OPAC_16_03
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literatur<br />
von Martina Lainer<br />
Leseexemplare<br />
Ungewollte Entdeckungen einer zielgerichteten Leserin<br />
Ich habe sie früher nie sehr gemocht: die Leseexemplare,<br />
die mir vorkamen, als wären sie von den<br />
Verlagen verraten worden. Wie ein Stigma prangt<br />
auf ihrem Titel eine Art Stempel mit der Aufschrift<br />
„Unverkäufliches Leseexemplar. Erscheinungstermin…“.<br />
Bei manchen Büchern nicht genug, muss<br />
auch noch auf dem Vorsatzblatt der Eindruck wiederholt<br />
sein, damit ja niemand, der dieses Buch<br />
zur Hand nimmt, vergisst, dass es nicht wirklich<br />
gewollt in meinen Besitz gelangte. Ich suche mir<br />
meine Bücher gerne selber aus, lasse mich nicht<br />
treiben, sondern überlege mir als zielgerichtete<br />
Leserin bereits zu Hause, nach welchen Büchern<br />
ich bei meinem Buchhändler frage.<br />
Anders als die sogenannten „Mängelexemplare,<br />
habe ich die Leseexemplare nie in die<br />
Kategorie „Schmuddelbücher“ gestellt. Aber<br />
es störte mich immer, dass sie sich so anbiedern<br />
mussten, um von mir wahrgenommen und gelesen<br />
zu werden.<br />
SICH MIT BÜCHERN BESCHENKEN LASSEN<br />
Heute freue ich mich, wenn mir die Seniorchefin<br />
meiner Buchhandlung ein Leseexemplar auf<br />
die Seite legt und es mir mit in die Büchertasche<br />
packt. Es berührt mich, dass sie an mich dachte,<br />
als sie das Buch in der Hand hatte – das müsste<br />
sie nicht, obwohl ich keine schlechte Kundin bin.<br />
Und dann gefällt mir der Gedanke, dass sie eine<br />
Idee gehabt haben musste, warum gerade mich<br />
dieses Buch interessieren könnte. Und damit beginnt<br />
auch meine Neugier auf dieses Buch. Mein<br />
Interesse ist geweckt für ein Buch, das ich mir nie<br />
selber ausgesucht und gekauft hätte. Auf Umwegen<br />
hat ein Buch seinen Weg zu mir gefunden<br />
und somit gebe ich ihm eine Chance. Ich sehe eine<br />
Einladung zu einer ungewollten Entdeckungsreise,<br />
und dem kann ich viel abgewinnen. Außerdem<br />
kann ich mich – alt genug geworden – freuen, mir<br />
Bücher schenken zu lassen. Das ist wohl zu Weihnachten<br />
keine Besonderheit, aber im laufenden<br />
Jahr schon.<br />
ENTDECKUNGSREISE NACH ARGENTINIEN<br />
Ein besonderes Leseexemplar stellt der neue Roman<br />
der renommierten argentinischen Autorin<br />
Claudia Pineiro, „Ein wenig Glück“, dar, dessen<br />
erste Rezensionen frühestens am 18. Juli erscheinen<br />
durften. Der Beginn des „Logbuches“ stellt in<br />
kurzen Sätzen ein Unfallgeschehen dar, das immer<br />
detaillierter beschrieben wird. Es ist der Bericht<br />
eines überlebenden Kindes, dessen Mutter nach<br />
dem Unfall verschwunden war. Ein Trauma, von<br />
dem er sich auch als erwachsener Ehemann und<br />
Vater einer Tochter nicht erholt. Die Mutter kehrt<br />
nach zwanzig Jahren in die Stadt zurück, um eine<br />
Schule zu evaluieren. Dort trifft sie auf ihren Sohn,<br />
der sie an einem Muttermal an der Hand erkennt<br />
und vollkommen aus der Bahn geworfen wird. Ich<br />
habe lange nicht mehr so viel geweint bei der Lektüre<br />
eines Buches, obwohl es in keiner Weise betulich<br />
geschrieben ist. Ich war auch gefesselt, wie<br />
schon lange nicht mehr, so viel Spannung war im<br />
Text, obwohl es kein Krimi ist. Und ich kam aus<br />
dem Staunen nicht heraus, weil so viel Schreibtheorie<br />
eingearbeitet ist, ohne dass sich die Autorin<br />
jemals als besserwisserische Literaturwissenschaftlerin<br />
darstellt.<br />
Von nun an nehme ich Leseexemplare mit mehr<br />
Erstaunen, Freude und Respekt zur Hand und sollte<br />
es mir einmal nicht gefallen, dann hat es wenigstens<br />
keinen Cent gekostet! •<br />
MAG. MARTINA LAINER<br />
Germanistin und Religionspädagogin. Sie war<br />
12 Jahre lang als pädagogische Referentin im<br />
Bibliothekswerk in Salzburg tätig und lebt<br />
seit 2004 in Braunau am Inn, wo sie im Krankenhaus<br />
St. Josef als Seelsorgerin arbeitet. Sie<br />
engagiert sich bei den Literarischen Kursen als<br />
Begleiterin von Fernkursteilnehmer/innen und<br />
als Referentin. „Lesen am Abend“ heißt ihr<br />
monatlich stattfindendes literarisches Angebot in Braunau.<br />
Bild: privat<br />
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