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34 DRACHEN|März 2017<br />
Oliver Jung-Kostick<br />
Die Saat des Drachen<br />
I Drachenzähne<br />
Ging heute vom Sammelgebäude zur Mensa.<br />
Rechts des Weges, auf einem schmalen Streifen zwischen<br />
dem Pflaster und der Ostwand des viereckigen Turmes, sah<br />
ich das Feld bestellt: braune, fruchtbare Erde, tiefe Furchen,<br />
eine neben der anderen.<br />
Die Erde bereitet für die Saat des Drachen.<br />
Drachenzähne.<br />
Kadmos säte sie aus, um ein Heldengeschlecht wachsen zu<br />
lassen, hart genug für seine Pläne, die den Krieg meinten,<br />
nur fünf von ihnen überlebten und schlossen Frieden.<br />
Heute anders.<br />
Die Frau sah das anders, aber welche Qualität hatte dieses<br />
Sehen?<br />
II Lasst uns fröhlich sein<br />
All die kleinen Erbsen und Karotten hüpfen frohen Mutes in<br />
die Dosen von »Bonduelle«. All die kleinen Selbstmörder gehen<br />
in das Sammelgebäude, öffnen das Fenster und hüpfen<br />
von der Absprungrampe.<br />
Ich sehe vor meinem geistigen Auge, wie sie ihre Hände aneinanderlegen,<br />
der beinerne Bug, die spitze Form, die die<br />
Luftmassen teilt, und sie säen sich selbst aus, die Saat des<br />
Drachen.<br />
Drachenzähne.<br />
Sind sie Zähne, sind sie nicht Samenkörner im eigentlichen<br />
Sinne des Wortes?<br />
Zähne, die ausfallen, haben ihre Funktion verloren, sind nutzlos;<br />
ein Samenkorn, das ausfällt, bereitet den nächstnotwendigen<br />
Schritt seiner Entwicklung vor.<br />
Prosa<br />
Auch dieses Jahr ist wieder ein Mensch vom Sammelgebäude<br />
in den Tod gesprungen. Nicht der erste, nicht der letzte.<br />
Die Frau ging einfach in den sechsten Stock des Universitätsgebäudes,<br />
in das leer stehende, nach Westen zeigende<br />
Sprachlabor, öffnete ein Fenster und sprang.<br />
Sie sprang, fiel, und schlug auf – unbemerkt. Nur zufällig<br />
entdeckt von einer Studentin, die gerade vom Mittagessen<br />
kam. Die Frau in die Hecken gebettet, das Harte an ihr zerbrochen,<br />
um weich zu werden, und das Weiche wird hart<br />
werden im Tod.<br />
Am Ende endet alles dort, Rigor mortis, der Tod ein Hort, und<br />
es scheidet sich das wieder weicher werdende Fleisch, das<br />
verfaulende, von den Knochen, bis diese endlich auch zerfallen<br />
und das Vorangegangene einholen, der Tod ein Hort.<br />
Auf der anderen Seite des Hauses wäre ihr das Bett bereitet<br />
gewesen, das Feld, in dem sie sich selbst hätte aussäen<br />
können, um – ja weshalb, wofür – um ihr Leben fruchtbar zu<br />
machen??<br />
Jedes Leben ist fruchtbar.<br />
Wer leben will wie Gott auf dieser Erde, muss sterben wie<br />
ein Weizenkorn, muss sterben, um zu leben, sagt ein altes<br />
Kirchenlied.<br />
Welche Pflanze wäre aus der jungen Frau gewachsen? – Jeder<br />
von uns ist so vielseitig begabt – Wer weiß es? – Und<br />
dann all dieses ungelebte Leben, das noch in ihr war…<br />
Ein riesiger Baum, mit Vögeln, die singen und sprechen<br />
könnten, all dies singen und aussprechen könnten, was sie<br />
nicht zu singen und auszusprechen vermochte. Vielleicht<br />
war sie auch einfach zu mutlos dazu…<br />
III Ab mit euch, auf die Rampen!<br />
Durch ihr Beispiel ermuntert, würden immer mehr Menschen<br />
aus dem Sammelgebäude springen, um zu dem zu werden,<br />
was sie sind, wenn sie glauben, es im Leben nicht erreichen<br />
zu können.<br />
Das Sammelgebäude würde bald umwuchert sein von Fantasien.<br />
Dann kämen die flacheren Gebäude an die Reihe. Studenten,