilligt, sondern nur mehr der Zustand der Lächerlichkeit.<br />
Bedenkenlos werden Familien ruiniert und damit die<br />
Grundlage einer gewalttätigen und menschenverachtenden<br />
Spaß- und Hassgesellschaft geschaffen, mit all den<br />
in ihrer ödipalen Entwicklung stecken gebliebenen Jugendlichen,<br />
die das blutige Schauspiel stets erheitert mitverfolgen,<br />
wie in allem und jedem immer nur der monströse,<br />
mit zweifelhafter Existenz ausgestattete, Drache<br />
zumindest virtuell ausgelöscht werden soll, und, über das<br />
rauschhafte Kampferlebnis hinweg, am Ende des Tages<br />
die ernüchternde, ganz andere Wirklichkeit überbleibt und<br />
auch nächtlich allmählich sichtbar wird, nämlich ein Meer<br />
von Blut ermordeter Menschen und Völker, in welchem<br />
die Menge badet.<br />
Wolfgang Mayer König<br />
Geb.1946, Schriftsteller und Universitätsprofessor. Lebt in Emmersdorf<br />
Bezirk Melk und Graz. Gründer des Universitätsliteraturforums,<br />
Herausgeber der Literaturzeitschrift LOG, Autor von<br />
45 belletristischen Büchern. Koordinator der humanitären Wiederaufbauhilfe<br />
in Vietnam mit dem Intern. Roten Kreuz in Genf.<br />
Beauftragter der Verhandlungen zur Freilassung der Geiseln nach<br />
dem OPEC-Terrorüberfall. Delegierter bei den Vereinten Nationen.<br />
Österr. Ehrenkreuz f. Wissenschaft u. Kunst 1. Klasse, Oberösterr.<br />
Kulturmedaille, Chevalier des Arts et des Lettres der Republik<br />
Frankreich. Ehrenobmann der Literarischen Gesellschaft St. Pölten<br />
seit 2006. „Das begeisterte Wort” (46. Werk) Rez. siehe S. 58<br />
Essay
12 DRACHEN|März 2017<br />
Foto©Manfred J. Schusser<br />
Anna Rubin<br />
In die Luft gebaut<br />
Interview mit Anna Rubin, Drachenbauerin aus Kärnten. Um<br />
das Interview bemühte sich die St. Pöltner Drachenbauerin<br />
Elfriede Starkl, die selbst Drachen aus eigens eingefärbten Papieren<br />
herstellt und Kurse bei Anna Rubin in Kärnten besuchte.<br />
Seit 13 Jahren baust Du Drachen. Wie kamdt Du zu<br />
Deiner Beschäftigung als Drachenbauerin?<br />
Ich glaube, meine Kindheit hat meinen Werdegang stark<br />
beeinflusst. Ich bin in Göltschach in Maria Rain in Kärnten<br />
aufgewachsen. Meine Eltern sind von Wien hierher gezogen<br />
und haben als Aussteiger in den Siebzigern eine<br />
selbst gestaltete Lebensweise versucht, die sehr naturverbunden<br />
war. Meine Geschwister und ich haben den<br />
größten Teil unserer Kinderzeit im Wald verbracht. Das<br />
hat mich stark geprägt. Stimmungsbilder aus dieser Zeit<br />
und eine Verbundenheit mit der Natur beeinflussen mich<br />
bis heute in meinem künstlerischen Tun. Die Beschäftigung<br />
mit dem Fliegen – auch meine Diplomarbeit habe ich<br />
diesem Thema gewidmet – hat meiner Meinung nach mit<br />
diesen „Wurzeln“ zu tun<br />
Malerei zur Erkenntnis räumlich arbeiten zu wollen. Ich<br />
hatte bisher schon viele Arbeiten gemacht, die aus der Vogelperspektive<br />
entstanden waren. Bereits während meines<br />
Studiums habe ich mich mit dem Fliegen und der Landschaft<br />
beschäftigt. Landschaft und Wind haben in meinen<br />
Projekten immer schon eine wesentliche Rolle gespielt. Im<br />
Textilen Gestalten habe ich Objekte für den Wind gebaut,<br />
und in der Malerei habe ich überwiegend Bilder aus der<br />
Vogelperspektive gemalt. Die Materialien, die ich verwendet<br />
habe, hatten ihren Ursprung oft in der Natur: Blätter,<br />
Gräser, Federn.<br />
Welches Material bevorzugst Du? Welche Art von Drachen<br />
baust Du?<br />
Ich baue Leichtdrachen, vorwiegend aus natürlichen Werkstoffen,<br />
in erster Linie aus Bambus und Washi-Papieren.<br />
Vor allem im Bambus ist die Vitalität der Natur spürbar. Er<br />
hat Charakter, er hat seinen eigenen Willen, und man kann<br />
ihm nichts aufzwingen. Es entsteht dadurch gewissermaßen<br />
ein Dialog zwischen dem Material und meinen Händen.<br />
Das Bauen von Drachen ist für mich ein künstlerisches<br />
Ausdrucksmittel. In meinen Augen ist der Drache erst dann<br />
vollendet, wenn ich ihn fliegen lasse und dadurch mit dem<br />
Landschaftsraum kommuniziere.<br />
AmGrund©FotoRamlalTien<br />
Interview<br />
Du wolltest immer schon fliegen?<br />
Ja seit meiner Kindheit! Das Grösste ist, wenn ein Drachen<br />
vom Boden abhebt, bevor er ganz weit oben im Himmel<br />
schwebt.<br />
Du hast an der Akademie der Bildenden Künste in<br />
Wien studiert. Kamst Du durch Deine Diplomarbeit<br />
zum verstärkten Interesse, mit Drachen zu arbeiten?<br />
Ich suchte den roten Faden, das durchgängige Thema in<br />
meinen bisherigen Arbeiten und so kam ich weg von der<br />
Du besuchtest zahlreiche Drachen-Events im Ausland?<br />
Ja, zuerst fuhr ich aufs Geradewohl nach Frankreich,<br />
denn die Bastelanleitungen „Wie baue ich einen Drachen”<br />
waren nicht befriedigend. Dort lernte ich zufällig<br />
einen Mann kennen, der seit 20 Jahren Bücher übers<br />
Drachenbauen sammelt.<br />
Später war ich in Japan und nach Aufenthalten an den
DRACHEN|März 2017<br />
13<br />
Kunsthochschulen in London und Schweden habe ich<br />
mein Studium in Wien abgeschlossen und bin nach<br />
Kärnten zurückgekehrt. Zuerst habe ich am künstlerischen<br />
Gymnasium in Klagenfurt-Viktring unterrichtet.<br />
Doch die Tätigkeit als Kunsterzieherin hat sich mit<br />
meinem zunehmenden Interesse am Thema Drachen<br />
nicht verbinden lassen. Und so habe ich den Schritt in<br />
die Freiberuflichkeit gewählt.<br />
HugMeHammock©FotoRamlalTien<br />
Wald©FotoRamlalTien<br />
Als Freiberuflerin kannst Du von Deiner Kunst leben.<br />
Du veranstaltest Kurse? Wie muss man sich das vorstellen?<br />
Als freischaffende Drachenbauerin mache ich Auftragsarbeiten,<br />
baue Drachen für unterschiedliche Projekte,<br />
bin ich aber nicht nur dem Drachenbauen an sich beschäftigt.<br />
Auch raumgreifende Installationen und Ausstellungen<br />
sind Teil meiner Arbeit. Außerdem werde ich<br />
oft zu internationalen Drachenfestivals eingeladen. Seit<br />
2003 beschäftige ich mich nun einerseits damit, meine<br />
Entwürfe in flugfähige Objekte umzusetzen. Andererseits<br />
biete ich Kurse für Kinder und Erwachsene an und<br />
vermittle ihnen darin das Handwerk des Drachenbauens<br />
in Zusammenhang mit künstlerischer Qualität. Die Arbeit<br />
ist sehr abwechslungsreich. Ich bin nun nur mehr<br />
für mich und meine künstlerische Arbeit verantwortlich!<br />
Und so war ich schon in vielen Ländern in Europa, auch<br />
in Japan, Mexiko, Kanada und den USA.<br />
Wo baust Du vorwiegend Deine Objekte?<br />
In meinem Atelier in Göltschach baue ich die Drachen<br />
nach kleinen Ideenskizzen – in traditioneller japanischer<br />
Weise mit Bambus, Papier und Tusche. Der handwerkliche<br />
Prozess, also die Möglichkeiten des Fertigens, und<br />
das Wissen über die Gesetzmäßigkeiten des Fliegens<br />
wirken in jeden Entwurf selbstverständlich stark mit ein.<br />
Wie geht es nach der Ideenfindung weiter?<br />
Nachdem ich den Bambus gespalten habe (das geschieht<br />
mit einer japanischen Technik, die das Wissen über die<br />
Materialeigenschaften des Bambus voraussetzt), baue ich<br />
ein Gerüst aus feinen Bambusstäben. Diese werden an den<br />
Kreuzungspunkten der Konstruktion geleimt und mit Garn<br />
verknotet. Auf das so entstandene Bambusgitter klebe ich<br />
in Hinblick auf die Aerodynamik spezielle japanische Papiere<br />
auf. Das Anbringen verschiedener Leinen – wie etwa<br />
Flugleine oder Waag- und Spannschnur – macht den Drachen<br />
dann flugbereit. Danach kommt der spannende Moment<br />
des Flugtests. Hebt der Drache ab und steigt auf und<br />
auf und auf, dann verändert er auf faszinierende Weise meinen<br />
Maßstab im Landschaftsraum. Das ist die Krönung der<br />
Arbeit mit Drachen, mit jedem einzelnen.<br />
Die Krönung der Arbeit ist der erste Flug des Drachens!<br />
Was ist die Krönung Deines Schaffens als Künstlerin?<br />
In seinem Buch „Kafka am Strand“ schreibt der japanische<br />
Schriftsteller Haruki Murakami: „Als Mensch definiert<br />
man sich bis zu einem gewissen Grad über den Ort, an<br />
Gefaehrte©FotoRamlalTien<br />
Interview
14 DRACHEN|März 2017<br />
dem man geboren und aufgewachsen ist. Denken und<br />
Fühlen stehen wahrscheinlich mit der Topografie, der<br />
Temperatur und der Windrichtung dort in Beziehung.“<br />
Für mich beschreibt Murakami in diesem Zitat in wenigen<br />
Worten genau das, was ich versuche, mit meiner Arbeit<br />
und in meinen Gesprächen zu vermitteln.<br />
Anna Rubin<br />
Geb.1972 in Klagenfurt, wuchs in Göltschach bei Maria Rain in<br />
Südkärnten auf, wo sie derzeit lebt und ihr Atelier hat. Sie studierte<br />
1993 bis 2000 Textil bei Frau Prof. Eveline Bischof und Malerei<br />
bei Markus Prachensky an der Akademie der Bildenden Künste in<br />
Wien und absolvierte Auslandsstudien in Schweden (1996) und<br />
London (1999). Im Jahre 2000 schrieb sie ihre Diplomarbeit über<br />
das Thema Drachen. Nach zwei Jahren als Pädagogin in einem<br />
Gymnasium machte sie sich 2003 als freischaffende Drachenbauerin<br />
selbstständig. 2000 bis 2009 erhielt sie Einladungen zu internationalen<br />
Drachenfestivals in Japan, Canada, Frankreich, Italien und<br />
den USA. Seit 2003 gestaltet sie Ausstellungen und Drachenworkshops<br />
auf der ganzen Welt.<br />
Interview<br />
Nest©FotoAlessiaMarrocu
DRACHEN|März 2017<br />
15<br />
Gerald Axelrod<br />
Von einem Wüterich, der hieß Fürst Dracula<br />
aus der Walachei<br />
Von Drachen, Vampiren und Adeligen<br />
Graf Dracula, den sogenannten Drachenorden, dem dieser<br />
angehörte, und darüber, was das alles mit der Familie Esterházy<br />
zu tun hat. Grund genug für Thomas Fröhlich, den Fotografen<br />
und Autor Gerald Axelrod zum Interview zu bitten.<br />
Fotos ©Gerald Axelrod<br />
Liane Angelico und Gerald Axelrod<br />
Der 1962 in Hard (Österreich) geborene Fotograf Gerald<br />
Axelrod verfügt nicht zuletzt dank seiner Fotobücher über<br />
Bram Stokers Dracula, Mary Shelleys Frankenstein, die Blutgräfin<br />
Báthory oder das Nibelungenlied über eine große Fangemeinde<br />
und erweist sich in seinen Texten immer wieder<br />
als profunder Kenner der Materie. Er begann im Alter von 13<br />
Jahren, seine ersten Schwarz-Weiß-Fotos selbst zu vergrößern;<br />
1997 veröffentlichte er den Fotoband „... als lebten die<br />
Engel auf Erden“, der sich rasch zu einem Kultbuch entwickelte<br />
und dem zahlreiche weitere Publikationen folgten. Mit<br />
über einem Dutzend Ausstellungen in Europa und den USA<br />
(u.a. in der Leica Gallery in New York) gehört Gerald Axelrod<br />
heute zu den international renommierten Fotografen. Er lebt<br />
und arbeitet in Lilienfeld in Niederösterreich.<br />
Regelmäßig spricht er bei seinen Führungen (etwa auf Burg<br />
Lockenhaus) über den wohl berühmtesten Vampir der Welt,<br />
Du bist ein ausgewiesener Kenner der Materie. Du<br />
hast unter anderem ein Buch über den (fiktiven wie<br />
auch historischen) Dracula geschrieben, Du machst<br />
Führungen auf der Burg Lockenhaus zum Thema – was<br />
fasziniert Dich an dem alten Blutsauger denn so?<br />
Gerald Axelrod: Im Gegensatz zu anderen Monstern, die<br />
einfach nur das Böse verkörpern, besitzt Dracula eine ganze<br />
Reihe von beneidenswerten Eigenschaften:<br />
• Er ist – jedenfalls in den meisten Filmen – ein gut<br />
aussehender Graf, der auf einem Schloss wohnt.<br />
• Er kann sich in eine Fledermaus verwandeln und<br />
fliegen – ein uralter Menschheitstraum.<br />
• Er besitzt übernatürliche Kräfte und ist unsterblich.<br />
• Seine bevorzugten Opfer sind junge, hübsche<br />
Mädchen, so dass beim Biss in den Hals eine<br />
starke erotische Komponente mitschwingt. Gleichzeitig<br />
wird eine Liebe über den Tod hinaus angedeutet.<br />
• Er ist ein Grenzgänger zwischen dem Diesseits<br />
und dem Jenseits und scheint folglich das Geheimnis<br />
des Todes zu kennen.<br />
Der Blutmythos findet sich in fast allen alten Kulturen dieser<br />
Welt. Blut ist Leben! Deshalb trank man früher Tierblut,<br />
um die Kräfte des jeweiligen Tieres zu erlangen. Dieser<br />
Glaube ist offenbar tiefverwurzelt, denn obwohl die Bibel<br />
und der Koran den Blutgenuß verbieten, war es in Europa<br />
bis ins 19. Jahrhundert hinein üblich, Blut als Medizin zu<br />
trinken. So sollte es beispielsweise die Epilepsie heilen.<br />
Der Schrecken, den Dracula verbreitet, beruht auf der uralten<br />
Angst der Menschen vor der Wiederkehr der Toten.<br />
Die Szenen, in denen Dracula oder andere Vampire aus den<br />
Gräbern steigen, gehören deshalb regelmäßig zu den Höhepunkten<br />
der Horrorfilme.<br />
Interview
16 DRACHEN|März 2017<br />
Und wer war denn dieser Dracula?<br />
Gerald Axelrod: Vlad Draculea (so der korrekte Name)<br />
kam 1431 in der transsilvanischen Stadt Schäßburg zur<br />
Welt und regierte später das benachbarte Fürstentum<br />
der Walachei. Er galt als grausamster und blutrünstigster<br />
Machthaber seiner Zeit, um den sich bis zum heutigen<br />
Tage unzählige Mythen ranken. War Draculea wirklich<br />
ein Vampir? Immerhin ließ er in den sechs Jahren seiner<br />
Schreckensherrschaft rund 100 000 Menschen auf bestialische<br />
Weise zu Tode foltern, wobei er speziell das Pfählen<br />
bevorzugte, was ihm den Spitznamen „Vlad Ţepeş“<br />
(sprich: Zepesch), also „Vlad der Pfähler“ einbrachte.<br />
Gleichzeitig kämpfte er aber auch mutig gegen die Türken,<br />
um die Freiheit seines Fürstentums zu sichern.<br />
land hängt das weltweit einzige Ganzkörper-Portrait von<br />
Fürst Dracula und man fragt sich: Wie kommt es da hin?<br />
Die Erklärung ist kurios: Adelige ließen früher ihre Stammbäume<br />
hemmungslos fälschen, um ihre Familien vornehmer<br />
erscheinen zu lassen. Die Familie Esterházy, der die<br />
Burg Forchtenstein gehört, war da keine Ausnahme. Im<br />
Jahr 1620 beauftragte Graf Nikolaus einen Geistlichen,<br />
Interview<br />
Dracul – Drache … Der historische Dracula war ja Mitglied<br />
des sogenannten Drachenordens. Was hat es<br />
denn damit auf sich?<br />
Gerald Axelrod: Kaiser Sigismund von Luxemburg gründete<br />
1408 den Drachenorden zum Kampf gegen die Türken<br />
und die Hussiten. Der Drache verkörperte das Böse<br />
schlechthin und der Drachenorden sollte – nach dem<br />
Vorbild des Hl. Georg oder des Erzengels Michael – das<br />
Böse bekämpfen und besiegen. 1431 schlug Kaiser Sigismund<br />
einen gewissen Vlad, den Sohn eines walachischen<br />
Fürsten, zum Ritter dieses Geheimbundes. Fortan durfte<br />
Vlad den Namen „Vlad Dracul“ tragen (abgeleitet vom<br />
lateinischen Draco = Drache). Im selben Jahr wurde in<br />
Transsylvanien, genauer gesagt in der Stadt Schäßburg,<br />
sein zweiter Sohn geboren, der den Namen Vlad Draculea<br />
erhielt und später als „Dracula“ in die Geschichte eingehen<br />
sollte. „Draculea“ bedeutet einfach „Sohn des Dracul“.<br />
Durch die Übersetzung in andere Sprachen entstand<br />
daraus Dracula, Dracole, Trakle etc. Anzumerken bleibt,<br />
dass „Dracul“ heute auf Rumänisch „Teufel“ heißt. Draculea<br />
wäre also der Sohn des Teufels. Auch wenn seine<br />
Taten diese Schlussfolgerung zulassen, so ist die Übersetzung<br />
dennoch falsch. Der Name stammt ohne Zweifel von<br />
Draco/Drache ab.<br />
Und was hat eigentlich das Adelsgeschlecht der<br />
Forchtensteins mit Dracula zu tun? Auf Burg Forchtenstein<br />
etwa ist Dracula Teil des Stammbaums (!)<br />
und es gibt dort auch das eine oder andere Dracula-<br />
Portrait …<br />
Gerald Axelrod: Auf der Burg Forchtenstein im Burgen-<br />
Fürst Dracula Burg Forchtenstein<br />
die gewaltigen Lücken in der Ahnenreihe mit zahlreichen<br />
frei erdachten Vorfahren zu füllen. In jener Zeit der Türkenkriege<br />
genoss Dracula ein hohes Ansehen, weil er heldenhaft<br />
gegen die Türken gekämpft hatte (erst später verwandelte<br />
ihn Bram Stoker in einen Vampir). Also fügte ihn<br />
jener Geistliche in den Stammbaum der Esterházys ein.<br />
Aber man brauchte einen Beweis. Kurzerhand ließ Graf<br />
Nikolaus ein Portrait malen und hängte es in seiner Ahnengalerie<br />
auf. Wer könnte jetzt noch zweifeln, dass die<br />
Esterházys vom ruhmreichen Dracula, dem erbittertsten<br />
Feind der Türken, abstammen?<br />
War Bram Stoker eigentlich der erste, der den Vampirmythos<br />
belletristisch nutzte? Oder gab‘s da Vorgänger?<br />
Ich denke da an Lord Byron, John Polidori<br />
(aus dem Mary Shelley-Umfeld), Alexandre Dumas …
DRACHEN|März 2017<br />
17<br />
Und dann hat Deine Gattin Liane Angelico ja ein hochinteressantes<br />
Buch aus längst vergangenen Tagen ins<br />
Hochdeutsche übersetzt: Kannst Du uns zu all dem<br />
mehr erzählen?<br />
Gerald Axelrod: Bram Stoker veröffentlichte „Dracula“ im<br />
Jahr 1897 und war damit nicht der erste, sondern der letzte,<br />
der auf der Vampirwelle des 19. Jahrhunderts mitschwamm.<br />
Burg Hunedoara Transsylvanien<br />
Nyirbator Ungarn<br />
Begonnen hatte alles im Sommer 1816. Damals verbrachte<br />
der exzentrische englische Dichter Lord Byron den Urlaub<br />
in der Schweiz, begleitet von seinem Freund Percy Shelley,<br />
dessen Geliebter Mary und seinem Leibarzt John Polidori.<br />
Wegen des endlosen Dauerregens saßen die vier jedoch die<br />
meiste Zeit in ihrer gemieteten Villa am Genfer See fest. Als<br />
Zeitvertreib lasen sie sich gegenseitig Schauermärchen vor,<br />
bis Lord Byron eines Abends vorschlug, dass jeder selbst<br />
eine Geistergeschichte schreiben sollte. Damals ahnte er<br />
noch nicht, dass in dieser stürmischen Gewitternacht die<br />
Geburtsstunde des modernen Horrorromans schlug und<br />
seine spontane Idee gleich zwei Monster zum Leben erwecken<br />
sollte: Frankenstein und den (literarischen) Vampir!<br />
Inspiriert von den vielen Schauergeschichten begann die<br />
damals 18-jährige Mary Shelley, den Roman „Frankenstein“<br />
zu schreiben. Lord Byron dagegen hatte in jener Nacht am<br />
Genfer See nicht das Glück, von einer Muse geküsst zu<br />
werden. Er schrieb nur zwei Tage lang mehr oder weniger<br />
lustlos an einer Kurzgeschichte herum, ehe er sich anderen<br />
Dingen zuwandte. Sein Arzt Polidori schnappte sich jedoch<br />
diesen Text und baute ihn zu einer 20-seitigen Geschichte<br />
aus, die er im April 1819 anonym und ohne Byrons Wissen<br />
mit dem Titel „The Vampyre“ veröffentlichte. Der Erfolg war<br />
sensationell. Bereits im darauffolgenden Jahr setzte in ganz<br />
Europa ein unglaublicher Vampir-Boom ein, der das ganze<br />
19. Jahrhundert hindurch anhielt und mit „Dracula“ seinen<br />
Höhepunkt erreichte.<br />
Im Buch „Von einem Wüterich, der hieß Fürst Dracula aus<br />
der Walachei“ von Liane Angelico und mir geht es dagegen<br />
wieder um den historischen Fürsten Dracula. Schon zu seinen<br />
Lebzeiten verfasste Michel Beheim einen ausführlichen<br />
Bericht über seine Schreckensherrschaft. Diesen mittelhochdeutschen<br />
Text übersetzte Liane erstmals ins Neuhochdeutsche,<br />
so dass jeder in dieser wichtigen zeitgenössischen<br />
Quelle nachlesen kann.<br />
Woher kommt Deiner Meinung nach dieses (wiedererstarkte)<br />
weltweite Interesse an Vampiren, Werwölfen,<br />
Zombies, Drachen? Speziell an Vampiren,<br />
die für mich persönlich eigentlich immer die interessantesten<br />
und charmantesten Untoten waren? Der<br />
Filmwissenschaftler Norbert Stresau etwa meint,<br />
dass es sich speziell bei der Person des Grafen Dracula<br />
(bezogen auf die Filme aus den 1930ern mit Bela<br />
Lugosi bzw. aus den 1950ern mit Christopher Lee)<br />
um den Ausdruck einer versteckten Angst der Gesellschaft<br />
vor einem Wiedererstarken des Adels handeln<br />
könnte. Wobei wir wieder bei Lockenhaus wären … ;-)<br />
Gerald Axelrod: Ich weiß nichts von einem wiedererstar-<br />
Interview
18 DRACHEN|März 2017<br />
gnetisch an. Wahrscheinlich war mir die gespensterlose<br />
Wirklichkeit einfach zu langweilig.<br />
Mit Deiner Gattin Liane Angelico beschäftigst du dich<br />
auch – nicht nur in einigen deiner Bücher – mit dem<br />
Phänomen „Engel“. Prinzipiell erscheinst Du mir aber<br />
als ein sehr rationaler Mensch. Erinnert beinahe ein<br />
wenig an Arthur Conan Doyle, den „Erfinder“ von Sherlock<br />
Holmes, der mit dem Meisterdetektiv vor genau<br />
130 Jahren einen rationalen Felsen in der Brandung<br />
irrlichternden Wahnsinns geschaffen hat, selbst aber<br />
spiritistischen und okkulten Machenschaften nicht<br />
ganz abgeneigt war … Nein, ernsthaft: Was hat es damit<br />
auf sich?<br />
Gerald Axelrod: Ich bin aufgrund unzähliger persönlicher<br />
Erlebnisse felsenfest von der Existenz der Engel überzeugt.<br />
Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich jeden<br />
Quatsch glaube. In meinen Büchern gehe ich den Mythen<br />
und Legenden auf den Grund und komme häufig zum gleichen<br />
Schluss wie Sherlock Holmes: Es gibt in den meisten<br />
Fällen eine rationale Erklärung für scheinbar übernatürliche<br />
Phänomene.<br />
Interview<br />
kten Interesse an Werwölfen und Zombies. Die Vampire<br />
eroberten dank der „Biss zum…“-Bücher und Filme ein<br />
paar Jahre lang Platz 1 der Bestsellerlisten und Filmcharts.<br />
Aber Robert Pattinson schaffte das bestimmt nicht wegen<br />
seines furchteinflößenden Auftretens, sondern wegen<br />
seiner unvampirischen Rolle als Traumprinz. Ich denke, in<br />
der Verwandlungsfähigkeit der Vampire liegt ihr Erfolgsgeheimnis.<br />
Sie sind heute eher Objekte der Begierde von<br />
pubertierenden Teenagern als furchteinflößende Adelige.<br />
Da diese ETCETERA-Ausgabe ja den Titel „Drachen“<br />
trägt: Du hast dich ja auch eingehend mit dem Nibe-<br />
Nyirbator Ungarn<br />
lungenlied beschäftigt, in dem ein Drache vorkommt.<br />
War das der „erste“ Drache der europäischen Mythologie?<br />
Gerald Axelrod: Nein, die Vorstellung von Drachen reicht<br />
viel weiter ins Altertum zurück. In der Bibel, genauer gesagt<br />
in der Apokalypse, wird Satan als Drache bezeichnet.<br />
So gesehen ist die Vorstellung von Drachen weit älter als<br />
das Nibelungenlied, das um das Jahr 1197 erstmals niedergeschrieben<br />
wurde. Siegfrieds Kampf mit dem Drachen<br />
ist allerdings bis heute die berühmteste deutsche Sage<br />
geblieben, weshalb das Nibelungenlied sicher maßgeblich<br />
zur Popularität der Drachen beigetragen hat – zumindest<br />
im deutschsprachigen und skandinavischen Raum.<br />
In deinen bisherigen Büchern hast Du dich auch schon<br />
eingehend mit Dracula, Frankenstein oder der Blutgräfin<br />
Báthory beschäftigt. Woher kommt Dein Faible für<br />
die diversen Schattenwelten?<br />
Gerald Axelrod: Sagen, Geistergeschichten und vor sich<br />
hin bröckelnde Burgruinen zogen mich schon als Kind ma-<br />
War es für Dich immer schon klar, die Fotografie als<br />
Beruf(ung) zu wählen? Kannst Du uns kurz ein bisschen<br />
was zu deiner Biografie sagen?<br />
Gerald Axelrod.: Die Geburtsstunde meiner Leidenschaften<br />
zur Fotografie schlug, als ich 13 war. Damals<br />
zeigte uns der Chemielehrer, wie man Fotos entwickelt.<br />
Mich hat das Ganze nicht sonderlich interessiert und deshalb<br />
stand ich abseits, während sich meine Mitschüler<br />
um den Vergrößerungsapparat drängten. Plötzlich kam<br />
der Lehrer zu mir herüber und legte ein weißes Blatt in<br />
den Entwickler. Direkt vor meinen Augen tauchten langsam<br />
wie aus dem Nichts die Konturen auf, bis das Bild<br />
fertig entwickelt war. Ein Wunder, dachte ich. So etwas<br />
will ich auch machen! Fortan verbrachte ich meine ganze<br />
Freizeit mit Fotografieren und Entwickeln. Ich bin auf<br />
diesem Gebiet ein reiner Autodidakt und habe nie eine<br />
Fotografenlehre gemacht. Nach der Matura studierte ich<br />
Betriebswirtschaft, wandte mich danach aber wieder der<br />
Fotografie zu. 1997 gelang es mir, mein erstes Fotobuch<br />
„… als lebten die Engel auf Erden“ zu veröffentlichen, das<br />
bald zu einem Kultbuch aufstieg. Bis heute habe ich insgesamt<br />
17 Bücher publiziert, viele davon gemeinsam mit<br />
meiner Frau Liane Angelico.
DRACHEN|März 2017<br />
19<br />
Deine Bücher gelten zwar als Bildbände, enthalten aber<br />
zusätzlich unglaublich viel höchst informativen Text.<br />
War diese Zweiteilung von Anfang so geplant – oder hat<br />
sich die einfach entwickelt?<br />
Gerald Axelrod: Mein erstes Buch wollte ich als reines Fotobuch<br />
veröffentlichen, ohne Text. Ich fragte bei 54 Verlagen<br />
an. 53 lehnten sofort ab, nur der letzte meinte: Vielleicht, aber<br />
man bräuchte einen Begleittext dazu. Wir fanden jedoch keinen<br />
Autor und so schlug ich vor, den Text selbst zu schreiben.<br />
Hast Du Vorbilder in der bildenden Kunst? Also nicht nur<br />
in der Fotografie, sondern auch in der Malerei?<br />
Gerald Axelrod: Als Illusionenzerstörer. Die Leute lieben<br />
Illusionen. Im Fall der Illuminaten behauptet ja Dan Brown<br />
in seinem Bestseller „Illuminati“, es gäbe diesen Geheimbund<br />
noch heute. Und Millionen von Lesern kaufen ihm diese<br />
Illusion im wahrsten Sinne des Wortes ab. Tja, und ich<br />
zerstöre sie dann und weise anhand geschichtlicher Fakten<br />
nach, dass es seit 1799 kein Lebenszeichen mehr von den<br />
echten Illuminaten gibt.<br />
Was sind Deine nächsten Projekte?<br />
Gerald Axelrod: „Nostradamus und das geheime Wissen<br />
der Katharer“ – so lautet der Titel meines neuen Buches, an<br />
dem ich gerade arbeite. Konnte Nostradamus wirklich in die<br />
Zukunft sehen? Ist die Zukunft überhaupt vorherbestimmt<br />
oder ist alles offen? Und welche Rolle spielten die Katharer,<br />
jene christliche Sekte in Südfrankreich, die angeblich den<br />
Heiligen Gral besessen hatte? Gehörte Nostradamus tatsächlich<br />
diesem geheimen Orden an und kannte er dadurch<br />
mystische Offenbarungen der Zukunft?<br />
Nibelungenhalle Koenigswinter Deutschland<br />
Gerald Axelrod: Ja, speziell die großen Surrealisten wie<br />
Salvador Dalí, René Magritte, Max Ernst und natürlich<br />
auch H.R. Giger.<br />
Du recherchierst sehr genau und penibel. Wie lange<br />
dauerte es etwa beim Dracula-Buch von der Idee bis<br />
zum Endergebnis?<br />
Gerald Axelrod: Zwei Jahre.<br />
Apropos Recherche: Du beschäftigst dich eingehend<br />
mit Mythen und Legenden – so nennt sich auch deine<br />
Buchreihe im Stürz-Verlag. Du rückst aber auch<br />
immer ein paar Dinge zurecht, weist auf Unstimmigkeiten<br />
wie auch Fehler in so mancher Überlieferung<br />
hin. Das war bei den Illuminaten-Verschwörungstheorien<br />
in Deinem Frankenstein-Buch so – und auch<br />
beim „Dracula“ erweist Du Dich als kreativer Skeptiker.<br />
Wie fühlt man sich, wenn man eine scheinbare<br />
Wahrheit tatsächlich ins Reich der Legende verwiesen<br />
hat?<br />
Mitunter erscheinst Du mir als ein ziemlicher Workaholic.<br />
Entspannst Du Dich auch manchmal?<br />
Gerald Axelrod: Beim Fotografieren und Lesen. Ach ja,<br />
ist das nicht meine Arbeit?<br />
Auswahl aus der Bücherliste von Gerald Axelrod und Liane Angelico:<br />
Romane und Sachbücher:<br />
Elvira und Merion – Eine unheimliche Reise durch eine geheimnisvolle<br />
Zauberwelt (Jugend-Fantasyroman mit Einhorn, Kätzchen<br />
und Drachen)<br />
Kleo Goldflügel und Rentier Ferdel, die Schrecken des Weihnachtsmannes<br />
(Jugend-Fantasyroman mit Elfen, Feen und Drachen)<br />
Von einem Wüterich, der hieß Fürst Dracula aus der Walachei<br />
(Sachbuch)<br />
Fotobücher:<br />
Transsylvanien – Im Reich von Dracula (2009)<br />
Die Geheimnisse der Blutgräfin Elisabeth Báthory (2011)<br />
Die fantastische Welt der Brüder Grimm (2012)<br />
Wo das Reich der Nibelungen verborgen liegt (2013)<br />
Frankenstein und die Illuminaten (2014)<br />
Die Schöne und das Biest (2015)<br />
Sherlock Holmes und der Fluch von Baskerville (2016)<br />
Nostradamus und das geheime Wissen der Katharer (2017)<br />
Weitere Informationen auf www.axelrod.at<br />
Interview
20 DRACHEN|März 2017<br />
Franz Sales Sklenitzka<br />
Zum Thema Drache muss natürlich der Jugendbuchautor<br />
Franz Sales Sklenitzka aus Wilhelmsburg vors Mikrofon. Eva<br />
Riebler-Übleis las die Drachenreihe und stellte die Fragen. Es<br />
handelt sich um eine Tetralogie, begonnen 1979 mit „Drachen<br />
haben nichts zu lachen“, das als Hardcover bereits die 15. Auflage<br />
feiert und drei Verlage überlebt hat. Die Handlung des<br />
ersten Bandes spielt 1271 zur Zeit der großen Pfingstturniere<br />
und der Drachenjagd, da die Drachenzunge als besonders<br />
köstlich gilt. Der Antiheld ist Ottokar Zipp, der die Drachen vor<br />
dem Aussterben bewahren will. An seiner Seite ist der Minnesänger<br />
Archibald. Beide ziehen einen kleinen Drachen groß,<br />
den sie vor dem jagenden Ritter Silberzahn gerettet hatten.<br />
Nach diesen drei Jahren setzt Du die Handlung im zweiten<br />
Band „ Drachen kann man nicht bewachen“ fort.<br />
Eigentlich sind es acht Jahre. Die Tochter des Herzogs ist<br />
auch eine Drachenfreundin, eine Vegetarierin, und sie bringt<br />
ihren Vater dazu, dass Herzogtum zum Drachenschutzgebiet<br />
zu erklären, allerdings erst in Band 3, „Drachen machen<br />
starke Sachen“, der im Jahr 1280 spielt .<br />
Es geht Dir um die Bewusstmachung des Artenschutzes?<br />
Das hat sich damals so ergeben. Ich wollte ursprünglich nur<br />
eine Rittergeschichte schreiben, aber damals kam der Artenschutzgedanke<br />
immer stärker auf, und da die heldenhaften<br />
Ritter Gegner brauchen, entstand die Idee mit den Drachen.<br />
Den kleinen Drachen kann man sich ja so süß vorstellen,<br />
wenn Du so spannend schilderst, wie er neben dem<br />
Minnesänger auf den Hinterbeinen steht.<br />
Das Sujet wurde mehrfach auf Plakaten - zum Beispiel 1 zu<br />
1 vom Buchklub - als springender Drache (inklusive Springschnur)<br />
verwendet. Das Buch wurde aber auch oft dramatisiert<br />
in Form von Kindermusicals und in Stuttgart und Bayern<br />
als Theaterstück aufgeführt.<br />
Interview<br />
Wie kam es zu der Serie der Drachenbücher für Kinder?<br />
Ein Werk stand für meine Bücher Pate. Das war „Der kleine dicke<br />
Ritter“ von Robert Bolt.<br />
Das Buch ist gespickt mit Anachronismen und derart lustig. Es<br />
gibt da einen unangepassten kleinen, dicken Antihelden.<br />
Bei Dir ist der Antiheld Ritter Ottokar von Zipp, der bescheiden,<br />
weltfremd und so wie Du Drachologe ist. Wo gibt es<br />
die Parallelle? Oder ist es die zum Minnesänger Archibald?<br />
Der Minnesänger kleidet sich grell und ist extrovertiert! Ich<br />
sehe mich eher seelenverwandt mit dem Antihelden meines<br />
Ritterromans – mit Ottokar Zipp - , habe jedoch auch – hoffentlich!<br />
- Wesenszüge gemeinsam mit dem intelligenten, musikalisch<br />
und poetisch begabten Minnesänger Archibald Exeter<br />
und – möglicherweise - dem bösen Drachenjäger Silberzahn.<br />
Der bekommt ja seinen Namen Silberzahn vom Herzog<br />
gestrichen, ..<br />
Ja, aber das ist ein typisches Politikerversprechen, das<br />
heißt nur für drei Jahre. Anno 1279, im zweiten Band „Drachen<br />
kann man nicht bewachen“, ist er längst wieder im<br />
Besitz seines vollen Namens.<br />
Da Du Volksschullehrer (in Wilhelmsburg) warst, wusstest<br />
Du, wie zu schreiben ist, damit es bei den Schülern ankommt.<br />
Ja, vor allem das erste Drachenbuch war und ist noch immer<br />
ein großer Erfolg. Es entstand damals, 1979, in einem richtigen<br />
„Schreibrausch“. Es war nicht mein Erstling, sondern<br />
mein drittes „Werk“ – es ist in einer Woche entstanden, und<br />
der Lektor hat nicht ein einziges Wort verändert. Alles hat<br />
sich während des Schreibens ergeben. Aus einer Situation<br />
ist die nächste hervorgegangen, und ich hab mir null Gedanken<br />
gemacht über Vorbildwirkung von Märchen, Belohnung<br />
des Guten oder Bestrafung des Bösen. In aller Bescheidenheit<br />
gesagt, vom Hardcover ist nun die 15. Auflage herausgekommen,<br />
vom Taschenbuch 2016 die 35. Auflage. Es gehört<br />
im ganzen deutschen Sprachraum zur Standardlektüre für<br />
die 11- bis 12-Jährigen, ist in 6 oder 7 Sprachen übersetzt<br />
und wird im Deutschunterricht auch z.B. in Buenos Aires eingesetzt.<br />
Momentan werden alle vier Drachenbücher ja ins Chinesische<br />
übersetzt. Wird da der Drache statt in Grün<br />
in den chinesisch üblichen Farben Rot/Weiß/Blau und<br />
Gelb gezeichnet werden?
DRACHEN|März 2017<br />
21<br />
Möglich. Das kann ich nicht beeinflussen. Interessant ist<br />
das Aufeinandertreffen zweier Sichtweisen.<br />
Deine Drachen sind grün, warum?<br />
Bei den Farben der Drachen hab ich mir gedacht, sie<br />
müssten Schutz- bzw. Tarnfarben haben - ähnlich unseren<br />
Eidechsen, daher Grün- und Braunfärbung. Nur<br />
der Smaragddrache ist klarerweise smaragdgrün und<br />
der (sehr seltene) Karfunkeldrache rötlich...:-)<br />
Wünscht Du Dir, dass bei uns der Drache auch in<br />
einer so großen Tradition gepflegt wird wie in China?<br />
Ja, das wär‘ schön. Seit den 70er Jahren gibt es eine<br />
Tendenz, die Drachen nicht mehr als böse in Kinder- und<br />
Jugendbüchern darzustellen …<br />
Drachen haben nichts zu lachen! Du schon?<br />
Na, ja.. ich habe Gott sei dank den Humor von meinem Vater<br />
geerbt. Und ich pflege ihn, denn ich brauche ihn!<br />
Welches Deiner 60 Werke ist besonders humorvoll?<br />
Schwer zu sagen. Vielleicht „Als Papa noch Pirat war“, „Da<br />
fliegt die Tür auf“ oder „Pauls Bettgeschichten“. Ich möchte<br />
aber auch noch erwähnen, dass ich in gewisser Weise die interaktiven<br />
Jugendbücher in Österreich populär gemacht habe.<br />
1984 erhielt ich den Auftrag, eine Art Heimatkunde Niedertösterreichs<br />
zu schreiben. Ich wollte jedoch kein übliches<br />
humorbefreites Heimatbuch schreiben. So verfasste ich das<br />
erste interaktive Jugend- und Erwachsenenbuch Österreichs<br />
über den Ötscher und später eines über das Waldviertel und<br />
die Eisenwurzen.<br />
Hast Du das bewirkt?<br />
Nein, aber vielleicht habe ich den Trend verstärkt.<br />
Schufst Du außer dem netten Antihelden Zipp einen<br />
weiteren in Deinen Werken?<br />
Ja, in der Genre-Parodie „Aug um Aug, Zahn um Zahn,<br />
Hut um Hut“. Es ist eine Wild-West Parodie. Es hat sich<br />
damals angeboten, weil ich nun mehr Freude daran gefunden<br />
hatte, die Rolle eines Antihelden zu schreiben..<br />
Wer ist der Antiheld?<br />
Da gibt es einen Hutmacher, der zum Sheriff ernannt<br />
wird, aber eine gewaltfreie Lebensweise bevorzugt, sein<br />
Köpfchen einsetzt, statt die Colts rauchen zu lassen.<br />
Hältst Du Lesereisen ab?<br />
Ja, im gesamten deutschen Sprachraum; es waren geschätzte<br />
5000 bis 6000 Lesungen in 35 Jahren.<br />
Und da hältst Du im raunenden Märchenton alle gefangen!<br />
Ob ich raune, weiß ich nicht! J Aber die Bezeichnung gefällt<br />
mir! Denn ohne bewegte Bilder das junge, an optische Reize<br />
gewöhnte Publikum zu bewegen, gelingt mir tatsächlich - nicht<br />
immer, aber meistens. Glücklicherweise kann ich meine Texte<br />
aber auch an der Tafel oder dem Flipchart illustrieren.<br />
Du bist ein wunderbarer Erzähler im modernen Märchenton!<br />
Bist Du mit meiner Definition zufrieden?<br />
Sehr!<br />
Du bebildertest 1979 Christine Nöstlingers Ddschi-<br />
Dsche-i Dschunior. Hast Du auch Ihr Werk beeinflusst<br />
„Guter Drache, Böser Drache“ 2012 ?<br />
Nein, die Nöstlinger lässt sich von niemandem beeinflussen<br />
– glücklicherweise.<br />
Du unterscheidest Erdrachen, Zackendrachen, Kammdrachen<br />
mit und ohne Punkte und hast einen Sammelband<br />
über die verschiedenen Gattungen gemacht.<br />
Wo hast Du recherchiert? Bzw. was ist frei<br />
erfunden?<br />
Recherchiert und – möglicherweise - auch erfunden….-<br />
Das zu entscheiden, bleibt der Phantasie (schreib ich<br />
lieber mit Ph als F, weil „Fantasie“ so an „Fantasy“ erinnert)<br />
der Leserin oder des Lesers überlassen.<br />
Franz S. Sklenitzka<br />
Geb. 1947 in Lilienfeld, zählt zu den bekanntesten und beliebtesten<br />
Kinder- und Jugendbuchautoren Österreichs. Lehrerbildungsanstalt<br />
in St.Pölten, Unterricht an einer Volksschule. Heute arbeitet Sklenitzka<br />
freiberuflich als Schriftsteller, Illustrator, Cartoonist, Hörspiel-<br />
und Schulbuchautor in Wilhelmsburg. Für seine Bücher, welche<br />
er oft selbst bebildert und die bisher in 16 Sprachen übersetzt<br />
wurden (unter anderem ins Chinesische, Japanische, Koreanische<br />
und Russische), bekam Sklenitzka zahlreiche Preise wie den Würdigungspreis<br />
für Literatur des Landes Niederösterreich, den Österreichischen<br />
Kinderbuchpreis oder den Illustrationspreis der Stadt<br />
Wien. Für sein bekanntestes Werk „Drachen haben nichts zu lachen“<br />
wurde der Autor mit dem “Goldenen Buch“ ausgezeichnet. Sklenitzkas<br />
Illustrationen waren in mehreren Ausstellungen zu sehen, z.B.<br />
auf der Biennale in Bratislava, in Bologna, in Bozen und in Wels.<br />
Interview
22 DRACHEN|März 2017<br />
Július Koller<br />
Ein U.F.O.-naut spielt Pingpong<br />
Gertraud Artner über Július Kollers Werkschau „One<br />
Man Anti Show“ im Wiener mumok<br />
Show, mit der – als Gemeinschaftsprojekt mit dem Museum<br />
moderner Kunst in Warschau in Kooperation mit der slowakischen<br />
Nationalgalerie in Bratislava – eine neue Annäherung<br />
an das Werk von Július Koller (1939 – 2007), einem<br />
der international bedeutendsten Künstlerpersönlichkeiten<br />
Osteuropas in der Neoavantgarde, unternommen wird. Hier<br />
wird schnell klar, dass sich Kollers Werk nicht nur in<br />
Als der slowakische Künstler Július Koller im März 1970 zu<br />
einer Einzelausstellung in der Galerie der Jugend in Bratislava<br />
eingeladen wurde, verwandelte er die Räumlichkeiten<br />
in einen Sportklub mit Pingpongtisch, Wimpel und einem<br />
Aushang seiner Spiel- und Fair-Play-Regeln. Die Ausstellung<br />
nannte er J.K. Ping-Pong Club und die BesucherInnen waren<br />
eingeladen mit ihm Tischtennis zu spielen.<br />
Nach dem Prager Frühling 1968 in der Zeit der „Normalisierung“,<br />
die sich wie eine bleierne Decke über das Kulturleben<br />
press-ufo-naut -jk 1980<br />
Bericht<br />
press -jk pingpong-klub 1970<br />
auch in Bratislava legte, verwischte Koller bewusst die Grenzen<br />
zwischen Kunst und nichtkünstlerischen Aktivitäten, um<br />
damit einen Aktionsraum zu schaffen, in dem nach den Regeln<br />
des Fair-Play eine gleiche Teilhabe aller Menschen möglich<br />
wurde. Der J.K. Ping-Pong Club war eine von Kollers<br />
Anti -Shows.<br />
So heißt auch die Ausstellung im mumok One Man Anti<br />
kritischer Distanz zur realsozialistischen Herrschaft und deren<br />
offizieller Kunst entwickelte, sondern auch Konventionen<br />
des westlichen Kunstbetriebes infrage stellte. Seit Mitte der<br />
1960er Jahre gestaltete er mit Antihappenings und Antibildern<br />
ein von spielerischer Ironie geprägtes Werk. Ebenfalls<br />
in Bratislava richtete er 1969 (mit Peter Bartos) im Schaufenster<br />
einer kommunalen Kunststopferei für Nylonstrümpfe<br />
eine Antigalerie ein. Auch die Galeria Ganku, die er bei einem<br />
abgelegenen Bergsteigerziel in der HohenTatra ansiedelte<br />
und die dementsprechend kaum bis gar nicht von Kunstinteressierten<br />
frequentiert wurde, ist typisch für sein humoristisches<br />
Herangehen..<br />
Koller war akademisch ausgebildeter Maler, verzichtete aber<br />
bewusst auf jede malerische oder stilistische Bravour. Viele<br />
seiner Arbeiten sind von einem amateurhaften Stil geprägt.<br />
„Das Proletarische, das Einfache, ja sogar das Primitive waren<br />
mir nahe“, sagte er.
DRACHEN|März 2017<br />
23<br />
Mit Nachdruck forderte er „kulturelles Leben“ ein und zwar<br />
für alle. Von Künstlerkreisen distanzierte er sich zunehmend,<br />
arbeitete viel lieber mit AmateurInnen und LaienkünstlerInnen<br />
aus unterschiedlichen Berufsgruppen zusammen. Die<br />
Sommertreffen, die er im ganzen Land organisierte, waren legendär.<br />
Amateurismus stellte für Koller den Beweis dar, dass<br />
freie Kunst (durch die Hintertür) gelingen kann, auch wenn<br />
sie von Behörden überwacht und zensiert wird. Er wollte den<br />
ganz normalen Alltag nutzen, um eine „neue kulturelle Situation“<br />
zu schaffen, die zu einem „neuen Leben, einer neuen<br />
Kreativität und einer neuen kosmohumanistischen Kultur“<br />
führen sollte.<br />
Július Koller war vor allem Konzeptkünstler. Als solcher brachte<br />
er zwei Jahre nach Niederschlagung des Prager Frühlings<br />
ein neues Konzept, ein Sprach- und Bezeichnungsspiel mit<br />
utopischem Hintersinn in sein Werk ein: U.F.O. steht für Universell-kulturelle<br />
Futurologische Operationen. Unter<br />
press-austellungsansicht -julius koller<br />
diesem Namen schuf er in den folgenden drei Jahrzehnten<br />
eine umfassende Werkgruppe und wurde auch selbst zum<br />
Probanden seines Konzeptes. In einer „Selbstchronologie“ -<br />
als Methode der Selbsthistorisierung – stellte er eine Serie<br />
jährlicher Selbstportraits zusammen: U.F.O.-naut J.K. 1970 –<br />
2007. Zweifelsohne ermöglichte ihm der Begriff U.F.O., den<br />
er aus der Welt der Science-Fiction entlehnte, sich seinen<br />
realen Lebensumständen zu entziehen oder diese zumindest<br />
mit imaginativen Ideen zu bereichern.<br />
Raum zu einem faszinierendem Panorama an Druckerzeugnissen<br />
von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs auswuchs.<br />
Koller verarbeitete das Material in vielfältigen Serien, aus Papierschnipseln,<br />
Briefen, Büchern, Plakaten und Verpackungen<br />
schuf er minimalistische Kompositionen. Angeblich empfand<br />
er eine natürliche Nähe zur „Kultur des Abfalls“, die für ihn eng<br />
mit der eigenen Situation zusammenhing.<br />
Einen wichtigen Teil des Archivs bildeten Notizhefte, Abschriften<br />
und Übersetzungen, unter ihnen auch solche von<br />
bedeutenden Texten der westlichen Neoavantgarde. Tatsächlich<br />
stand Koller im regen Austausch mit der „Außenwelt“,<br />
der vermeintliche Eigenbrötler befand sich in einem Zustand<br />
des ständigen Aussendens und Empfangens von Signalen.<br />
Bereits 1971 begann der Künstler in großer Zahl Textkarten<br />
an Landsleute und internationale Adressaten zu schicken. Als<br />
„Einladungskarten zu einer Idee“ verwiesen sie auf Schlüsselkonzepte<br />
wie U.F.O. Und immer wieder das Symbol des Fragezeichens,<br />
das ihn all die Jahrzehnte begleitete.<br />
Das mumok präsentiert Kollers Schaffen bis 17. April 2017 auf<br />
drei Ebenen. Der reservierten Haltung des Künstlers gegenüber<br />
Kulturinstitutionen sowie dem Transformativen seiner<br />
Objekte und Handlungen wird durch die Ausstellungsarchitektur<br />
von Hermann Czech einfühlsam Rechnung getragen,<br />
der Wiener Künstler Johannes Porsch machte Teile des immensen<br />
Archivs für die BesucherInnen zugänglich und auf<br />
der obersten Ebene wurde der legendäre J.K. Ping-Pong Club<br />
wiedereingerichtet.<br />
Wenn es um den Stellenwert der Kunst als Lebens- und Überlebensmittel<br />
in widrigen Zeiten geht, dann gehört die One Man<br />
Anti Show von Július Koller wohl zu den spannendsten und<br />
überzeugendsten Präsentationen, die es derzeit zu sehen gibt.<br />
Seinen Lebensunterhalt verdiente Koller als Postkartenmaler<br />
im staatlichen Unternehmen Dielo. Er malte auch immer wieder<br />
herkömmliche Bilder, die er verkaufte (und ihm außerdem<br />
die Kritik seiner KünstlerkollegInnen einbrachten). 1973 bezog<br />
er mit seiner Lebenspartnerin, der Amateurfotografin (!)<br />
Kvetoslava Fulierova eine gemeinsame Wohnung: 45 Quadratmeter<br />
in einer Plattenbausiedlung am Stadtrand Bratislavas.<br />
Hier legte er sein enormes Archiv an, das sich auf engstem<br />
press-otaznikovytexttextil 1969<br />
Bericht
24 DRACHEN|März 2017<br />
Egyd Gstättner<br />
Wie ich den Lindwurm verschluckt habe<br />
Essay<br />
Als ich noch ein angry young man war, habe ich tief im alten<br />
Jahrtausend einmal geschrieben, es stünde zu befürchten,<br />
dass ich in den Brunnen spucke, aus dem ich trinke, oder<br />
umgekehrt, dass ich aus dem Brunnen trinke, in den ich gespuckt<br />
habe, sodass ich also meine eigene Flüssigkeit wieder<br />
zu mir und in mich nehme, ein ganz natürlicher, geschlossener<br />
Kreislauf. Es stünde weiter zu befürchten, dass ich den<br />
Kommunalpolitikern und Minimundusfiguren gegenüber renitenter<br />
würde, in der Literatur gäbe es keine Jausengegner. Es<br />
wäre möglich, dass ich einen Briefwechsel mit dem Bürgermeister<br />
anfange, in dem ich ihm vorschlage, den Lindwurm<br />
vom Neuen Platz zu entfernen und durch eine überlebensgroße<br />
Goldbüste meiner Person zu ersetzen. Dafür gäbe es<br />
triftige Gründe: Der Lindwurm (der im Inneren eines Brunnen<br />
am Hauptplatz podestiert ist) schädige den Tourismus und<br />
die Fremdenverkehrswirtschaft. Die Sommergäste kämen in<br />
Erwartung eines mächtigen Steinungeheuers und seien bei<br />
der Altstadtbesichtigung sofort maßlos enttäuscht von unserem<br />
verwitternden Möchtegernungetüm! In natura sei der<br />
Lindwurm mickrig, sabbere, wende den Stadtvätern das Hinterteil<br />
zu und provoziere also geradezu Antiheimatliteratur,<br />
vielleicht sogar Antiheimatliteraturliteratur, und verweise auf<br />
den Sumpf, aus dem wir alle kommen. Ausgerechnet einen<br />
Wurm zum Symbol und Aushängeschild einer Stadt zu machen,<br />
muss zwangsläufig in die Unterliga führen, wie es der<br />
Austria, den sogenannten Lindwurmstädtern damals gerade<br />
passiert war, wie es ihnen alle paar Jahre einmal passiert, so<br />
auch heute und morgen und in aller Zukunft.<br />
Hingegen sei soziologisch einigermaßen fundiert, dass gerade<br />
Quereinsteiger in die Goldbüstengalerie mit hohen Popularitätswerten<br />
zu rechnen haben. Im Status quo wirkte meine<br />
Goldbüste noch einigermaßen dynamisch, jugendlich und<br />
zukunftsorientiert, befreite die Stadt von der permanenten<br />
Unterstellung der Totentollwut und wiese sie unverbrüchlich<br />
als Kunst- und Kulturstadt aus.<br />
Ähem, Stadtväterinnen und Väter! Ich bin kein Lindwurmkind<br />
– was denn nicht noch alles? – ich bin der Schöpfer schöner<br />
Dinge! Und beim Sechsteiler um 20.15 dürfte der Bürgermeister<br />
mich persönlich enthüllen. Es habe noch lange nichts mit<br />
Selbstüberschätzung, Eitelkeit oder Imponiergehabe zu tun,<br />
habe ich damals geschrieben, sich in puncto Bedeutsamkeit<br />
mit einem paralysierten Schmalspurarchiopterix messen<br />
können zu glauben, Herr Bürgermeister, und neu ist, ohne<br />
kritische Transzendenz und nicht über den Umweg der Weltverbesserung<br />
auf den Neuen Platz kommen zu wollen.<br />
Natürlich hätte mir der welterfahrende Bürgermeister entgegen<br />
halten können, dass man in Brno und Ljubljana – damals<br />
sagte man noch Brünn und Laibach – ja auch Lindwürmer als<br />
Wappentiere genommen hat, und immerhin hätten die Lindwürmer<br />
Flügel – geflügelte Tiere, geflügelte Worte, Geflügel,<br />
Geflügel, und was ist mit Wales? Wales, Herr Dichter, jetzt<br />
schauen Sie aber! Und was die Lächerlichkeit betrifft, Herr<br />
Angry, lassen Sie sich gesagt sein, die kleine Meerjungfrau in<br />
Kopenhagen ist noch viel lächerlicher als der Lindwurm, und<br />
erst der winzige Pisspage von Brüssel, der ist lächerlicher als<br />
der Lindwurm und die Meerjungfrau zusammen, dem muss<br />
die Stadtverwaltung jeden Tag ein anderes Kostüm anziehen,<br />
damit er überhaupt etwas gleichschaut! Oder das Goldene<br />
Dachl in Innsbruck! Nicht einmal ein eignes Gebäude oder<br />
Haus, bloß ein Dach! Nicht einmal ein ganzes Dach, bloß ein<br />
Dachl! Ein Vordach! Ein Vordachl! Ein völlig funktionsloses<br />
Detail!<br />
Aber derartiger Assoziationsreichtum war des Bürgermeisters<br />
Sache nicht. Natürlich wüsste ich um die Wortkargheit<br />
des Bürgermeisters Bescheid, der bevorzugte das Jodeln am<br />
Geflügelmarkt, und er würde auf meine gewichtigen Argumente<br />
nicht eigentlich schriftlich eingehen, sondern mich mit<br />
einem lapidaren Zweizeiler abspeisen wollen, in dem er mich<br />
zu einer persönlichen Unterredung in sein Büro einladen wird.<br />
Solche persönlichen Vieraugengespräche seien gewöhnlich<br />
immer allgemeine Ausderwelträumungsvieraugengespräche,<br />
vier Augen räumen mehr aus der Welt als zweihunderttauend.<br />
Das aus der Welt ins Bürgermeisterbüro Geräumte ist<br />
aus den Augen und aus dem Sinn, als ob ich nicht meine eigenen<br />
Schubladen hätte in meiner Mansarde. Ich aber würde<br />
den in Vertretung des Bürgermeisters von der Sekretärin des<br />
Bürgermeisters unterschriebenen oder mit dem persönlichen<br />
Bürgermeisterunterschriftenstempel versehenen Zweizeiler<br />
als willkommenen Anlass für meinen zweiten Brief nehmen,<br />
in dem ich versichere, von einer persönlichen Unterredung<br />
im Bürgermeisterbüro Abstand nehmen zu wollen und weiterhin<br />
dezidiert auf einer schriftlichen Stellungnahme aus dem<br />
Bürgermeisterbüro zu beharren, zumal ich den so entstehenden<br />
Briefwechsel unter dem Titel Briefe an den Bürgermeister
DRACHEN|März 2017<br />
25<br />
einem Verlag anzubieten vorhabe – die Öffentlichkeit habe<br />
schließlich ein Recht zu erfahren, wie der Bürgermeister zu<br />
meinem Goldbüstenprojekt und der damit notwendig einhergehenden<br />
Demontage des Lindwurms stünde, die Öffentlichkeit<br />
habe ein Recht darauf, dass ich den Ausschluss der Öffentlichkeit<br />
im Bürgermeisterbüro an die große Glocke hänge.<br />
Mir ist völlig schleierhaft, habe ich geschrieben, warum die<br />
Autoren von Stadtführern nach wie vor ehrfurchtsvoll vom<br />
Ringelschwanz und vom Schuppenpanzer und vom aufgerissenen<br />
Drachenmaul des Lindwurms schreiben, obwohl<br />
in diesem aufgerissenen Lindwurmdrachenmaul an beiden<br />
Kiefern ganze acht Zähne vorhanden sind, eine dentistische<br />
Ruine also! Angesichts unseres vor dem keulenschwingenden<br />
Herkules sabbernden Lindwurms weise ich darauf hin, dass<br />
Musil angesichts unserer rückständigen Denkmalskunst und<br />
unseres rückständigen Denkmals darauf hingewiesen hat,<br />
dass er „gewöhnlich aussieht wie die schweren Melancholiker<br />
in den Nervenheilanstalten.“ Wäre aber weder der Lindwurms<br />
paralysiert, noch der Herkules so ungeschickt, sich<br />
dem Lindwurm vor dem Durchziehen der Keule nicht ein paar<br />
Schritte zu nähern, um mit seiner Keule mit voller Wucht nicht<br />
ins Leere, sondern den Drachenschädel treffen zu können,<br />
weise ich darauf hin, dass der Lindwurm und der Herkules<br />
ausschließlich der Verherrlichung von Gewalt dienen und der<br />
orientierungsbedürftigen Jugend unserer Stadt ein denkbar<br />
schlechtes Beispiel geben! Ausgerechnet die primitivste und<br />
brutalste Form der Konfliktlösung mit stolz geschwellter Brust<br />
als Wahrzeichen einer Landeshauptstadt zu wählen, ist eine<br />
Schande für diese Stadt und gehört schonungslos an den<br />
Pranger gestellt. Daher habe ich die sofortige Entfernung des<br />
Lindwurms eine unabdingbare gesellschaftspolitische Notwendigkeit<br />
bezeichnet.<br />
Natürlich möchte ich die Räte aus dem Rathaus zerren, habe<br />
ich geschrieben, natürlich möchte ich die Denkmäler vom<br />
Sockel stoßen und zum Einsturz bringen, natürlich möchte<br />
ich mir dergestalt ein Denkmaleinstürzungsdenkmal errichten<br />
– der große Glöckner gibt Einblick in seine Denkmalzumeinsturzbringungswerkstatt<br />
– natürlich möchte ich einen<br />
Prezedenzfall setzen, dessen monumentale Folgewirkungen<br />
unabsehbar wären… natürlich ist dieser Text nie veröffentlicht<br />
worden, bis heute nicht, fünfundzwanzig Jahre, ein Vierteljahrhundert<br />
hat mein Text in der Schublade warten müssen,<br />
bis er jetzt das Licht der Welt blablabla, natürlich ist auch<br />
nie eine inhaltliche Antwort aus dem Rathaus gekommen,<br />
Vieraugengespräche hat es dann und wann gegeben, aber<br />
nicht zu diesem Thema, four eyes smalltalk only, und kaum<br />
hatte ich einmal unverbindlich mit einem Bürgermeister gesprochen,<br />
wurde er auch schon abgewählt, die Bürgermeister<br />
kamen und gingen, der Lindwurm blieb und ich blieb auch.<br />
Zwanzig Jahre später fasste ich den Plan, einmal etwas anderes<br />
zu machen, also keinen Roman und keinen Erzählband,<br />
sondern ein literarisches Stadtportrait meiner Heimatstadt zu<br />
verfassen, so wie es Fernando Pessoa zu seiner Zeit für sein<br />
Lissabon gemacht hatte, eine Mischung aus Sachbuch und<br />
Buch also. Ich hielt mich damals schon für einen recht großen<br />
Sohn und dachte, ich würde meiner großen Mutter damit eine<br />
große Freude machen. Zwangsläufig kam ich auf den Hauptplatz<br />
und das Wahrzeichen zu sprechen und entwickelte meine<br />
einstigen Gedanken als renitenter Jugendlicher weiter:<br />
„Der eigentliche Platzhirsch ist weder ein Hirsch, noch ein<br />
Mensch, sondern ein Wurm, allerdings ein so großer Wurm,<br />
dass er auch als Drache durchgeht, wenn auch für einen<br />
Drachen ein eher kleiner Drache, nicht ganz so gewaltig,<br />
wie man sich einen Drachen vorstellt. Auf Fotografien wirkt<br />
er eindrucksvoller als in natura: Hübsche Flügerl, ein niedliches<br />
Ringelschwänzchen, viele, viele Schuppen und ein fast<br />
völlig zahnloses Maul, das ihm im Grund nur weichgekochte<br />
Spaghetti als Nahrung erlaubt. Al dente: Das war einmal. Der<br />
Sage nach hat er vor Jahrmilliarden, als sein Gebiss noch intakt<br />
war, im ehemaligen Sumpfgebiet westlich der Stadt sein<br />
Unwesen getrieben: Das heißt, er hat Jungfrauen gefressen,<br />
wahrscheinlich auch junge Nichtjungfrauen. Die Männer waren<br />
ihm zu zäh und flachsig, und die haben ihn in einer Nebennacht<br />
mit einer perfiden Mischung aus List und Gewalt<br />
auch zur Strecke gebracht, sodass Frauentreu durch Mannesmut<br />
wiederhergestellt war. Uff, Glück gehabt! Der vor dem<br />
Lindwurm stehende Herkules, der sich mit seiner Keule gerade<br />
den Buckel schrubbt, hat das mythische Wildtier jedenfalls<br />
nicht erschlagen. Was der Herkules wirklich auf dem neuen<br />
Platz verloren hat, ist allerdings eines der großen Geheimnisse<br />
der Stadt. Und jetzt schau einmal genau hin:“, habe ich<br />
den lesenden Touristen oder touristischen Leser in meinem<br />
Stadtportrait aufgefordert. „Der Klagenfurter Herkules trägt<br />
einen Schnurrbart! Mittlerweile gilt als historisch gesichert,<br />
dass Männer in der Antike entweder einen Vollbart trugen<br />
oder ganzgesichtsrasiert waren. Schnurrbärte gab es in<br />
der Antike nicht! Der Herkules schaut aus wie ein portugiesischer<br />
Volksschullehrer! (Gegen die ist natürlich nichts zu<br />
sagen). Die dicke Frau, die hinter ihm steht, das ist nicht die<br />
Landesmutter, sondern Maria Theresia. War halt auch einmal<br />
kurz da. Man könnte sagen: Der Herkules ist von zwei Drachen<br />
flankiert.“<br />
Essay
26 DRACHEN|März 2017<br />
Essay<br />
Dieses Stadtportrait habe ich nicht nur geschrieben, sondern<br />
auch publiziert. Auch dem Umschlagfotografen ist dabei ein<br />
bemerkenswertes Kunststück gelungen, indem er mich in der<br />
November-Abenddämmerung so am Neuen Platz positioniert<br />
hat, dass der Lindwurm von mir ganz und gar verschluckt<br />
wird. und die vielen kleinen Brüder und Schwestern des großen<br />
Sohnes kauften und lasen es auch mit Begeisterung, nur<br />
die große Mutter hatte keine große Freude, denn sie bestand<br />
aus lauter kleinen Vätern, die sich um die Alimente drücken<br />
wollten. Ich schlug meiner Mutterstadt vor, ein paar hundert<br />
Stück ihres Portraits anzukaufen und beim Bachmannpreis<br />
in die Pressemappe für internationale Journalisten zu stecken,<br />
aber vom Bürgermeister bis hinunter zum Gemeinderat<br />
steckten alle zwei Finger in die Ohren, hielten sich mit<br />
zwei anderen Fingern die Nasenlöcher zu und steckten den<br />
ganzen Kopf in dieser Haltung in den Sand.<br />
Noch einmal fünf Jahre später saß ich gerade an meinem<br />
Roman Das Freudenhaus, der zum einen von der Erbauung<br />
des großen Fußballstadions in meiner kleinen Stadt handelt<br />
– 32.000 Sitzplätze in einer Stadt mit nicht einmal 100.000<br />
Einwohnern – zum anderen um die Auferstehung des französischen<br />
Weltdramatikers Eugene Ionesco in ausgerechnet<br />
diesem Stadion, und um die lebenslängliche geistige Auseinandersetzung<br />
mit seinem Drama Die Stühle und seiner Erzählung<br />
Die Nashörner (die in meinem Roman auf den Stühlen<br />
Platz nehmen… da, aber auch überall im Land, auf allen<br />
Sitzen, Plätzen, Posten, Positionen, fanatische, alles links und<br />
rechts achtlos niedertrampelnde Mitläufer des Chefnashorns,<br />
so nebenbei natürlich mit genügend pekuniärem Eigeninteresse<br />
ausgestattet.) Im Zug der Recherchen stellte ich fest,<br />
dass nicht nur das Hypo, Namensgeber der verbrecherischen<br />
Bank, Sponsor des verbrecherischen Vereins Hallodria Rhinozeros<br />
und Namensgeber des Stadions, der Rhinozeros Group<br />
Arena, sondern auch der Wurmdrache oder Drachenwurm,<br />
der Lindwurm am Neuen Platz, zur Familie der Wollnashörner<br />
gehörte! Und anstatt das Wurmdrachennashorn, den Nashornwurmdrachen,<br />
den Nasdrachenhornwurm endlich abzureißen,<br />
hat man das steinerne Ungeheuer zur Zeit der Fußballeuropameisterschaft,<br />
für die das Nashornstadion gebaut<br />
worden ist, aus nackter Angst vor Hooligans und Vandalen<br />
auch noch mit Panzerglas eingehaust.<br />
Die Eliminierung des Lindwurms ist mir mein Leben lang nicht<br />
gelungen, aber jetzt wenigstens die Abwahl des Bürgermeisters!<br />
Die Stadt hat einen neuen… eine neue! Die Stadt hat<br />
eine Bürgermeisterin. Endlich korrespondieren jetzt grammatikalisches<br />
und politisches und menschliches Geschlechts<br />
miteinander! Aber aus dem angry young man ist im Lauf der<br />
Jahrzehnte unversehens nach und nach ein afraid old man<br />
geworden! Wie viel ich im Lauf meines Lebens geschrieben<br />
habe! Und wie wenig verändert! Das meiste, was ich bekommen<br />
habe, war Applaus. Das ist bekanntlich eine schwache<br />
Währung. Wie immer bei einem Wechsel an der Stadtspitze<br />
wird es früher oder später zu einem Gespräch mit dem<br />
Bürgermeister kommen, also mit der Bürgermeisterin, und<br />
diesmal werde ich die Einladung nicht ausschlagen. Tall talk<br />
diesmal. Irgendetwas muss in mir vorgegangen sein: Der Abriss<br />
des Lindwurmbrunnens ist mir jetzt nach Jahrzehnten gar<br />
nicht mehr so wichtig. Ich spüre, wie es in mir rumort! Ich<br />
verwandle mich weiter! Bin ich es? Ja, ich bin es! Das Aushängeschild<br />
meiner Stadt! Das Wahrzeichen! Zuerst die Verwandlung<br />
vom angry young man in den afraid old man; dann<br />
die Verwandlung vom afraid old man in den afraid old Dragon!<br />
– „Frau Bürgermeister, draußen im Vorzimmer wartet ein<br />
Mr. Dragon und lässt sich nicht abweisen…“ – „Und was will<br />
Mr. Dragon?“ – „Er will, dass die große Mutter seinen Vorlass<br />
ankauft, all die Materialien und Manuskripte und Typoskripte<br />
und Texte über den Lindwurm und die Stadt und das Land<br />
und Gott und die Welt! All das Feuer, das er gespien hat! Jetzt<br />
ist Mr. Dragon alt geworden und hat nicht einmal mehr acht<br />
Zähne im Kiefer, nur noch zwei Prothesen, eine oben, eine<br />
unten. Mr. Dragon behauptet, er sei ein Aushängeschild. Mr.<br />
Dragon will jetzt Spaghetti auf Lebenszeit – und posthum ein<br />
Reiterstandbild auf dem Neuen Platz. So eine Art Pferd sei<br />
ja schon vorhanden. Man müsse ihn dann nur noch in Gold<br />
gießen und hinaufsetzen. Zur Not reite er auch auf dem Wollnashorn.<br />
„Ja“, sorgt sich die Bürgermeisterin, „Aber könnte es nicht<br />
sein, dass die Touristen bei seinem Anblick sehr enttäuscht<br />
sein werden, weil er in Wirklichkeit längst nicht so groß ist,<br />
wie sie sich ihn vorgestellt haben?“ - „Vorsicht, Frau Bürgermeisterin,<br />
er kann immer noch Feuer speien!“ – „Na, dann<br />
lassen Sie ihn eben vor…!“<br />
Egyd Gstättner<br />
Geb1962, studierte Germanistik und Philosophie, lebt als freier<br />
Autor in Klagenfurt. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen.<br />
Letzte Buchpublikationen: Absturz aus dem Himmel. Picus, Wien<br />
2011, Ein Endsommernachtsalbtraum. Picus Wien 2012, Hansi<br />
Hinterseer rettet die Welt. Amalthea Wien 2013, Der Haider Jörg<br />
zieht übers Gebirg. Drava Klgf. 2013, Das Geisterschiff 2013, Am<br />
Fuß des Wörthersees 2014, Das Freudenhaus 2015, Karl Kraus<br />
lernt Dumm Deutsch 2016, Rez. siehe S. 59, alle Picus.
DRACHEN|März 2017<br />
27<br />
Hl. Georg/Hans von Kulmbach/Wallraf-Richartz Museum Köln<br />
Johannes Schmid<br />
Der heilige Georg<br />
(aus dem Lateinischen nach der Legenda aurea)<br />
Georg war ein römischer Tribun und stammte aus der<br />
Landschaft Kappadokien. Eines Tages gelangte er zu einer<br />
Stadt in Libyen, die den Namen Silena trug. In unmittelbarer<br />
Nähe dieser Stadt lag ein See, der die Größe eines<br />
Meeres hatte. Darin verbarg sich ein unheilvoller Drache,<br />
der schon oft das Volk, das sich gegen ihn bewaffnete, in<br />
die Flucht geschlagen hatte und alle mit seinem Hauch<br />
vergiftete, sooft er an die Mauern der Stadt herankam. In<br />
dieser Notlage gaben ihm die Bürger täglich zwei Schafe,<br />
andernfalls stürmte er gegen die Stadtmauern und verpestete<br />
die Luft, sodass sehr viele zu Tode kamen.<br />
Als ihnen in der Folge beinahe schon die Schafe ausgingen,<br />
vor allem, weil sie keine große Zahl von ihnen besaßen,<br />
fassten sie einen Entschluss und übergaben nur<br />
noch ein Schaf gemeinsam mit einem Menschen. Da<br />
nun das Los die Söhne und Töchter aller Menschen traf<br />
und niemanden ausnahm und schon beinahe alle Söhne<br />
und Tochter getötet waren, wurde einmal die einzige<br />
Tochter des Königs vom Los bestimmt und dem Drachen<br />
zugesprochen. Hierauf wurde der König sehr traurig<br />
und sprach: „Nehmt mir Gold, Silber und die Hälfte<br />
meines Reiches, aber lasst mir meine Tochter, dass sie<br />
nicht einen solchen Tod sterben muss.“ Diesem entgegnete<br />
das Volk wutentbrannt: „Du, o König, hast dieses<br />
Gebot erlassen, und jetzt sind alle unsere Kinder tot und<br />
du willst deine Tochter retten? Wenn du nicht an deiner<br />
Tochter erfüllst, was du anderen befohlen hast, so werde<br />
wir dich und dein Haus in Brand stecken.“ Als der König<br />
dies sah, begann er das Schicksal seiner Tochter zu beweinen<br />
und sagte: „Weh mir, meine liebste Tochter, was<br />
soll ich deinetwegen tun? Oder was soll ich sagen? Wann<br />
werde ich noch Zeuge deiner Hochzeit sein?“ Und zum<br />
Volk gewandt sprach er: „Ich bitte euch, gewährt mir eine<br />
Frist von acht Tagen, dass ich um meine Tochter trauere.“<br />
Nachdem ihm das Volk dies zugestanden hatte, kehrte<br />
es nach Ablauf der acht Tage zurück und rief voll Zorn:<br />
„Weshalb richtest du um deiner Tochter willen dein Volk<br />
zu Grunde. Siehe, wir alle finden durch den Gifthauch des<br />
Drachen den Untergang.“ Da sah der König, dass er nicht<br />
imstande ist, seine Tochter zu retten, ließ sie in königliche<br />
Gewänder kleiden, umarmte sie innig und sprach mit tränenerstickter<br />
Stimme: „Ach, ich Unseliger, meine süßeste<br />
Tochter, ich glaubte einmal, durch dich Söhne auf meinem<br />
königlichen Schoß aufziehen zu können, und jetzt gehst<br />
du hin, um von einem Drachen verschlungen zu werden.<br />
Wehe, ich Armer, meine süßeste Tochter, ich hegte einmal<br />
die Hoffnung, zu deiner Hochzeit Prinzen einzuladen, den<br />
Palast mit Perlen zu schmücken, den Klang von Pauken<br />
und Trompeten zu vernehmen, und nun schreitest du hin,<br />
dass du von einem Drachen gefressen wirst.“ Er küsste<br />
sie wieder und wieder und entließ sie dann mit den Worten:<br />
„Meine Tochter, wäre ich doch eher gestorben, als<br />
dich so verlieren zu müssen!“ Dann fiel sie ihrem Vater zu<br />
Füßen und bat ihn um seinen Segen. Nachdem der Vater<br />
sie weinend gesegnet hatte, ging sie zum See.<br />
Als der heilige Georg zufällig dort vorüberkam und sie heulen<br />
und wehklagen sah, fragte er sie, was sie habe. Und<br />
sie erwiderte: „Guter Mann, besteige rasch dein Ross und<br />
ergreife die Flucht, damit du nicht zugleich mit mir den<br />
Tod findest.“ Georg zu dieser: „Fürchte dich nicht, meine<br />
Tochter, sondern sag mir, weshalb du hier stehst und das<br />
ganze Volk zusieht?“ Und jene: „Wie ich sehe, guter Mann,<br />
besitzt du ein mitfühlendes Herz, aber verlangst du wirklich<br />
danach, mit mir zu sterben? Fliehe schnell!“ Darauf<br />
Georg: „Ich werde nicht von hier weichen, bis du mir ver-<br />
Essay
28 DRACHEN|März 2017<br />
rätst, was du hast.“ Nachdem sie ihm alles erzählt hatte,<br />
sprach Georg: „Tochter, lass ab von der Furcht, da ich im<br />
Namen Christi dir beistehen werde.“ Sie wiederum: „Wackerer<br />
Soldat, eile, dich selbst zu retten, nicht sollst du<br />
mit mir zu Grunde gehen! Denn es reicht, wenn ich allein<br />
sterbe. Denn du könntest mich nicht retten und würdest<br />
mit mir vernichtet.“<br />
Während sie dies sprachen, siehe, da kam der Drache heran<br />
und hob seinen Kopf aus dem See. Dann sprach das<br />
Mädchen, bebend vor Furcht: „Fliehe, guter Herr, fliehe<br />
sogleich!“ Darauf bestieg Georg sein Ross; und indem er<br />
sich mit dem Kreuz schützte, sprengte er kühn dem Drachen<br />
entgegen, der sich auf ihn zu wälzte, schleuderte<br />
mutig seine Lanze und voll Gottvertrauen verwunderte<br />
er das Untier schwer, stieß es zu Boden und rief zu dem<br />
Mädchen: „Wirf deinen Gürtel ohne Zögern um den Hals<br />
des Drachen, Tochter!“ Nachdem sie dies gemacht hatte,<br />
folgte er ihr wie ein völlig zahmer Hund. Als sie ihn nun<br />
in die Stadt führte, begannen die Menschen bei diesem<br />
Anblick auf die Berge und Hügel zu fliehen, kreischend:<br />
„Wehe uns, denn nunmehr werden wir alle umkommen.“<br />
Da winkte ihnen der heilige Georg zu und rief: „Fürchtet<br />
euch nicht, denn aus diesem Grunde hat mich der Herr<br />
zu euch gesandt, dass ich euch vom Schrecken des Drachen<br />
befreie. Glaubt nur an Christus, und ein jeder von<br />
euch empfange die Taufe, und ich werde diesen Drachen<br />
da töten.“<br />
Sodann ließen sich der König und alle Menschen taufen.<br />
Der heilige Georg aber zückte sein Schwert, hieb den Drachen<br />
nieder und ließ ihn aus der Stadt schaffen. Dann zogen<br />
ihn vier Ochsenpaare auf ein großes Feld außerhalb.<br />
An jenem Tag wurden zwanzigtausend getauft, ausgenommen<br />
Kinder und Frauen. Der König aber ließ zu Ehren der<br />
heiligen Maria und des heiligen Georg eine Kirche von<br />
wunderbarer Größe errichten. Aus deren Altar strömt eine<br />
lebendige Quelle. Ein Schluck daraus vermag alle Kranken<br />
zu heilen. Der König aber bot unermesslich viel Geld dem<br />
heiligen Georg an, welches jener nicht annehmen wollte;<br />
so ließ er es an die Armen verteilen.<br />
Essay<br />
Johannes Schmid<br />
Geb. 1966, Studium der klassischen Philologie in Wien. Unterrichtet<br />
Latein/Griechisch im Stiftsgymnasium Melk und Priesterseminar<br />
St.P., schreibt Prosa und Lyrik. Im LitGes-Vorstand seit 2006.<br />
Mehrere Veröffentlichungen im <strong>etcetera</strong> und LOG.
DRACHEN|März 2017<br />
29<br />
Interview
30 DRACHEN|März 2017<br />
哪 吒 闹 海 的 故 事<br />
从 前 有 一 位 大 将 军 , 叫 做 李 靖 , 他 的 夫 人 生 孩 子 , 生 下 来 一 个 圆 圆 的 肉 球 , 在 地 上 滚<br />
来 滚 去 , 李 靖 说 :“ 这 一 定 是 个 妖 怪 。” 拿 出 宝 剑 来 , 朝 着 那 肉 球 一 劈 , 真 怪 , 那 肉 球<br />
一 裂 开 , 从 里 面 跳 出 一 个 男 娃 娃 来 , 胖 胖 的 脸 , 可 逗 人 喜 欢 了 。<br />
李 靖 看 呆 了 , 正 不 知 道 该 怎 么 好 , 一 位 神 仙 找 他 来 了 。 这 位 神 仙 说 :“ 恭 喜 , 恭 喜 ! 我<br />
知 道 你 生 了 个 男 娃 娃 。 这 娃 娃 很 了 不 起 , 让 我 收 他 当 徒 弟 吧 。” 说 着 , 拿 出 一 个 镯 子 ,<br />
一 块 手 帕 , 交 给 李 靖 ,“ 这 是 我 送 给 徒 弟 的 礼 物 , 这 镯 子 叫 做 乾 坤 圈 , 这 手 帕 叫 混 天<br />
绫 。”<br />
这 娃 娃 就 是 哪 吒 。 七 岁 那 年 , 一 天 天 气 热 极 了 , 他 到 大 海 里 去 洗 澡 , 拿 着 混 天 绫 在 水<br />
里 一 晃 , 就 掀 起 大 浪 , 大 浪 把 东 海 龙 王 的 水 晶 宫 震 得 东 摇 西 晃 。 龙 王 吓 了 一 大 跳 , 就<br />
派 了 一 个 夜 叉 上 去 看 看 , 到 底 是 怎 么 回 事 。<br />
夜 叉 钻 出 水 面 一 看 , 原 来 是 个 娃 娃 在 洗 澡 , 举 起 斧 头 就 砍 。 哪 吒 可 机 灵 啦 , 连 忙 把 身<br />
于 一 闪 , 取 下 乾 坤 圈 , 向 夜 叉 扔 去 。 别 看 这 小 小 的 乾 坤 圈 , 它 比 一 座 大 山 还 重 , 正 好<br />
打 中 夜 叉 的 脑 袋 , 一 下 就 把 他 打 死 了 。<br />
龙 玉 听 说 夜 又 给 打 死 了 , 气 得 一 个 劲 地 吹 胡 子 , 就 叫 他 的 儿 子 三 太 子 带 上 兵 , 去 把 哪<br />
吒 捉 来 。 他 的 兵 是 什 么 呀 , 是 虾 、 鱼 、 蚌 、 螃 蟹 , 哩 哩 啦 啦 的 一 大 串 。<br />
三 太 子 冲 出 水 面 , 对 哪 吒 说 :“ 打 死 我 家 夜 叉 的 是 你 吗 ?”<br />
哪 吒 说 。“ 是 我 , 是 我 。 我 好 好 儿 的 在 洗 澡 , 你 家 夜 叉 话 不 问 一 句 , 就 拿 斧 头 劈 我 , 我<br />
用 乾 坤 圈 碰 了 他 一 下 , 他 就 死 了 . 他 那 么 大 的 个 儿 , 怎 么 一 点 儿 也 挨 不 起 打 呀 ?”<br />
三 太 子 蛮 不 讲 理 , 举 起 枪 就 刺 , 哪 吒 让 了 他 好 几 次 , 可 是 三 太 子 就 是 不 放 过 他 。 哪 吒<br />
急 了 , 就 把 混 天 绫 一 扔 , 这 混 天 绫 马 上 喷 出 一 团 团 火 焰 , 把 三 太 子 紧 紧 裹 住 , 怎 么 也<br />
逃 不 掉 。 哪 呢 又 拿 乾 坤 圈 一 打 , 把 三 太 子 也 打 死 了 , 吓 得 那 些 虾 兵 蟹 将 连 滚 带 爬 地 钻<br />
到 水 里 去 。<br />
三 太 子 一 死 , 就 现 出 原 形 来 了 , 原 来 是 一 条 小 龙 。 哪 吒 把 他 拖 到 岸 上 , 心 想 : 爸 爸 少<br />
一 根 腰 带 , 我 把 这 小 龙 的 龙 筋 抽 出 来 , 搓 一 根 腰 带 送 给 爸 爸 不 好 吗 ? 他 就 把 小 龙 的 龙<br />
筋 一 根 根 的 抽 了 出 来 , 带 回 家 去 。<br />
龙 王 听 说 自 己 的 儿 子 也 被 哪 吒 打 死 了 , 又 是 伤 心 , 又 是 生 气 , 就 变 成 一 个 读 书 人 的 样<br />
子 , 离 开 水 晶 宫 , 来 找 李 靖 了 。 龙 王 气 冲 冲 地 对 李 靖 说 ;“ 你 生 的 好 儿 子 , 打 死 了 我 家<br />
夜 叉 , 又 打 肥 我 的 三 太 子 !”<br />
Prosa<br />
李 靖 说 ;“ 你 弄 错 了 吧 , 我 的 儿 子 哪 吒 才 七 岁 , 能 打 死 人 吗 ?”<br />
龙 王 说 :“ 你 不 信 , 就 把 他 找 来 问 一 问 。”
DRACHEN|März 2017<br />
31<br />
李 靖 找 了 前 屋 我 后 屋 , 又 找 到 花 园 里 , 哪 儿 也 没 找 着 哪 吒 。 原 来 哪 吒 躲 在 一 间 小 屋 子<br />
里 , 在 搓 龙 筋 呢 。 李 娟 好 容 易 才 找 到 他 :“ 你 在 这 小 屋 子 里 做 什 么 ?”<br />
哪 旺 说 :“ 爸 爸 , 我 今 天 打 死 了 一 条 小 龙 , 抽 了 他 的 筋 , 正 在 给 你 搓 腰 带 呢 。”<br />
李 靖 这 才 知 道 哪 吒 真 的 闯 了 大 祸 。 只 好 带 了 他 去 见 龙 王 。 哪 吒 看 见 龙 王 就 说 :“ 老 伯 伯 ,<br />
请 您 别 生 气 。 我 不 是 故 意 打 死 你 家 三 太 子 的 。 他 用 枪 刺 我 , 我 让 了 他 好 几 次 , 可 是 他<br />
还 一 个 劲 地 追 着 打 我 。 我 没 法 儿 了 , 才 还 了 手 , 不 小 心 把 他 打 死 了 。 您 瞧 , 这 是 从 他<br />
身 上 抽 下 来 的 龙 筋 , 还 给 您 就 是 了 。”<br />
龙 王 看 见 儿 子 的 龙 筋 , 更 加 伤 心 了 , 就 说 :“ 我 的 儿 子 能 让 你 白 白 打 死 吗 ? 我 要 到 天 宫<br />
去 告 你 的 状 。” 说 完 , 就 乘 着 云 彩 上 天 宫 去 了 。( 中 国 历 史 故 事 网 )<br />
Caroline M. Herzog<br />
Nezha und das tosende Meer<br />
Es kennt / die Antike / und fastet / der Meister.<br />
Mitten in der Nacht, als der Donner grollte und ein Blitz<br />
aufleuchtete, flog der Drachenkönig Ao Guang zum Himmelspalast,<br />
wo die Götter wohnten. Angekommen, erzählte<br />
er, dass Nezha, ein siebenjähriger Knabe, seine<br />
drei Kronprinzen getötet hatte. Ganz unauffällig nahm er<br />
eine verbotene Frucht, die Unsterblichkeit verleiht, und<br />
schluckte sie. Diese Speise war den Göttern vorbehalten,<br />
die auch den Wein tranken, der alle Sorgen vergessen<br />
macht.<br />
Der Himmelsgott zürnte Ao Guang und sprach: „Du wirst<br />
den menschlichen Knaben nicht bestrafen, bis zu dem<br />
Tag, an dem der junge Phosphor glüht. Dann magst du<br />
mit ihm kämpfen.“ Ao Guang bedankte sich und kehrte in<br />
sein Reich zurück.<br />
Das Reich des Drachenkönigs erstreckte sich im Ostchinesischen<br />
Meer bis zu den fernen Inseln. Ao Guang<br />
wohnte in einem Kristallpalast am Boden des Meeres,<br />
ganz in der Nähe der Küste von Shanghai.<br />
Dort wuchs auch Nezha auf, der als Erinnerung an seinen<br />
Kampf mit den drei Drachen, die Feuer, Schneesturm und<br />
Wasser über seine Heimat gebracht hatten, einen Gürtel<br />
besaß. Diesen hatte er aus dem Muskelfleisch des Feuerdrachen,<br />
eines Sohnes von Ao Guang, mit den Fingern<br />
gedreht.<br />
Sein Vater war der General Li Jing, der in der Tang-Dynastie<br />
um 600 unserer Zeitrechnung in der Armee diente.<br />
Der Vater war stolz auf seinen Sohn, der schon gehen<br />
und sprechen konnte, als er auf die Welt kam. Jedoch<br />
liebte auch die Mutter den Knaben heiß.<br />
Eines Tages, als Nezha im Meer badete, begegnete er<br />
dem Drachenkönig. Ao Guang hob sich aus dem Meer<br />
und verkündete Nezha: „Wir sehen einander wieder am<br />
Tag, an dem der junge Phosophor glüht.“<br />
Der Knabe war nachdenklich und ging zu seinem taoistischen<br />
Lehrer. Er erzählte ihm die Worte, die der Drachenkönig<br />
zu ihm gesprochen hatte. Der Meister sprach<br />
zu Nezha: „Du wirst von nun an Taiji üben, damit du in<br />
der Kriegskunst geschult bist, wenn du diesem Monster<br />
entgegentrittst.“<br />
Er fuhr fort: „Du weißt, der Weg ist das Ziel. Das Beste,<br />
was du tun kannst, ist, nichts zu tun. Dann wirst du spüren,<br />
du bist wie das Wasser, das stärker ist als ein Felsen.<br />
Denn am Ende wird es den Felsen zu Sand waschen,<br />
obwohl das Wasser weich ist und der Felsen hart. Das<br />
Weiche ist stärker als das Harte, denn in vielen Jahren<br />
wird es gewinnen.“ Nezha nickte.<br />
Der Meister sprach: „Geh in die Höhle, in der ich wohne,<br />
und übe das Schattenboxen. Du musst schneller werden<br />
als dein eigener Schatten. Denn du hast einen großen<br />
Kampf vor dir, wenn du Shanghai retten und den Menschen<br />
helfen willst. Wenn der da zurückkehrt, wird die<br />
Erde beben.”<br />
Nezha bedankte sich und betrat die dunkle Höhle. Ein<br />
Lichtstrahl der untergehenden Sonne malte sich an die<br />
Wand, und Nezha begann, gegen seinen eigenen Schatten<br />
zu kämpfen. Er übte Tag um Tag, Woche um Woche<br />
in der Höhle des Meisters, ohne sich mit anderen Men-<br />
Prosa
32 DRACHEN|März 2017<br />
Prosa<br />
schen zu unterhalten. Dabei erlernte er die Kriegskunst.<br />
Zum Abschied, als Nezha schon ein Jüngling war und zu<br />
seinen Eltern zurückkehrte, schenkte ihm der Meister<br />
ein Armband, das Himmel und Erde umfasst. Er meinte,<br />
dieses werde Nezha im Kampfe helfen, der ihm bevorstand:<br />
„Der glühende Phosphor ist ein Jüngling in seiner<br />
vollen Kraft“, erklärte er Nezha, „jetzt ist die Zeit gekommen,<br />
da du dich mit dem Monster aus dem Meer messen<br />
musst.“<br />
Die Menschen in der Stadt waren Nezha dankbar. Die<br />
drei Drachen, die er im Kampfe besiegt hatte, hatten Tod<br />
und Zerstörung über Shanghai gebracht. Seit fast zehn<br />
Jahren war das Meer wieder ruhig. Ao Guang hatte sich in<br />
die Tiefen des Meeres zurückgezogen.<br />
Das Mondfest stand bevor, der Tag, an dem der volle<br />
Mond heller strahlt als jemals sonst im Jahr. Die Menschen<br />
stiegen auf Schiffe und fuhren aufs Meer hinaus.<br />
Ein jeder brachte reichliche Gaben für den Drachenkönig.<br />
„Nimm unser Opfer freundlich an,<br />
verschone uns vor Flut und Feuer!<br />
So lenkt die starke Hand das Steuer<br />
auf unsrem schnellen Fischerkahn.“<br />
Die Menschen beteten die Ungeheuer aus der Tiefe an,<br />
denn diese sollten ihnen gnädig sein und nicht Unheil<br />
über die Stadt bringen. Einer warf ein gegrilltes Ferkel<br />
ins Meer, dazu gekochten Reis und Reiswein. Ein anderer<br />
warf gebratenen Lachs ins Meer, andere wiederum Rindfleisch<br />
und grünen Tee.<br />
Im Kristallpalast türmten sich die Gaben auf dem Tisch,<br />
die von den furchtsamen Menschen geopfert wurden.<br />
Der Drachenkönig lachte und feierte mit seiner Armee.<br />
Seine Soldaten waren Krabben, die eine Kette bildeten<br />
und in vielen Reihen hintereinander schwammen. Außerdem<br />
gab es Haifische, die sich wie in einer Phalanx aufstellten,<br />
dazu gewöhnliche Wasserschlangen, deren Biss<br />
giftig war.<br />
Sie alle feierten und fraßen und tranken, was die Menschen<br />
ihnen zugedacht hatten. Auch der Bruder des Drachenkönigs<br />
war eingeladen, der sich mit jenem verbündet<br />
hatte. Gemeinsam wollten sie gegen Nezha kämpfen<br />
an jenem Tag, den der Himmelsgott vorbestimmt hatte.<br />
Nezha war herangewachsen, er war fast schon ein Mann<br />
mit kräftigen Armen und Beinen. Er feierte seinen sechzehnten<br />
Geburtstag. Gemeinsam mit Freunden ging er an<br />
die Küste, um im Meer zu baden, denn die Sonne strahlte<br />
hell und keine Wolke war zu sehen.<br />
Der Jüngling dachte nicht an die Worte des Meisters,<br />
er dachte nicht an die Drachen in der Tiefe, sondern er<br />
spielte mit seinen Freunden und schwamm mit ihnen um<br />
die Wette.<br />
Plötzlich sah er aus der Ferne ein Leuchten, wie ein Wetterleuchten.<br />
Seine Gefährten kümmerten sich nicht darum<br />
und vergnügten sich im Wasser. Bald verdunkelte<br />
sich der Himmel, schwarze Wolken zogen auf, und seine<br />
Freunde gingen wieder an Land. Sie verabschiedeten<br />
sich, als Nezha sich an die Küste setzte und wartete.<br />
Er dachte an die Worte des Meisters. Er war ein junger<br />
Mann geworden, im Kampf geübt und voller Kraft. Um<br />
seine Lenden trug er den Gürtel, den er aus eines Drachen<br />
Muskelfleisch gedreht hatte. Das Armband des<br />
Himmels und der Erde von seinem Meister trug er am<br />
Handgelenk. Nezha hatte keine anderen Waffen, doch<br />
seine Geschicklichkeit würde ihm helfen.<br />
Donner grollte, ein Blitz schlug auf den Bergen ein, ein<br />
kleines Feuer. Dann kam der große Regen. Das Meer<br />
türmte sich meterhoch, und aus diesen hohen Wellen<br />
stieg eine wohlbekannte Gestalt: Ao Guang.<br />
Der Drachenkönig maß mehr als zehn Ellen, auf seinem<br />
Rücken wuchsen Flügel, und im Flug schien es, als zöge<br />
er einen Feuerschweif hinter sich her. Nezha erkannte<br />
ihn sofort und wusste, der Meister hatte die Wahrheit gesprochen.<br />
Dies war die Stunde, die entscheiden würde<br />
über sein Leben oder seinen Tod.<br />
Auf einmal tauchte ein zweiter Drache aus dem Meer auf,<br />
es war der Bruder von Ao Guang. Nezha warf sich auf ihn<br />
und packte ihn am Rücken. Der Drache drehte und wendete<br />
sich, doch Nezha gelang es, das Monster mit dem<br />
Gürtel zu fesseln, den er um seine Taille trug. Er zog diese<br />
Schnur aus Faserfleisch um die Kehle des Ungeheuers<br />
zusammen, da hauchte es sein Leben aus.<br />
Der Drachenkönig zeigte seine ganze Macht und Stärke:<br />
Er bäumte sich auf, spie Feuer und hob sich in die<br />
Luft. Der Wald nahe der Küste brannte, auch ein paar<br />
Hütten, die in der Nähe standen. Nezha hatte nur mehr<br />
einen Gegner. Als Ao Guang wieder das Wasser berührte,<br />
schleuderte ihm Nezha das Armband des Himmels und<br />
der Erde ins Gesicht.<br />
Da geschah mit Ao Guang eine Verwandlung: Sein gewaltiger<br />
Körper schrumpfte und wurde ganz klein, auch die<br />
Flügel verschwanden. Nezha stürzte sich mutig auf die<br />
Seeschlange, die einst der Drachenkönig gewesen war.<br />
Er wollte auch diese mit seinem Gürtel töten. Ein kurzer
DRACHEN|März 2017<br />
33<br />
Moment der Unachtsamkeit. Der Kopf der Seeschlange<br />
entglitt seinen Fingern. Sie biss ihn in den Unterarm.<br />
Im nächsten Augenblick tauchte sie in die Tiefe und war<br />
nicht mehr zu finden.<br />
Nezha schwamm mühevoll zum Ufer. Er zog sich an Land,<br />
wollte zu seinen Eltern nach Hause gehen, um ihnen zu<br />
erzählen: „Ich habe den Drachenkönig besiegt. Er ist nur<br />
mehr eine Seeschlange. Er kann kein Unheil mehr stiften!“<br />
Doch da verließ ihn die Kraft, und er fiel zu Boden<br />
und war tot.<br />
Die Eltern waren bestürzt über den Tod des Jünglings, der<br />
für die Menschen von Shanghai die Monster aus der Tiefe<br />
des Meeres besiegt hatte. Seine Mutter weinte gar lange,<br />
bis sie endlich einschlief.<br />
Nezha erschien ihr im Traum. Er sprach zu ihr: „Mutter,<br />
der Drachenkönig ist unsterblich. Er ist aber nur mehr<br />
eine kleine Seeschlange, er wird kein Unheil mehr über<br />
euch bringen.“ Die Mutter umarmte ihn. Er bat sie: „Errichtet<br />
für mich einen Tempel, damit die Erinnerung an<br />
mich nicht dem Vergessen anheimfällt.“ Daraufhin entließ<br />
sie der Schlaf.<br />
Bald stand in Shanghai ein prachtvoller Tempel, geschmückt<br />
mit Blumen und Girlanden, in dem Räucherstäbchen<br />
dufteten und viele Kerzen leuchteten. Zur Erinnerung<br />
an Nezha, den Schutzgott der Stadt, der den<br />
Drachenkönig besiegt hatte. Nun war das Meer ruhig,<br />
und die Schiffe fuhren aus zu fernen Stränden, um Handel<br />
zu treiben. Die Menschen waren fröhlich und dankten<br />
dem jungen Gott, der sich für sie geopfert hatte.<br />
Raoul Eisele<br />
wenn du nach fußspuren gefalteter drachen im vergrabenen<br />
laub suchst stößt du auf u stößt dich an blattspitzenecken<br />
der papierkisten winziger wortdiamanten tausendueinernacht<br />
/ u wenn du fällst zwischen baumwipfeldiademen<br />
schwimmender blattgoldfische im regentropfenstrom kleidet<br />
die retina dich mit sherazadenschmuckfarben aus / in<br />
denen ich mich verlor / u getrocknete falter fallen in lufthohen<br />
farbaufgetragenen meerengen herab wenn sie seerosenblätter<br />
verzieren malen mauerblümchen atemflocken<br />
zur winterwende um schneegestöberrauschen zu vermeiden<br />
/ findest du dich auf entfalteten gondeln über leerstellen<br />
fahrend liegen / u hinter dir fenice<br />
Caroline M. Herzog<br />
Geb. 1966 in St. Pölten; Studium Englisch, Französisch an der<br />
Universität Wien, Studien der chinesischen Sprache und Kultur;<br />
Übersetzerin für 17 Sprachen, ehemals Autorin für das Wiener<br />
Journal; Übersetzungen, Prosa und Lyrik.<br />
Raoul Eisele<br />
Geb.1991 in Eisenstadt – lebend in Wien. Studium der Germanistik<br />
BA und Komparatistik BA (abgeschlossen) Aktuell Germanistik<br />
MA. Veröffentlichungen: why nICHt? Magazin 1-4 (Literaturmagazin<br />
der Komparatistik Universität Wien), Bücherstadt Kurier<br />
Nr. 21, mosaik freiVers, silbende_kunst Nr. 14., Fixpoetry mosaik<br />
freiText, Inskriptionen (neue Literatur abseits vom Mainstream),<br />
Signaturen Magazin; Textgattungen: Gedichte/Kurzgeschichten<br />
Lyrik
34 DRACHEN|März 2017<br />
Oliver Jung-Kostick<br />
Die Saat des Drachen<br />
I Drachenzähne<br />
Ging heute vom Sammelgebäude zur Mensa.<br />
Rechts des Weges, auf einem schmalen Streifen zwischen<br />
dem Pflaster und der Ostwand des viereckigen Turmes, sah<br />
ich das Feld bestellt: braune, fruchtbare Erde, tiefe Furchen,<br />
eine neben der anderen.<br />
Die Erde bereitet für die Saat des Drachen.<br />
Drachenzähne.<br />
Kadmos säte sie aus, um ein Heldengeschlecht wachsen zu<br />
lassen, hart genug für seine Pläne, die den Krieg meinten,<br />
nur fünf von ihnen überlebten und schlossen Frieden.<br />
Heute anders.<br />
Die Frau sah das anders, aber welche Qualität hatte dieses<br />
Sehen?<br />
II Lasst uns fröhlich sein<br />
All die kleinen Erbsen und Karotten hüpfen frohen Mutes in<br />
die Dosen von »Bonduelle«. All die kleinen Selbstmörder gehen<br />
in das Sammelgebäude, öffnen das Fenster und hüpfen<br />
von der Absprungrampe.<br />
Ich sehe vor meinem geistigen Auge, wie sie ihre Hände aneinanderlegen,<br />
der beinerne Bug, die spitze Form, die die<br />
Luftmassen teilt, und sie säen sich selbst aus, die Saat des<br />
Drachen.<br />
Drachenzähne.<br />
Sind sie Zähne, sind sie nicht Samenkörner im eigentlichen<br />
Sinne des Wortes?<br />
Zähne, die ausfallen, haben ihre Funktion verloren, sind nutzlos;<br />
ein Samenkorn, das ausfällt, bereitet den nächstnotwendigen<br />
Schritt seiner Entwicklung vor.<br />
Prosa<br />
Auch dieses Jahr ist wieder ein Mensch vom Sammelgebäude<br />
in den Tod gesprungen. Nicht der erste, nicht der letzte.<br />
Die Frau ging einfach in den sechsten Stock des Universitätsgebäudes,<br />
in das leer stehende, nach Westen zeigende<br />
Sprachlabor, öffnete ein Fenster und sprang.<br />
Sie sprang, fiel, und schlug auf – unbemerkt. Nur zufällig<br />
entdeckt von einer Studentin, die gerade vom Mittagessen<br />
kam. Die Frau in die Hecken gebettet, das Harte an ihr zerbrochen,<br />
um weich zu werden, und das Weiche wird hart<br />
werden im Tod.<br />
Am Ende endet alles dort, Rigor mortis, der Tod ein Hort, und<br />
es scheidet sich das wieder weicher werdende Fleisch, das<br />
verfaulende, von den Knochen, bis diese endlich auch zerfallen<br />
und das Vorangegangene einholen, der Tod ein Hort.<br />
Auf der anderen Seite des Hauses wäre ihr das Bett bereitet<br />
gewesen, das Feld, in dem sie sich selbst hätte aussäen<br />
können, um – ja weshalb, wofür – um ihr Leben fruchtbar zu<br />
machen??<br />
Jedes Leben ist fruchtbar.<br />
Wer leben will wie Gott auf dieser Erde, muss sterben wie<br />
ein Weizenkorn, muss sterben, um zu leben, sagt ein altes<br />
Kirchenlied.<br />
Welche Pflanze wäre aus der jungen Frau gewachsen? – Jeder<br />
von uns ist so vielseitig begabt – Wer weiß es? – Und<br />
dann all dieses ungelebte Leben, das noch in ihr war…<br />
Ein riesiger Baum, mit Vögeln, die singen und sprechen<br />
könnten, all dies singen und aussprechen könnten, was sie<br />
nicht zu singen und auszusprechen vermochte. Vielleicht<br />
war sie auch einfach zu mutlos dazu…<br />
III Ab mit euch, auf die Rampen!<br />
Durch ihr Beispiel ermuntert, würden immer mehr Menschen<br />
aus dem Sammelgebäude springen, um zu dem zu werden,<br />
was sie sind, wenn sie glauben, es im Leben nicht erreichen<br />
zu können.<br />
Das Sammelgebäude würde bald umwuchert sein von Fantasien.<br />
Dann kämen die flacheren Gebäude an die Reihe. Studenten,
DRACHEN|März 2017<br />
35<br />
Professoren und Angestellte gingen viel lieber als früher zur<br />
Universität. Ihre Selbstverwirklichungsversuche bekämen<br />
eine interaktive Note, eine Umweltverträglichkeit, von der<br />
sie nie zu träumen gewagt hätten.<br />
Das Universitätsbauamt würde schließen. Nicht aus Verzweiflung<br />
über die täglich anschwellende Vegetation, sondern aus<br />
Einsicht in die eigene Überflüssigkeit, da die aufwachsende<br />
Saat des Drachen Schutz und Pflege der universitären Einrichtungen<br />
übernähme. Nun wären die Beamten frei, nach<br />
Hause zu gehen oder zu bleiben, die Ärmel hochzukrempeln<br />
und ihr Leben zu leben.<br />
Frei, sich auszusäen, frei, fruchtbar zu sein.<br />
Fixierung auf Goldenes zu diskutieren. Er ist so intelligent<br />
– warum hinterfragt er sich nicht selbst? Warum lässt er<br />
zu, dass die Gier ihn an Geraubtes fesselt? Woher diese<br />
Passivität? Wo er doch fliegen könnte …! (Da kann ich nur<br />
bei mir den Kopf schütteln …)<br />
Der Frau Malzahn würde ich auf die Finger geklopft haben<br />
– doch sie kam mir durch die Verwandlung in einen<br />
»Goldenen Drachen der Weisheit« zuvor. Nun wären meine<br />
Hinweise zu gewaltfreien Unterrichtsmethoden überflüssig,<br />
und die Wahrscheinlichkeit doch sehr viel größer, dass sie<br />
mir (im übertragenen Sinne) auf die Finger klopfte. Aber<br />
davor hätte ich keine Angst, ich bin nicht so empfindlich,<br />
wenn es was zu lernen gibt.<br />
So oder so.<br />
Drachen und Gedächtnis<br />
Eine Betrachtung für <strong>etcetera</strong><br />
Dem Ouroboros würde ich versuchen, die Angst vor dem<br />
Loslassen zu nehmen, wie das Leben sie mir genommen<br />
hat. Was immer ein Zugewinn war. Was für mich bestimmt<br />
ist, bleibt auch ohne Zwang mir nah, kommt ohne Verbissenheit<br />
und Verdruckstheit auch freiwillig zu mir.<br />
Wenn ich an Drachen denke, verwundert mich immer wieder,<br />
wie die Menschheit ihre größten und liebsten Fabelwesen<br />
entlang der erst so viel später gefundenen Dinosaurierfragmente<br />
quasi vorauseilend zusammenfabuliert hat.<br />
Drachen und Humanoide durchstreiften ja niemals gleichzeitig<br />
die Erde, aber man könnte meinen, erstere hätten<br />
sich durch ständige Beobachtung ins kollektive Gedächtnis<br />
der letzteren eingebrannt. Oder als hätte die Landschaft<br />
nicht nur Fußabdrücke, Eier und Skelette bewahrt, sondern<br />
auch eine Art „genius draconic”, den sie unablässig<br />
ausatmete wie einen Lebenshauch. Die ersten Menschen<br />
saugten ihn in sich auf, er arbeitete in ihnen, in Träumen<br />
und Ängsten und Hoffnungen, und so führte das eine zum<br />
anderen und schließlich später zur Entstehung all dieser<br />
Drachenbilder, –statuen und -erzählungen …<br />
Simpel strukturierte »Christen« in den USA behaupten ja<br />
auch heute noch fröhlich, dass es so war. Das wiederum<br />
glaube ich nicht. Das wäre viel zu einfach. Das wahre Rätsel<br />
ist ja die Entstehung des Drachen als Mythos und Bild gerade<br />
weil die Bildner und die Modelle sich nie begegneten.<br />
Der Tatzelwurm bräuchte vielleicht nur eine Leine und ein<br />
wenig liebevolle Erziehung, damit er nicht alles niederwalzt…<br />
Chaos ist nicht das Schlimmste – Untergang immer auch<br />
schöpferisch. Von daher schätze ich die Drachen einfach<br />
ungemein. Und hätte nichts dagegen, einen zum Freund zu<br />
haben…<br />
Wie dem auch sei – ich liebe sie. Egal ob sie Smaug oder<br />
Frau Malzahn heißen, Ouroboros oder Tatzelwurm. Ich<br />
mag sie alle, obwohl ich sie fürchte, durchaus nicht unterschätze.<br />
Mit Herrn Smaug würde ich es lieben, über seine<br />
Oliver Jung-Kostick<br />
Lebt in Lichtenfels, Oberfranken, Deutschland. Autorenporträt auf<br />
https://www.autorenwelt.de/users/oliver-jung-kostick<br />
Facebook-Profil https://www.facebook.com/ojk96215lif/<br />
Prosa
36 DRACHEN|März 2017
DRACHEN|März 2017<br />
37
38 DRACHEN|März 2017<br />
Doris Kloimstein<br />
Drachen<br />
Ein Dramolett<br />
Migrantin:<br />
Das Fabelwese?<br />
Einheimische:<br />
Das Fabelwesen.<br />
2 Frauen unbestimmten Alters zur Verschleierung der Tatsachen,<br />
genannt die Einheimische und die Migrantin<br />
Migrantin:<br />
Fabelwesen, Mehrzahl. (lächelt) Das Fabelwesen, Einzahl<br />
Zeit: Jetztzeit, später Nachmittag<br />
Ort: Wohnzimmer eines Einfamilienhauses in einer gediegenen<br />
Vorstadtsiedlung<br />
Einheimische:<br />
(versucht nicht zu seufzen; lächelt)<br />
Das Fabelwesen, Einzahl; die Fabelwesen, Mehrzahl.<br />
Also,…<br />
Prosa<br />
Wer mit dem Drachen spielt, bändigt das Feuer, das er speit,<br />
niemals. Nur Hausdrachen sind die Ausnahme – allem Anschein<br />
nach.<br />
Sinnspruch unbekannter Herkunft.<br />
Einheimische:<br />
Der Drache, Einzahl; nein nicht der Drachen …<br />
Migrantin:<br />
Drachen, die?<br />
Einheimische:<br />
Die Drachen ist die Mehrzahl; Plural.<br />
Migrantin:<br />
Frau is Drachen.<br />
Einheimische:<br />
(denkt kurz nach)<br />
O.K., wenn du gehört hast: „Die is aba a Drachn”, dann war<br />
das im Dialekt gesprochen und wer immer das gesagt hat,<br />
der oder die hat nicht von diesem Fabelwesen gesprochen,<br />
sondern die Aussage getätigt, dass eine Frau bissig ist. Das<br />
sagt man aber eigentlich nicht.<br />
Migrantin:<br />
Fabelwesen?<br />
Einheimische:<br />
Ja, Fabelwesen, das Fabelwesen; immer den Artikel gleich<br />
mitlernen.<br />
Migrantin:<br />
(unterbricht)<br />
Was ist Fabelwesen?<br />
Einheimische:<br />
Ein Fabelwesen ist so etwas wie ein Tier, aber es ist nicht<br />
real existent. Die Menschen haben sich diese Fabelwesen<br />
in der Fantasie ausgedacht. In der Mythologie, in Sagen, in<br />
Legenden kommen Fabelwesen vor. Ein Drache ist zum Beispiel<br />
ein Fabelwesen.<br />
Migrantin:<br />
(schaut verwirrt)<br />
Einheimische:<br />
Hast du mich verstanden?<br />
Migrantin:<br />
(lächelt) Nein<br />
Einheimische:<br />
(seufzt) Warte, ..<br />
(nimmt ihr Smartphone und googelt Bilder)<br />
Schau, das sind Drachen.<br />
Migrantin:<br />
(lächelt) Ah, verstehe.<br />
Einheimische:<br />
Ich wiederhole: Der Drache ist ein Fabelwesen. Es gibt aber<br />
auch Drachen für Kinder. Im Herbst lassen Kinder gerne ihre<br />
Drachen steigen.
DRACHEN|März 2017<br />
39<br />
Migrantin:<br />
(schaut verwirrt)<br />
du zurück in dein Quartier, in Wohnung, und wir machen uns<br />
neue Termin aus. Inschallah.<br />
Einheimische:<br />
(zu sich selbst)<br />
Ach Gott, das war jetzt wieder verwirrend.<br />
Migrantin:<br />
(lächelt, hält der/ der Einheimischen ihr Smartphone unter<br />
die Nase)<br />
Sprechen jetzt.<br />
Einheimische:<br />
(leicht gereizt)<br />
Nein dieses Übersetzungsapp is da totale Schaß! Die App,<br />
der App, hhhh, eh alles …. ( spricht nicht weiter, seufzt)<br />
Migrantin:<br />
(schaut traurig)<br />
Einheimische:<br />
(fasst sich wieder, lächelt, redet zu sich, aber ganz liebevoll)<br />
Wie bin ich nur auf Drachen gekommen? Ist das wesentlich<br />
für die Konversation auf Deutsch? Hl. Georg, Drachentöter,<br />
schau aba!<br />
(zur Migrantin gewendet)<br />
Schau runter, herunter, nicht hinunter oder doch hinunter,<br />
nein herunter.<br />
Der hl. Georg – wir haben in unserer Religion Heilige - , der<br />
Heilige Georg hat den Drachen getötet.<br />
Migrantin:<br />
Das Heilige?<br />
Doris Kloimstein<br />
Geb. 1959 in Linz, verwurzelt in Innsbruck; lebt und arbeitet in<br />
St. Pölten als Pädagogin, schreibt Lyrik, Prosa, Dramatisches;<br />
viele Reisen, u.a. Irak 2010, Südindien 2014; zahlreiche Veröffentlichungen,<br />
Preise und Stipendien, u.a. Literaturpreisträgerin<br />
des Landes NÖ; Förderpreis für Wissenschaft und Kunst der<br />
Landeshauptstadt St. Pölten; war mal Obfrau der Litges St.Pölten<br />
und Mitbegründerin von @cetera; Ehrung um Verdienste für die<br />
Colônia Tirol durch den brasilianischen Bundesstaat Espirito Santo;<br />
Mitglied im P.E.N.-Club, zur Zeit Generalsekretärin des Österr.<br />
P.E.N.; Literarisches u.a.: Kleine Zehen. Erzählung.- Edition die Donau<br />
hinunter, 2004; Blumenküsser. Kurzgeschichten aus dem Atlantischen<br />
Urwald Brasiliens.- Edition Innsalz, 2006; Paganini und<br />
die Überschwemmten von Saint-Etienne. Uraufführung im Theater<br />
Forum Schwechat 2004; Lyrikvertonungen durch die Komponisten<br />
Walter Breitner, Fridolin Dallinger, Willy Giefer, Balduin Sulzer,<br />
Franz Zebinger; zuletzt: Lazarus und sein Esel. Ein kleines, heiteres<br />
Singspiel über das ewige Leben in einem Aufzug. Musik: Balduin<br />
Sulzer. Konzertante Erstaufführung 2015, Konzertsaal der Österreichischen<br />
Gesellschaft für Musik, Wien<br />
Einheimische:<br />
Der Heilige – äh, das Heilige gibt es auch.<br />
(zu sich)<br />
I wir no narrisch.<br />
(lächelnd zur Migrantin)<br />
Ich zeige dir jetzt ein Foto von einem Flugdrachen – Paragleiter<br />
und dann fliegst du bitte ganz schnell nach Hause.<br />
Migrantin:<br />
(schaut verwirrt)<br />
Einheimische:<br />
(selbst verwirrt) Ich muss noch was arbeiten. Deshalb gehst<br />
Prosa
40 DRACHEN|März 2017<br />
Andrea Kraus<br />
Siegfried Drachentöter<br />
Uns ist in alten maeren wunders vil geseit<br />
Von helden lobebaeren von großer arebeit,<br />
von fröuden hochgeziten von weinen und von klagen,<br />
von küener recken striten muget ir nu wunder hoeren sagen:<br />
Do hot der große Siegfried den Drochen niederg´haut<br />
und sei gaunzes Leben auf Heldentum aufbaut.<br />
A Tat noch da aundern und in seiner Not<br />
Vertrauen zu ana Frau gfosst, aum Schluss worn olle tot.<br />
De Frauen san de Besn, mia haums scho immer g´wusst.<br />
De Mauna bringan d´Leit um, sich kana Schuid bewusst.<br />
Wia is es dazua kumman, dass mia olle glauben,<br />
D´Hausdrochen san de Weiber, a Höd des is a Maun?<br />
I mecht de G´schicht gern umdrahn, stölt´s eich amoi<br />
vor,<br />
de Kriemhield is allanig und steht durt vor dem Tor,<br />
wort stundenlaung aum Siegfried, de Brünhild kummt dazua,<br />
ziagt si kurz auf´d Seitn, sogt: „Hea ma amoi zua:<br />
„Du zogst einen Falken, der Liebe mit Leid dir lohnt,<br />
er hot mi vergewoltigt, weu des is er g´wohnt.<br />
Suach da doch an aundern, net stork, schen und wüd,<br />
mia Frauen verlieben uns meistens ins gewohnte Männerbüd.<br />
Mia hobn heit de Freiheit an Antihöden z´wöln<br />
Und miaßn uns net oiweu mit storke Männer quöln.<br />
Wo Höden san gibt’s Leichn des is a oide G´schicht<br />
de in meine Augen mit net vü Charme besticht.<br />
In ana Wölt zu leben in der vielleicht amoi,<br />
des gleiche Recht für olle güt, des tet ma wirklich g´foin.<br />
Drochen zu bekämpfen des is des Los des Lebens<br />
und´s Hödentum der Frauen, is meist die Kunst des Gebens.“<br />
Lyrik<br />
Ich liebe diese maere doch anes waaß i g´wiss:<br />
Heit zück ma unsre Speere, waun wos unfair is.<br />
Mei Reim der endet weiblich, des wor bisher söten:<br />
Host daham an Höden, host söwa nix zum möden.<br />
Andrea Kraus<br />
Geb. 1974 in Wien; Lehramtsstudium Germanistik - Bewegung und<br />
Sport, Sportwissenschaften, Deutsch als Fremdsprache, Disserta-
DRACHEN|März 2017<br />
41<br />
tionsstudium Gewaltprävention; Lehrende für Sport und Deutsch<br />
in Schule, Pädag. Hochschule und Universität; Preise und Förderungen:<br />
BM für Bildung, Drama Slam, Poetry Slam, Schreibzeit.
42 DRACHEN|März 2017<br />
Falk Andreas Funke<br />
Siegfried und die Drachenschützer<br />
Theaterstückchen in einem Akt<br />
Personen: Siegfried, angehender Held; Erster und Zweiter Drachenschützer (DS), später ein Feuerdrache.<br />
Ort: ein Felsengelände, rechts der Eingang zur Drachenhöhle, im Hintergrund Wald und Wiese, auf der Siegfrieds Pferd,<br />
ein Schimmel, grast.<br />
Siegfried:<br />
Wenn man sich einem Drachen naht, wandernd auf dem schärfsten Grat, erntet man nur Feuerplagen.<br />
Und doch will ich zum Kampf mich wagen, um Held zu werden in den Sagen.<br />
Erster DS:<br />
(tritt hinter einem Felsen hervor und Siegfried in den Weg. Hält ihn mit vorgestrecktem Arm auf Ab-<br />
stand)<br />
Dem gilt`s den Riegel vorzuschieben gleich Schelmen oder dreisten Dieben …<br />
Siegfried:<br />
Potzblitz, was fällt ihm ein?<br />
Zweiter DS:<br />
(erscheint hinter dem Rücken des Ersten)<br />
und Mördern, die bewegt von eitlen Trieben, den zu töten suchen, den wir lieben.<br />
Siegfried:<br />
Ihr sprecht vom Drachen? Die Herren verzeihn, doch ich muss lachen.<br />
Erster DS:<br />
Dem einen ist es wohl, dem andern wehe. So mancher lebt mit Drachen doch lange schon im Bund<br />
der Ehe.<br />
Siegfried:<br />
So wird`s bei mir nicht werden.<br />
Zweiter DS:<br />
Ich hörte jüngst von einem, den zog es hin zu Pferden.<br />
Erster DS:<br />
Bist du wohl stille!<br />
Siegfried:<br />
Es ist mein felsenfester Wille. Dies Schwert wird heute noch die Lindwurmhaut durchstechen.<br />
Erster DS:<br />
Das würde sich in eurem Falle rächen.<br />
Zweiter DS:<br />
Wer Drachen meuchelt, der muss blechen.<br />
Siegfried:<br />
Sagt wer?<br />
Erster DS:<br />
Sagt Robin Drach.<br />
Prosa<br />
Siegfried:<br />
Erster DS:<br />
Noch nie von diesem Mann gehört. Ein Narr, der sich getraute und einen Sagenhelden stört.<br />
Ich bin`s …
DRACHEN|März 2017<br />
43<br />
Zweiter DS:<br />
… genau wie ich. Und jeder, der sich zu unsrem Bund verpflichtet und unsren heilgen Eid gelobt, der<br />
Drachenschänder richtet.<br />
(Ein Feuerstoß schießt aus dem Eingang der Drachenhöhle und über die Akteure hinweg. Im Höhleneingang<br />
erscheint ein Drachenkopf von Qualm umwabert)<br />
Drache:<br />
(mit einer Stimme wie Donnergrollen) Ich bin der Drache! Ich rufe Rache! Vernichtet ist die Brut, die<br />
mich nicht schlafen ließ, der ich mit meinem Atem das Lebenslicht ausblies.<br />
Siegfried:<br />
(versengt mit Haut und Haaren) Vorbei der Traum vom Bade im heißen Drachenblut. Mir täte eine<br />
Wanne voll kühlem Wasser gut.<br />
Erster und<br />
Zweiter DS:<br />
(gleichfalls versengt) Ach, unser Schützling weiß nicht, wer seine Freunde sind, ist er doch nur ein<br />
dumm gewaltges Drachenkind.<br />
Erster DS:<br />
So ist der heilge Bund zerschlagen, weil er sich schlecht rentiert. Dem Freund geht`s an den Kragen,<br />
wie dem, der opponiert.<br />
Zweiter DS:<br />
Rau ist es auf dieser Erden. Und doch, was anders könnt`es werden, ich glaub, mich zieht es hin zu<br />
Pferden.<br />
(wirft eine sehnsüchtigen Blick auf Siegfrieds Schimmel, der unbeirrt im Hintergrund weidet)<br />
Vorhang und Ende<br />
Falk Andreas Funke<br />
Geb. 1985 und geblieben in Wuppertal, Verwaltungsangestellter. Seit 2001 Veröffentlichungen in div. Anthologien, Zeitschriften und<br />
beim Westdeutschen Rundfunk. Seit 2001 Mitarbeiter des Satiremagazins „Italien“, Wuppertal. Bislang drei Bücher, Tier und Tor, 2004;<br />
Ballsaal für die Seele, 2010 (jeweils Turmhut-Verlag), Krause, der Tod und das Irre Lachen (Verlag Thomas Tonn, 2012)<br />
Andreas.Funke@arbeitsagentur.de<br />
Prosa
44 DRACHEN|März 2017<br />
Peter Paul Wiplinger<br />
Du böses Kind<br />
Prosa<br />
schreit auf du böses kind schreit auf ich schlage dich noch windelweich<br />
und schlag auf schlag brennt dann die wange brennt<br />
das gesicht schreit auf das wirst du mir noch büßen du bengel<br />
du du taugenichts du tunichtgut du ärgerst mich nicht noch<br />
einmal und klatsch da hast du eine das wirst du dir noch merken<br />
ein leben lang das sag ich dir das tust du mir nie wieder<br />
kehr jetzt die scherben auf und wisch das wasser weg dann<br />
kommst du in den keller und das auf niemehrwiedersehen erst<br />
wenn ich dich am abend rufe und ab ins bett dann ohne abendbrot<br />
nur mit dem nachtgebet und daß du alle um verzeihung<br />
bittest den lieben gott die heilige maria und deinen schutzengel<br />
und auch noch mich dann liegst du regungslos im dunkeln<br />
die gitterstäbe trennen dich vom raum und durch das fenster<br />
kommt die kälte die decke hat sie dir noch weggenommen damit<br />
du frierst und nicht vergißt was du getan jahrzehnte später<br />
meidest du den keller fürchtest du das dunkel du haßt fast alle<br />
frauen und kannst nicht lachen wie die andern du schüttest<br />
wein in dich hinein du gehst zu bett auch ohne abendbrot und<br />
fernsehbilder flimmern grell bis in die tiefe nacht du schlägst<br />
dein kind genauso wie sie dich geschlagen und schreist es an<br />
das tust du mir nie wieder und schreist es an das wirst du dir<br />
noch merken bis an dein lebensende und bringe keinen deiner<br />
freunde mit ins haus und komm nie später als die fünf minuten<br />
die wir ausgemacht und lümmle nicht bei tisch und rede<br />
nur wenn du gefragt und sei nicht frech verschwinde in dein<br />
zimmer und laß so schnell dich nicht mehr blicken erst mußt<br />
du lernen zu gehorchen dann kannst du eine eigene meinung<br />
haben erst mußt du etwas leisten dann kannst du reden vorher<br />
nicht und überhaupt mir sagst du gar nichts ich höre dir<br />
nicht zu und überhaupt scher dich zum teufel du bist wie deine<br />
mutter und überhaupt wer glaubst du wer dich füttert hier an<br />
diesem tisch und wer dich aufgezogen hat und alles zahlt und<br />
wer sich täglich schindet nur für dich daß du es besser hast<br />
als ich denn ich hab nichts gehabt zu meiner zeit und keinen<br />
mucks durfte ich machen als ich so alt war wie du jetzt und<br />
komm mir nicht mit andern zeiten und dem gewäsch von einer<br />
andern welt ihr seid doch alle gleich schmarotzer seid ihr alle<br />
nervensägen und frech noch obendrein du kannst gleich eine<br />
haben da bist du mir noch nicht zu alt und klatsch sitzt eine<br />
auf der wange und klatsch brennt das gesicht und dazu schreit<br />
er noch in einem fort du böser bengel du und taugenichts du<br />
böses kind du böses kind<br />
Peter Paul Wiplinger<br />
Geb. 1939 in Haslach, Oberösterreich. Schriftsteller und künstlerischer<br />
Fotograf. Lebt seit 1960 in Wien. Studium der Theaterwissenschaft,<br />
Germanistik und Philosophie. Vorwiegend Lyriker,<br />
aber auch Kulturpublizist und Prosa-Schriftsteller. Bisher 46 Buchpublikationen<br />
in 20 Sprachen und hunderte Beiträge in Zeitungen,<br />
Zeitschriften und Anthologien sowie Rundfunksendungen im<br />
In- und Ausland. Weitere Informationen unter www.wiplinger.eu<br />
www.wiplinger.at.tf
DRACHEN|März 2017<br />
45
46 DRACHEN|März 2017<br />
Peter Mitmasser<br />
D r a c h e<br />
DRACHE<br />
Als die Bundesrepublik Deutschland die Wehrpflicht wieder einführen wollte,<br />
haben die Gegner einen Drachen plakatiert, der stark gepanzert war und einen<br />
bemerkenswert kleinen Kopf hatte. Der Text dazu:<br />
„Ausgestorben! Zu viel Panzer, zu wenig Hirn“<br />
Inzwischen hat Deutschland sowohl Panzer als auch Hirn. Wie die das machen?<br />
RACHE<br />
Mein ist die Rache, sprach der Herr, Doch TTIP sagte: „Stop! Wir brauchen da<br />
weder den Herrn noch ein ordentliches Gericht. Wir nehmen ein privates<br />
Schiedsgericht. Da verlieren wir nie!“<br />
ACHE<br />
Das klare, kalte Wasser schießt schäumend zu Tal, in der Sonne funkeln die<br />
Tropfen wie Edelsteine oder Goldstücke. Die Repräsentanten eines Schweizer<br />
Nahrungsmittelkonzerns, der sich mit großem Weitblick auf Erwerb und Betrieb<br />
von Trinkwasserquellen spezialisiert hat, weil es bald weltweit Mangel an sauberem<br />
Trinkwasser geben wird, steht am Fuße des Wasserfalles und sieht schon<br />
die Edelsteine und Goldstücke ins eigene Portemonnaie fallen, da kommen die<br />
„Tiroler Schitzen“ und bauen sich zwischen Schweizern und unserem Wasser<br />
auf: „Nit mit ins“ sagen sie und die Schweizer suchen sich andere Quellen und<br />
versuchen entgegen den Regeln der Compliance, den Schitzenhauptmonn zu<br />
überreden. Aber sie haben sich geirrt. Bevor ein Tiroler Schitzenhauptmonn<br />
etwas vom Heiligen Land an Fremde, gar Ausländer, abgibt, marschiert er nach<br />
Bozen und Meran, um es zu mehren.<br />
CHE GUEVARRA, einst rechte und linke Hand Fidels, rotiert soeben im Grab, weil<br />
er befürchtet, dass die Öffnung seiner geliebten Zuckerinsel nur den Zustand<br />
vor der Revolucion wieder herstellen und aus Cuba ein großes Puff mit<br />
Spielcasino machen wird.<br />
HE<br />
bedeutet in Englisch „Er“ sollte es aber deutsch sein, so wäre es zumeist unfreundlich:<br />
„He...Sie da...!“<br />
E NDE<br />
des Drachens. Nur die Chinesen versuchen noch, ihn am Leben zu halten<br />
und malträtieren ihn mit Nadeln in die Ohrläppchen.<br />
Es gab dann noch einen Mödlinger Dichter, für den man dem Drachen nur ein „E“ von hinten nehmen und in unseren<br />
Literaturtopf geben müsste: Albert Drach. 1902 bis 1995, Hauptberuf Anwalt, umfangreiches Oevre, einige bedeutendere<br />
Literaturpreise. Und trotzdem kennt man ihn kaum. Ist das das Schicksal der Literaten?<br />
Prosa<br />
Peter Mitmasser<br />
Geb.1939 in Wien, lebt in Wr. Neudorf. Einkaufsleiter in der Chemischen Industrie, studierte neben seinem Beruf Philosophie; mehrere<br />
Buchbeiträge. 2007 erschien sein erstes Buch „Glück aus dem Supermarkt”; 2013 „Ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft: oder Ein<br />
gutbürgerliches Trauerspiel” .
DRACHEN|März 2017<br />
47<br />
Ingrid Messing<br />
Von Menschen und Drachen<br />
Sie thront auf dem breiten Marmorsims vor dem Fenster.<br />
Dickbauchig mit Deckel. Unsere Porzellanvase. Chinesen<br />
mit Spitzbärten und schwarzen Hüten in langen Gewändern,<br />
Blumen, Blätter, Bäume, kleinere chinesische Vasen, Vögel,<br />
Verzierungen rundherum sind in den Farben blau, lila, grün<br />
eingebrannt. Und da meine Lieblinge: die Drachen. Golden<br />
schlängeln sie sich um den Bauch der Vase. Der Pferdekopf<br />
mit den Wolfszähnen und dann die fünf Klauen an den Beinchen.<br />
Ich lege eine Hand auf die Schuppenhaut des Drachens.<br />
Und lasse sie dort liegen.<br />
Mein Vater erzählt vom Sultan, von Banjermassin, Borneo,<br />
Geburtstag und Geschenk. Er hebt die Vase vom Klavier<br />
oben herunter, stellt sie auf seinen Schreibtisch. Er fasst<br />
den weißen Kugelgriff des Deckels, hebt ihn langsam hoch<br />
und zieht Schatz nach Schatz: Seidenstoffe, Batikstoffe, ein<br />
Schwert mit Elfenbeingriff. Zum Schluss der Köcher mit den<br />
Pfeilen.<br />
„Achtung, nicht anfassen! Da ist noch das Gift der Bataks von<br />
Borneo drin. Kopfjäger! Ich erzähle euch die Geschichte, als<br />
ich mit den Missionaren zu den Kopfjägern mitgefahren bin.“<br />
Augen werden größer, Münder öffnen sich, schließen sich<br />
wieder beim Wort: Krokodile. Finger drücken sich auf Lippen.<br />
Mein Vater verstaut die Schätze vorsichtig in der chinesischen<br />
Vase, stellt sie wieder aufs Klavier und hebt an:<br />
„ Diese Vase hat Berlin 1945 überlebt. Unbeschadet!“<br />
Jetzt kommt’s! Immer. Ich versteife, summe unhörbar in<br />
mich hinein, fliege mit den Vögeln auf der Vase weit weg von<br />
Frauen, Russen, Berlin 45. Ich komme zurück an der Stelle:<br />
„Die ganze Einrichtung im Haus war geplündert oder zerschlagen,<br />
nur die chinesische Vase stand da.“<br />
Lange Pause, bis ein Gast wisperte: Wie ist das möglich?<br />
„Für die Mongolen muss die Vase mit ihren Drachen von Bedeutung<br />
gewesen sein.“<br />
Ausatmen, Kopfschütteln.<br />
Ich ziehe meine Hand vom Drachen zurück. Die Gäste gehen<br />
zum Kaffeetisch. Ich starre auf die Zähne der Drachen. Ich<br />
drehe dann die Vase so, dass ich die Drachen nicht mehr<br />
sehen muss. Ich schaue, gehe ein paar Schritte zurück, sehe<br />
mich im Raum um. Das ist es.<br />
Ich reiße das Tischtuch vom kleinen Tischchen und werfe es<br />
über die Vase.<br />
Das hilft. Gegen Drachen.<br />
Ingrid Messing<br />
Geb. 1949 in Metzlingen/Deutschland, pensionierte Lehrerin, lebt<br />
seit dreieinhalb Jahren in Niederösterreich, Veröffentlichungen in<br />
verschiedenen Literaturzeitschriften und Anthologien. Fleißige<br />
Schreibwerkstätten- und Jour-fixe- Teilnehmerin.<br />
Prosa
48 DRACHEN|März 2017<br />
Prosa<br />
Heinz Zitta<br />
Im Rachen des Drachen<br />
„Es war einmal vor langer Zeit, da waren die Drachen noch<br />
nicht ausgestorben und bedrohten die Menschen.“<br />
„Hast du jemals einen Drachen gesehen?“, wollte ich von<br />
Großvater wissen.<br />
„Nicht nur gesehen, ich habe sogar einmal einen besiegt,<br />
das ist aber schon Ewigkeiten her.“<br />
„Besiegt? Wirklich? Erzähl mir davon, Großvater, bitte!“<br />
„Ja …“, setzte der Großvater gemächlich zu erzählen an,<br />
während er sich seine Pfeife stopfte.<br />
„Also, das war so, hör gut zu: Ich fuhr mit meiner Kutsche<br />
durch den Wald …“<br />
„Was ist denn eine Kutsche?“, fragte ich verwirrt nach. „Ich<br />
kenne nur Ashton Kutcher aus ‚Two and a Half Men‘.“<br />
„Das waren damals die Autos.“<br />
„Und wie viel PS hatte so eine Kutsche?“<br />
„Meine hatte zwei PS.“<br />
„Was? Nur? Das ist aber wenig.“<br />
„Nein, ganz und gar nicht. Zwei Pferde reichen völlig aus,<br />
um eine Kutsche zu ziehen.“<br />
„Und dann kam der Drache?“<br />
„Unterbrich mich nicht ständig! Dazu komme ich gleich.<br />
Also, ich fuhr durch den Wald …“<br />
„Und dann kam der Drache!“<br />
„Sei doch nicht so ungeduldig. Nein, da stand plötzlich ein<br />
Zwerg mitten auf dem Weg und bat mich verzweifelt um<br />
Hilfe.“<br />
„Ein Zwerg? Gibt’s die wirklich?“<br />
„Wenn du immer dazwischenredest, dann erzähl ich dir<br />
nichts mehr.“<br />
„Bitte, Großvater, erzähl weiter. Ich bin jetzt auch ganz leise.“<br />
„Also, der Zwerg stand plötzlich mitten auf der Straße und<br />
schaute furchtsam drein.“<br />
„Kann ich dir helfen?“, fragte ich ihn.<br />
Und er antwortete: ,Oh Gott, oh Gott, oh Gott, es ist so<br />
schrecklich, lieber Herr. Ein böser Drache hat feuerspeiend<br />
meine Hütte in Brand gesetzt und ich musste flüchten.“<br />
„Aber Drachen sind von Natur aus doch nicht böse“, versuchte<br />
ich, den Zwerg zu beschwichtigen. „Vielleicht ist er<br />
deinem Haus nur aus Versehen zu nahe gekommen.“<br />
„Das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Versehen oder nicht,<br />
das Nachsehen habe auf jeden Fall ich“, wollte sich der<br />
Zwerg partout nicht beruhigen. Aufgeregt sprach er weiter:<br />
„Aber sehen Sie, der Drache kommt immer näher! Riechen<br />
Sie es denn nicht?“<br />
„Ich schnupperte nun aufmerksam und tatsächlich, ein fauliger<br />
Geruch lag in der Luft.<br />
Es roch wie schlechter Mundgeruch, nur noch viel schlechter.<br />
Plötzlich hörten wir Äste knacken und schon kam ein<br />
Drache aus dem Wald. Der Zwerg versteckte sich ängstlich<br />
hinter der Kutsche, doch mir erschien der Drache gar<br />
nicht so gefährlich. Er hatte ein putziges Gesicht, eine<br />
große Nase, zwei kleine Flügel und einen kurzen Schwanz.<br />
Er erinnerte mich an Grisu, den kleinen Drachen aus der<br />
Zeichentrickserie.“<br />
„Grisu, ja, den kenne ich auch, Großvater.“<br />
„Ja, aber dieser Drache war nicht im Fernsehen und nicht<br />
gezeichnet, der war schon echt. Auch wenn er mir nicht<br />
böse erschien, musste ich aufpassen, nun keinen Fehler zu<br />
machen. Der Zwerg hatte offensichtlich mehr Respekt vor<br />
dem Drachen und ich sah aus den Augenwinkeln, wie er<br />
ängstlich von einem Bein auf das andere hüpfte.“<br />
„Wie das Rumpelstilzchen?“<br />
„Unterbrich mich nicht dauernd. „Also, während der Zwerg<br />
immer noch zitterte, trat ich mutig vor den Drachen hin und<br />
grüßte ihn zuerst einmal höflich.“<br />
„Grüß Gott, Herr Drache, wie ist das werte Befinden?“<br />
„Dabei war ich auf der Hut, um sofort zurückweichen zu<br />
können, falls er doch Feuer speien sollte. Aber, wie gesagt,<br />
er machte auf mich einen freundlichen Eindruck.“<br />
Und wirklich erwiderte der Drache entgegenkommend meinen<br />
Gruß: „Grüß Sie Gott, lieber Herr. Machen Sie auch<br />
einen Waldspaziergang?“<br />
„Da bewahrheitete sich wieder einmal der Spruch: ,Wie<br />
man in den Wald hineinruft, so kommt es zurück.‘“<br />
„Nein, ich bin bloß auf der Durchreise.“<br />
„Ach so. Wissen Sie, mir geht’s gar nicht prächtig. Ich habe<br />
schreckliches Zahnweh“, begann der Drache, mir sein Leid<br />
zu klagen.<br />
„Und schon kam ein Schwall stinkender Luft aus seinem<br />
Maul. Der Geruch erinnerte an übel riechende Jauche.“<br />
„Und deshalb ist meine Atemluft so leicht brennbar“, fuhr<br />
er fort. „Ich kann da gar nichts dafür.“<br />
„Scheinbar wollte sich der Drache solcherweise wohl für<br />
das Anzünden der Zwergenhütte entschuldigen.“<br />
„Zahnschmerzen, faule Zähne, Zahnstein. Verwenden Sie<br />
denn nicht regelmäßig Zahnseide?“<br />
„Das wird es sein“, bestätigte der Drache niedergeschla-
DRACHEN|März 2017<br />
49<br />
gen. „Ich habe meine Zahnseide immer von Rapunzel bekommen.<br />
Die hat sie für mich aus ihren Haaren gesponnen,<br />
aber seit sie mit ihrem Prinzen auf und davon ist, weiß ich<br />
nicht mehr, wo ich welche auftreiben soll.“<br />
„Da kann ich abhelfen, Herr Drache. Ich habe zufällig eine<br />
Ladung feinster indischer Seide in meiner Kutsche. Die<br />
schenke ich Ihnen.“<br />
„Das ist sehr nett, aber ein Geschenk darf ich von einem<br />
Menschen nicht annehmen. Das ist gegen die Drachenehre.<br />
Aber vielleicht kann ich an einer Verlosung teilnehmen?“<br />
„Ich wusste nicht so recht, was der Drache damit meinte,<br />
aber dann stieg ich auf das Spiel ein. Denn je schneller<br />
der Drache von seinem üblen Mundgeruch befreit wurde,<br />
umso schneller waren die Häuser der Zwerge und auch der<br />
Menschen sicher vor seinem Feueratem.“<br />
„Also gut, nehmen wir an, wir machen eine Verlosung, aber<br />
nur eine Nummer gewinnt. Was für eine Nummer nehmen<br />
Sie?“<br />
„Hm, das ist aber knifflig.“<br />
„Der Drache klopfte beim Nachdenken mit seinem<br />
Schwanz mehrmals auf den Boden, sodass der Zwerg, der<br />
inzwischen schon etwas mutiger näher gekommen war, sofort<br />
wieder weglief.“<br />
„Welche Nummer soll ich nehmen? Ich bin doch nicht so<br />
gut im Rechnen.“<br />
„Daraufhin begann er, seine Finger abzuzählen, und da er<br />
wirklich nicht gut rechnen konnte, war das Ergebnis sieben.“<br />
„Sieben, Bingo!“, ließ ich ihn im Glauben, er hätte richtig<br />
gezählt. „Sieben, das ist die magische Zahl. Gratuliere, gewonnen!“<br />
„Ich gab dem Drachen geschwind die Seide, er nebelte uns<br />
zum Dank nochmals mit seiner fauligen Atemluft ein und<br />
trottete dann wieder zurück in den Wald. Als der Drache<br />
tief im Wald verschwunden war, traute sich der Zwerg auch<br />
wieder hervor.“<br />
„Wie hast du das angestellt? Bist du ein Drachenbeschwörer?“<br />
„Nein, ich habe ihm meine Seide geschenkt. Es muss nicht<br />
immer ein Schwert sein, wie in den klassischen Sagen.“<br />
„Dennoch fühlte ich mich wie ein Held. Nicht gerade wie<br />
Siegfried, der Drachentöter, aber wie Dr. Best. Ich lasse<br />
die Drachen lieber leben. Und helfe Ihnen mit der Mundhygiene.<br />
Damit sie auch morgen noch kraftvoll zubeißen<br />
können.“<br />
Heinz Zitta<br />
Geb. 1950, lebt in Villach/Österreich und arbeitete als Entwicklungs-Ingenieur<br />
in der Elektronik-Industrie. Kreatives Schreiben<br />
ist für ihn ein willkommener Ausgleich zu den exakten Anforderungen<br />
seines technischen Berufs. Seine literarischen Interessen<br />
umfassen Kurzgeschichten, Satire und Reiseberichte. Bisher einige<br />
Veröffentlichungen in Anthologien.<br />
Prosa
50 DRACHEN|März 2017<br />
Erich Sedlak<br />
Letzte Worte an einen Hausdrachen<br />
Prosa<br />
Jetzt sei bitte nicht kindisch, Franziska! Wer sagt dir denn,<br />
dass ich dir böse bin? Keine Rede davon! Zugegeben, du hast<br />
in deinem Leben einen entscheidenden Fehler gemacht. Und<br />
der war, dass du mich kennen gelernt hast. Wir zwei haben<br />
ja nie richtig zusammen gepasst. Und darum darfst du dich<br />
auch nicht wundern, Franziska: Das Küchenmesser, das hätt<br />
ich dir schon vor fünf Jahren, nicht erst heute … schon vor<br />
fünf Jahren hätt ich dich abstechen sollen! Die fünf Jahre waren<br />
ein Geschenk, Franziska! Vergiss das bitte nicht! Schon<br />
seit fünf Jahren spiel ich mich mit dem Gedanken und mit<br />
dem Küchenmesser. Und jeden Monat hab ich es wieder<br />
verschoben.<br />
Kannst nicht ein bisserl leiser stöhnen? Ich mein … wegen<br />
der Nachbarn. Stöhn einmal in deinem Leben wie ein normaler<br />
Mensch! Aber normal … das warst du nie, Franziska.<br />
Immer mit deiner aufblasbaren Trockenhauben auf dem<br />
Schädel und die Rahmgurken auf deinem runzligen Gesicht.<br />
Jetzt schaust wenigstens halbwegs vernünftig aus. Nur um<br />
das Seidennachthemd ist es ewig schad. Aber vielleicht kann<br />
man es kunststopfen lassen?<br />
Was meinst du, Franziska? Siehst, jetzt gibst du mir schon<br />
wieder keine gescheite Antwort! Immer hast du mich ignoriert.<br />
Was war ich schon für dich? Höchstens ein Finanzier<br />
für deinen ausufernden Lebenswandel. Ausgepresst hast du<br />
mich wie deine Grapefruit. Die haben dir aber auch nichts<br />
genützt. Bist trotzdem Tag für Tag nur noch blader geworden.<br />
Dein Gewicht, das kann dir jetzt auch egal sein. Vielleicht,<br />
dass die Totengräber deswegen fluchen, wenn sie deinen<br />
Sarg hochstemmen müssen. Irgendwann wird nämlich alles<br />
unwichtig, Franziska! Sogar deine Parfüms und deine Sprays.<br />
Sogar deine Lieblingsbluse, weißt eh, die mit dem lila Segelschiff<br />
aus Dubrovnik. Die werde ich auch ins Pfandl tragen.<br />
Nichts, aber schon gar nichts wird von dir übrig bleiben, wie<br />
vielleicht ein paar blöde Fotos … wenn ich sie nicht verbrenn.<br />
Bitte, sollen sie mich halt einsperren! Lieber setz ich mich<br />
lebenslang in den Häfn oder in den Guglhupf, wie mit dir<br />
noch einen Abend länger vor den Fernseher. Das war ja kein<br />
Leben mehr mit dir, Franziska! Jeden Tag die sinnlosen Streitereien<br />
… und warum? Weil ich ab und zu ein bisserl was<br />
Alkoholisches zu mir genommen hab. Aber hab ich nicht saufen<br />
müssen, dass du wenigstens ein bisserl schöner wirst vor<br />
meinem geistigen Auge? Und dann … deine fortwährenden<br />
Stänkereien … die sind ja auf keine Hutschnur mehr gegangen.<br />
Da bemüht man sich … gesellschaftlich zumindest …<br />
besucht Abendkurse in der Volkshochschule … bildet sich<br />
weiter … und was machst du? Du sagst Trottel zu mir! Aber<br />
auch ein Gaskassier hat einen Charakter, Franziska. Solltest<br />
die Leut einmal sehn, wenn ich wo hinein komm den Zähler<br />
ablesen. Ein Schnapserl und Wohlsein, Herr Inspektor. Und<br />
nehmen Sie doch bitte Platz. Hast du zu mir einmal gesagt,<br />
dass ich Platz nehmen soll? Den Küchenhocker hast du mir<br />
her geschoben. Und eine jede von deinen aufgeputzten<br />
Weibern war dir wichtiger als ich. Da hat es ja zu einschneidenden<br />
Maßnahmen kommen müssen! Jahrzehntelang hab<br />
ich alles hinuntergeschluckt … nicht nur den Slibowitz. Im<br />
Bett hab ich mich neben dir schlaflos gewälzt … zutiefst besoffen<br />
… ah … betroffen … von deiner spitzen Zunge. Du hast<br />
ja nur darauf gewartet, dass du mich bloßstellen kannst vor<br />
aller Welt. Wissen Sie, hast du gesagt, er wollte in seiner Jugend<br />
immer Offizier werden, aber auch als Gaskassier hat er<br />
eine wunderschöne Uniform! Oder vor den Kindern: Schaut<br />
euch euren Vater nur gut an. Weit hat er es gebracht, euer<br />
Vater, der Versager. Eines dürft ihr nie werden … so wie er!<br />
Und wenn ich im Bett manchmal ein bisserl indisponiert war,<br />
was ja kein Wunder gewesen ist bei deinem abschreckenden<br />
Anblick: Du armseliger Impotenzler, hast du geplärrt, dass es<br />
das ganze Haus gehört hat.<br />
Du frigider Hausdrachen, du! Hat dir irgendwer angeschafft,<br />
dass du ausgerechnet mich heiraten musst? Ich hab ja damals<br />
gleich … noch bei deinen herzensguten Eltern … zweiunddreißig<br />
warst und fast nicht mehr anzubringen. Gewehrt<br />
hab ich mich mit Händ und Füß. Aber du hast mich ja vor den<br />
Altar förmlich gezerrt! Wärst lieber in ein Kloster gegangen<br />
oder in einen Zirkus … als Dame ohne Unterleib! Aber nein,<br />
mich hast dir unbedingt eingebildet. Justament mein Leben<br />
hast auch noch zerstören müssen, weil deines eh schon hin<br />
war! Dabei Franziska! Ehrlich … nicht einmal anschauen hab<br />
ich dich damals können, geschweige denn anrühren. Aber<br />
mit deinen dreitausend Quadratmetern Baugrund in Wöllersdorf<br />
… mit denen hast du mich eingefangen.<br />
Ich hab ja die letzten Jahre schon unter hochgradigen Abnützungserscheinungen<br />
gelitten. So geht es nicht mehr länger<br />
weiter mit uns, Franziska, hätt ich sagen müssen. Wenn du<br />
neben mir wie ein Gorilla geschnarcht hast und im Schlaf
DRACHEN|März 2017<br />
51<br />
gesprochen hast vom Prinz Charles. Der hätt dich eh sofort<br />
genommen, aber nicht als Prinzessin, sondern als Pinzgauer<br />
für seine Kutschen. Ja, das war immer deine allergrößte<br />
Sorge: Kochrezepte und irgendwelche abgetakelte Monarchisten.<br />
Weil du mit der Welt da nicht fertig worden bist, hast<br />
dir quasi eine andere erträumt. Vielleicht bist jetzt eh schon<br />
dort … bei deiner heiß geliebten Grace Kelly oder der Lady Di<br />
mit ihrem arabischen Scheich.<br />
Aber du hast mich ja nie ernst genommen! Spiel dich nicht,<br />
Franziska, hab ich immer gesagt, spiel dich nicht mit mir. Ich<br />
hab nichts mehr zum Verlieren. Aber du hast nur gelacht und<br />
mir das abgerissene Schlingerl vom Mantel trotzdem nicht<br />
angenäht. Einmal, da warst du fast fällig. Kannst dich noch<br />
erinnern? Ein harmloser Ausflug auf den Ötscher. Und wie du<br />
da gestanden bist, die schwindelnde Tiefe unter dir … da wär<br />
es für mich nur eine Kleinigkeit gewesen. Eine unbedachte<br />
Handbewegung. Aber dann hab ich doch gezögert, weil du<br />
den Rucksack getragen hast mit der Jause.<br />
Komisch … so ein Mord … der geht eigentlich viel schneller<br />
als wie im Film. Selber steht man ja nicht so sehr im Mittelpunkt<br />
… eher das Opfer. Und wie sie mich jetzt anschaut.<br />
Direkt unterwürfig schaut sie mich an. So hat sie ihr ganzes<br />
Leben nicht geschaut. Hättest einmal nur so geschaut, Franziska!<br />
Aber gelt … irgendwas macht man in seinem Leben<br />
immer zum ersten und zum letzten Mal? Na und, hab ich<br />
dir nicht eine wunderschöne Himmelsleiter gebaut, hinauf<br />
direkt zu den Sternen? Dort hast es jetzt eh viel schöner<br />
… dort bist ein blader Engel mit einem neuen Seidennachthemd<br />
… und ohne einen besoffenen Ehemann. Ich bin ja kein<br />
Unmensch, Franziska … du kennst mich doch! Das mit dem<br />
Küchenmesser, das war leider im Affekt … das ist so plötzlich<br />
über mich hereingebrochen. Dabei müsste man doch über<br />
alles vernünftig reden können … so wie wir zwei jetzt vernünftig<br />
miteinander reden … auch wenn du mir jetzt nicht<br />
mehr richtig zuhören kannst … trotzdem … Franziska … du!<br />
Warum hast du auch die Fleischlaberl anbrennen lassen?<br />
Erich Sedlak<br />
Geb. 1947 in Wien, lebt in Wiener Neustadt; bisher 22 Publikationen,<br />
2016: „Den Spuren folgen in die Dunkelheit“, Roman,<br />
(Brighton-Verlag, Worms); Hörspiele, Drehbücher, Bühnenstücke,<br />
TV-Theater, Literaturpreise; Mitgliedschaften: Intern. und Österr.<br />
P.E.N.-Club, podium, Österr. Schriftstellerverband, Präsident des<br />
NÖ P.E.N.-Clubs. www.erichsedlak.at<br />
Prosa
52 DRACHEN|März 2017<br />
Elfriede Starkl<br />
Meine Drachenwelt<br />
Prosa<br />
Ein mächtiger Drache schläft versteckt in den Alpen. Ein<br />
männlicher Drache mit großen Flügeln, spitzem Rückenkamm<br />
und scharfen Krallen. Er ist am Erwachen. Das<br />
ewige Eis, das seinen Körper eingefroren hat, schmilzt.<br />
Einzelne Steinschuppen donnern zu Tale. Erstaunt schauen<br />
wir den Bergen beim Zerbröckeln zu. Wie ist das möglich?<br />
Tausende Jahre ruht der Drache, doch jetzt regt er<br />
sich? Gerufen von Drachenbändigern und Drachenbauern<br />
und Drachenliebhabern?! Wir brauchen die starke Energie<br />
des Drachens. Es ist an der Zeit, dass er mit den Perlen<br />
der Weisheit, des Donners und der Unendlichkeit spielt<br />
und uns teilhaben lässt. In der Bildsprache der Chinesen<br />
ist er der Herrscher über die Winde. Er ist ein Wundertier,<br />
kann sich klein machen wie eine Seidenraupe und so<br />
groß, dass er den Raum zwischen Himmel und Erde füllt.<br />
Nach Belieben kann er sich sichtbar oder unsichtbar machen.<br />
Im Vergleich zur europäischen Mythologie gilt der<br />
Drache in China als gutartiges, Glück bringendes Tier. Als<br />
eines der vier Tiere der Weltrichtung steht er im Osten,<br />
der Richtung des Sonnenaufganges, des Zeugens und des<br />
Frühlingsregens. Er bringt Fruchtbarkeit und reiche Ernte.<br />
Zum chinesischen Frühlingsfest werden Drachen- und<br />
Fächertänze aufgeführt, um den Herren des Windes und<br />
des Regens zu ehren. Wie gern täte ich auf seinem Rücken<br />
liegend in die Lüfte schweben. Es bedarf keiner Peitsche,<br />
meine Gedanken genügen, von meinem Drachen in meine<br />
Traumwelt getragen zu werden. In Goldtönen schillern seine<br />
Schuppen, seine Barthaare laden ein sie zu liebkosen.<br />
Ihm in die Augen zu schauen, habe ich noch nicht gewagt.<br />
Man sieht das eigene Leben und das der ganzen Welt<br />
darin. Er beschützt mich und freut sich über die kleinen<br />
Papierdrachen, die bunt im Himmel schweben, von mir<br />
gefertigt. Meine Leidenschaft fürs Drachen bauen kann<br />
ich nicht verheimlichen. Sie ist auch der Grund für den<br />
Titel dieses Heftes. Seit ich Drachen baue, stehe ich im<br />
Dialog mit dem Wind. Meine Liebe zu Papier und Tusche<br />
ließ mich Nächte lang falten und färben. Ich falle in einen<br />
zeitlosen Raum, höre erst auf, wenn alle Tusche verbraucht<br />
ist. Suchtgefahr permanent! Ich weiß nie, wie es<br />
werden wird, keine zwei gleichen sind mir geglückt, trotz<br />
gleicher Faltung und Farbe. Das Erlernen vom Bambus<br />
spalten dauert noch an. Die Geheimnisse der Knoten und<br />
Leinen Verbindungen sind noch lange nicht alle gelüftet!<br />
Ein ganzes Jahr hab ich für eine spezielle Verbindung<br />
gebraucht, bis sie mir klar war! Jetzt erscheint sie mir<br />
einfach und genial. Ein Reisedrachen begeitet mich auf<br />
allen Reisen. Er kennt Nord- und Ostsee, die Berge und<br />
das Mittelmeer. Auf der Planai in Schladming ließ ihn der<br />
Aufwind trudeln. Am Meeresstrand steht er ruhig am Himmel,<br />
leuchtet, erfreut und wird bewundert. Er passt genau<br />
in den Koffer und in jeden Himmel. Sturmvögel, Glücksdrachen<br />
und Leichtwinddrachen haben meine Wohnung<br />
in eine Drachenhöhle verwandelt. Seit ich mich mit ihnen<br />
beschäftige, sehe ich sie überall; als Wasserspeier, Wappentier,<br />
auf chinesischem Porzellan, selbst der geflügelte<br />
Löwe von Venedig hat einen Drachenaspekt. Meine Favoriten<br />
sind aus Japanpapier, mit chinesischer Tusche gefärbt<br />
und mit Bambus gebaut. Dem Drachen eine Form<br />
geben, das Papier auf das Bambusgerüst kleben, Waagschnur,<br />
Flugleine und Bänder anbringen, dann hinaus in<br />
die frische Luft, in den Wind. Wenn er dann aufsteigt und<br />
ruhig im Wind steht, bin ich stolz.
DRACHEN|März 2017<br />
53<br />
Elfriede Starkl, leidenschaftliche Drachenbauerin,<br />
berichtet vom Drachenbauen.<br />
Für japanische Friedensdachen brauche ich Bambus, Japan<br />
Papier und chinesische Tusche. Das Papier wird gefaltet,<br />
so klein es geht. Dann in die Tusche getunkt, bei<br />
Gelb beginnend, dann Rot, Blau und Schwarz. Diese Shibori<br />
Technik stammt aus Japan. Man färbt auch klassische<br />
Kimonos so. Farbe und Rhythmus bleiben gleich und doch<br />
verändert sich das Muster in rätselhafter Weise! Die chinesischen<br />
Tuschen sind leuchtend, farbecht und einmal<br />
getrocknet, Wasser unlöslich! Das Papier ist sehr empfindlich<br />
auf Feuchtigkeit. Trocken ist es unglaublich stabil.<br />
Ein vier- jähriger Bambus wird gespaltet, das erfordert viel<br />
Aufmerksamkeit und Übung. Wir verwenden nur die Außenhaut.<br />
Die etwas festeren Stäbe werden für die Längsholme<br />
verwendet, die dünnen kann man leicht biegen<br />
und spannende Verbindungen herstellen. Man baut ein<br />
Gerüst, klebt die Kreuzungspunkte und verknotet sie. Die<br />
Japaner kennen wunderbare Knoten. Das gefärbte Papier<br />
wird drauf geklebt, man achtet auf Gleichgewicht. Für die<br />
Stabilität kommen Bänder aus Papier dran, oder lässt die<br />
Bambus Stäbe hinaus stehen. Waagschnur und Flugleine<br />
kommen zuletzt. Dann fehlt nur mehr der Wind und der<br />
Drache steigt in den Himmel. Falls er nicht so recht mag,<br />
trudelt oder nicht steigen will, muss die Waage korrigiert<br />
werden. Farben und Formen sind kaum Grenzen gesetzt!<br />
Elfriede Starkl<br />
Geb. 1948 in St.Pölten, leidenschaftliche Drachenbauerrin,<br />
erst seit kurzem mit viel Freude bei der Litges!<br />
Fotos©Elfriede Starkl<br />
Prosa
54 DRACHEN|März 2017
DRACHEN|März 2017<br />
55<br />
Brigitte Pokornik<br />
Ein letzter Hauch<br />
So ist das also, wenn man sein Leben aushaucht.<br />
Von all dem wilden Feuer ist nur noch ein mageres Zündflämmchen<br />
übrig, das im Hauch des Atems flackert, so daß<br />
man ganz sanft atmen muß, um es nicht vor der Zeit auszublasen.<br />
Da drüben steht er, mein Gegner, der mich besiegt hat.<br />
Ein hübscher Bursche, trotz der versengten Augenbrauen.<br />
Er hält die Prinzessin im Arm.<br />
Sie schluchzt an seiner Schulter, die dumme Gans.<br />
Was gibt es da zu schluchzen? Jetzt kriegt sie wenigstens<br />
einen tüchtigen Mann.<br />
Ohne mein Zutun hätte ihr Vater sie dem erstbesten parfümierten<br />
Nichtsnutz gegeben. Für Geld und Macht hätte er<br />
sie eingetauscht, wie ein Stück Vieh. Der tapfere Bursche<br />
da hätte doch keine Chance gehabt ohne mich.<br />
Zumindest diese beiden haben doch keinen Grund, mir irgendetwas<br />
übel zu nehmen.<br />
Und das Volk?<br />
Das Volk kriegt später einen anständigen König.<br />
Hat auch fair gekämpft, der Bursche, keine üblen Tricks.<br />
Ob er mir Ehre erweisen wird, wie anderen gefallenen<br />
Kämpfern? Oder wird man mich durch die Straßen schleifen,<br />
damit mich die Gassenbuben mit Dreck bewerfen können?<br />
Sie schluchzt noch immer.<br />
Hat sie solche Angst gehabt vor mir?<br />
Ich wollte doch nur ein bißchen Gesellschaft haben.<br />
Ich wollte, daß sie mir etwas vorsingt, ich habe gehört, sie<br />
hätte eine schöne Stimme. Bei mir hat sie aber keinen Ton<br />
herausgebracht.<br />
Hat sie wirklich geglaubt, ich würde sie fressen? Daß ich<br />
Jungfrauen fresse, ist doch ein Ammenmärchen.<br />
Was sie mir nicht alles nachsagen.<br />
Jungfrauen - ha! Bei der Diät wäre ich doch glatt verhungert.<br />
Sie sagen ja auch, ich hätte eine Spur der Verwüstung<br />
übers Land gezogen – na, und?<br />
Die verbrannte Erde ist doch im nächsten Jahr umso fruchtbarer.<br />
Und hat der König mit seinem Gefolge etwa noch nie<br />
das reife Korn niedergeritten, in der Hitze der Jagd?<br />
Und das bißchen Vieh, das ich den Bauern weggefressen<br />
habe - na, und?<br />
Haben ihnen etwa noch nie die Soldaten die Kühe von der<br />
Weide weggetrieben?<br />
Was regen sie sich gerade über mich so auf?<br />
Habe ich ihnen – als Gegenleistung – nicht Stoff genug für<br />
ihre Schauergeschichten gegeben?<br />
Die Dichter haben mich besungen, die Künstler haben mich<br />
sogar in Bronze gegossen, und wie sie mich gemalt haben!<br />
Feuerspeiend, geflügelt, schuppengepanzert, den Leib<br />
in den unglaublichsten Windungen verdreht - jeder kennt<br />
mein Bild, jeder.<br />
Ah, jetzt schaut er zu mir herüber. Überlegt, ob er es wagen<br />
soll, das Schwert aus meiner Brust zu ziehen, um mir den<br />
Kopf abzuschlagen. Nein? Doch nicht? Er läßt mir noch das<br />
bißchen Zeit.<br />
Sie hat ihn am Arm zurückgehalten.<br />
Doch nicht etwa aus Mitleid mit mir?<br />
Dann schon lieber aus Angst.<br />
War ich denn nicht schrecklich und schön und wunderbar?<br />
Bin ich es nicht noch immer?<br />
Sogar jetzt noch.<br />
Brigitte Pokornik<br />
Geb.1950 in Wien Kinderbuchautorin und Spieleautorin, studierte<br />
zunächst Soziologie und Völkerkunde in Wien. Anschließend<br />
Hochschule für angewandte Kunst ebendort. Arbeitete als Designerin<br />
und Künstlerin und wandte sie sich später der Gestaltung<br />
von Bilderbüchern, die sie unter anderen beim Coppenrath Verlag<br />
veröffentlichte, und der Entwicklung von Spielen zu. Viele ihrer<br />
Bücher schrieb sie zusammen mit Karin Blume, sie wurden in<br />
mehrere Sprachen übersetzt und erschienen auch als Hörbuch.<br />
Dieser Text entstand beim Februar Jour-fixe im Büro der LitGes.<br />
Prosa
56 DRACHEN|März 2017
DRACHEN|März 2017<br />
57<br />
Jordi Rabasa-Boronat<br />
Der Drache<br />
Ich möchte ein Drache sein<br />
und rund herum fliegen,<br />
die Leute sehen von weit weg,<br />
klein, existenziell unbedeutend,<br />
Himmel und Meer in Blau vereinigt.<br />
Ich möchte ein Drache sein<br />
mit den Augen eines Adlers,<br />
scharfsinniger Beobachter<br />
des menschlichen Geistes.<br />
Wind, hol´ mich ab!!<br />
Schnurgerade werden wir<br />
menschliche Grenzen durchqueren<br />
und als Übermensch dargestellt.<br />
Jetzt ist der Wind weg<br />
und mit ihm der Antrieb zum Flug,<br />
die Realität holt mich ein<br />
wie eine ungespannte Schnur,<br />
danach war es mir klar,<br />
ich bin auch nur ein Mensch.<br />
Jordi Rabasa-Boronat<br />
Geb. 1962 in Katalonien. Seit 1994 lebe ich in Österreich, mit<br />
Wohnsitz in Petzenkirchen. Als 18jähriger begann ich auf katalanisch<br />
und Spanisch zu schreiben. Seit 2 Jahren schreibe<br />
ich auch in Deutsch. jordi-weinemitherz@gmx.at<br />
Lyrik
58 DRACHEN|März 2017 Rezensionen<br />
Josef Linschinger:<br />
Zahlen + Farben.<br />
Mathematikum<br />
Freiburg, Modo Verlag,<br />
2016, 96 S.<br />
978-3-86833-196-7<br />
Wolfgang Mayer-König:<br />
Das begeisterte Wort.<br />
Eine Grammatik der Seele.<br />
ed.pen Bd 51, Wien:<br />
Löcker 2016<br />
978-3-85409-830-0<br />
Maria Eliskases:<br />
Im Blauen Zug.<br />
Erzählungen zum Lob<br />
der Liebe.<br />
Weitra, Bibliothek d. Provinz<br />
2016, 484 Seiten<br />
978-3-99028-558-9<br />
Der Aufbau des Werkes ist symmetrisch, vorne in<br />
Deutsch und hinten in Englisch, jeweils mit Fachaufsätzen<br />
von Marlene Lauter, Albrecht Beutelspacher u.a.<br />
Buchstaben, Flächen und Zahlen sind Gegenstände an<br />
sich, deren Ästhetik in Bildern ihren Niederschlag findet.<br />
Die Bilder sind stimmig, ausgewogen und perfekt in Gestaltung<br />
und Arbeitsweise. Es ist ein Spiel mit Teilchen,<br />
Ecken und der Ganzheit, mathematisch aufbereitet. Das<br />
Visuelle steht im Vordergrund und gibt dem Betrachter,<br />
auch dem, der ohne Systematik auskommt, Freude.<br />
Einmal geht es von oben nach unten, von außen nach<br />
innen zur Bildmitte oder vom Kleinen zum Großen. Hell<br />
bis Dunkel spielen eine Rolle sowie die chinesischen,<br />
römischen oder die arabischen Zahlzeichen, wie der Vergleich<br />
zum Aztec-Code aus Quadraten und Rechtecken,<br />
oder die Braille-Schrift, Code 39. Natürlich ist auch die<br />
Farbe ein Parameter. Z.B. sind die Selbstlaute im Strichcode<br />
färbig und die schwarzen und weißen Mitlaute<br />
durch verschiedene Breite der Balken erkenntlich. So<br />
entsteht ein Alphabet, in das Josef Linschinger bereits<br />
2001 die Werk-Überschriften Thomas Bernhards übersetzte.<br />
Diesmal ist das Motto des Buches von Immanuel<br />
Kant „Mathematik ist eine Bedingung aller exakten Erkenntnisse“<br />
in diesen Code übersetzt abgebildet.<br />
Dieses Buch Josef Linschingers ist wiederum ein Schritt<br />
von der Kunst zur Mathematik, genauso wie es seine<br />
früheren Werke (Reflexionen, Zum Beispiel, Farbtexte,<br />
ETC, T.B.-Konkret, Zyklen, das Stundenbuch, Miteinander,<br />
Wort wird Bild, Bild aus Text, Poesie der Vokale, Die Faszination<br />
des Sudoku, meist Verlag Bibliothek d. Provinz<br />
und 22 Dokumentationen der Gmundner Symposien,<br />
Ritterverlag). Er zeigt diesmal über 100 Abbildungen<br />
und arbeitet wie seit 1977 in der und für die konkretkonstruktive<br />
Kunst sowie der visuell-konzeptuellen Poesie.<br />
Und er vergisst nicht den Humor! Z.B. mit den Abbildungen<br />
der Werke: Kreiszahl im Dreieck, im Kreis und im<br />
Quadrat, 2015, Inkjet Print. Hervor-/herausragend! Für<br />
Freunde der visuellen Konzeption! Eva Riebler-Übleis<br />
Ist es nun das 46. Buch des Autors? Wozu soviel<br />
Literatur, könnte man fragen. Die Antwort gibt Mayer-<br />
König S. 195: „In der Literatur geht es darum, sich einem<br />
Thema ethisch und ästhetisch seriös zu nähern. Literatur<br />
soll nicht überreden, sondern überzeugen.“ Literatur<br />
beinhaltet die Seelenvorgänge der Menschen, ihre<br />
Ängste und Hoffnungen. So schreibt er auch von und<br />
aus seiner Seele. Besonders merken wir dies, wenn es<br />
ihm um persönliche Konzeptionen der Vaterschaft und<br />
seiner Problematik geht.<br />
Was gab wohl jeweils den Anlass gedanklich Stellung<br />
zu nehmen und so massiv/vehement gesellschaftspolitische<br />
Ansichten und Einsichten analytisch zu präsentieren?<br />
Stets scheinen in seinen Schriften die Herzensbildung<br />
und die Lebenserfahrung durch. Meine Lieblingsgeschichte<br />
(eine der poetischsten) ist „Körper“.<br />
Es kann auch schon mal der pädagogische Zeigefinger<br />
wie eine Schwungkeule niedersausen oder die politische<br />
Obrigkeit massiv gegeißelt werden.<br />
Andrerseits sind in seinen „Geschichten“ – wie er sie<br />
selber bezeichnet – die unendliche Fantasie und Poesie<br />
(z.B.: das Leben erweist sich als flüchtige Geliebte)<br />
sowie das große Wissensspektrum spürbar. Ob die Zeit<br />
der Judenverfolgung im „Der Koffer der Adele Kurzweil“<br />
oder die Besinnung auf den Tod in „ Der Tod als Mutter“,<br />
immer gelingt Mayer-König eine Sprache, die stumm<br />
und staunend macht. Z.B. S. 36ff: „Sei nicht enttäuscht,<br />
sagt sie (die tote Mutter) und zieht mich auf dem Karren<br />
hinterher. …Der Tod, unsere Mutter, tritt auf, wenn wir<br />
zum Verlierer werden, obwohl sie uns nie als Sieger sehen<br />
wollte, weil es eigentlich keine Siege gibt.“<br />
Seine knappen 30 Erzählungen/ Essays geben/bedeuten<br />
komprimierte Lebensessenz; kommen so nahe, dass<br />
sie uns ins Visier greifen, und uns wird ein unerhörtes<br />
Unterpfand übergeben, das wir uns zu eigen machen<br />
können!<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
30 Erzählungen hat Maria Eliskases in einem Band<br />
vereint. Es ist im Verlag Bibliothek der Provinz ihr 7.<br />
Werk, das Geschichten an bekannten und magischen<br />
Schauplätzen verortet. Eliskases lässt schicksalhafte<br />
Geschichten mit Spannung beginnen und überraschend<br />
enden. Sie verrät viel von dem, was ihr selber<br />
wichtig ist, und beweist einen ihrer Sätze wortwörtlich:<br />
„Alles, was man erklären und zerlegen will, verliert<br />
an Substanz.“ Vieles bleibt in der Schwebe, und<br />
wirklich meisterhaft schildert sie die Facetten und<br />
Untiefen der Liebe. Man spürt bei der Lektüre die behutsame<br />
Anteilnahme der Autorin an ihren Gestalten.<br />
Die investierte Kraft und ihre Lust am Schildern gereichen<br />
ihr zum großen Lob!<br />
Die Liebe ist etwas Vergängliches. Nicht jeder/jede<br />
will das einsehen. In diesen Erzählungen gibt es Personen,<br />
die uns so sympathisch sind, weil sie felsenfest<br />
glaubten, sich niemals in eine plötzliche Leidenschaft<br />
zu verheddern. Es gibt eine Frau, die in einer Galerie<br />
vor Radierungen steht und unvermutet an eine alte<br />
Liebe denken muss, eine andere tut sich schwer, ihrem<br />
Mann dankbar zu sein, es gibt einen Tagtraum in<br />
einem Hotelzimmer und eine imaginierte Reise nach<br />
Tschechien, Eheszenen, in denen ein Mann seine Frau<br />
vom Buch weglocken möchte, die ihm jedoch eine<br />
Stelle vorliest, die da lautet: “Auf den Höfen um die<br />
Liebe herum wohnen die unterschiedlichsten Wonnen“<br />
oder imaginierte Szenen, in denen die Frau den Mann<br />
vom Computer mit Nacken massieren, Worten vom<br />
Vollmond oder ihrer Nacktheit unterm Bademantel abspenstig<br />
machen möchte und beklagt, dass die Technik<br />
(der PC) der Feind der Natur, sprich Sexualität, ist. Auch<br />
ein Bad einzulassen, das frisch überzogene Bett oder<br />
die Ankündigung, den Mann durch den Brausekopf zu<br />
ersetzen, sind kein Lockmittel.<br />
Und daraus entstehen die Stoffe, aus denen die Schmerzen<br />
sind und vielleicht die Freuden waren!<br />
Eva Riebler-Übleis
Rezensionen DRACHEN|März 2017<br />
59<br />
Franz Sales Sklenitzka:<br />
ABC für Drachenfreunde<br />
Wien, G&G Verlag: 2010,<br />
126 Seiten<br />
978-3-7074-1242-0<br />
Franz Sales Sklenitzka:<br />
Drachen haben nichts zu<br />
lachen. Arena Taschenbuch<br />
Bd.1941, 35. Aufl.<br />
2016, 88S.<br />
978-3-401-01941-3<br />
Egyd Gstättner:<br />
Karl Kraus lernt Dumm<br />
Deutsch.<br />
Wien: Picus 2016, 240 S.<br />
978-3-7117-2042-9<br />
Gegen oder für die vermeintliche Vernunft. Der<br />
Autor hat sich mit diesem Band selber ein Geschenk gemacht,<br />
so beteuert er, nachdem er seine vier Drachenbücher<br />
beendet hatte: – alle im G&G Verlag.<br />
In diesem Band geht´s ihm nicht um das Bewahren des<br />
Drachens vor der Ausrottung, sondern um die Vielfältigkeit<br />
der Spezies selber. Er hat über hundert Begriffe<br />
behandelt: Von Aldrovandi - Drachenblut – Rote Liste<br />
- Stollenwurm – Xianglong – Zwergdrache. und ernst<br />
oder unernst einmal im Plauderton Tipps gegeben und<br />
das andere Mal tatsächlich Recherchearbeit betrieben.<br />
So z.B. unter Gemeiner Sackdrache findet man den Rat,<br />
man könne für ein Kostümfest oder eine Theateraufführung<br />
mit einem Kartoffelsack bekleidet eben als<br />
Sackdrache gehen. Auf S. 106 befindet sich ein weiterer<br />
wertvoller Tipp unter der Überschrift Winterschlaf: Im<br />
Frühjahr solle man aufpassen, denn die erwachenden<br />
Drachen seien hungrig und hätten schon mal einen<br />
ganzen Schülerbus gestoppt und alle, auch den Fahrer,<br />
um die Jausenbrote gebracht!<br />
Ja, und was ist jetzt ein Xianglong? Ein bisschen Weiter-,<br />
Fort bzw. Weitfort-Bildung muss schon sein! Das ist<br />
der Name eines Fossils aus der Kreidezeit aus der chin.<br />
Provinz Liaoning, das große Ähnlichkeit mit heute noch<br />
lebenden Flugdrachen in Südostasien hat. Natürlich<br />
gab es auch in Ostafrika zweibeinige, geflügelte Drachen,<br />
allerdings in der Märchenwelt; Plinius der Ältere<br />
berichtete, dass diese „Wyvern“ in Indien und Äthiopien<br />
beheimatet waren.<br />
Ich glaube, ein kurzer Einblick in das phantasievolle<br />
Werk ist gegeben. Für die Vorstellungskraft skizzierte<br />
der Autor Sklenitzka, aus Wilhelmsburg, hervorragend<br />
wie in all seinen Büchern zahlreiche Tiere.<br />
Ja, das Thema ist unerschöpflich und spannend, wissen<br />
wir doch nie, ob uns der Autor an der Nase herumführt,<br />
denn der Schalk sitzt ihm fabelhaft in Stift und Pinsel!<br />
Fazit: Fabelhaft, interessant und erfreulich!<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Ritter und Drache aus dem Jahre 1271. Zu dieser<br />
Zeit spielt die Drachengeschichte für Kinder ab 8 Jahren.<br />
Nur wenige Tage im Jahre 1980 oder so brauchte<br />
der Autor, um diese zu erzählen. Der Ritter Ottokar von<br />
Zipp zieht einen kleinen Drachen groß, der sich in der<br />
Fallgrube des bösen Drachenjägers Sigmund Silberzahn-<br />
Floretto gefangen hatte. Wir sehen bereits, dass es Gute<br />
und Böse wie im Märchen gibt. Und da dies feststeht,<br />
muss natürlich der Held Zipp der guten Sache – sprich:<br />
dem Retten der letzten Drachen vor der Ausrottung -<br />
verpflichtet sein. In wirklich einfallsreicher Manier zeigt<br />
der Autor seinem jungen Publikum den Umweltschutzgedanken<br />
und die Möglichkeit auf, selber etwas zu erreichen,<br />
wenn man sich nur genug dafür einsetzt. Der<br />
kleine, linkische und in Turnieren ungeübte Ritter Zipp<br />
muss um beim Turnier gegen 68 Ritter auftreten zu können,<br />
erstmals das Reiten, Lanzen halten, Stechen usw.<br />
erlernen. Eine harte Arbeit, aber sie führt zum Erfolg<br />
und als Sieger kann er vom Herzog sich etwas wünschen.<br />
Leider kann er nur eine dreijährige Schonzeit für Drachen<br />
erwirken, verspeist doch dieser auch am liebsten Drachenzungen<br />
oder Drachenschwänze zu Festtagen!<br />
Aber es müssen ja noch weitere Bände geschrieben werden.<br />
Da will z. B. der Herzog seine Tochter vermählen.<br />
Dass sich da Ritter Zipp auf die Beine macht, ist selbstverständlich,<br />
will er doch weiterhin die Drachen beschützen.<br />
Im dritten Buch: Drachen lassen`s richtig krachen besteht<br />
das Abenteuer in der Rettung des vielleicht letzten Flugdrachens.<br />
Im nächsten Band werden die kaum geborenen<br />
Jungdrachen entführt und …<br />
Das Mittelalter mit all seinen Problemen und Merkwürdigkeiten<br />
wird den jungen und alten Lesern durch das<br />
Begleiten des kleinen tapferen Helden und Anti-Ritters<br />
Zipp somit würdig und einfühlsam nahe gebracht.<br />
Ja, eine wirklich spannende Serie, die in so freundlichem,<br />
humorvollem Ton erzählt und vom Autor gezeichnet<br />
wurde, dass man gratulieren und sofort ein Buch, sei es<br />
als Geschenk oder Vorlesebuch, kaufen wird! E.Rie.-Ü.<br />
Egyd wedelt mit dem Lindwurm. Nein, Gstättner<br />
wedelt nicht! Er peitscht seine Heimatstadt Klagenfurt<br />
und all ihre dummdreisten oder nichtdenkenden Bürger,<br />
Politiker, Scheinheiligen, Schulunpädagogen oder Bild-<br />
Zeitungs-Schreiber, seien sie auch anderswo verortet.<br />
Wir (Majestätsplural!) sind viel Freches von ihm gewöhnt,<br />
aber er kann es immer noch auf die Spitze treiben. Sind<br />
ja auch die Umstände in Öffentlichkeit (Bundespräsidentenwahl,<br />
Friedensnobelpreis etc.) Bildung (Stichwort:<br />
Zentralmatura oder PISA-Test etc.) nicht besser geworden!<br />
Warum kann man ihm nichts übel nehmen? Weil er<br />
immer in der Ich-Person vor sich hinwitzelt und liebenswert<br />
spuckt und spukt!<br />
Er möchte höchstpersönlich Landeshauptmann sein und<br />
übt schon mal das „Grias Di“ und das freundlich in die Augen<br />
blicken von Passanten. Er höchstpersönlich möchte<br />
in die Hofburg als Bundespräsident einziehen, schließlich<br />
ist er „über 36, nicht vorbestraft, zeckengeimpft<br />
und habe hier am Schreibtisch schon so manches Band<br />
durchschnitten!“<br />
Wäre ja gar nicht so übel! Dann hätten die Österreicherinnen<br />
und Österreicher mehr zu lachen und durch den<br />
Spott hindurch würden sich vieles entschleiern. Denn mit<br />
seinem Spott entlarvt er die Sprache und Denkweise der<br />
Halbherzigen, Unwissenden und somit Gefährlichen. Die<br />
Einsicht, dass Handlungsbedarf dringend gegeben sei,<br />
hat er in seiner schonungslosen Art offengelegt. Vielleicht<br />
fänden sich politische Mitstreiter, die genauso wissen:<br />
Nur mit Spott und Humor kommt man dem Übel bei.<br />
Nach einer Lesezeit von nur 5 Minuten in diesem neuen<br />
Band Gstättners werden Sie mir Recht geben! Sie können<br />
die 100 Glossen sowieso nur scheibchen/seitenweise<br />
genießen, so prall sind die jeweils ein, ein halb Seiten<br />
langen Miniaturen gefüllt!<br />
Zum Schluss werden Sie süchtig nach Werken Egyd Gstättners<br />
sein und ihm S. 119 zustimmen: „die Wirklichkeit<br />
muss wegen praktischer Undurchführbarkeit abgesagt<br />
werden.“<br />
Eva Riebler-Übleis
60 DRACHEN|März 2017 Rezensionen<br />
H.J. Wimmer/<br />
M. Steinfellner:<br />
Sprachvorspiele<br />
St. Pölten: Literaturedit. NÖ,<br />
2016, bebil. 120 Seiten<br />
978-3-902717-36-8<br />
Gerhard Benigni:<br />
Der Usambaraveilchenstreichler<br />
auf dem Weg<br />
zum Südpol;<br />
Verlag SchriftStella,<br />
2016, 203 Seiten<br />
978-3-95041<strong>67</strong>-0-1<br />
Heidi Kastner:<br />
Tatort Trennung<br />
Ein Psychogramm<br />
Wien: Kremayr&Scheriau,<br />
2016, 160S.<br />
978-3-218-01040-5<br />
Sensibles. Die Sprache dient in den 55 Liebesgedichten<br />
H. J. Wimmers (Autor von Kurzprosa, Romanen Essays,<br />
Lyrik, Hörspielen etc.) als erotisches Vorspiel, so lässt<br />
der Titel vermuten. Er zitiert S. 1 „die bedeutung eines<br />
wortes ist sein gebrauch in der liebe“ und geht noch<br />
weiter: „ die bedeutung eines wortes ist seine liebe in<br />
der liebe“. Das Wort sowie die Liebe soll geliebt werden!<br />
So transportiert er auch die Liebe zu den Worten durch<br />
ihre Zerlegung, Reduzierung und Umkehrung. So verstärkt<br />
er den Sinn, die Semantik der Sprache und spielt<br />
mit ihr. Er versucht die Gefahr der Sinnloswiederholung<br />
oder Worthülsen-Brauerei zu umschiffen und den Wortbedeutungen<br />
auszubeuten oder auf die Sprünge zu helfen.<br />
Vielleicht nistet sich Endloswiederholung im Auge<br />
des unaufmerksamen Betrachters ein, die durch scheinbare<br />
Gleichförmigkeit der zugeordneten Malereien<br />
verstärkt wird. Aber der Leser soll ja geschult weden in<br />
seiner Aufmerksamkeit, Nuancen wahrnehmen können.<br />
Er wird ja auch bereichert in der Auswahl von Adjektiven:<br />
S. 5 in: „gegenwartssinn“: nasenzart / lippenfest /<br />
zungenfroh / dein geschmack …Hörbare sinnliche Bereicherung<br />
gibt es S. 12: in „frei wie los“: die federnden<br />
körper / auf dem federbett / das federnde fleisch.<br />
Diese persönliche Ausdrucksweise H. J. Wimmers aus<br />
Melk war Ausgangsmaterial für die Papierarbeiten der<br />
Mistelbacherin Marion Steinfellner. Sie liebt die Kombination<br />
von Dichtung/Malerei, zeitgenössische Performance<br />
und Butohtanz und lässt auch in diesen Bildern<br />
Bewegung spüren. Die Farben rinnen und ergeben Flecken,<br />
die wie Tanzchoreografien wirken oder umgekehrt<br />
Bewegungsstudien sein könnten. Mein Lieblingsbild ist<br />
das Ruhe ausstrahlende S 56, das dem Gedicht „sprachnachspiel“<br />
zugeordnet ist. Es bedeutet für mich, wie es<br />
die letzte Textzeile ausdrückt: „die stille im geräusch des<br />
klangs / die stille in den klängen der geräusche“.<br />
Ein repräsentativer Band! Gratulation den Künstlern und<br />
der Literaturedition NÖ zu diesem Programmschwerpunkt!<br />
Eva Riebler-Übleis<br />
Tiefes leicht. Sie wollen sich amüsieren. Gelegentlich.<br />
Haben Gefallen an Spielsprache. Hier sind sie richtig.<br />
Gerhard Benigni nimmt sie mit hinein in die Welt seiner<br />
schier unerschöpflichen Sprachspiele. Geschichten<br />
aus dem Alltag. Vermeintlich. Verdichtet. Auf Punkt und<br />
Beistrich gebracht.<br />
Ab und zu eine der Kurzgeschichten zur Zerstreuung<br />
genoss ich. Manchmal konnte ich nicht aufhören und<br />
verschlang eine nach der anderen. Das wurde mir meist<br />
zu viel des Sprachspiels und ich blieb fast mit einem<br />
Nachgeschmack zurück.<br />
Manche Geschichten erschienen – abseits des Sprachspiels<br />
– schlicht; in anderen entdeckte ich auch eine<br />
gewisse Tiefsinnigkeit.<br />
Ob das wirklich mit den Inhalten zusammenhing oder<br />
mit meiner jeweiligen Eingangsstimmung – ich weiß<br />
es nicht.<br />
Vielleicht kann ich dem Buch mit dieser kurzen Rezension<br />
gar nicht gerecht werden, denn es ist ihm schließlich<br />
auch kein Klappentext gegeben; besser gesagt vielmehr<br />
ein „verinnerlichter Klappentext“, bei dessen Lektüre<br />
man unter anderem erfährt: „Um eine gründliche Verinnerlichung<br />
zu ermöglichen, wurde dieser Klappentext<br />
bewusst nicht außen auf dem Buch angebracht. So viel<br />
zum einen.<br />
Auf der anderen Seite, von der im weiteren Verlauf<br />
durchaus gewollt noch viele folgen werden, ist es doch<br />
so, dass eine Veräußerung dieser Zeilen, der Aufforderung<br />
folgend, die Klappe zu halten, bei nicht korrekter<br />
Handhabung eine nicht vernachlässigbare Verdeckungsgefahr<br />
in sich bergen würde und im äußersten<br />
Fall in vollkommener Undurchschaubarkeit enden<br />
könnte.“<br />
Sollten Sie bis hierher gelesen haben, ist das Buch sicher<br />
richtig für Sie; wenn nicht wohl auch - aber das erfahren<br />
Sie ja nicht mehr von mir.<br />
Andreas Wundsam<br />
Sie wollten schon längst mal all Ihre Vorwürfe<br />
herauslassen und mit Trennung drohen? Nach<br />
dem Lesen dieses Werkes werden Sie eher an sich arbeiten<br />
und nicht nur Schuldzuweisungen von sich geben. Allerdings<br />
geben nicht alle Partner taugliche Beziehungs- und<br />
Gesprächspartner ab, die willens und fähig sind, sich mit<br />
einem anderen auseinanderzusetzen. „Wir alle sind von<br />
Grund auf erklärungssuchende Wesen und können Erlebnisse<br />
dann besser akzeptieren, wenn es uns gelingt, sie in<br />
ein nachvollziehbares Kausalitätsraster einzuordnen.“, so<br />
die Autorin S. 147.<br />
Dieses Werk lehrt einen, aus der Sicht des anderen eine<br />
Situation zu überdenken, was nicht heißt ein Übermaß<br />
an Anpassung sich selbst abzuverlangen oder sich so tief<br />
hinabziehen zu lassen, dass man den anderen dann hasst.<br />
Eine Eheschließung begann schließlich meist mit dem<br />
Versprechen, sich zu achten und zu ehren. Das Problem<br />
besteht allerdings auch darin, dass es fünf positive Äußerungen<br />
bedarf, um eine negative Äußerung zu kompensieren.<br />
Die Autorin ist die Fachärztin für Psychiatrie, Neurologie<br />
sowie Gerichtspsychiaterin. Seit 2005 gab sie als<br />
Chefärztin der forensischen Abteilung der Landesnervenklinik<br />
Linz einige Werke über Wut und Verbrechen heraus.<br />
In diesem nun schreibt sie kapitelweise über die Eheschließung<br />
und das Eheversprechen, die langsame,<br />
scheibchenweise Trennung, die Wucht der Rosenkriege,<br />
über die Besitzstörungsklage, das ungleichschenkelige<br />
Dreieck – sprich über die ungeliebte Rolle der Geliebten<br />
- , die Schlägereien oder Übergriffe und über die belanglosen<br />
Verhältnisse, deren Trennungen auch oft belanglos<br />
vor sich gehen.<br />
Vorallem ihr Stil ist weder prätentiös noch distanziert lakonisch,<br />
sondern mit Humor und Anteilnahme gespiekt.<br />
Sie weiß um den menschlichen, romantischen Wunsch<br />
emotionale Heimat – sprich: Zugehörigkeit, Anteilnahme<br />
und Geborgenheit zu finden.<br />
Spannend zu lesen und gewinnbringend für den eigenen<br />
Lebensentwurf zu verwerten! Eva Riebler-Übleis
Rezensionen DRACHEN|März 2017<br />
61<br />
Andrea Pesata:<br />
der flug des habichts<br />
ariadne sucht den faden<br />
Verlagshaus Hernals,<br />
Wien 2015, 144 Seiten<br />
978-3-902975-26-3<br />
Elisabeth Reichart:<br />
Frühstück bei Fortuna<br />
Salzburg: Otto Müller Verlag,<br />
2016, 220 Seiten<br />
978-3-7013-1247-4<br />
Dietmar Füssel:<br />
Wiederholte Geburten<br />
Historischer Roman,<br />
Sisyphus, 2016, 622 Seiten<br />
978-3-903125-08-7<br />
Endzeit. Als »ein psychogramm« bezeichnen Autorin<br />
und Verlag ein Buch, das von den Gedanken und<br />
vergangenen Gesprächen der Ich-Erzählerin bestimmt<br />
wird. Der Ton ist, von der ersten Zeile an, aufgeregt,<br />
klingt an manchen Stellen fast panisch, dann resignierend,<br />
aber vor allem: betroffen.<br />
Das Buch liest sich wie eine Anrede. Der Monolog der<br />
Erzählerin richtet sich an einen sehr guten Freund, nicht<br />
einen Geliebten, sondern eben einen Freund. Hier wird<br />
viel Gemeinsames aufgerollt und angesprochen, die Erzählerin,<br />
die wie die Autorin Andrea heißt, erinnert an<br />
Erlebnisse, an Gespräche, an Telefonate, von denen die<br />
meisten innerhalb einer recht kurzen Zeit stattfanden,<br />
der viel zu kurzen Zeit vor dem Tod des Freundes.<br />
Die Rede ist von Krankheit, von unterschiedlichsten Versuchen,<br />
etwas gegen die Erkrankung zu unternehmen<br />
oder – oft – einfach die Augen vor ihr zu verschließen.<br />
Die Erzählerin spricht sich, so scheint es, in Rage, den<br />
im Gegensatz zum kranken Freund scheint sie viel klarer<br />
erkannt zu haben, was da ablief, ohne dass sie jedoch<br />
wirksam hätte eingreifen können. Vielleicht spricht sie<br />
von der Ohnmacht vor dem Tod; ganz sicher jedoch von<br />
der Ohnmacht vor Abläufen, die sie einerseits wegen<br />
der tödlichen Krankheit und andererseits aufgrund der<br />
bisweilen haarsträubenden Ignoranz und Indifferenz<br />
anderer Personen im Umkreis des Freundes kaum beeinflussen<br />
konnte.<br />
»der flug des habichts« der 1963 in Wien geborenen<br />
Autorin Andrea Pesata erschien im Verlagshaus Hernals.<br />
Auf dem Buchumschlag ist ein Bild der Autorin<br />
zu sehen, die auch als bildnerische Künstlerin tätig ist.<br />
Ihr Roman ist eine Suada, die kunstvolle sprachliche<br />
Formulierungen mit dialektalen Passagen und Fremdsprachigem,<br />
Englisch, Kroatisch, Latein, vermengt.<br />
Sprachen, die das Unbegreifliche zu greifen suchen.<br />
Klaus Ebner<br />
Vermutete Liebe. Aus zwei Ich-Perspektiven betrachtet<br />
die Autorin ein und dieselbe Beziehung. Eric aus<br />
Berlin glaubt, er steht auf einem Abstellgleis, kämpft mit<br />
seinen eigenen Phobien, Schuldgefühlen und Ängsten<br />
und möchte doch eine ehrliche, innige Beziehung zu<br />
seiner entfernten Freundin. Sie ist Mikrobiologin in Wien,<br />
in ihre Forschung äußerst vertieft und leidet am Tod ihres<br />
ersten Geliebten, der sie als ganz junges Mädchen übergebühr<br />
vereinnahmte und fast abhängig machte. Immer<br />
wieder denkt sie an diesen und zieht Vergleiche. Bei dieser<br />
Konstellation sieht man bereits die Bereitschaft der<br />
Autorin auf Psychologie einzugehen und Lebenspsychologie<br />
daraus zu machen. Es ist ihr wirkliches Können, die<br />
handelnden Figuren – man könnte sagen: therapeutisch<br />
– aufzubereiten und das Interesse der Leserschaft im Nu<br />
zu multiplizieren.<br />
Wirklich spannend sind auch die fast tatortverdächtigen<br />
Vorgänge im Labor in Wien. Die geheimnisvollen Gestalten,<br />
die im Haus an unbekannten Orten wohnen, werden<br />
zu Menschen aus Fleisch und Blut. Aus ihrem grantigen<br />
Laborchef wird ein freundlicher und aus ihrer fleißigen<br />
Laborassistentin könnte ihre zukünftige Laborchefin und<br />
Brötchengeberin werden. Die Dinge ändern sich: Was für<br />
eine Mikrobiologin, für eine in Zellbilder und Zellteilung<br />
Vernarrte unmöglich erschien – wird zur Tatsache: Sie<br />
kündigt und widmet sich nicht mehr dem Bisherigen:<br />
der schönen Zartheit, der durchs Mikroskop beobachteten<br />
Schwingung der Zelle, ihrer Vielfalt, Veränderung,<br />
Zusammenarbeit oder Verständigung…<br />
So kann die Autorin die Parallelen zwischen den untersuchten<br />
Zellen und den Personen verdinglichen und<br />
zeigen, wie Vielfalt passiert, sich Lebenswege verändern,<br />
Zusammenarbeit und Verständigung zwischen<br />
den Menschen statt finden oder es kaputte, deformierte<br />
Zellen/Menschen gibt, die auf den ersten Blick wunderschön<br />
harmonisch aussehen und doch wie manche Zellen/Menschen<br />
Abweichungen und Deformationen erkennen<br />
lassen. Ein großartiges Werk! E. Riebler-Übleis<br />
Mehr Sprach- als Frauenarzt. Dietmar Füssel, der<br />
schon in seinen Dramoletten Talent gezeigt hat, erweist<br />
sich in seinem Roman ‘Wiederholte Geburten’ wiederum<br />
als Meister sophistischer Rabulistik. Was einem Frauenarzt<br />
zur Zeit Ramses II. alles zustoßen kann, wenn<br />
er etwas naiv sich als Werkzeug diplomatischer Ränke<br />
verwenden lässt, und wie er sich aus jedem Schlamassel<br />
herausredet oder herausreden lässt, schafft erstklassiges<br />
Lesevergnügen. Dialoglastigkeit, in anderen Prosawerken<br />
oft bis zur Erzählflaute ausgeweitet, wird hier zum<br />
Ausdruck der Rede- und Sprachabhängigkeit des Menschen.<br />
Dazu kommen reichlich Hinweise auf prinzipielle<br />
Unbestimmbarkeiten, bei denen das Missverständnis<br />
nicht nur aus dem üblichen ungenauen Zuhören oder aus<br />
eulenspiegelartiger Ausnützung von Mehrdeutigkeiten<br />
stammt. Selbst auf das Befremdliche des Redens an und<br />
für sich macht Füssel mehrfach aufmerksam, etwa wenn<br />
inmitten einer brutalen Prügelei sich die Beteiligten in<br />
vorbildlicher Syntax und vollständigen Sätzen auseinandersetzen,<br />
als wären nicht verbale Prügeleien mit mangelhafter<br />
Argumentation in politischem oder medialem<br />
Bruchdeutsch längst die Norm.<br />
Trotz dem Titel hat der Roman mit Esoterik oder Wiedergeburt<br />
nichts zu schaffen, im Gegenteil, wir lesen von<br />
einem Menschen, dem die Einmaligkeit seines Lebens<br />
sehr bewusst ist. Mag man an den Folgen der berühmten<br />
Schlacht von Kadesch auch nicht so innig interessiert sein,<br />
nach der sich sowohl Hethiter als auch Ägypter jeweils als<br />
prächtige Sieger bezeichneten (was uns aus der heutigen<br />
Politik auch bekannt sein müsste), bleibt das zeitlose<br />
Motiv, wie Menschen von der hohen Politik benutzt und<br />
verbraucht werden, ob sie sich nun opferbereit in deren<br />
Dienste stellen oder ihr eher ausweichen. Selbstverständlich<br />
gibt es auch noch vielfältigen sozial breit gestreuten<br />
Figurenreichtum, Abendteuer, Verwicklungen und Überraschungen<br />
und eine große Liebesgeschichte in dem<br />
Roman, deren knappes Happy End gewiss dem Lesergeschmack<br />
entgegenkommt.<br />
HWK
62 DRACHEN|März 2017 Rezensionen<br />
Martina Tischer:<br />
Die Göttin in mir<br />
Eine Reise in die Selbstliebe<br />
Berlin/Wien Goldegg Verlag,<br />
2016, 238 Seiten<br />
978-3-903090-54-5<br />
Ilse Kilic:<br />
Das sich selbst lesende Buch<br />
Graz, Klagenfurt: Ritter-<br />
Verlag 2016, 134 Seiten<br />
978-3-85415-543-0<br />
Axel Karner:<br />
Der weiße Zorn<br />
Lyrik, 40 Seiten<br />
Wieser Verlag, Klagenfurt<br />
2015, 40 Seiten<br />
978-3-99029-162-7<br />
Selbstliebe genügt - nicht. Die Autorin gibt nach<br />
„Braucht die Seele Apfelstrudel?“ und „100 Tage zuckerfrei“<br />
ein weiteres, der inneren und äußeren Schönheit,<br />
sowie sich selbst verpflichtetes Werk heraus. Diesmal<br />
geht es um – Zitat des Klappentextes: „Ist der nahende<br />
50. Geburtstag eine Katastrophe? Wird alles anders? In<br />
einem berührenden (sic!) Selbstexperiment stellt Martina<br />
Tischler sich ihren Ängsten und begibt sich auf eine<br />
Spurensuche zu sich selbst. Aphrodite, die Göttin der<br />
Liebe, Schönheit und ewigen Jugend begleitet sie sanft<br />
(sic!) durch alle Themen des Älterwerdens: …“.<br />
Da stellt sich bereits der/die Leser/in die Frage: Ist man<br />
nicht stets sich selbst auf der Spur? Reflektieren und<br />
verändern wir uns nicht ständig – oder erst ab dem 50.<br />
Geburtstag?<br />
Wenn Selbstreflektion von der Autorin thematisiert wird,<br />
warum setzt sie nicht ein Minimum voraus? Sollen LeserInnen<br />
dumm sein? Warum setzt sie ihrer Leserschaft<br />
langatmige, allzu alltägliche Gedanken vor?<br />
Wenn die Parameter bereits im Vorwort ungeprüft daher<br />
flutschen, ist es schwierig – scheint jedoch leicht zu<br />
sein- sich anscheinend schlüssigen Gedankenergebnissen<br />
anzuschließen! Auch, wenn man z.B. über „Schönheit“,<br />
Kapitel 18, S. 87 und darüber, dass wir Menschen<br />
dieser nachstreben, schreibt, sollte man zuerst diesen<br />
Begriff definieren und auch das Streben nach dem Ideal<br />
nicht einseitig unterschieben.<br />
Der Inhalt ist unreflektiert und viel Schein kommt persönlich<br />
einher: z.B. S. 160: „ … Ab ersten März wird der<br />
Frühling mit neuen Aufgaben eingeläutet. … „. Aphrodite<br />
haucht einen leichten Kuss auf meine Wange, drückt liebevoll<br />
meine Schultern und verschwindet.“<br />
Natürlich ist davon abgesehen, das Buch ein hervorragender<br />
Ratgeber, sich selbst zu lieben, zu stärken und<br />
jeden Augenblick des Lebens zu genießen!<br />
Zugute halten sollte man der Autorin außerdem das<br />
Nachwort und anschließende Buchregister aus der vorwiegend<br />
englischen Fachliteratur. Eva Riebler-Übleis<br />
Der Veza-Canetti- Preis ging 2016 an die Wiener<br />
Autorin Ilse Kilic. In der Jurybegründung hieß es: „Ilse<br />
Kilic ist eine vielseitige Autorin und Künstlerin, die (...)<br />
produktive Kooperationen mit anderen Künstler_innen<br />
pflegt. In ihrer ‚unverkopften Art‘ (Sebastian Fasthuber)<br />
experimentelle Literatur zu schreiben, geht es um Regel/<br />
Brüche und ebenso verspielte wie theoretisch fundierte<br />
Befragungen von Autor_innenschaft,(...).<br />
Ilse Kilic nimmt, ähnlich wie Veza Canetti, gesellschaftliche<br />
Machtverhältnisse in den Fokus, bezieht sich auf<br />
das 2013 im Ritter-Verlag erschienene Buch „Wie der<br />
Kummer in die Welt kam“, explizit auf die darin auftretenden<br />
Figuren, welche von nun an ihr Leben selbst in<br />
die Hand nehmen wollen, um irgendwann in die Realität,<br />
in die Wirklichkeit, zu entschwinden. Doch was<br />
unterscheidet Wirklichkeit von Fiktion und umgekehrt?<br />
Gibt es eine eindeutlige Trennlinie?<br />
Verspielt und doch ernsthaft liest sich die Petition der<br />
Romanfiguren aus dem noch immer unsichtbaren Romanfigurenkabinett<br />
(S. 28) und ihre Forderung, einen<br />
Ausweg in die Sichtbarkeit zu finden.<br />
Die fiktive Auseinandersetzung zwischen den Protagonisten<br />
und der Autorin beziehen die Leser unmittelbar<br />
ein in den Gedankenfluss: „Wir müssen Ilse Kilic anders<br />
erzählen, damit auch sie uns anders erzählt.(S. 97). Reflexionen<br />
der Figuren und Überlegungen, die Autorin<br />
betreffend, fließen ein in Kurztexte, ebenso Utopien von<br />
einer anderen Welt.<br />
Den Abschluss bilden Fragen zur Zufriedenheit der Leser,<br />
des Figurenkabinetts und letztlich der Autorin mit<br />
sich selbst.<br />
Melancholische Fröhlichkeit durchzieht den Roman.<br />
Ilse Kilic, eine unverkennbare Autorin aus dem „Fröhlichen<br />
Wohnzimmer“, (www.dfw.at) eine prägende<br />
literarische Stimme Österreichs!<br />
Unbedingt lesen!<br />
Cornelia Stahl<br />
Aufschrei der Idylle. Der 1955 in Kärnten und heute<br />
in Wien lebende Autor Axel Karner legt mit »Der weiße<br />
Zorn« Lyrik vor, einen Lyrikzyklus oder ein einziges<br />
großes Gedicht, das aus rund zwanzig Abschnitten, inkl.<br />
Prolog und Epilog, besteht. Es führt uns in die Welt des<br />
Prosabuches »Der rosarote Balkon«, das drei Jahre zuvor<br />
ebenfalls im Wieser Verlag erschien. Dem Autor schwebt<br />
ein Triptychon vor, dessen dritter Teil noch aussteht und<br />
dessen Titel wohl ebenfalls auf eine Farbe anspielen<br />
wird.<br />
Die Texte geben einen Blick aufs Land frei, allerdings<br />
auf ein Land und eine ländliche Kultur, die nicht das<br />
Geringste mit verklärenden Sehnsuchtsvorstellungen zu<br />
tun haben. Es ist eine harte Welt, von der Axel Karner<br />
spricht, eine bigotte, kleinbürgerliche und jähzornige<br />
Welt. Es geht um ein Kind, das geboren wird und in<br />
diese Welt hineinwächst, Zwängen und überholten<br />
Vorstellungen ausgesetzt und von der Mutter vernachlässigt<br />
wird.<br />
Die Sätze und Satzfetzen, in Form von Gedichten knapp<br />
aneinandergereiht, vermitteln unmittelbar Eindrücke<br />
und Bilder, eindringlich und manchmal brutal. Man<br />
muss diesen Lyrikkomplex langsam lesen, vorsichtig, so,<br />
dass man sich nicht daran verschluckt, denn das könnte<br />
Koliken hervorrufen. »Da hört die Erde auf zu kreisen«<br />
(S. 30) ist noch eine der harmlosen Aussagen in diesem<br />
Buch, die jedoch bei genauer Betrachtung den Nagel auf<br />
den Kopf trifft. »Den Allmächtigen schweigen hören/am<br />
Ort der Wahrheit./Vor dem Haus des Großmauls.« (S. 10)<br />
Karners Zeilen sind eine Abrechnung. Mit einer engstirnigen<br />
Gesellschaft, mit latenter Gewalt, mit der das alles<br />
verschleiernden Religiosität. Dennoch begegnen wir<br />
nicht nur dem Zorn, sondern auch Versen von in diesem<br />
Kontext überraschender Ästhetik. »Lauf um dein Leben,/weißer<br />
Wolf.« (S. 36) Anschaulichkeit und Aufruhr<br />
heißen die beiden Antlitze des Geschehens.<br />
Klaus Ebner
Rezensionen DRACHEN|März 2017<br />
63<br />
Gerhard Loibelsberger:<br />
Killer-Tschick<br />
Haymon Verlag 2016,<br />
248 Seiten<br />
978-3-7099-7251-9<br />
Richard Schuberth:<br />
Karl Kraus<br />
30 und drei Anstiftungen.<br />
Essay.<br />
Wien: Klever-Verlag, 2016.<br />
978-3-903110-11-3<br />
Jonis Hartmann:<br />
Bordsteinsequenzen<br />
Gedichte.<br />
Nettetal: Elif-Verlag.<br />
2016. 98 Seiten<br />
978-3-9817509-6-6<br />
Dass das Rauchen tödlich sein kann, steht nicht<br />
nur auf den Zigarettenverpackungen, sondern ist eine<br />
allgemein gültige Tatsache, der der bekannte Krimiautor<br />
Gerhard Loibelsberger eine neue Dimension verleiht.<br />
Sein neuer Krimi wird diesmal nicht von seinem Kommissar<br />
Nechyba, bekannt aus den Naschmarktkrimis,<br />
sondern vom Team der TV-Serie „Soko Donau. Soko<br />
Wien“ gelöst. Vor allem die Gruppeninspektorin Penny<br />
Lanz rückt in den Mittelpunkt des Geschehens. Im Gegensatz<br />
zu der TV-Serie ist Penny nicht nur eine engagierte<br />
Ermittlerin; der Autor sucht in ihr die Privatperson<br />
Penelope und schenkt ihr somit eine Biographie.<br />
Die Geschichte beginnt mit dem Tod einer alten Frau,<br />
der Antschi-Tant, die als passionierte Kettenraucherin<br />
aus Spargründen auf „billige“ Zigaretten umsteigt, die<br />
sie in einem Gasthaus unter der Hand kauft und bald<br />
danach stirbt. Kurz danach taucht eine weitere Leiche<br />
auf, diesmal ist das Opfer ein junger Chinese, dessen<br />
Leiche mit Brandwunden von ausgelöschten Zigaretten,<br />
übersät ist. Die Spuren führen zu einem mysteriösen Mr.<br />
Dong, der aus China heiße Ware nach Wien transportiert.<br />
Bald ist klar, dass diese Zigaretten mit Giftstoffen<br />
versetzt, das es die „Killer-Tschicks“ sind.<br />
Es geht offensichtlich um den Zigarettenschmuggel, in<br />
den nicht nur die Chinesen, sondern auch sogenannte<br />
ehrenwerte Bürger der Wiener High Society verwickelt<br />
sind. Korruption, Vergewaltigung, Menschenhandel<br />
sind das Alltagsgeschäft dieser „feinen“ Gesellschaft.<br />
Und was wäre ein Wiener Krimi ohne den Wiener Dialekt?<br />
Da wird „gepofelt“ und „gepflanzt“, die Protagonisten<br />
als Schaßtrommel und Kieberer genannt, es<br />
wird gemützelt, etwas ausg’fressen und einem geht das<br />
G’impfte hoch. Die Freunde des Wienerischen kommen<br />
bei dieser saloppen Sprache voll auf ihre Kosten. Für<br />
diejenigen, die diese Ausdrücke nicht verstehen, stehen<br />
erklärende Fußnoten zur Verfügung.<br />
Ein gut recherchierter, spannender Krimi mit Wiener<br />
Flair. Eine Empfehlung.<br />
Zdenka Becker<br />
Appetit machen, Karl Kraus wieder zu lesen. Der<br />
Künstler Richard Schuberth geht manchmal ungewöhnliche<br />
Wege: Bereits als Schauspieler und Cartoonist<br />
konnte er seine Talente unter Beweis stellen. Hervorheben<br />
muss man sein feines Gespür für zeitgenössische<br />
Themen. Während der Wiener Integrationswoche 2015<br />
erhielt er den MigAward als Persönlichkeit des Jahres.<br />
Mit seinem neuen Buch verfolgt der Autor die Absicht,<br />
Appetit zu machen, Karl Kraus wieder zu lesen und über<br />
„selten begangene Schleichpfade (…) Vorstöße in die<br />
innersten Spannungsfelder von Karl Kraus“ zu unternehmen<br />
(S.9/10).<br />
Das im Klever-Verlag erschienene Buch enthält die in<br />
der Wiener Straßenzeitung Augustin veröffentlichte<br />
Serie über Karl Kraus und fügt drei weitere Essays hinzu:<br />
Blauer Dunst und brauner Dunst, Die Charakterfrage-<br />
Karl Kraus in schlechter Gesellschaft? sowie #kraus<br />
#sprachkritik # janund? Schuberth reflektiert die Denkweise<br />
der ambivalenten Persönlichkeit Karl Kraus: sein<br />
Verhältnis zu Frauen, seinen Hass gegenüber bürgerlichen<br />
Lebensformen sowie seine Haltung gegenüber<br />
dem Austrofaschismus.<br />
Als Hitler 1933 Reichskanzler wurde, reagierte Kraus<br />
mit Schweigen, äußerte sich erst 1934 mit einem ein<br />
dreihundert Seiten- Konvolut zum Kanzlerantritt.<br />
Schuberth geht auch auf die geistige Liebesbeziehung<br />
zwischen Karl Kraus und Rosa Luxemburg ein, die<br />
Kraus´frühe sozialkritische „Fackel“-Texte lobte. Als Einstieg<br />
in die Lektüre empfehle ich den autobiograhischen<br />
Nachtrag Schuberth´s. Der niederösterreichische Autor<br />
legt ein gründlich recherchiertes Werk vor, das mehrere<br />
Mußestunden erfordert, die sich jedoch auszahlen!<br />
Wissensdurstigen sei das Archiv der Wienbibliothek im<br />
Wiener Rathaus empfohlen.<br />
Die Zeitschrift „Fackel“ kann man bereits online lesen<br />
(https://de.wikisource.org/wicki/Die Fackel). www.<br />
kraus.wienbibliothek.at<br />
Cornelia Stahl<br />
Das Biest mit den blutigen Lippen, so beschreibt<br />
Jonis Hartmann das unbekannte Wesen Skron (S.39),<br />
mit dem er durch die Stadt fliegen und für immer<br />
unsterblich bleiben möchte. 98 skurril anmutende Gedichte<br />
stellt er im schmalen Band „Bordsteinsequenzen“<br />
vor. In drei Kapiteln, thematisch untertitelt, wagen sie<br />
„den Blick von unten schräg auf die Welt“ (Jan Kulbrodt).<br />
Der 1982 in Köln geborene und in Hamburg lebende<br />
Autor, Architekt und Essayist, ist Mitorganisator der internationalen<br />
Lesereihe „Hafenlesung“. Im Kapitel „Wo<br />
man sich trifft/ Wenn man Ufos gesehen hat“- tauchen<br />
vertraute Bilder von Hafenszenen auf: „Ein Hafen in jedem<br />
Mädchen“, die ebenso dienlich sind für Wort- und<br />
Sprachspielereien. Wünsche und Sehnsüchte wie dem<br />
Ankommen (im Hafen, Beziehungen eingehen), dem<br />
Wunsch, getragen zu werden, korrespondieren mit dem<br />
Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit.<br />
Kostprobe: „Würdest du mich tragen?/ Spring auf aber/<br />
Berühr mich nicht“(S.13). Eine verbindliche Unverbindlichkeit<br />
grundiert die lyrischen Texte und erinnert an<br />
Kommunikationsfetzen in digitalen Netzwerken, die<br />
von Usern gelesen werden, oder auch nicht, so zum Beispiel<br />
im Gedicht „Daphne“: „Gut geht’s mir/ Außer dass<br />
ich bald sterb/...Es war einfach nicht fassbar/ Denk ich/<br />
Aber das wollt ihr nicht wissen“ (S.38). Existenziell wird<br />
es noch einmal im Gedicht „Nachts“, in dem es heißt.“<br />
Alle Plätze belegt/Die Zelte dicht die/ Stühle angekettet<br />
an/...“ - Schon die dreimalige Wiederholung in jeder ersten<br />
Zeile „Nichts tun kann ich nur“... birgt Bedrohliches<br />
in sich, deutet Ungewissheit an, lässt ein Gefühl von<br />
Ohnmacht und Unsichheit mitschwingen. Ein Meisterwerk!<br />
Der Wahlhamburger Jonis Hartmann publizierte bisher<br />
zwei Bücher im Chaotic Revelry Verlag, arbeitete als<br />
Lektor, Übersetzer, als Versuchskaninchen und Statist.<br />
Den Hamburger Förderpreis für Literatur erhielt er 2014.<br />
Cornelia Stahl
www.litges.at