Erinnerungen sind wie Schneeflocken
Eine Geschichte zur Wintersonnenwende
Eine Geschichte zur Wintersonnenwende
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egann zu verschwimmen. Schlaf bloß nicht ein, rief sie sich zur Ordnung und<br />
zwinkerte, um sich wach zu halten.<br />
Da! Bewegte ich da hinten bei den frostüberzogenen Birken nicht etwas?<br />
Walburga wischte sich die kalten Tränen aus den Augen und versuchte, genauer<br />
hinzuschauen. Kam da vielleicht Hilfe? Es konnte ja sein, dass ein Waldarbeiter<br />
hier draußen zu tun hatte!<br />
Aber aus dem sanft stiebenden Schnee trat kein Mensch heraus – sondern ein<br />
mächtiger weißer Hirsch mit ausladendem Geweih!<br />
Nein, das glaube ich jetzt nicht, dachte die alte Frau fassungslos. Rehe, Hirsche,<br />
ja, mit denen muss man wohl im Wald rechnen, aber ein weißer Hirsch …?<br />
Das schöne Tier blieb reglos stehen und sah zu ihr herüber. Wie gebannt<br />
betrachtete sie ihn. Vergessen waren Kälte und Angst. Stattdessen machten sich<br />
Faszination und <strong>Erinnerungen</strong> in ihr breit. Eine märchenhafte Geschichte ihrer<br />
Mutter erklang in ihr, die immer zur Thomasnacht erzählt wurde.<br />
„Du weißt ja, kleine Walli, dass dieser Nacht ein besonderer Zauber<br />
innewohnt! Die Geister des Lichts schwirren herum und vertreiben die Wesen<br />
der Dunkelheit, die sich vom Tag der Herbstsonnenwende an der Erde<br />
bemächtigt haben. Wenn du in der Dämmerung und erst recht in der Nacht mit<br />
reinem Herzen und voller Achtsamkeit durch die Natur gehst, kannst du hell<br />
schimmernde Elfen und strahlenumkränzte Feen sehen, die von unzähligen<br />
Glühwürmchen begleitet werden. Sie bereiten dem Licht den Weg. Die Zeit der<br />
Finsternis dauert nie ewig. Und ganz wenige auserwählte Menschen haben das<br />
Glück, dem König der Lichtgeister zu begegnen: dem schneeweißen Hirsch! Wer<br />
ihn sieht, der steht unter einem ganz besonderen Stern im Leben, und er darf<br />
sich vom König der Lichtwesen etwas wünschen. Also, meine Kleine, pass gut auf,<br />
wenn die Thomasnacht naht – und denke daran, der Natur und dem Leben<br />
immer die gebührende Achtung entgegen zu bringen …“<br />
Walli hatte verzückt an den Lippen ihrer Mutter gehangen, wenn sie diese<br />
Geschichte erzählte. Ach, <strong>wie</strong> hatte sie jedes Jahr als Kind darauf gewartet, all<br />
diese magischen Wesen zu erspähen! Manchmal war sie dann in der<br />
Thomasnacht ganz heimlich von daheim fort und in den Wald gelaufen in der<br />
Hoffnung, dem weißen Hirsch zu begegnen. Aber nie hatte sich diese Sehnsucht<br />
erfüllt! Geblieben jedoch war der Traum immer.<br />
Auf einmal zuckte Walburga zusammen und kam aus ihren <strong>Erinnerungen</strong><br />
<strong>wie</strong>der in die Wirklichkeit zurück. Wie lange mochte sie wohl geträumt haben?<br />
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