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Erinnerungen sind wie Schneeflocken

Eine Geschichte zur Wintersonnenwende

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<strong>Erinnerungen</strong> <strong>sind</strong> <strong>wie</strong> <strong>Schneeflocken</strong><br />

Feine weiße Wölkchen stoben hoch und lösten sich glitzernd auf, als Walburga<br />

benommen den Schnee von ihrer Jacke Klopfte. Irritiert sah sie an sich herunter.<br />

Alles von einer zarten Flockenschicht bedeckt! Mit einem ungläubigen<br />

Kopfschütteln seufzte sie auf und tastete, ohne dass sie sich dessen bewusst war,<br />

mit den eiskalten Fingern über die dicke Strickmütze, als müsste sie sich<br />

vergewissern, dass alles wirklich noch da war, wo es hingehörte. Schnee rieselte<br />

ihr dabei auf Nase und Wimpern, so dass sie zwinkern musste, als sie ihre<br />

Umgebung in Augenschein nehmen wollte.<br />

Rund herum Bäume mit schwer herabhängenden Ästen, alles dick weiß<br />

verschneit! Und sie saß mitten in einer Schneewehe am Rande eines kleinen<br />

Grabens! Walburga konnte das alles gar nicht verstehen. Wie lange mochte sie<br />

wohl hier hocken? Wie war sie hier her gekommen, – und wo war sie überhaupt?<br />

Ach, wenn ich mich doch bloß erinnern könnte …, dachte sie verzweifelt. Aber<br />

es war alles <strong>wie</strong> ausradiert! Sie konnte sich noch so sehr das Hirn zermartern, es<br />

half nichts! Ein Schluchzer steckte ihr in der Kehle fest, <strong>wie</strong> schon so manches<br />

Mal. Was ist nur los mit mir? Warum lässt mich mein Gedächtnis in der letzten<br />

Zeit so oft im Stich? Ist das normal, wenn man alt wird?<br />

Nach ein paar Minuten, in denen sie mühsam versuchte, sich einen Reim auf<br />

das Ganze zu machen, kroch sie schließlich stöhnend auf allen Vieren durch den<br />

Schnee bis zu einer hohen Fichte, um sich an ihrem Stamm hochzuziehen, denn<br />

ganz ohne Stütze schaffte sie es nicht mehr. Der Rücken machte nicht mit! Aber<br />

wenigstens hatte sie sich anscheinend nicht verletzt, als sie in den Schnee<br />

gefallen war!<br />

Es nützt ja nichts, sprach sie sich selber Mut zu, ich laufe jetzt einfach los!<br />

Irgendwo werde ich schon rauskommen aus dem Wald. Dann drückte sie die<br />

Hände in den Rücken, um sich gerade aufzurichten und reckte den Kopf nach<br />

oben. Na, zum Glück war es noch nicht dunkel! Aber ein stahlfarbener Himmel<br />

überspannte die Baumkronen. Es sah nach neuem Schneefall aus, das war gar<br />

nicht gut!<br />

„Komm, Walli, wir laufen jetzt los!“. Als sie die Stimme in der tiefen Stille des<br />

Winterwaldes hörte, erschrak sie. Fange ich jetzt schon an, mit mir selbst zu<br />

sprechen – oder habe ich da eben jemand anderen gehört? Reglos lauschte sie,<br />

2


ob da noch mehr käme, aber nein, es mussten wohl doch ihre eigenen Worte<br />

gewesen sein! Seufzend stapfte sie los.<br />

Während sie vorsichtig einen Fuß nach dem anderen hob und nur langsam<br />

vorankam, weil sie auf keinen Fall noch einmal stürzen wollte, schweiften ihre<br />

Gedanken ab. Erinnerungsfetzen tauchten auf. Früher hatte sie den Winter<br />

geliebt! Daheim als Kind war die Zeit um die Weihnachtstage immer besonders<br />

schön gewesen, wenn die Familie das Fest der Wintersonnenwende<br />

vorbereitete. Vor Walburgas Augen tauchte die Gestalt ihrer Mutter auf, <strong>wie</strong> sie<br />

der kleinen Tochter vor dem knisternden Feuer in der winzigen Stube von den<br />

Raunächten und den Geistern des Winters erzählt hatte. Ganz klar hatte sie noch<br />

Mutters Stimme im Ohr: „Die Nacht des einundzwanzigsten Dezembers, die<br />

Thomasnacht, ist die Allerwichtigste! Sie ist die längste Nacht im Jahr, und mit<br />

ihr geht die Macht der Dunkelheit zu Ende! In dieser Nacht feiern wir die<br />

Wiedergeburt des Lichts und begrüßen die Geister, die uns endlich die Sonne<br />

und das Leben zurück bringen!“<br />

Plötzlich hielt die alte Frau inne und schnüffelte. Waren da nicht eben noch<br />

Schwaden von würzigem Honig-Kräutertee und deftigem Festtagsessen in ihre<br />

Nase gestiegen? Das Wasser lief ihr im Mund zusammen und der Magen meldete<br />

sich knurrend. Aber sie nahm nur noch Frost und Kälte in der Luft wahr. Immer<br />

schon hatte sie gefunden, dass Schnee irgend<strong>wie</strong> silbern roch. Das habe ich doch<br />

als Kind so sehr gemocht, versicherte sie sich selbst, um nur nicht mehr an Essen<br />

zu denken. Walli, reiß dich zusammen, das <strong>sind</strong> doch nur die <strong>Erinnerungen</strong>,<br />

schimpfte sie sich aus, nun mach schon, dass du weiterkommst! Wenn es dunkel<br />

wird, bist du verloren …<br />

<br />

Einige Kilometer entfernt war einige Zeit zuvor eine junge Frau kopflos über<br />

den Parkplatz des Supermarktes gerannte. Wo war Mutter bloß geblieben? Sie<br />

hatte doch nur an der Kasse schnell kehrt gemacht, weil sie etwas vergessen<br />

hatte, und ihrer Mutter eingeschärft, dort auf sie zu warten! Als der<br />

Einkaufswagen dann aber allein vor der Kasse stand, hatte sie sofort das Personal<br />

alarmiert, und zusammen hatten sie die Gänge nach der verschwundenen alten<br />

Dame abgesucht. Aber da war sie nirgends!<br />

3


„Der Parkplatz!“, schoss es Julia durch den Kopf, „Wenn Mutter nun raus<br />

gegangen ist und unser Auto nicht <strong>wie</strong>derfindet? Sie weiß doch meistens nicht,<br />

wo sie ist!“ Und so stürmte sie los, sprach alle Menschen an, die auf dem riesigen<br />

Parkplatz unterwegs waren. So verzweifelt wirkte sie, so eindringlich beschrieb<br />

sie das Aussehen ihrer Mutter, dass jeder ihr betroffen zuhörte. Aber niemand<br />

konnte sich an sie erinnern! Julia stiegen die Tränen in die Augen, als sie sich<br />

ausmalte, was der kleinen alten Frau, die so unselbständig war, alles passieren<br />

konnte. Orientierungslos, durchgefroren und voller Angst musste die Mama<br />

sein! Wenn es nur nicht noch schlimm ausging … Sie verbot sich, den<br />

aufkommenden Gedanken an einen Sturz oder einen Unfall nachzugehen. Nein,<br />

sie musste jetzt einen kühlen Kopf behalten! Die Polizei informieren! Ja, da war<br />

das nächste, was sie jetzt tun sollte!<br />

Der Beamte in dem Ein-Raum-Revier der kleinen Gemeinde hörte sich die<br />

ganze Geschichte an und meinte dann: „Ja, ich werde den Kollegen die<br />

Beschreibung durchgeben und sie anweisen, die Augen offen zu halten. Aber<br />

eine Vermisstenanzeige können wir jetzt noch nicht aufnehmen. Es ist doch<br />

gerade erst passiert! Vielleicht ist sie zu Bekannten gegangen, oder in ein<br />

anderes Geschäft. Warten Sie mal eine Weile, Ihre Mutter taucht bestimmt bald<br />

<strong>wie</strong>der auf! Außerdem habe ich gar nicht genug Leute, um eine gezielte<br />

Suchaktion zu starten.“ Und damit war die Angelegenheit für ihn erst mal<br />

erledigt.<br />

Julia schäumte vor Wut. War das tatsächlich alles, was die Polizei, dein Freund<br />

und Helfer, tat? Bei Verlassen des Reviers stieß sie mit zorniger Kraft ihren Fuß<br />

in einen zusammen geschobenen grauen Schneehaufen neben der Tür. Autsch,<br />

war das hart! Der schmutzige Matsch musste inzwischen gefroren sein, und ihr<br />

Fuß schmerzte nach dem Tritt, so dass sie nur humpelnd zum Auto zurück<br />

konnte. Schnaufend stieg sie ein und legte, von der Flut der verschiedenen<br />

Gefühle erschöpft, Arme und Kopf auf das Lenkrad. So blieb sie eine Weile sitzen,<br />

um <strong>wie</strong>der zu klarem Verstand zu kommen. Dann startete sie den Wagen und<br />

beschloss, zunächst einmal ganz langsam durch die Nebenstraßen um den<br />

Supermarkt zu fahren, in immer größeren Kreisen. Denn weit konnte ihre<br />

schwächliche, verwirrte Mama ja noch nicht gekommen sein!<br />

<br />

4


Im Wald war ein leichter Wind aufgekommen, und feiner Schnee wehte von<br />

den Bäumen. Walburga musste immer öfter anhalten, um sich auszuruhen, denn<br />

die dicke weiße Decke auf dem Waldboden machte das Gehen zur Qual. Ab und<br />

zu schaute sie dabei besorgt nach oben. Noch hatte kein neuer Schneefall<br />

eingesetzt … Aber der Himmel hing schwer und bleigrau über dem Wald.<br />

Sie hatte Angst. Angst, zu erfrieren, sobald sich die Dunkelheit und damit die<br />

Kälte über den Wald senken würden. Angst, sich total zu verlaufen, sollte es<br />

<strong>wie</strong>der schneien. Angst, hinzufallen, wenn die Dämmerung es schwerer machte,<br />

zu sehen, wohin sie die Füße setzte. Angst, den Mut und die Kraft zum<br />

Weitergehen zu verlieren. Angst, zu vergessen, was sie vorhatte!<br />

Es knirschte unter ihren Sohlen, als sie sich nach einer kleinen Pause<br />

weiterquälte. Jeder neue Schritt erschien ihr jetzt schwerer, nur noch<br />

automatisch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Das Denken, auch die<br />

<strong>Erinnerungen</strong>, hatten schon längst aufgehört. Geblieben war nur noch<br />

Verzagtheit! Bald schon war sie <strong>wie</strong>der außer Atmen von der Anstrengung und<br />

blieb stehen, um sich umzuschauen. Aber ein Ende des Waldes schien nicht in<br />

Sicht!<br />

Ein panischer Gedanke durchzuckte sie: „Vielleicht bin ich ja im Kreis<br />

gelaufen!“ Dann sah sie in einiger Entfernung eine mächtige Tanne vor sich,<br />

deren Zweige soweit auf den Boden herab hingen, dass darunter ein Kreis voll<br />

brauner Nadeln statt des all gegenwärtigen Schnees erkennbar war. Bis dorthin<br />

muss ich es schaffen! Da ist es ein wenig geschützt vor dem eisigen Wind, und<br />

von unten kommt auch nicht so viel Kälte hoch. Ja, da werde ich mich ein<br />

Weilchen ausruhen!<br />

Dieser Plan gab ihr neue Kraft, und sie stiefelte keuchend los. Als sie endlich<br />

unter der Tanne angekommen war, wickelte sie sich den breiten,<br />

selbstgestrickten Schal vom Hals, zog den Reißverschluss der Winterjacke ganz<br />

hoch bis zum Kinn und fummelte in ihrer großen altmodischen Handtasche<br />

herum, bis sie tatsächlich die Einkaufstüte aus Plastik gefunden hatte, nach der<br />

sie gesucht hatte. Dann legte sie die Tüte auf den braunen Waldboden, faltete<br />

den Schal ein paar Mal und packte ihn schließlich oben drauf. So, jetzt kann ich<br />

mich wenigstens hinsetzen und verschnaufen, bis ich Kraft zum Weitergehen<br />

habe, dachte sie erleichtert.<br />

Trostlos starrte sie von ihrem geschützten Plätzchen aus in das blendende<br />

Glitzern ein paar Meter weiter. Die Augen fingen bald an zu tränen, und der Blick<br />

5


egann zu verschwimmen. Schlaf bloß nicht ein, rief sie sich zur Ordnung und<br />

zwinkerte, um sich wach zu halten.<br />

Da! Bewegte ich da hinten bei den frostüberzogenen Birken nicht etwas?<br />

Walburga wischte sich die kalten Tränen aus den Augen und versuchte, genauer<br />

hinzuschauen. Kam da vielleicht Hilfe? Es konnte ja sein, dass ein Waldarbeiter<br />

hier draußen zu tun hatte!<br />

Aber aus dem sanft stiebenden Schnee trat kein Mensch heraus – sondern ein<br />

mächtiger weißer Hirsch mit ausladendem Geweih!<br />

Nein, das glaube ich jetzt nicht, dachte die alte Frau fassungslos. Rehe, Hirsche,<br />

ja, mit denen muss man wohl im Wald rechnen, aber ein weißer Hirsch …?<br />

Das schöne Tier blieb reglos stehen und sah zu ihr herüber. Wie gebannt<br />

betrachtete sie ihn. Vergessen waren Kälte und Angst. Stattdessen machten sich<br />

Faszination und <strong>Erinnerungen</strong> in ihr breit. Eine märchenhafte Geschichte ihrer<br />

Mutter erklang in ihr, die immer zur Thomasnacht erzählt wurde.<br />

„Du weißt ja, kleine Walli, dass dieser Nacht ein besonderer Zauber<br />

innewohnt! Die Geister des Lichts schwirren herum und vertreiben die Wesen<br />

der Dunkelheit, die sich vom Tag der Herbstsonnenwende an der Erde<br />

bemächtigt haben. Wenn du in der Dämmerung und erst recht in der Nacht mit<br />

reinem Herzen und voller Achtsamkeit durch die Natur gehst, kannst du hell<br />

schimmernde Elfen und strahlenumkränzte Feen sehen, die von unzähligen<br />

Glühwürmchen begleitet werden. Sie bereiten dem Licht den Weg. Die Zeit der<br />

Finsternis dauert nie ewig. Und ganz wenige auserwählte Menschen haben das<br />

Glück, dem König der Lichtgeister zu begegnen: dem schneeweißen Hirsch! Wer<br />

ihn sieht, der steht unter einem ganz besonderen Stern im Leben, und er darf<br />

sich vom König der Lichtwesen etwas wünschen. Also, meine Kleine, pass gut auf,<br />

wenn die Thomasnacht naht – und denke daran, der Natur und dem Leben<br />

immer die gebührende Achtung entgegen zu bringen …“<br />

Walli hatte verzückt an den Lippen ihrer Mutter gehangen, wenn sie diese<br />

Geschichte erzählte. Ach, <strong>wie</strong> hatte sie jedes Jahr als Kind darauf gewartet, all<br />

diese magischen Wesen zu erspähen! Manchmal war sie dann in der<br />

Thomasnacht ganz heimlich von daheim fort und in den Wald gelaufen in der<br />

Hoffnung, dem weißen Hirsch zu begegnen. Aber nie hatte sich diese Sehnsucht<br />

erfüllt! Geblieben jedoch war der Traum immer.<br />

Auf einmal zuckte Walburga zusammen und kam aus ihren <strong>Erinnerungen</strong><br />

<strong>wie</strong>der in die Wirklichkeit zurück. Wie lange mochte sie wohl geträumt haben?<br />

6


Es war schon etwas dunkler geworden, aber aus dem Z<strong>wie</strong>licht hob sich jetzt das<br />

weiße Tier umso deutlicher hervor. Ein Funkeln <strong>wie</strong> von silbernen Sternen schien<br />

ihn zu umgeben. Und der Hirsch schaute sie ganz direkt an!<br />

Bin ich vielleicht am Erfrieren? Da soll man doch Erscheinungen sehen…,<br />

durchfuhr es sie schreckhaft. Oder erfüllt sich mir jetzt, wo ich so alt geworden<br />

bin, mein Kindertraum? Kann es denn sein, dass die Geschichten meiner Mutter<br />

wirklich nicht nur einfach Märchen waren?<br />

Aufgeregt kratzte sie sich unter der Mütze in den Haaren und überlegte<br />

angestrengt, welcher Tag es denn wohl war. Ach, es war wirklich schlimm, wenn<br />

man so ein schlechtes Gedächtnis hatte! Aber plötzlich fiel ihr ein, dass ihre<br />

Tochter morgens gesagt hatte: „Mama, wir müssen beide zum Einkaufen, nur<br />

noch vier Tage, bis es Heilig Abend ist, und wir haben noch allerhand zu tun!“<br />

Ja, aber dann … dann ist ja heute die Thomasnacht, erkannte sie mit freudigem<br />

Staunen. Und eine heilige, ehrfurchtsvolle Stille durchströmte sie und erfüllte<br />

ihr Herz mit heimeliger Wärme. Auf einmal war in ihrer Welt alles ganz klar,<br />

wunderschön und leicht.<br />

Zunächst zögerte sie noch, denn so ganz traute sie sich nicht, aber dann nahm<br />

sie all ihren Mut zusammen und sprach den weißen Hirsch mit zittriger Stimme<br />

an: „Verzeih, wenn ich einfach so das Wort an dich richte, du König der<br />

Lichtwesen. Ich entbiete dir meinen respektvollen Gruß! Sag mir doch bitte eins<br />

nur: Bist du es wirklich? Ich habe schon viel von dir gehört und so lange auf dich<br />

gewartet…“<br />

Das prächtige Tier neigte erhaben seinen Kopf, senkte das Geweih <strong>wie</strong> zum<br />

Gruße und antwortete dem Menschenwesen: „Ja, Walburga, ich bin es! Ich<br />

kenne dich. Auch weiß ich genau, dass du als Kind ganz fest an mich geglaubt<br />

hast. Und ich habe auch mitbekommen, dass du diese Überzeugung an deine<br />

Enkel weitergegeben hast, so dass das alte Wissen um die magischen Kräfte des<br />

Lebens nicht verloren geht. Deshalb gewähre ich dir heute, in der<br />

geheimnisvollen Nacht der Wintersonnenwende, einen Wunsch! Zögere nicht,<br />

du darfst frei heraus sprechen!“<br />

Und so kam es dann, dass in eiskalter, sternenbeglänzter Nacht ein mystisch<br />

leuchtender weißer Hirsch mit einer alten Frau auf seinem Rücken durch den<br />

Winterwald schritt. Erst am Rande einer kleinen Wiese hielt er an und ließ seine<br />

Reiterin hinabgleiten. „So, meine liebe Walburga, die letzten Schritte schaffst du<br />

allein. Vor dir siehst du das Forsthaus. Dort bist du sicher! Ich bewundere deinen<br />

7


Mut und deine innere Kraft. So mancher hätte einfach aufgegeben! Und ich<br />

danke dir für deine lebenslange Treue zum alten Wissen, die dazu beiträgt, dass<br />

die Magie des Lebens und der Träume in dieser nüchternen Welt nicht ganz<br />

stirbt. Ich wünsche dir noch viele glückliche Tage. Und gib nie auf, was immer<br />

auch kommt! Egal, was die anderen sagen: du hast eine Seele voller Stärke und<br />

Liebe, deshalb möge der innere Frieden stets mit dir sein …“<br />

Nach diesen Worten drehte er sich um und verschwand in den grauen Schatten<br />

der Bäume.<br />

Walburga aber ging frohen Mutes zum Forsthaus und klopfte beherzt an die<br />

Tür. Ein zerfurchter, kräftiger Mann mit strubbeligen grauen Haaren, bekleidet<br />

mit einem Schlafanzug, öffnete ihr und starrte sie entgeistert an, was ja kein<br />

Wunder war, in tiefster Nacht und mitten im Wald!<br />

Als ihm, schlaftrunken, <strong>wie</strong> er war, klar wurde, <strong>wie</strong> durchgefroren die kleine<br />

Frau sein musste, die da so unerwartet bei ihm aufgetaucht war, zog er sie erst<br />

mal in die warme Stube. „Die kalten Sachen ziehen Sie wohl besser aus! Ich hole<br />

Ihnen den kuscheligen dicken Bademantel meiner Frau, die zurzeit bei unseren<br />

Kindern ist. Die Füße können Sie sie in ihre warmen Socken und Filzhausschuhe<br />

stecken. Dann gibt es erst mal einen schönen heißen Tee – wenn Sie mögen, auch<br />

gern mit einem Schuss Rum! Und dann, wenn Sie ein bisschen aufgetaut <strong>sind</strong>,<br />

bitte ich Sie um Ihre Geschichte. Ich bin ich wirklich sehr gespannt darauf, was<br />

Sie zu dieser Uhrzeit an meine Tür geführt hat!“<br />

Walburga fasste sofort Vertrauen zu diesem freundlichen Mann und nahm all<br />

seine Angebote dankbar an. Als beide schließlich gemütlich vor dem bollernden<br />

Kaminofen saßen und die zweite Tasse Tee mit Rum die Atmosphäre gelockert<br />

hatte, bekam der Förster eine für manch anderen Menschen unglaubliche<br />

Geschichte zu hören, denn Walburga erzählte ihm ihre Erlebnisse ohne Scheu.<br />

Aber der stämmige Mann, der brummig aussah <strong>wie</strong> ein Bär, war eben nicht <strong>wie</strong><br />

jeder andere! Er nickte hin und <strong>wie</strong>der bestätigend, als es um die Bedeutung und<br />

die Geheimnisse der Thomasnacht ging. Nicht einmal die wundersame<br />

Begegnung mit dem weißen Hirsch entlockte ihm eine ungläubige Reaktion.<br />

Als Walburga zum Ende ihrer Erzählung gekommen war und sich entspannt in<br />

den Sessel einkuschelte, murmelte er nur: „Ja, ich weiß über all das Bescheid! Ob<br />

Sie es mir glauben oder nicht, auch ich bin dem weißen Hirsch schon einmal<br />

begegnet. Aber ich habe zu niemandem etwas davon gesagt! Die meisten<br />

behandeln einen bei solchen Dingen ja doch nur, als sei man nicht ganz bei<br />

8


Verstand! Sie jedoch <strong>sind</strong> eine verwandte Seele, die auch das versteht, was<br />

hinter der „Normalität“ liegt, und deshalb wissen Sie es nun als Einzige.“<br />

Nach einer gewissen Zeit des Ausruhens schlug er seinem Gast vor, ihre Tochter,<br />

von der die alte Dame kurz gesprochen hatte, anzurufen. Walburga aber konnte<br />

sich nicht an deren Telefonnummer erinnern. Alles, was sich vor ihrem Erwachen<br />

in der Schneewehe abgespielt hatte, war <strong>wie</strong>der im weiten Meer des Vergessens<br />

versunken. Zum Glück fand der hilfsbereite Förster einen Zettel mit der Nummer<br />

in der Handtasche der inzwischen in ihre eigenen Welt abgetauchten Frau.<br />

Wenig später klopfte es erneut an die wuchtige alte Eichentür. Die völlig<br />

aufgelöste Julia stürmte herein und packte ihre Mutter bei den Schultern.<br />

„Mama! Mensch, was hast du denn <strong>wie</strong>der angestellt? Ich habe mir solche<br />

Sorgen gemacht! Und Helmut war auch fast wahnsinnig vor Angst um dich. Wir<br />

konnten ja nach unserer erfolglosen Suche nichts anderes mehr tun, als daheim<br />

zu warten und zu hoffen, dass dich jemand findet und zurück bringt! Wie<br />

konntest du bloß einfach ausreißen!“ Dann jedoch nahm sie ihre Mutter ganz<br />

fest in die Arme und streichelte ihr liebevoll übe die Haare.<br />

Als der Förster der jungen Frau die verkürzte Version von Walburgas<br />

winterlichem Abenteuer erzählte, wobei er selbstverständlich den Teil mit dem<br />

weißen Hirsch und der Thomasnacht ausließ, erklärte Julia ihm entschuldigend:<br />

„Meine Mutter leidet seit einiger Zeit an Demenz, es wird immer schlimmer.<br />

Vieles hat sie schon vergessen, selbst ihr Kurzzeitgedächtnis lässt nach. Dafür<br />

denkt sie sich aber gerne Sachen aus, die sie selbst für wahr hält. Manchmal weiß<br />

ich gar nicht, woran ich mit ihr bin. Leider verliert sie mehr und mehr den Bezug<br />

zur Wirklichkeit! Ich hoffe, sie hat Ihre Geduld nicht mit Fantasiegeschichten<br />

strapaziert.“<br />

Schweigend sah der Mann sie an, lächelte dann versonnen und brummelte:<br />

„Nein, Sie können beruhigt sein. Ihre Mutter hat mir keine Fantasiegeschichten<br />

erzählt …“<br />

Derweil saß die, um die es ging, entrückt strahlend im Sessel. Sie hatte einen<br />

Teil ihres Lebens, ihre Kindheit, zurückgeholt und damit das Licht und den<br />

Frieden für sich gefunden. Nun gab sie sich den kostbaren <strong>Erinnerungen</strong> hin,<br />

bevor auch diese vielleicht bald schmelzen würden <strong>wie</strong> <strong>Schneeflocken</strong> …<br />

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© Dezember 2016 Maruschya Markovic<br />

Coverelemente: www.pixabay.com<br />

Covergestaltung: Maruschya Markovic<br />

www.maruschyamarkov.jimdo.com<br />

https://www.facebook.com/Maruschya.Markovic.Autorin/<br />

https://www.amazon.de/Maruschya-<br />

Markovic/e/B00JIM6ILQ/ref=sr_ntt_srch_lnk_1?qid=1480973497&sr=8-1<br />

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