ohne Titel Karton-Collage 50 x 30 x 4,5 cm 2003 ohne Titel Karton-Collage 50 x 30 x 4,5 cm 2003 ohne Titel Karton-Collage 50 x 30 x 4,5 cm 2003 <strong>Jo</strong> Enzweiler 25
26 <strong>Jo</strong> Enzweiler Sichtbarmachen einer »ganzen Bilderwelt«, die wir hier, meine Damen <strong>und</strong> Herrn, gemeinsam an ausgewählten Beispielen aus Zeichnung, Reliefdruck <strong>und</strong> Papierschnitt eingehend betrachten <strong>und</strong> erkennend genießen können. Seinen drei Ausgangshandlungen reißen, schneiden, anordnen hat <strong>Jo</strong> Enzweiler im Prozess der bildnerischen Gestaltung eine weitere, die Ausgangshandlungen übergreifende Handlung hinzugefügt: Aus derselben Art Karton, aus dem er die Formen reißt, stellt er einen Bildträger her, den Gitter bzw. Raster mit viereckigen, quadratischen oder rechteckigen, Elementen als Einzelfelder seriell bedecken; sie dienen ihm als ‘Platzhalter’ für die Wiederholung von Aktualisierungen verschiedener Rissformen als Füllung, die an Ort <strong>und</strong> Stelle ihr eigenes Leben auch gegen rechte Winkel zu führen wissen. Sie treten untereinander als ähnlich auf, gleichen sich aber keineswegs wie ein Ei dem anderen. Sie sind, genauer gesagt, variante Aktualisierungen desselben Rissschemas bzw. desselben grafischen Schemas, z.B. dann, wenn der Künstler in seinen Zeichnungen dem gewählten Bildträger gleichsam ein Strichnetz überwirft, das die Gitterstruktur von Haus aus mitbringt. Das syntaktische Prinzip der anfangs recht strengen seriellen Gliederung hat <strong>Jo</strong> Enzweiler inzwischen teils durchgreifend variiert <strong>und</strong> in all seinen Werkgruppen dennoch gleichermaßen eindrücklich zur Geltung gebracht. Der Gr<strong>und</strong>satz ‘Einheit in der Mannigfaltigkeit’, meine Damen <strong>und</strong> Herrn, ist die bildnerische Basis für die »ganze Bilderwelt« des Künstlers. Sie geht aus von der Teil-Ganzes-Relation, für die die Präsentation der Figur-Gr<strong>und</strong>-Relation (Positiv- Negativform-Relation) immer wieder augenfällig gemacht wird <strong>und</strong> die für unsere gesamte Wahrnehmung unhintergehbar ist. Diesen Sachverhalt hervorzuheben ist <strong>Jo</strong> Enzweiler in seinen Arbeiten von Anfang an gelungen durch die einfache Handlung des Aufklebens von Einzelformen auf einen Gr<strong>und</strong>. Auf diesen, meines Wissens bisher im Werk von <strong>Jo</strong> Enzweiler nur wenig bedachten Gr<strong>und</strong>satz von der Einheit in der Mannigfaltigkeit möchte ich abschließend noch mit einigen kurzen Bemerkungen eingehen – natürlich ebenfalls aus der Produktionsperspektive. Der Gr<strong>und</strong>satz ‘Einheit in der Mannigfaltigkeit’ hat im wesentlichen zwei Wurzeln, die beide für Enzweilers Werk von großer Bedeutung sind: die klassische Kunsttheorie einerseits <strong>und</strong> die der Psychologie zugehörende Gestalttheorie andererseits. In der klassischen Kunsttheorie geht es um Mannigfaltigkeit der Teile im Hinblick auf ein einheitstiftendes Ganzes, in welchem die Mannigfaltigkeit der Teile selbst eine stets klare (lat. clara), noch nicht aber deutliche (lat. distincta) sinnlich-erkennende Betrachtung ermöglicht. Die Ordnung der Teile verdankt sich dem jeweiligen Ganzen <strong>und</strong> verweist auf das Ganze, insoweit es von den Teilen vertreten wird. In der Gestalttheorie geht es ebenfalls um die Einheit in der Mannigfaltigkeit. Doch die eigenständige »Gestaltqualität« der Einheit lässt sich nicht auf die Qualitäten der einzelnen Teile der Mannigfaltigkeit reduzieren. Dem klassischen Beispiel der Gestalttheorie zufolge, das von ihrem Gründungsvater Christian von Ehrenfels stammt, sind die Töne einer Melodie durch das einheitstiftende Prinzip der Melodie organisiert, wobei sich die Melodie <strong>und</strong> ihr Verlauf nicht auf die in ihr vorkommenden Töne zurückführen lässt. Was, meine Damen <strong>und</strong> Herrn, bedeutet das für die variierenden Gitter- bzw. Rasterformen in den einzelnen Werkgruppen des Künstlers <strong>Jo</strong> Enzweiler? Die einheitstiftende, organisierende Kraft des Bildes nach Größe, Format <strong>und</strong> sequenzieller Gliederung, <strong>und</strong> damit seine eigenständige »Gestaltqualität« eingeschlossen, ist unbestritten. Doch, bedenken Sie, dass, insofern diese »Gestaltqualität« des Ganzen nicht auf die Qualitäten der einzelnen Teile des Bildes zu reduzieren ist, für diese einzelnen Teile des Bildes sogar ein eigenständiger visueller Spielraum eröffnet wird, der sich den Qualitäten der einzelnen bildnerischen Aktualisierungen selber verdankt. Diese selbstständigen visuellen Qualitäten der Teile, den einzelnen Gittern <strong>und</strong> ihren variablen Füllungen geschuldet, lassen sich, synästhetisch gesprochen, wie optische Notate für visuelle Singstimmen entziffern. Dietfried Gerhardus *Der vorliegende Text ist meine Rede zur Eröffnung der Ausstellung »<strong>Jo</strong> Enzweiler, Zeichnungen, Reliefdrucke, Papierschnitte« am 16.05.2004 in Schloß Salder, Salzgitter. Der Rededuktus wurde weitgehend beibehalten. ohne Titel 1999 Karton-Collage 35 x 35 x 5 cm ohne Titel 1999 Karton-Collage 35 x 35 x 5 cm