Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>COMPACT</strong> <strong>Spezial</strong><br />
_ Editorial<br />
Der neue Faschismus<br />
Ist der Faschismus heutzutage nicht mehr braun,<br />
sondern rot? Die Linken aller Couleur bestreiten<br />
das wutentbrannt. Das ist logisch, denn andernfalls<br />
dürften sie nicht länger gegen AfD-Veranstaltungen<br />
randalieren, sondern müssten die Scheiben ihrer<br />
eigenen Büros einschmeißen. Aber ein nüchterner<br />
Blick in die Geschichtsbücher sollte sie eines Besseren<br />
belehren. Benito Mussolini, der den fascismo<br />
erfand, war bis zum Ersten Weltkrieg ein bekannter<br />
Politiker der Sozialistischen Partei und stand sogar<br />
auf deren radikalem Flügel. Adolf Hitler marschierte<br />
1919 für die Münchner Räterepublik. Joseph Goebbels<br />
träumte von einem «deutschen Lenin».<br />
Zwei bekannten Linken ist selbst aufgefallen,<br />
dass ihre Bewegung ein Janusgesicht hat. Der<br />
eine ist der britische Schriftsteller George Orwell.<br />
Begeistert kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg<br />
(1936 bis 1939) gegen Franco – bis er und seine<br />
trotzkistischen Freunde von Stalins Geheimpolizei<br />
verfolgt wurden. In der Animal Farm beschrieb<br />
er einen diktatorischen Schweinestall, wo einige<br />
Genossen gleicher als alle anderen sind. Seine Dystopie<br />
1984 entstand 1948, als die Regierung in London<br />
von der Labour Party übernommen worden war.<br />
Der totale Überwachungsstaat firmiert unter dem<br />
Etikett Engsoz – englischer Sozialismus. Der andere<br />
Kronzeuge ist der italienische Romancier Ignazio<br />
Silone, ein Anhänger der Kommunisten, von dem<br />
sein Gesprächspartner, der Schweizer Journalist<br />
François Bondy, den Satz überliefert hat: «Der neue<br />
Faschismus wird nicht sagen: Ich bin der Faschismus.<br />
Er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus.»<br />
Interessanterweise wird ein ähnliches Zitat – in<br />
unterschiedlichen Fassungen – auch von dem amerikanischen<br />
Senator Huebert Pierce Long übermittelt.<br />
Den Mann kennt hierzulande kaum jemand –<br />
in den USA ist er aber so bedeutend, dass ihm Hollywood<br />
2006 einen großen Spielfilm (deutsch: Das<br />
Spiel mit der Macht) mit Sean Penn widmete. Long<br />
war Anfang der 1930er Jahre einer der populärsten<br />
Politiker der Demokratischen Partei und unterstützte<br />
Franklin D. Roosevelt bei dessen erfolgreichem<br />
Kampf um das Weiße Haus. Aber der Widerspruch<br />
zwischen beiden hätte nicht größer sein<br />
können: Hier der Vertreter einer alten Geldaristokratie<br />
– dort der Selfmademan aus kleinsten Verhältnissen.<br />
Long war eine Mischung aus Bernie Sanders<br />
und Donald Trump, aus Sozialismus und Populismus,<br />
und avancierte dadurch zum Hauptfeind der<br />
Eliten. 1935 wurde er bei einem Attentat ermordet.<br />
In der Linken, auch in Deutschland, wurde der<br />
Faschismus-Vorwurf vorwiegend gegen republikanische<br />
Präsidenten gerichtet: Truman, Nixon, Reagan<br />
und die beiden Bushs waren in ihrer Geschichtserzählung<br />
Schurken, während ihnen Roosevelt, Kennedy,<br />
Clinton und Obama als Lichtgestalten oder<br />
zumindest kleinere Übel erschienen. Dieses Schema<br />
war schon immer zu simpel – immerhin führten die<br />
vermeintlich Progressiven mehr Kriege als die bösen<br />
Reaktionäre.<br />
Heute sieht man klarer: Der Kapitalismus wurde<br />
nach 1945 in allen westlichen Ländern von einer<br />
breiten Mehrheit getragen, denn sein Gewaltpotential<br />
richtete sich nur gegen Randgruppen und andere<br />
Kontinente. Konzentrationslager und Parteienverbote<br />
waren völlig unnötig. Nach dem Zusammenbruch<br />
des Sozialismus aber hat das System begonnen,<br />
sich selbst aufzufressen, und genau jenen braven<br />
Bürgern den Krieg erklärt, die ihm immer die<br />
Treue hielten: Im weltweiten Konkurrenzkampf sollen<br />
einheimische Arbeiter durch billige Zuwanderer<br />
ersetzt und die Sparguthaben des Mittelstandes<br />
geplündert werden. In ihrer Verzweiflung wenden<br />
sich die Menschen an die Einzigen, die eine Rückkehr<br />
zur guten alten Zeit versprechen: Le Pen, Strache,<br />
Trump – und die AfD. Wenn die Mehrheit zum<br />
Feind und die Demokratie zum Risiko wird – bleibt<br />
dem System dann etwas anderes als der Faschismus,<br />
am besten rot lackiert?<br />
Chefredakteur Jürgen Elsässer.<br />
Foto: Jörg Gründler<br />
3