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LP Llora 2

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»Liebe Passagiere, bitte schnallen Sie sich fest, wir<br />

setzen zum Landeanflug an.« Lucy rückt sich auf<br />

ihrem engen Sitz in eine angenehmere Position.<br />

Der Flug war lang und anstrengend, und die paar<br />

Minuten, die sie geschlafen hat, rächen sich jetzt<br />

mit einem schmerzenden Rücken.<br />

Sie schiebt das Rollo zum Fenster hoch<br />

und sieht auf die Landschaft hinunter, der sie<br />

entgegenfliegen. Nun hat sie es endlich geschafft<br />

und ist schon mit dem halben Fuß im Urlaub auf<br />

Puerto Rico. Allerdings sieht sie diesem Urlaub<br />

mit zwiespältigen Gefühlen entgegen. Zum<br />

einen ist da Bella, mit der sie sich vor knapp zwei<br />

Jahren für nur ein paar Monate ihr Apartment<br />

auf dem Unicampus geteilt hat. Obwohl sie nur<br />

so kurz zusammengelebt haben, hat Lucy die<br />

selbstbewusste und so liebevolle Puerto-Ricanerin<br />

tief in ihr Herz geschlossen. Es war vorhersehbar,<br />

dass Bella die Trennung von ihrer Familie nicht<br />

lange aushalten würde, und Lucy war nicht sehr<br />

überrascht, als sie zu ihrer Familie zurückgekehrt<br />

ist, auch wenn sie es sehr traurig fand.


Zu ihrem Unglück ist die Frau, die für Bella<br />

bei ihr eingezogen ist, eine besserwissende,<br />

naturwissenschaftliche Eule, die sie mit ihrer<br />

Mülltrennung und Alles-nochmal-benutzen-<br />

Theorie in den Wahnsinn treibt. Bella drängt schon<br />

die ganze Zeit, dass Lucy sie endlich besuchen<br />

kommt, beide haben regelmäßigen Kontakt, und<br />

Bella ist für Lucy zu einer richtig guten Freundin<br />

geworden, auch wenn beide so weit voneinander<br />

entfernt wohnen. Sara und Selena hat sie damals,<br />

als sie über Weihnachten in New York waren, auch<br />

sehr schnell gemocht, was wirklich nicht sehr<br />

schwer ist. Es scheint bei ihnen allen in der Natur<br />

der Dinge zu liegen, offen und herzlich zu sein.<br />

Da hat Lucy Bella auch das erste Mal richtig<br />

erlebt, so glücklich wie sie diese paar Tage war, mit<br />

der Gewissheit zu ihrer Familie zurückzukehren<br />

und wieder bei Paco zu sein, so losgelöst war sie<br />

während ihres gesamten kurzen Studiums in New<br />

York nicht ein einziges Mal. Lucy war natürlich zu<br />

ihrer Hochzeit im folgenden Sommer eingeladen.<br />

Eigentlich wollte sie damals schon diesen Urlaub<br />

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machen, doch ihrer Mutter ging es wegen ihrer<br />

Diabetes zu diesem Zeitpunkt so schlecht, dass<br />

Lucy stattdessen in ihre texanische Heimat fliegen<br />

musste.<br />

Aber Bella hat genügend Fotos geschickt,<br />

sodass sie fast das Gefühl hat, doch teilgenommen<br />

zu haben. Es war scheinbar eine Traumhochzeit,<br />

Bella sah umwerfend aus, und zum ersten Mal<br />

hat sie Gesichter zu den immer wieder von Bella<br />

erwähnten Personen gesehen. Paco ist genau so,<br />

wie Bella ihn beschrieben hat, und Lucy kann gut<br />

nachvollziehen, warum Bella ihm total verfallen<br />

ist. Es gab auch viele Bilder von Bellas Bruder Juan<br />

und ihren Cousins und diesem verrückten Kerl<br />

Tito.<br />

Schon während Bella noch in New York lebte, hat<br />

er sich andauernd Lucy ans Telefon geben lassen,<br />

um mit seinem, zugegebenermaßen wirklich<br />

süßen und vor allem lustigen Charme, etwas mit<br />

Lucy zu flirten, was manchmal eine willkommene<br />

Abwechslung zum stressigen Studentenalltag für<br />

Lucy war. Ganz angetan war er offensichtlich auch


von ihrem vollen Namen Lucia und nennt sie von<br />

da an nur noch so.<br />

Obwohl, oder vielleicht gerade, weil sie das<br />

eigentlich weder mehr gewohnt ist und auch<br />

nicht sonderlich mag, da sie das viel zu sehr an<br />

ihre konservative Erziehung in Texas erinnert,<br />

akzeptiert sie es. Auch als Bella wieder bei ihrer<br />

Familie war, hat Tito es sich nicht nehmen lassen,<br />

hin und wieder mit ihr am Telefon zu plaudern.<br />

Das Ganze hat sich allerdings aufgelöst, nachdem<br />

er erfahren hat, dass sich zwischen Lucy und<br />

Cameron, mit dem sie sich damals nur hin und<br />

wieder mal getroffen hat, etwas Festes entwickelt<br />

hat.<br />

Lucy versucht, diesen aufkommenden<br />

Gedanken sofort abzuschütteln. Etwas über ein<br />

Jahr ist sie nun mit dem Jurastudenten zusammen,<br />

der die gleiche Leidenschaft für den Beruf hat wie<br />

sie. Doch seit einiger Zeit fragt sie sich immer<br />

wieder, ob das alles oder vielmehr, ob das genug<br />

ist, um eine Beziehung zu führen. Eigentlich sollte<br />

Cameron sie begleiten, doch er hatte zu viel zu tun,<br />

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und sie war froh, mal etwas Abstand von allem<br />

zu gewinnen. Außerdem wäre es fraglich, wie<br />

Cameron mit dem, was sie in Puerto Rico erwartet,<br />

umgehen würde, wo sie selbst schon am Zweifeln<br />

ist, ob dies alles so eine gute Idee ist.<br />

So sehr sie sich auf Bella freut, so unsicher ist<br />

sie, die Familie, von der Bella so viel schwärmt,<br />

kennenzulernen. Als Lucy all diese Männer auf<br />

den Fotos entdeckt hat, war es schwer, sie den<br />

liebevollen Erzählungen von Bella zuzuordnen,<br />

denn sie sehen alles andere als liebevoll aus. Bellas<br />

Bruder Juan, Paco, dieser Miko, sie sehen allesamt<br />

sehr gefährlich aus, so wie jemand, wenn man<br />

ihn nachts auf der Straße trifft, man lieber die<br />

Straßenseite wechselt.<br />

So oder so sind das, wenn Lucy ehrlich darüber<br />

nachdenkt, keine Personen, mit denen sie freiwillig<br />

in Kontakt treten würde, und selbst dieser<br />

lustige Tito erscheint so anders, als Lucy sich ihn<br />

vorgestellt hat. Es ist schwer zu beschreiben, was<br />

sie sich vorgestellt hat, aber als sie auf den großen<br />

breiten Mann mit den kurzen dunklen Haaren


und dem leichten Dreitagebart gesehen hat, war<br />

das alles andere als die Vorstellung, die sie sich<br />

während ihrer unbefangenen Telefonate aufgebaut<br />

hat. Er sieht gut aus, ohne Zweifel ein gepflegter<br />

Mann. Doch wenn es nicht die Tätowierungen<br />

am Hals, die man trotz des garantiert sündhaft<br />

teuren Anzuges sehen konnte, waren, die sie leicht<br />

erschrocken haben, dann waren es seine Augen.<br />

Lucy konnte es nicht lassen und hat diese<br />

herangezoomt, als sie ihn auf den Fotos entdeckt<br />

hat. Noch nie hat sie solche Augen gesehen. Sie<br />

sind wunderschön, braun, doch nicht zu dunkel,<br />

sondern ein helles Braun, und sie hätte schwören<br />

können, einen leichten Grünstich entdeckt zu<br />

haben. Lange dunkle Wimpern, die das Ganze<br />

geheimnisvoll wirken lassen. Aber was ihr am<br />

meisten aufgefallen ist, war die Kälte, die sie<br />

ausstrahlen, als hätte Tito schon die Hölle erlebt und<br />

keinerlei Probleme damit, nochmal durchzugehen.<br />

Die Augen vermitteln einem diesen Eindruck,<br />

auch wenn er auf dem Bild ein sehr ansteckendes<br />

Lächeln hat.<br />

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Bella hat ihr natürlich erzählt, was ihre<br />

Familie, ihre angeborene sowie die neue, in die<br />

sie gekommen ist, was sie alle darstellen, was<br />

es bedeutet, zu einer Familia zu gehören. Lucy<br />

versucht sich die ganze Zeit einzureden, dass sie<br />

mit dieser Tatsache umgehen kann, aber diese<br />

kleine, viel zu motivierte Jurastudentin in ihr, die in<br />

Texas unter sehr strengen Moralvorstellungen groß<br />

geworden ist, rebelliert und will sagen, dass sie das<br />

nicht kann. Nun ist es allerdings zu spät, stellt Lucy<br />

leise seufzend fest, als die Räder des Flugzeuges<br />

auf der Landebahn aufkommen. Sie wird sich in<br />

diesen zwei Wochen einfach auf eine andere Welt<br />

einlassen und versuchen, ihre Vorbehalte ganz tief<br />

in ihrem Inneren zu verstecken.

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