Erinnerungen sind wie Schneeflocken
Eine Geschichte zur Wintersonnenwende
Eine Geschichte zur Wintersonnenwende
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Verstand! Sie jedoch <strong>sind</strong> eine verwandte Seele, die auch das versteht, was<br />
hinter der „Normalität“ liegt, und deshalb wissen Sie es nun als Einzige.“<br />
Nach einer gewissen Zeit des Ausruhens schlug er seinem Gast vor, ihre Tochter,<br />
von der die alte Dame kurz gesprochen hatte, anzurufen. Walburga aber konnte<br />
sich nicht an deren Telefonnummer erinnern. Alles, was sich vor ihrem Erwachen<br />
in der Schneewehe abgespielt hatte, war <strong>wie</strong>der im weiten Meer des Vergessens<br />
versunken. Zum Glück fand der hilfsbereite Förster einen Zettel mit der Nummer<br />
in der Handtasche der inzwischen in ihre eigenen Welt abgetauchten Frau.<br />
Wenig später klopfte es erneut an die wuchtige alte Eichentür. Die völlig<br />
aufgelöste Julia stürmte herein und packte ihre Mutter bei den Schultern.<br />
„Mama! Mensch, was hast du denn <strong>wie</strong>der angestellt? Ich habe mir solche<br />
Sorgen gemacht! Und Helmut war auch fast wahnsinnig vor Angst um dich. Wir<br />
konnten ja nach unserer erfolglosen Suche nichts anderes mehr tun, als daheim<br />
zu warten und zu hoffen, dass dich jemand findet und zurück bringt! Wie<br />
konntest du bloß einfach ausreißen!“ Dann jedoch nahm sie ihre Mutter ganz<br />
fest in die Arme und streichelte ihr liebevoll übe die Haare.<br />
Als der Förster der jungen Frau die verkürzte Version von Walburgas<br />
winterlichem Abenteuer erzählte, wobei er selbstverständlich den Teil mit dem<br />
weißen Hirsch und der Thomasnacht ausließ, erklärte Julia ihm entschuldigend:<br />
„Meine Mutter leidet seit einiger Zeit an Demenz, es wird immer schlimmer.<br />
Vieles hat sie schon vergessen, selbst ihr Kurzzeitgedächtnis lässt nach. Dafür<br />
denkt sie sich aber gerne Sachen aus, die sie selbst für wahr hält. Manchmal weiß<br />
ich gar nicht, woran ich mit ihr bin. Leider verliert sie mehr und mehr den Bezug<br />
zur Wirklichkeit! Ich hoffe, sie hat Ihre Geduld nicht mit Fantasiegeschichten<br />
strapaziert.“<br />
Schweigend sah der Mann sie an, lächelte dann versonnen und brummelte:<br />
„Nein, Sie können beruhigt sein. Ihre Mutter hat mir keine Fantasiegeschichten<br />
erzählt …“<br />
Derweil saß die, um die es ging, entrückt strahlend im Sessel. Sie hatte einen<br />
Teil ihres Lebens, ihre Kindheit, zurückgeholt und damit das Licht und den<br />
Frieden für sich gefunden. Nun gab sie sich den kostbaren <strong>Erinnerungen</strong> hin,<br />
bevor auch diese vielleicht bald schmelzen würden <strong>wie</strong> <strong>Schneeflocken</strong> …<br />
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