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Erinnerungen sind wie Schneeflocken

Eine Geschichte zur Wintersonnenwende

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Es war schon etwas dunkler geworden, aber aus dem Z<strong>wie</strong>licht hob sich jetzt das<br />

weiße Tier umso deutlicher hervor. Ein Funkeln <strong>wie</strong> von silbernen Sternen schien<br />

ihn zu umgeben. Und der Hirsch schaute sie ganz direkt an!<br />

Bin ich vielleicht am Erfrieren? Da soll man doch Erscheinungen sehen…,<br />

durchfuhr es sie schreckhaft. Oder erfüllt sich mir jetzt, wo ich so alt geworden<br />

bin, mein Kindertraum? Kann es denn sein, dass die Geschichten meiner Mutter<br />

wirklich nicht nur einfach Märchen waren?<br />

Aufgeregt kratzte sie sich unter der Mütze in den Haaren und überlegte<br />

angestrengt, welcher Tag es denn wohl war. Ach, es war wirklich schlimm, wenn<br />

man so ein schlechtes Gedächtnis hatte! Aber plötzlich fiel ihr ein, dass ihre<br />

Tochter morgens gesagt hatte: „Mama, wir müssen beide zum Einkaufen, nur<br />

noch vier Tage, bis es Heilig Abend ist, und wir haben noch allerhand zu tun!“<br />

Ja, aber dann … dann ist ja heute die Thomasnacht, erkannte sie mit freudigem<br />

Staunen. Und eine heilige, ehrfurchtsvolle Stille durchströmte sie und erfüllte<br />

ihr Herz mit heimeliger Wärme. Auf einmal war in ihrer Welt alles ganz klar,<br />

wunderschön und leicht.<br />

Zunächst zögerte sie noch, denn so ganz traute sie sich nicht, aber dann nahm<br />

sie all ihren Mut zusammen und sprach den weißen Hirsch mit zittriger Stimme<br />

an: „Verzeih, wenn ich einfach so das Wort an dich richte, du König der<br />

Lichtwesen. Ich entbiete dir meinen respektvollen Gruß! Sag mir doch bitte eins<br />

nur: Bist du es wirklich? Ich habe schon viel von dir gehört und so lange auf dich<br />

gewartet…“<br />

Das prächtige Tier neigte erhaben seinen Kopf, senkte das Geweih <strong>wie</strong> zum<br />

Gruße und antwortete dem Menschenwesen: „Ja, Walburga, ich bin es! Ich<br />

kenne dich. Auch weiß ich genau, dass du als Kind ganz fest an mich geglaubt<br />

hast. Und ich habe auch mitbekommen, dass du diese Überzeugung an deine<br />

Enkel weitergegeben hast, so dass das alte Wissen um die magischen Kräfte des<br />

Lebens nicht verloren geht. Deshalb gewähre ich dir heute, in der<br />

geheimnisvollen Nacht der Wintersonnenwende, einen Wunsch! Zögere nicht,<br />

du darfst frei heraus sprechen!“<br />

Und so kam es dann, dass in eiskalter, sternenbeglänzter Nacht ein mystisch<br />

leuchtender weißer Hirsch mit einer alten Frau auf seinem Rücken durch den<br />

Winterwald schritt. Erst am Rande einer kleinen Wiese hielt er an und ließ seine<br />

Reiterin hinabgleiten. „So, meine liebe Walburga, die letzten Schritte schaffst du<br />

allein. Vor dir siehst du das Forsthaus. Dort bist du sicher! Ich bewundere deinen<br />

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