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22 Holz|Oktober 2016<br />

Prosa<br />

Mario Vötsch<br />

Unter uns<br />

Ich weiß nicht, wann sie heute aufgestanden ist, ich musste<br />

früh raus und konnte sie nicht mehr hören. Das passiert selten.<br />

In der Regel ist sie es, die vor mir geht. Wenn die Wohnungstür<br />

zufällt, liege ich noch im Bett, höre halbwach, wie<br />

das Schloss einrastet und die Schlüssel klimpern. Dann ihre<br />

gedämpften Schritte die Treppe runter, die erst nach und<br />

nach bei mir ankommen, ihre Schritte in meinem Kopf, während<br />

sie ja schon längst weg ist. Es sind behutsame Schritte,<br />

ausgewogen, nie hastig oder kopfüber. Selbst wenn sie spät<br />

dran ist, überstürzt sie nichts. Selten, dass sie eine Stufe<br />

überspringen würde.<br />

Schließlich kommt sie unten an, im Eingangsflur, und öffnet<br />

die Haustür. Die Angeln krächzen, das wuchtige Tor fällt zu.<br />

Könnte ich diesem Klang deutlicher nachspüren, diesem Zufallen<br />

des Tores, ich bin sicher, auch darin läge etwas Beherrschtes.<br />

Unter ihrer Obhut wird jede Tür zahm gemacht.<br />

Unmittelbar danach setzt eine konspirative Stille ein, die den<br />

Raum zwischen den Dielen und Decken durchdringt wie ein<br />

Luftzug, eine Stille, die kommuniziert. Es ist nicht so, als ob<br />

nichts gewesen wäre.<br />

Hier endet mein morgendliches Wachhören.<br />

Als hätte sie niemanden sonst erwartet, so selbstverständlich<br />

hat sie damals die Tür geöffnet und mich angelächelt.<br />

Ich stand da mit Paket in der Hand. Der Postbote hatte mich<br />

am Hauseingang abgefangen und gebeten, es für sie entgegenzunehmen.<br />

Es war mittags und sie anscheinend nicht<br />

zu Hause. Also unterschrieb ich, setzte meine Initialen unter<br />

ihren Namen. Agnes Seel. Obwohl ich schon seit Jahren<br />

an diesem Namen vorbeigegangen war, handgeschrieben in<br />

Blockbuchstaben aufs Postfachschild, kam es mir jetzt vor,<br />

als würde ich ihn das erste Mal lesen. Lesen und erfassen.<br />

Nicht bloß anschauen wie die Inschrift eines Denkmals, an<br />

dem man jeden Tag vorbeigeht und doch nicht recht weiß,<br />

was drauf steht.<br />

Sie habe mich schon gehört, sagte sie, als ich an ihrer Tür<br />

stand. Man könne in diesem Haus ja nicht überhören, was<br />

vor sich geht. Ja, erwiderte ich, es gehe sich wie auf zerbrochenen<br />

Eierschalen. Sie dankte herzlich fürs Paket und wir<br />

verabschiedeten uns, ohne weiter vorstellig zu werden. Ich<br />

war schon am Treppenabsatz, da schickte sie mir, das Gesicht<br />

im Türspalt, noch einen Satz hinterher: „Sie hören von<br />

mir.“ Das hatte Witz. Den hatte ich ihr gar nicht zugetraut.<br />

Meine Wohnung ist im zweiten Stock, Agnes Seel wohnt über<br />

mir. Unser Haus ist ein altes Bauernhaus, es wäre der Traum<br />

aller Feuerleger. Alles ist aus Holz, das meiste Eiche. Drei<br />

Etagen werden durch geschlossene Treppen verbunden, die<br />

so steil sind, dass sie fast wie senkrechte Verbindungssprossen<br />

emporragen. Die Flure sind mit breiten Dielen verlegt, an<br />

den Decken sind robuste Balken eingezogen. Auch die Zimmerböden<br />

und die Türen sind aus Eiche, einzig die Wände<br />

haben Vertäfelungen aus Zirbelkiefer. Seitdem ich in diesem<br />

Haus wohne, kenne ich mich mit Holz einigermaßen aus.<br />

Lange konnte ich mich nicht daran gewöhnen, dass ein Haus<br />

stöhnt und krächzt und klagt. Ich hatte das Gefühl, das Haus<br />

leidet unter der Last der Menschen und könnte jederzeit zusammenbrechen.<br />

Heute sehe ich es entspannter: Das Haus<br />

gibt nach, bleibt aber stark. Es ist ein durchgängiger Bewegungsmelder,<br />

der nie schweigt, wenn sich etwas regt. Man<br />

vernimmt jeden Schritt – und Schritte gibt es genug. Auf jeder<br />

Etage sind drei Einzimmerwohnungen, das macht neun<br />

Parteien und achtzehn Beine. Irgendjemand muss da immer<br />

gehen.<br />

Morgens sind ihre Schritte weich und geduldig, fast nachsichtig.<br />

Sie geht ans Fenster, wartet einen Moment, bevor sie<br />

es öffnet. Dann die frische Luft, eine Atempause, die in die<br />

Glieder strömt. Ihr langes graues Haar, so stelle ich mir vor,<br />

ist noch ungekämmt, einzelne Strähnen vom Nachtschweiß<br />

verklebt. Ihr Teint ist blass und wird es auch bleiben, denn<br />

mit Gesichtspuder geht sie sparsam um. Sie wird ihn auftragen,<br />

um die fahlen und trockenen Partien ihres Gesichts zu<br />

kaschieren. Noch aber steht sie am offenen Fenster, unfertig<br />

versunken. Ihre Konturen, milchig und weich, treten hervor<br />

wie die Züge einer Wachsfigur, erscheinen seltsam unbelebt,<br />

aber auch nicht leblos.<br />

Die Begegnung an ihrer Türschwelle war nicht unsere erste,<br />

aber es war die erste, in der wir uns etwas zu sagen hatten.<br />

Immer wieder mal sind wir aneinander vorbeigelaufen, im<br />

Hauseingang, bei den Postfächern, auf den Etagentreppen.<br />

An engen Stellen lässt sie mir bis auf weiteres den Vorrang,<br />

weil ich jünger bin, schneller. Sie nimmt mein Tempo mit Gelassenheit.<br />

Dennoch ist es mir angenehmer, sie über mir zu<br />

hören als vor mir zu sehen. Meine Verlegenheit, ihre Schritte<br />

zu kennen. Die Stille, wenn sie am Fenster steht. Ihre kurze<br />

Morgentoilette. Dass sie nie vor sich herredet. Der Verrat<br />

der Bretter, wenn sie in der Nacht aufsteht. Und wenn

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