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26 DRACHEN|März 2017<br />

Essay<br />

Dieses Stadtportrait habe ich nicht nur geschrieben, sondern<br />

auch publiziert. Auch dem Umschlagfotografen ist dabei ein<br />

bemerkenswertes Kunststück gelungen, indem er mich in der<br />

November-Abenddämmerung so am Neuen Platz positioniert<br />

hat, dass der Lindwurm von mir ganz und gar verschluckt<br />

wird. und die vielen kleinen Brüder und Schwestern des großen<br />

Sohnes kauften und lasen es auch mit Begeisterung, nur<br />

die große Mutter hatte keine große Freude, denn sie bestand<br />

aus lauter kleinen Vätern, die sich um die Alimente drücken<br />

wollten. Ich schlug meiner Mutterstadt vor, ein paar hundert<br />

Stück ihres Portraits anzukaufen und beim Bachmannpreis<br />

in die Pressemappe für internationale Journalisten zu stecken,<br />

aber vom Bürgermeister bis hinunter zum Gemeinderat<br />

steckten alle zwei Finger in die Ohren, hielten sich mit<br />

zwei anderen Fingern die Nasenlöcher zu und steckten den<br />

ganzen Kopf in dieser Haltung in den Sand.<br />

Noch einmal fünf Jahre später saß ich gerade an meinem<br />

Roman Das Freudenhaus, der zum einen von der Erbauung<br />

des großen Fußballstadions in meiner kleinen Stadt handelt<br />

– 32.000 Sitzplätze in einer Stadt mit nicht einmal 100.000<br />

Einwohnern – zum anderen um die Auferstehung des französischen<br />

Weltdramatikers Eugene Ionesco in ausgerechnet<br />

diesem Stadion, und um die lebenslängliche geistige Auseinandersetzung<br />

mit seinem Drama Die Stühle und seiner Erzählung<br />

Die Nashörner (die in meinem Roman auf den Stühlen<br />

Platz nehmen… da, aber auch überall im Land, auf allen<br />

Sitzen, Plätzen, Posten, Positionen, fanatische, alles links und<br />

rechts achtlos niedertrampelnde Mitläufer des Chefnashorns,<br />

so nebenbei natürlich mit genügend pekuniärem Eigeninteresse<br />

ausgestattet.) Im Zug der Recherchen stellte ich fest,<br />

dass nicht nur das Hypo, Namensgeber der verbrecherischen<br />

Bank, Sponsor des verbrecherischen Vereins Hallodria Rhinozeros<br />

und Namensgeber des Stadions, der Rhinozeros Group<br />

Arena, sondern auch der Wurmdrache oder Drachenwurm,<br />

der Lindwurm am Neuen Platz, zur Familie der Wollnashörner<br />

gehörte! Und anstatt das Wurmdrachennashorn, den Nashornwurmdrachen,<br />

den Nasdrachenhornwurm endlich abzureißen,<br />

hat man das steinerne Ungeheuer zur Zeit der Fußballeuropameisterschaft,<br />

für die das Nashornstadion gebaut<br />

worden ist, aus nackter Angst vor Hooligans und Vandalen<br />

auch noch mit Panzerglas eingehaust.<br />

Die Eliminierung des Lindwurms ist mir mein Leben lang nicht<br />

gelungen, aber jetzt wenigstens die Abwahl des Bürgermeisters!<br />

Die Stadt hat einen neuen… eine neue! Die Stadt hat<br />

eine Bürgermeisterin. Endlich korrespondieren jetzt grammatikalisches<br />

und politisches und menschliches Geschlechts<br />

miteinander! Aber aus dem angry young man ist im Lauf der<br />

Jahrzehnte unversehens nach und nach ein afraid old man<br />

geworden! Wie viel ich im Lauf meines Lebens geschrieben<br />

habe! Und wie wenig verändert! Das meiste, was ich bekommen<br />

habe, war Applaus. Das ist bekanntlich eine schwache<br />

Währung. Wie immer bei einem Wechsel an der Stadtspitze<br />

wird es früher oder später zu einem Gespräch mit dem<br />

Bürgermeister kommen, also mit der Bürgermeisterin, und<br />

diesmal werde ich die Einladung nicht ausschlagen. Tall talk<br />

diesmal. Irgendetwas muss in mir vorgegangen sein: Der Abriss<br />

des Lindwurmbrunnens ist mir jetzt nach Jahrzehnten gar<br />

nicht mehr so wichtig. Ich spüre, wie es in mir rumort! Ich<br />

verwandle mich weiter! Bin ich es? Ja, ich bin es! Das Aushängeschild<br />

meiner Stadt! Das Wahrzeichen! Zuerst die Verwandlung<br />

vom angry young man in den afraid old man; dann<br />

die Verwandlung vom afraid old man in den afraid old Dragon!<br />

– „Frau Bürgermeister, draußen im Vorzimmer wartet ein<br />

Mr. Dragon und lässt sich nicht abweisen…“ – „Und was will<br />

Mr. Dragon?“ – „Er will, dass die große Mutter seinen Vorlass<br />

ankauft, all die Materialien und Manuskripte und Typoskripte<br />

und Texte über den Lindwurm und die Stadt und das Land<br />

und Gott und die Welt! All das Feuer, das er gespien hat! Jetzt<br />

ist Mr. Dragon alt geworden und hat nicht einmal mehr acht<br />

Zähne im Kiefer, nur noch zwei Prothesen, eine oben, eine<br />

unten. Mr. Dragon behauptet, er sei ein Aushängeschild. Mr.<br />

Dragon will jetzt Spaghetti auf Lebenszeit – und posthum ein<br />

Reiterstandbild auf dem Neuen Platz. So eine Art Pferd sei<br />

ja schon vorhanden. Man müsse ihn dann nur noch in Gold<br />

gießen und hinaufsetzen. Zur Not reite er auch auf dem Wollnashorn.<br />

„Ja“, sorgt sich die Bürgermeisterin, „Aber könnte es nicht<br />

sein, dass die Touristen bei seinem Anblick sehr enttäuscht<br />

sein werden, weil er in Wirklichkeit längst nicht so groß ist,<br />

wie sie sich ihn vorgestellt haben?“ - „Vorsicht, Frau Bürgermeisterin,<br />

er kann immer noch Feuer speien!“ – „Na, dann<br />

lassen Sie ihn eben vor…!“<br />

Egyd Gstättner<br />

Geb1962, studierte Germanistik und Philosophie, lebt als freier<br />

Autor in Klagenfurt. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen.<br />

Letzte Buchpublikationen: Absturz aus dem Himmel. Picus, Wien<br />

2011, Ein Endsommernachtsalbtraum. Picus Wien 2012, Hansi<br />

Hinterseer rettet die Welt. Amalthea Wien 2013, Der Haider Jörg<br />

zieht übers Gebirg. Drava Klgf. 2013, Das Geisterschiff 2013, Am<br />

Fuß des Wörthersees 2014, Das Freudenhaus 2015, Karl Kraus<br />

lernt Dumm Deutsch 2016, Rez. siehe S. 59, alle Picus.

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