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40 Holz|Oktober 2016<br />
Prosa<br />
Kopf, um auf die Zahlenanzeige des Radioweckers zu sehen.<br />
Nein! Unmöglich. In seiner Brust explodiert etwas. Adrenalin.<br />
So lange kann er nicht geschlafen haben. Der Zug! Der<br />
Flieger! Er sollte längst auf der Bahn sein. Das Zeitpolster,<br />
das in seiner Abreiseplanung lag, ist bereits großzügig verbraucht.<br />
Auf dem Holzboden liegend im Vergessensrausch.<br />
In Ansgar Blömeckes Kopf flackern Bilder: der dramatische<br />
Film seiner verpassten Abreise. Der Freund am Flughafen<br />
wartet nicht mehr. Steigt allein in den Flieger. Schulterzuckend.<br />
Er wird seine Freundschaft mit Blömecke überdenken.<br />
Überdenken müssen. Wie kann man mit jemandem<br />
befreundet sein, der den Gebrauch eines Mobiltelefons<br />
ablehnt? Noch nicht einmal fragen kann man ihn, wo er<br />
bleibt. Auf einmal versteht Blömecke den Sinn von Mobiltelefongesprächen.<br />
Warum jemand sagt, wo er ist und<br />
wann er woanders zu erscheinen gedenkt. Es handelt sich<br />
um Menschen, denen eine Abreise zu misslingen droht.<br />
So wie jetzt ihm, Blömecke. Natürlich hat er auch vorher<br />
schon den Sinn von Mobiltelefongesprächen gekannt. Und<br />
sich amüsiert. Heimlich. Diese ständigen Ortsangaben. Ja,<br />
können die Leute denn nicht vernünftig planen? So wie er,<br />
Blömecke, plant: passgenau und verlässlich.<br />
Von wegen verlässlich. Eigentlich hat er nicht mal die Zeit<br />
für eine Katzenwäsche. Aufs Zähneputzen verzichtet er.<br />
Kein lustiges Gurgeln vor dem Spiegel. Er reißt die Sachen<br />
vom stummen Diener, die Sachen, die er gestern schon<br />
trug. Wahrscheinlich zu warm für den Süden. Egal. Ins<br />
Schwitzen gerät er jetzt eh`. Kein Frühstück. Es wird ja im<br />
Flieger was geben. Wenn er den überhaupt noch erwischt.<br />
Aber ja. Das Zeitpolster müsste reichen. Knapp könnte es<br />
werden. Sicher, der Freund wird sauer sein und nicht ohne<br />
angefressenen Kommentar auf die Uhr schauen, wenn Blömecke<br />
endlich in der Wartezone erscheint. Abgehetzt, aber<br />
erleichtert. Doch soweit ist er noch lange nicht. Er muss<br />
los. Noch ein Wehmutsblick auf den Ofen in der Küche. Der<br />
ist verlässlich niedergebrannt, ausgegangen in friedlicher<br />
Asche. Der Anblick versetzt Blömecke einen Wehmutsstich.<br />
Zum Glück hat er gestern gepackt. Er geht zum Sofa, auf<br />
dem das Taschentier steht. Hat selber Schuhe und Mantel<br />
schon an. Und der Brustbeutel hängt um den Hals, wölbt<br />
sein Hemd über dem Bauch. Mit allen Papieren. Auch der<br />
Brustbeutel lag vorbereitet schon auf dem Schreibtisch.<br />
Jetzt nur noch die Tasche greifen und los.<br />
Blömecke glaubt es nicht. Glaubt nicht das Gewicht des<br />
Taschentiers, das er nun anhebt und das seinen Arm mit<br />
Gewalt nach unten reißt. Ein Magnet, den es zum Gegenpol<br />
zieht. Er muss mit Kraft gegensteuern und schon diese<br />
erste Anstrengung provoziert einen Schweißausbruch. Und<br />
ein Schmerzstoß fährt in seinen Kopf, ein Erinnerungsgruß<br />
an den gestrigen Abend. Was hat er alles in die Tasche<br />
gepackt? Im Suff. Blackout. Aber jetzt die Tasche wieder<br />
öffnen und aussortieren, was überzählig ist? Dann kann er<br />
den Abflug vergessen. Es hilft alles nichts. Er muss mit diesem<br />
Taschenkoloss reisen. Was man sich antut. Kein Tier<br />
wäre dazu in der Lage. Zugvögel fallen ihm ein. Zugvögel<br />
mit Reisetaschen. Das Bild bringt ihn zum Lachen. Während<br />
er schon den Schlüssel hinter sich abzieht. Unaufgeräumt<br />
lässt er seine Wohnung zurück. Das Weinglas auf<br />
dem Küchenboden festgeklebt in einem dunkelrot getrockneten<br />
Kranz. So wird es noch dastehen, wenn er wieder<br />
nachhause kommt. In zwei Wochen. Mein Gott, denkt er,<br />
in zwei Wochen. Und hofft, dass er seinen Flieger verpasst.<br />
Hofft insgeheim, hofft mit Hintertürchen.<br />
Die Bahn steht auf dem Gleis. Bewegungslosigkeit mitten<br />
auf freier Strecke. Eine Lautsprecherstimme gibt bekannt,<br />
dass man erst weiterfahre, nachdem man einen bevorrechtigten<br />
Zug durchgelassen habe. Blömecke lehnt sich zurück.<br />
Natürlich. Die Bahn. Damit war zu rechnen. Darauf hatte er<br />
sein Zeitpolster ausgelegt. Nun ist es dahingeschmolzen.<br />
Er schaut auf die Uhr. Abflug in fünfundzwanzig Minuten.<br />
Er wird am Abend versuchen, den Freund im Hotel zu erreichen.<br />
Um sich zu erklären. Verschlafen im Abschiedssuff.<br />
Nein. Das kann er nicht zugeben. Er könnte Krankheit<br />
vorschützen. Mit gespielter Heiserkeit dem Freund etwas<br />
vordramatisieren. Aber vielleicht ist der Freund gar nicht<br />
mitgeflogen. Blömecke schluckt. Der bevorrechtigte Zug<br />
donnert vorüber. Die Bahn ruckt an. Und rollt auf den Flughafen<br />
zu. Auf zum letzten Gefecht, sagt Blömecke, als der<br />
Waggon unter Pfeiftönen seine Türen öffnet. Völker hört<br />
die Signale. Das war halblaut vor sich hingesprochen. Blömecke<br />
spricht oft halblaut vor sich hin. Er greift das Taschentier<br />
und eilt auf die Rolltreppe zu.<br />
Geschlossen. Der Schalter, an dem sein Flug abgefertigt<br />
werden sollte ist bereits geschlossen. Womit zu rechnen<br />
war. Noch zehn Minuten und der Flieger hebt ab! Er wedelt<br />
mit seinem Flugticktet vor dem Gesicht einer uniformierten<br />
Frau, die sich hinter dem geschlossenen Schalter zu schaf-