COMPACT-Edition 1
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Ausgabe Nr. 1 | 8,80 EUR (D) · www.compact-online.de<br />
Wladimir<br />
Putin<br />
Reden an die<br />
Deutschen<br />
9,90 Euro (A), 13 sFr (CH)<br />
Herausgegeben<br />
von Jürgen Elsässer<br />
und Yasmine Pazio<br />
Vom Selbstbestimmungsrecht gegen die Neue Weltordnung.<br />
Was der russische Präsident wirklich sagte – Originaltexte von 2001 bis 2014.
Das Magazin für Souveränität<br />
Unabhängig, investigativ, knallhart recherchiert.<br />
Unser Prinzip? Offenheit statt Political Correctness!<br />
Denn die Zeit der Dogmen und Denkverbote ist vorbei.<br />
Uns geht es um die Wahrheit. Was verboten ist, macht<br />
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Inhalt<br />
9<br />
18<br />
20<br />
22<br />
34<br />
44<br />
55<br />
59<br />
71<br />
87<br />
94<br />
109<br />
119<br />
«Russland hatte gegenüber Deutschland immer<br />
besondere Gefühle»<br />
Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001<br />
«Der Geist von Rapallo»<br />
Grußworte auf dem Petersburger Forum<br />
am 8. April 2002 in Weimar<br />
«Für eine politische Lösung des Irak-Konfliktes»<br />
Grußworte auf dem Petersburger Forum<br />
am 10. April 2003 in St. Petersburg<br />
«Mit Demokratie hat dies nichts gemein»<br />
Rede auf der Sicherheitskonferenz in München<br />
am 10. Februar 2007<br />
«Gute Beziehungen zu Frau Merkel»<br />
Pressekonferenz während des G8-Gipfels<br />
in Heiligendamm am 6. Juni 2007<br />
«Von unseren amerikanischen Freunden provoziert»<br />
Nach dem Georgien-Krieg: ARD-Interview am 29. August 2008<br />
«Wir dürfen keinerlei Fakten verschweigen»<br />
Rede zum Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkrieges<br />
in Polen am 1. September 2009<br />
«Es darf kein Chaos zugelassen werden!»<br />
ARD-Interview am 8. April 2013<br />
«Die Identitäten der Völker erhalten»<br />
Rede auf dem Valdai-Forum am 19. September 2013<br />
«Das wäre eine humanitäre Mission»<br />
Nach dem Umsturz in Kiew: Rede am 4. März 2014<br />
«Das Volk ist die Quelle einer jeden Macht»<br />
Rede nach dem Referendum auf der Krim am 18. März 2014<br />
«Den Menschen helfen, ihre Rechte zu verteidigen»<br />
Zur Lage in der Ostukraine: Fernsehdiskussion am 17. April 2014<br />
«300.000 Jobs wurden in Deutschland durch die<br />
Zusammenarbeit mit uns geschaffen»<br />
Zur Zukunft der Energiekooperation:<br />
Internationale Pressekonferenz am 24. Mai 2014
Best of Putin _ Zitate<br />
4<br />
«Russland hegte gegenüber Deutschland<br />
immer besondere Gefühle. Wir haben<br />
Ihr Land immer als ein bedeutendes Zentrum<br />
der europäischen und der Weltkultur<br />
behandelt.» – Rede vor dem Deutschen Bundestag,<br />
25. September 2001.<br />
«Beim Bau eines neuen Europa spielen<br />
die russisch-deutschen Beziehungen die<br />
Rolle eines Gerüstes, und zwar insofern,<br />
als sie sich stets in die europäischen Präferenzen<br />
gefügt haben. Denken wir etwa an<br />
den Rapallo-Vertrag, dessen 80. Jahrestag<br />
wir in einer Woche feiern werden.» – Grußwort<br />
für den Petersburger Dialog, 10. April 2003.<br />
«Russland verhandelt nicht mit Terroristen.<br />
Es vernichtet sie.» – Nach dem Anschlag<br />
auf die Moskauer U-Bahn, 6. Februar 2004.<br />
«Wir sind der Ansicht, dass Versuche,<br />
die von Gott gegebene Vielfalt der modernen<br />
Zivilisation dem Kasernenprinzip<br />
der monopolaren Welt zu unterwerfen,<br />
eine große Gefahr in sich bergen.» – Beim<br />
Staatsbesuch in Indien, 13. Dezember 2004.<br />
«Die Leute in Russland sagen, wer den<br />
Zusammenbruch der Sowjetunion nicht<br />
bedauert, hat kein Herz, und wer ihn bedauert,<br />
hat keinen Verstand.» – Interview<br />
mit ARD und ZDF, 5. Mai 2005.<br />
«Es gibt seit dem Tod Mahatma Gandhis<br />
niemanden, mit dem ich reden könnte.»<br />
– Pressekonferenz während des G8-Gipfels,<br />
6. Juni 2007.<br />
«Ich stehe dem positiv gegenüber.» –<br />
Auf die Frage nach einer EU-Mitgliedschaft der<br />
Ukraine. Ebenda.<br />
«Was für eine Wahl haben wir? Zwischen<br />
Wurst und Leben. Wir wählen das<br />
Leben!» – Die Wurst bezeichnet gute wirtschaftliche<br />
Beziehungen zum Westen. ARD-<br />
Interview, 29. August 2008.<br />
«Wir dürfen keinerlei Fakten verschweigen.»<br />
– Rede zum 70. Jahrestag des Beginns<br />
des Zweiten Weltkrieges, 1. September 2009.<br />
«Es ist auch höchste Zeit, damit aufzuhören,<br />
unsere Geschichte nur auf das<br />
Schlechte zu reduzieren. Wir beschimpfen<br />
uns teilweise sogar schlimmer als unsere<br />
Gegner es je tun würden.» – Rede auf dem<br />
Valdai-Forum, 19. September 2013.<br />
«Russland hat keine Gesetze zum<br />
Schikanieren sexueller Minderheiten.» –<br />
Ebenda.<br />
«Unser Land hat (...) das aufrichtige<br />
und unaufhaltsame Streben der Deutschen<br />
nach nationaler Einheit eindeutig<br />
unterstützt. Ich bin mir sicher, dass Sie das<br />
nicht vergessen haben, und rechne damit,<br />
dass die Menschen in Deutschland ebenso<br />
auch das Bestreben der russischen Welt,<br />
des historischen Russland nach Wiedererrichtung<br />
der Einheit unterstützen.» – Rede<br />
nach dem Beitritt der Krim zur Russischen Föderation,<br />
18. März 2014.
«Sowohl bei meinem Vater wie bei meiner Mutter gab es viele Kriegstote in der Familie.<br />
Fast die Hälfte ihrer Brüder und Schwestern wurden getötet. Eines ihrer Kinder starb während<br />
der Blockade von Leningrad. Mein Vater überlebte nur, weil er an der Front verwundet<br />
wurde. Und trotz alldem blieb kein Hass in unseren Herzen gegenüber dem deutschen<br />
Volk an sich zurück.»<br />
Interview mit ARD und ZDF im Mai 2005<br />
5
1958<br />
Putin mit seiner Mutter.<br />
Foto: kremlin.ru<br />
ca. 1965<br />
Putin als Schüler.<br />
Foto: kremlin.ru<br />
ca. 1980<br />
In KGB-Uniform.<br />
Foto: kremlin.ru<br />
ca. 1991<br />
Mit KPdSU-Parteichef<br />
Michael Gorbatschow.<br />
Foto: kremlin.ru<br />
1999<br />
Als FSB-Direktor mit Präsident Boris Jelzin.<br />
Foto: kremlin.ru<br />
6
2000<br />
Im Hawaiihemd mit Gerhard Schröder<br />
während einer Sitzungspause.<br />
Foto: Julia Fassbender, Bundesarchiv<br />
2002<br />
Mit Bundeskanzler Gerhard Schröder<br />
vor einer Ehrenformation der Bundeswehr.<br />
Foto: Bernd Kühler, Bundesarchiv<br />
2000<br />
Mit der damaligen CDU-Vorsitzenden<br />
Angela Merkel.<br />
Foto: Rolf Schulten, Bundesarchiv<br />
2007<br />
Rede vor dem Kreml, im Vorfeld<br />
des G8-Gipfels.<br />
Foto: Wikimedia Commons; CCL<br />
7
2012<br />
Besuch in der Grabeskirche in Jerusalem.<br />
Foto: kremlin.ru<br />
2005<br />
Putin im Cockpit eines Strategischen Bombers auf<br />
dem Charkalowski Fliegerhorst im Moskauer Gebiet.<br />
Foto: kremlin.ru<br />
8<br />
2005<br />
An Bord des Kreuzers Peter der Große<br />
während eines Manövers der Nordflotte.<br />
Foto: Pressedienst der Präsidialkanzlei; CC BY-SA 3.0<br />
2008<br />
Putin betäubt einen Tiger<br />
im Naturschutzgebiet Primorsky Krai.<br />
Foto: Premier.gov.ru; CC BY-SA 3.0
«Russland hatte gegenüber<br />
Deutschland immer<br />
besondere Gefühle»<br />
_ Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001<br />
Wladimir Putin hielt als erstes russisches Staatsoberhaupt eine Rede im Deutschen<br />
Bundestag. Er sprach fast durchgehend auf deutsch.<br />
Sehr geehrter Herr Präsident. Sehr geehrter Herr Bundeskanzler. Meine sehr geehrten<br />
Damen und Herren!<br />
Ich bin aufrichtig dankbar für die Gelegenheit, hier im Bundestag zu Ihnen zu sprechen.<br />
Es ist das erste Mal in der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, dass<br />
ein russisches Staatsoberhaupt in diesem Hohen Hause auftritt. Diese Ehre, die mir<br />
heute zuteil geworden ist, bestätigt das Interesse Russlands und Deutschlands am gegenseitigen<br />
Dialog.<br />
Ich bin gerührt, dass ich über die deutsch-russischen Beziehungen sprechen kann,<br />
über die Entwicklung meines Landes sowie des vereinigten Europas und über die Probleme<br />
der internationalen Sicherheit – gerade hier in Berlin, in einer Stadt mit einem so<br />
komplizierten Schicksal. Diese Stadt ist in der jüngsten Geschichte der Menschheit mehrmals<br />
zum Zentrum der Konfrontation, beinahe mit der ganzen Welt, geworden. Selbst in<br />
der schlimmsten Zeit, noch nicht einmal in den schweren Jahren der Hitler-Tyrannei, ist<br />
es aber nicht gelungen, in dieser Stadt den Geist der Freiheit und des Humanismus, für<br />
den Lessing und Wilhelm von Humboldt den Grundstein gelegt haben, auszulöschen.<br />
In unserem Lande wird das Andenken an die antifaschistischen Helden sehr gepflegt.<br />
Russland hegte gegenüber Deutschland immer besondere Gefühle. Wir haben Ihr Land<br />
immer als ein bedeutendes Zentrum der europäischen und der Weltkultur behandelt,<br />
für deren Entwicklung auch Russland viel geleistet hat. Kultur hat nie Grenzen gekannt.<br />
Kultur war immer unser gemeinsames Gut und hat die Völker verbunden. Heute erlaube<br />
ich mir die Kühnheit, einen großen Teil meiner Ansprache in der Sprache von Goethe,<br />
Schiller und Kant, in der deutschen Sprache, zu halten.<br />
Weiter auf deutsch<br />
9
3. Oktober 1990: Die deutsche Teilung ist zu Ende. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-1003-400 / Grimm,<br />
Peer; CC-BY-SA<br />
Sehr geehrte Damen und Herren, soeben sprach ich von der Einheit der europäischen<br />
Kultur. Dennoch konnte auch diese Einheit den Ausbruch zweier schrecklicher Kriege<br />
auf diesem Kontinent im letzten Jahrhundert nicht verhindern. Sie verhinderte ebenfalls<br />
nicht die Errichtung der Berliner Mauer, die zum unheilvollen Symbol der tiefen Spaltung<br />
Europas wurde. Die Berliner Mauer existiert nicht mehr; sie ist vernichtet. Es wäre angebracht,<br />
sich heute daran zu erinnern, wie es dazu gekommen ist. Ich bin mir sicher, dass<br />
großartige Veränderungen in Europa, in der ehemaligen Sowjetunion und in der Welt<br />
ohne bestimmte Voraussetzungen nicht möglich gewesen wären. Ich denke dabei an die<br />
Ereignisse, die in Russland vor zehn Jahren stattgefunden haben. Diese Ereignisse sind<br />
wichtig, um zu begreifen, was bei uns vor sich gegangen ist und was man von Russland<br />
in der Zukunft erwarten kann.<br />
Die Antwort ist eigentlich einfach: Unter der Wirkung der Entwicklungsgesetze der<br />
Informationsgesellschaft konnte die totalitäre stalinistische Ideologie den Ideen der<br />
Demokratie und der Freiheit nicht mehr gerecht werden. Der Geist dieser Ideen ergriff<br />
die überwiegende Mehrheit der russischen Bürger. Gerade die politische Entscheidung<br />
des russischen Volkes ermöglichte es der ehemaligen Führung der UdSSR, diejenigen<br />
Beschlüsse zu fassen, die letzten Endes zum Abriss der Berliner Mauer geführt haben.<br />
Gerade diese Entscheidung erweiterte mehrfach die Grenzen des europäischen Humanismus,<br />
sodass wir behaupten können, dass niemand Russland jemals wieder in die<br />
Vergangenheit zurückführen kann.<br />
10<br />
Was die europäische Integration betrifft, so unterstützen wir nicht einfach nur diese<br />
Prozesse, sondern sehen sie mit Hoffnung. Wir tun das als ein Volk, das gute Lehren aus
Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001<br />
dem Kalten Krieg und aus der verderblichen Okkupationsideologie gezogen hat. Aber<br />
hier – so vermute ich – wäre es angebracht, hinzuzufügen: Auch Europa hat keinen<br />
Gewinn aus dieser Spaltung gezogen. Ich bin der festen Meinung: In der heutigen sich<br />
schnell ändernden Welt, in der wahrhaft dramatische Wandlungen in Bezug auf die Demografie<br />
und ein ungewöhnlich großes Wirtschaftswachstum in einigen Weltregionen<br />
zu beobachten sind, ist auch Europa unmittelbar an der Weiterentwicklung des Verhältnisses<br />
zu Russland interessiert.<br />
Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten<br />
Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger<br />
Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen<br />
Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen<br />
sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen<br />
wird. Die ersten Schritte in diese Richtung haben wir schon gemeinsam gemacht. Jetzt<br />
ist es an der Zeit, daran zu denken, was zu tun ist, damit das einheitliche und sichere<br />
Europa zum Vorboten einer einheitlichen und sicheren Welt wird.<br />
Zusammen für den Frieden<br />
Sehr geehrte Damen und Herren, im Sicherheitsbereich haben wir in den letzten<br />
Jahren viel erreicht. Das Sicherheitssystem, welches wir in den vergangenen Jahrzehnten<br />
geschaffen haben, wurde verbessert. Eine der Errungenschaften des vergangenen<br />
Jahrzehnts war die beispiellos niedrige Konzentration von Streitkräften und Waffen in<br />
Mitteleuropa und in der baltischen Region. Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches<br />
Land. Für unser Land, das ein Jahrhundert der Kriegskatastrophen durchgemacht<br />
hat, ist der stabile Frieden auf dem Kontinent das Hauptziel. Wie bekannt, haben wir<br />
den Vertrag über das allgemeine Verbot von Atomtests, den Vertrag über die Nichtverbreitung<br />
von Kernwaffen, die Konvention über das Verbot von biologischen Waffen<br />
sowie das START-II-Abkommen ratifiziert.<br />
Leider folgten nicht alle NATO-Länder unserem Beispiel. Da wir angefangen haben,<br />
von der Sicherheit zu sprechen, müssen wir uns zuerst klarmachen, vor wem und wie<br />
wir uns schützen müssen. In diesem Zusammenhang kann ich die Katastrophe, die am<br />
11. September in den Vereinigten Staaten geschehen ist, nicht unerwähnt lassen. Menschen<br />
in der ganzen Welt fragen sich, wie es dazu kommen konnte und wer daran schuld<br />
ist. Ich möchte diese Fragen beantworten. Ich finde, dass wir alle daran schuld sind, vor<br />
allem wir, die Politiker, denen einfache Bürger in unseren Staaten ihre Sicherheit anvertraut<br />
haben. Die Katastrophe geschah vor allem darum, weil wir es immer noch nicht geschafft<br />
haben, die Veränderungen zu erkennen, die in der Welt in den letzten zehn Jahren<br />
stattgefunden haben. Wir leben weiterhin im alten Wertesystem. Wir sprechen von<br />
einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander<br />
11
«Russland hatte gegenüber Deutschland immer besondere Gefühle»<br />
zu vertrauen. Trotz der vielen süßen Reden leisten wir weiterhin heimlich Widerstand.<br />
Mal verlangen wir Loyalität zur NATO, mal streiten wir uns über die Zweckmäßigkeit ihrer<br />
Ausbreitung. Wir können uns immer noch nicht über die Probleme im Zusammenhang<br />
mit dem Raketenabwehrsystem einigen und so weiter. Tatsächlich lebte die Welt im<br />
Laufe vieler Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts unter den Bedingungen der Konfrontation<br />
zweier Systeme, welche die ganze Menschheit mehrmals fast vernichtet hätte. Das war<br />
so furchterregend und wir haben uns so daran gewöhnt, in diesem Count-Down-System<br />
zu leben, dass wir die heutigen Veränderungen in der Welt immer noch nicht verstehen<br />
können, als ob wir nicht bemerken würden, dass die Welt nicht mehr in zwei feindliche<br />
Lager geteilt ist. Die Welt ist sehr viel komplizierter geworden.<br />
Wir wollen oder können nicht erkennen, dass die Sicherheitsstruktur, die wir in den<br />
vorigen Jahrzehnten geschaffen haben und welche die alten Bedrohungen effektiv neutralisierte,<br />
heute nicht mehr in der Lage ist, den neuen Bedrohungen zu widerstehen. Oft<br />
streiten wir uns weiterhin über Fragen, die unserer Meinung nach noch wichtig sind.<br />
Wahrscheinlich sind sie noch wichtig. Aber währenddessen erkennen wir die neuen<br />
realen Bedrohungen nicht und übersehen die Möglichkeit von Anschlägen und von was<br />
für brutalen Anschlägen! Infolge von Explosionen bewohnter Häuser in Moskau und in<br />
anderen großen Städten Russlands kamen Hunderte friedlicher Menschen ums Leben.<br />
Religiöse Fanatiker begannen einen unverschämten und großräumigen bewaffneten<br />
Angriff auf die benachbarte Republik Dagestan, nachdem sie die Macht in Tschetschenien<br />
ergriffen und einfache Bürger zu Geiseln gemacht hatten. Internationale Terroristen<br />
haben offen – ganz offen – ihre Absichten über die Schaffung eines neuen fundamentalistischen<br />
Staates zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer angekündigt, des<br />
sogenannten Kalifat oder der Vereinigten Staaten des Islam. Ich will gleich hervorheben:<br />
Ich finde es unzulässig, über einen Zivilisationskrieg zu sprechen. Fehlerhaft wäre es,<br />
ein Gleichheitszeichen zwischen Moslems im Generellen und religiösen Fanatikern zu<br />
setzen.<br />
Bei uns zum Beispiel sagte man im Jahre 1999: Die Niederlage der Aggressoren<br />
beruht auf der mutigen und harten Antwort der Bewohner Dagestans, und die sind zu<br />
100 Prozent Moslems. Kurz vor meiner Abfahrt nach Berlin habe ich mich mit den geistlichen<br />
Führern der Moslems in Russland getroffen. Sie haben die Initiative ergriffen und<br />
eine internationale Konferenz in Moskau unter der Losung durchgeführt: «Islam gegen<br />
Terror». Ich finde, wir sollten diese Initiative unterstützen.<br />
12<br />
Globale Probleme gemeinsam lösen<br />
Heutzutage verschärfen sich nicht nur die Probleme, die wir schon kennen, sondern<br />
es entstehen auch neue Gefahren. In der Tat baut Russland zusammen mit einigen GUS-
Die Berliner Mauer symbolisierte die Blockkonfrontation in Europa. Foto: SSGT F. Lee Corkran|Public Domain<br />
Ländern eine reale Barriere gegen Drogenschmuggel, organisiertes Verbrechen und<br />
Fundamentalismus aus Afghanistan wie auch aus Zentralasien und dem Kaukasus in<br />
Richtung Europa auf. Terrorismus, nationaler Hass, Separatismus und religiöser Extremismus<br />
haben überall dieselben Wurzeln und bringen dieselben giftigen Früchte hervor.<br />
Darum sollten auch die Kampfmittel gegen diese Probleme universal sein.<br />
Aber zuerst sollten wir uns in einigen grundlegenden Fragen einigen. Wir sollten uns<br />
nicht scheuen, die Probleme beim Namen zu nennen. Sehr wichtig ist es, zu begreifen,<br />
dass Untaten politischen Zielen nicht dienen können, wie gut diese Ziele auch sein<br />
mögen. Natürlich soll das Böse bestraft werden; ich bin damit einverstanden. Doch wir<br />
müssen verstehen, dass Gegenschläge den vollständigen, zielstrebigen und gut koordinierten<br />
Kampf gegen den Terrorismus nicht ersetzen können. In diesem Sinne bin ich voll<br />
und ganz mit dem amerikanischen Präsidenten einverstanden.<br />
Ich bin der Meinung, dass die Bereitschaft unserer Partner, gemeinsam Kräfte zu bündeln,<br />
um diese realen Gefahren, die nicht erdacht sind, zu bekämpfen, zeigt, wie ernst<br />
und zuverlässig unsere Partner sind. Diese Gefahren können von fernen Grenzen unseres<br />
Kontinents in die Mitte des Herzens von Europa stechen. Ich habe schon mehrmals<br />
darüber gesprochen. Aber nach den Ereignissen in den USA brauche ich es nicht mehr<br />
zu beweisen. Was fehlt heute, um zu einer effektiven Zusammenarbeit zu gelangen?<br />
Trotz allem Positiven, das in den vergangenen Jahrzehnten erreicht wurde, haben<br />
wir es bisher nicht geschafft, einen effektiven Mechanismus der Zusammenarbeit auszuarbeiten.<br />
Die bisher ausgebauten Koordinationsorgane geben Russland keine realen<br />
Möglichkeiten, bei der Vorbereitung der Beschlussfassung mitzuwirken. Heutzutage<br />
werden Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden dann<br />
13
DDR-Bereitschaftspolizisten überwachen die Öffnung des Brandenburger Tores im Dezember 1989.<br />
Foto: SSGT F. Lee Corkran<br />
nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen. Dann spricht man wieder von der Loyalität<br />
gegenüber der NATO. Es wird sogar gesagt, ohne Russland sei es unmöglich, diese<br />
Entscheidungen zu verwirklichen. Wir sollten uns fragen, ob das normal ist, ob das eine<br />
echte Partnerschaft ist. Die Verwirklichung demokratischer Prinzipien in den internationalen<br />
Beziehungen, die Fähigkeit, richtige Beschlüsse zu fassen, und die Bereitschaft zu<br />
einem Kompromiss, das ist eine schwierige Sache. Es waren aber ausgerechnet Europäer,<br />
die als Erste verstanden haben, wie wichtig es ist, nach einheitlichen Beschlüssen<br />
zu suchen und nationalen Egoismus zu überwinden. Wir sind einverstanden; dies sind<br />
gute Ideen. Die Qualität der Beschlussfassungen, deren Effizienz und letzten Endes die<br />
europäische und die internationale Sicherheit hängen im Großen und Ganzen davon<br />
ab, inwiefern wir diese klaren Grundsätze heute in praktische Politik umsetzen können.<br />
Noch vor kurzem schien es so, als würde auf dem Kontinent bald ein richtiges gemeinsames<br />
Haus entstehen, in welchem Europäer nicht in östliche und westliche, in<br />
nördliche und südliche geteilt werden. Solche Trennungslinien bleiben aber erhalten,<br />
und zwar deswegen, weil wir uns bis jetzt noch nicht endgültig von vielen Stereotypen<br />
und ideologischen Klischees des Kalten Krieges befreit haben. Heute müssen wir mit<br />
Bestimmtheit und endgültig erklären: Der Kalte Krieg ist vorbei!<br />
14<br />
Die Welt befindet sich in einer neuen Etappe ihrer Entwicklung. Wir verstehen: Ohne<br />
eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen<br />
wir auf diesem Kontinent nie ein Vertrauensklima und ohne dieses Vertrauensklima ist
Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001<br />
kein einheitliches Großeuropa möglich. Heute sind wir verpflichtet, zu sagen, dass wir<br />
uns von unseren Stereotypen und Ambitionen trennen sollten, um die Sicherheit der<br />
Bevölkerung Europas und die der ganzen Welt zusammen zu gewährleisten.<br />
Propaganda über Russland<br />
Liebe Freunde, Gott sei Dank wird Russland in Europa heutzutage nicht nur im Zusammenhang<br />
mit Oligarchen, Korruption und Mafia erwähnt. Aber nach wie vor herrscht<br />
ein großer Mangel an objektiver Information über Russland. Ich kann mit Zuversicht<br />
sagen: Das Hauptziel der Innenpolitik Russlands ist vor allem die Gewährleistung der<br />
demokratischen Rechte und der Freiheit, die Verbesserung des Lebensstandards und der<br />
Sicherheit des Volkes.<br />
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich einen Rückblick auf die<br />
jüngsten Ereignisse werfen: Russland ist den schmerzhaften Weg der Reformen gegangen.<br />
Zu den Maßstäben und Aufgaben, die wir zu lösen hatten, gibt es in der Geschichte<br />
keine Analogien. Natürlich wurden viele Fehler gemacht. Nicht alle Probleme<br />
sind gelöst. Aber zurzeit ist Russland ein äußerst dynamischer Teil des europäischen<br />
Kontinents. Dabei ist das Wort «dynamisch» nicht nur im politischen, sondern auch im<br />
wirtschaftlichen Sinne gemeint, was besonders hoffnungsvoll zu sein scheint.<br />
Die politische Stabilität in Russland wird dank mehrerer Wirtschaftsfaktoren sichergestellt,<br />
nicht zuletzt auch dank eines der liberalsten Steuersysteme in der Welt. Mit einer<br />
Einkommensteuer von 13 Prozent und einer Gewinnsteuer von 24 Prozent ist das wirklich<br />
so. Das Wirtschaftswachstum betrug im vorigen Jahr 8,3 Prozent. Für dieses Jahr ging<br />
man von nur 4 Prozent aus. Herauskommen wird höchstwahrscheinlich ein Wachstum<br />
von ungefähr 6 Prozent; sagen wir 5,5 beziehungsweise 5,7 Prozent, mal sehen.<br />
Gleichzeitig bin ich davon überzeugt: Nur eine umfangreiche und gleichberechtigte<br />
gesamteuropäische Zusammenarbeit kann einen qualitativen Fortschritt bei der Lösung<br />
solcher Probleme wie Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung und vieler anderer bewirken.<br />
Wir sind auf eine enge Handels- und Wirtschaftszusammenarbeit eingestellt. Wir<br />
haben die Absicht, in unmittelbarer Zukunft zum Mitglied der Welthandelsorganisation<br />
zu werden. Wir rechnen damit, dass uns die internationalen und die europäischen Organisationen<br />
dabei unterstützen.<br />
Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf solche Dinge lenken, die Sie als Abgeordnete<br />
dieses Parlamentes sicher besser einschätzen können und die nicht in den Bereich der<br />
Propaganda gehören. Im Grunde genommen hat sich in unserem Staat ein Prioritätenund<br />
Wertewandel vollzogen. Im Haushalt 2002 nehmen die Sozialausgaben den ersten<br />
Platz ein. Ich möchte besonders betonen, dass zum ersten Mal in der Geschichte Russlands<br />
die Ausbildungsausgaben die Verteidigungsausgaben übertreffen.<br />
15
«Russland hatte gegenüber Deutschland immer besondere Gefühle»<br />
Deutschland und Russland<br />
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir, ein paar Worte zu den deutschrussischen<br />
Beziehungen zu sagen – ich möchte das gesondert betrachten –: Die russisch-deutschen<br />
Beziehungen sind ebenso alt wie unsere Länder. Die ersten Germanen<br />
erschienen Ende des ersten Jahrhunderts in Russland. Am Ende des 19. Jahrhunderts<br />
lag die Zahl der Deutschen in Russland an neunter Stelle. Aber nicht nur die Zahl ist<br />
wichtig, sondern natürlich auch die Rolle, die diese Menschen in der Landesentwicklung<br />
und im deutsch-russischen Verhältnis gespielt haben: Das waren Bauern, Kaufleute, die<br />
Intelligenz, das Militär und die Politiker.<br />
«Zwischen Russland und Amerika liegen Ozeane. Zwischen Russland und Deutschland<br />
liegt die große Geschichte.» Das schrieb der deutsche Historiker Michael Stürmer.<br />
Ich möchte dazu feststellen, dass die Geschichte genauso wie die Ozeane nicht nur<br />
trennt, sondern auch verbindet. Es ist wichtig, diese Geschichte richtig zu deuten. Wie<br />
ein guter westlicher Nachbar verkörperte Deutschland für Russen oft Europa, die europäische<br />
Kultur, das technische Denkvermögen und kaufmännisches Geschick.<br />
Nicht zufällig wurden früher alle Europäer in Russland Deutsche genannt, die europäische<br />
Siedlung in Moskau zum Beispiel «deutscher Vorort». Natürlich war der kulturelle<br />
Einfluss beider Völker gegenseitig. Viele Generationen von Deutschen und Russen<br />
studierten und genießen auch heute Werke von Goethe, Dostojewskij und Leo Tolstoj.<br />
Unsere beiden Völker verstehen die Mentalität des jeweils anderen Volkes sehr gut. Ein<br />
gutes Beispiel dafür sind fabelhafte russische Übersetzungen deutscher Autoren. Diese<br />
sind sehr nahe an den Texten, erhalten den Rhythmus, die Stimmung und die Schönheit<br />
der Originale. Boris Pasternaks Übersetzung des Faust ist in diesem Zusammenhang zu<br />
erwähnen.<br />
Für viele Deutsche symbolisierte Michael Gorbatschow das Ende von Mauer und Teilung.<br />
Foto: Boris Babanov; RIA Nowosti; CC BY-SA 3.0<br />
16
Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001<br />
Meine Damen und Herren, in unserer gemeinsamen Geschichte hatten wir verschiedene<br />
Seiten, manchmal auch schmerzhafte, besonders im 20. Jahrhundert. Aber früher<br />
waren wir sehr oft Verbündete. Die Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern<br />
wurden immer durch enge Abstimmung und durch die Dynastien unterstützt. Überhaupt<br />
spielten Frauen in unserer Geschichte eine besondere Rolle. Erinnern Sie sich zum Beispiel<br />
an die Tochter Ludwigs IV., des Fürsten von Hessen-Darmstadt: Sie ist in Russland<br />
als Fürstin Elisabeth bekannt. Sie hatte ein wirklich tragisches Schicksal. Nach dem<br />
Mord an ihren Mann gründete sie ein Nonnenkloster. Während des Ersten Weltkrieges<br />
pflegte sie russische und deutsche Verletzte. Im Jahre 1918 wurde sie von Bolschewisten<br />
hingerichtet. Ihr galt eine allgemeine Verehrung. Vor kurzem wurde ihr Wirken<br />
anerkannt und sie wurde heilig gesprochen. Ein Denkmal für sie steht heute im Zentrum<br />
Moskaus.<br />
Vergessen wir auch nicht die Prinzessin von Anhalt-Zerbst. Sie hieß Sophie Auguste<br />
Friederike. Sie leistete einen einzigartigen Beitrag zur russischen Geschichte. Einfache<br />
russische Menschen nannten sie Mutter. Aber in die Weltgeschichte ging sie als russische<br />
Zarin Katharina die Große ein.<br />
Heutzutage ist Deutschland der wichtigste Wirtschaftspartner Russlands, unser bedeutsamster<br />
Gläubiger, einer der Hauptinvestoren und maßgeblicher außenpolitischer<br />
Gesprächspartner. Um ein Beispiel zu nennen: Im vorigen Jahr erreichte der Warenumsatz<br />
zwischen unseren Staaten die Rekordhöhe von 23 Milliarden Euro. Das ist vergleichbar<br />
mit dem Gesamtwarenumsatz zwischen den beiden ehemaligen deutschen<br />
Staaten und der Sowjetunion. Ich glaube nicht, dass man sich damit zufrieden geben<br />
kann und hier Halt machen darf. Es bleibt noch genug Spielraum für die deutsch-russische<br />
Zusammenarbeit.<br />
Ich bin überzeugt: Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer<br />
bilateralen Beziehungen auf und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum<br />
Aufbau des europäischen Hauses.<br />
Zum Schluss will ich die Aussagen, mit denen Deutschland und seine Hauptstadt<br />
vor einiger Zeit charakterisiert wurden, auf Russland beziehen: Wir sind natürlich am<br />
Anfang des Aufbaus einer demokratischen Gesellschaft und einer Marktwirtschaft. Auf<br />
diesem Wege haben wir viele Hürden und Hindernisse zu überwinden. Aber abgesehen<br />
von den objektiven Problemen und trotz mancher, ganz aufrichtig und ehrlich gesagt, Ungeschicklichkeit<br />
schlägt unter allem das starke und lebendige Herz Russlands, welches<br />
für eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft geöffnet ist.<br />
Ich bedanke mich.<br />
Quelle: bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/putin/putin_wort.html<br />
17
«Der Geist von Rapallo»<br />
_ Grußworte auf dem Petersburger Forum am 8. April 2002 in Weimar<br />
Bundeskanzler Schröder: (...) Weimar – das ist natürlich, wie man in Russland ebenso<br />
weiß wie in Deutschland, ein Ort von hoher Symbolkraft; und zwar Symbolkraft keineswegs<br />
nur politisch, sondern bezogen auf das, was wir mit unserem Dialog erreichen<br />
wollen, nämlich die Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Kultur und zivile Courage, ziviles<br />
Verhalten, das passt sehr gut mit Weimar zusammen. Ich muss die Großen, die hier<br />
gelebt und gewirkt haben nicht nennen. Ich denke, das wird einem unmittelbar präsent,<br />
wenn man durch die Stadt geht. Selbst wenn man nur sehr kurze Zeit hier ist, spürt man<br />
etwas von der kulturellen Bedeutung dieser großartigen Stadt.<br />
Die Parallelität des Petersburger Dialogs und unserer Regierungskonsultationen ist<br />
keineswegs zufällig. Das ist durchaus etwas, was einander ergänzen soll. Wir meinen<br />
schon, dass es für die Perspektiven unserer Länder, unserer Völker wichtig ist, dass es<br />
gutnachbarschaftliche Beziehungen auf der Ebene der Regierungen gibt. Diese können<br />
ergänzt werden durch eine sehr enge, auch persönliche Zusammenarbeit zwischen den<br />
Verantwortlichen. Ich freue mich sagen zu können, dass das der Fall ist, dass unsere Zusammenarbeit<br />
auch freundschaftliche Züge hat, die man gar nicht hintanstellen sollte.<br />
Aber mindestens so wichtig wie gute Kontakte auf der Ebene von Präsident und Regierung<br />
in Russland und Regierung hier sind vertiefte Kontakte zwischen den Menschen in<br />
unseren beiden Ländern, zumal den jungen Menschen. (...)<br />
Präsident Putin: Die Weltgemeinschaft befindet sich heute in einer besonderen Situation.<br />
Sie handelt nicht nur gemeinsam gegen die globale Gefahr des Terrorismus, sondern<br />
sucht auch nach einer neuen Philosophie für die zwischenstaatlichen Beziehungen<br />
und einer effektiveren Strategie für die internationale Sicherheit.<br />
Auch die Beziehungen zwischen Russland und der NATO in Gestalt des 20er-Rats<br />
werden auf dem neuen Prinzip beiderseitiger Verantwortung aufgebaut. Wir müssen all<br />
diese Entwicklungen unbedingt gedanklich verarbeiten und in ein aktuelles logisches<br />
System bringen. In diesem System dürfen die EU-Erweiterung und der Beitritt Russlands<br />
zur [Welthandelsorganisation] WTO sich nicht nachteilig auswirken, sondern müssen für<br />
alle Beteiligten Nutzen bringen. Vor allem auf dem Markt für Energieträger, in der Frage<br />
der Anti-Dumping-Maßnahmen und der russischen Lufttransporte.<br />
18<br />
Beim Bau eines neuen Europa spielen die russisch-deutschen Beziehungen die Rolle<br />
eines Gerüsts, und zwar insofern, als sie sich stets in die europäischen Präferenzen ge-
Grußworte auf dem Petersburger Forum am 8. April 2002 in Weimar<br />
fügt haben. Denken wir etwa an den Rapallo-Vertrag [Vertrag der Weimarer Republik<br />
und der Sowjetunion], dessen 80. Jahrestag wir in einer Woche feiern werden. Der<br />
Geist von Rapallo, der Verzicht auf gegenseitige Ansprüche und die friedliche Koexistenz<br />
haben in der Geschichte Europas in den 1920er Jahren eine positive Rolle gespielt.<br />
Ich muss sagen, dass das vergangene Jahr für unsere Beziehungen ertragreich war.<br />
Die Zusammenarbeit im Bereich der Investitionen schreitet voran, beim Problem der<br />
«Transfer-Rubel» zeichnen sich erste Umrisse einer Lösung ab, und unser Warenverkehr<br />
hat die Rekordmarke von 24 Milliarden Euro erreicht. Die Struktur des Warenverkehrs<br />
kann unsere Länder allerdings nicht zufrieden stellen. Vor allem beim russischen Export<br />
gibt es noch große Reserven, und wir sind bereit, ernstzunehmende Angebote zu machen,<br />
die für den deutschen Markt lukrativ sind. Ich denke, für den Petersburger Dialog<br />
würde es sich lohnen, das Problem des Zugangs russischer Unternehmen zum deutschen<br />
Markt zu diskutieren.<br />
Die Ziele und Perspektiven der Beziehungen zwischen unseren Ländern hängen in<br />
vielem von einer positiven Entwicklung der russischen Wirtschaft ab. Wir haben in Essen<br />
viel darüber gesprochen und seit diesem Treffen schon einiges erreicht. Staat und<br />
Unternehmen verstehen sich nun nicht nur besser, sondern verhalten sich auch berechenbarer.<br />
(...)<br />
Politische und persönliche Freunde: Wladimir Putin und Gerhard Schröder im April 2005.<br />
Foto: Dmitry Avdeev; CC BY-SA 3.0<br />
19
«Für eine politische Lösung<br />
des Irak-Konfliktes»<br />
_ Grußworte auf dem Petersburger Forum am 10. April 2003 in St. Petersburg<br />
Präsident Putin: (...) Heute möchte ich kurz auf die Grundlinien in der Partnerschaft<br />
zwischen unseren Ländern eingehen. Als Erstes auf die politischen Interessen Russlands<br />
und Deutschlands. Eine unserer Aufgaben ist hier der Aufbau eines effektiven und<br />
stabilen europäischen Sicherheitssystems. Die Stabilität in Europa ist in vieler Hinsicht<br />
gleichbedeutend mit der Stabilität in unseren Ländern. Deshalb müssen wir, um den<br />
neuen bekannten Gefahren entgegenzuwirken, unbedingt gemeinsam handeln.<br />
Von ebenso großer Bedeutung ist es, unsere Haltung zum derzeit heikelsten und<br />
schwerwiegendsten Problem, der Situation in Irak, deutlich zu machen. Die militärischen<br />
Operationen dauern seit über drei Wochen an, die Ergebnisse sind bekannt. Und<br />
sie rufen Bedauern hervor. Sie wissen, dass sowohl Moskau als auch Berlin sich für eine<br />
politische Lösung des Irak-Konflikts ausgesprochen haben. Wir sind auch heute noch<br />
In seiner Heimatstadt Sankt Petersburg startete Putin 1991 seine politische Karriere.<br />
Foto: BBM Explorer; CC BY 2.0<br />
20
Grußworte auf dem Petersburger Forum am 10. April 2003 in St. Petersburg<br />
von der Aussichtslosigkeit einer militärischen Lösung überzeugt und sehen die Hauptaufgabe<br />
darin, die Initiative für die Beilegung des Konflikts schnellstmöglich wieder an<br />
die Vereinten Nationen zurückzugeben. Unsere Länder müssen alles tun, um das globale<br />
internationale Rechtssystem, das auf der führenden Rolle der Vereinten Nationen basiert,<br />
zu bewahren. Der Bundeskanzler und ich stimmen in der Auffassung vom Primat<br />
des internationalen Rechts überein. Ich muss betonen, dass Russland und Deutschland<br />
in den letzten Monaten im Weltsicherheitsrat sehr eng zusammengearbeitet haben.<br />
Beide Länder haben in einem einheitlichen außenpolitischen Koordinatensystem agiert.<br />
Keines unserer Treffen wird ohne eine Diskussion der wirtschaftlichen Problematik<br />
ablaufen, die Dreh- und Angelpunkt unserer Beziehungen ist. Für uns ist Deutschland der<br />
wichtigste Wirtschaftspartner. Die stabile Wachstumstendenz beim Handelsumsatz und<br />
die Aktivität des deutschen Kapitals in Russland bestätigen dies. Was das Investitionsvolumen<br />
angeht, liegt Deutschland nach wie vor an der Spitze. Gleichwohl gibt es auch<br />
andere Fakten. Während 15 Prozent des gesamten russischen Außenhandelsumsatzes<br />
auf Deutschland entfallen, beträgt unser Anteil am deutschen Außenhandel nur zwei<br />
Prozent. Gründe für diese Situation gibt es viele. Hier beim Petersburger Dialog sind<br />
Menschen zusammengekommen, denen diese, glaube ich, wohlbekannt sind. Um die Situation<br />
zu ändern, müssen alle tätig werden: sowohl die Behörden als auch die Vertreter<br />
der Wirtschaft. Nur der ständige, für beide Seiten nutzbringende Dialog der Wirtschaftskreise<br />
unserer Länder kann dazu verhelfen, neue Ansätze und Lösungen zu finden. (...)<br />
Bundeskanzler Schröder: (...) Herr Präsident Putin hat darauf hingewiesen: Dieser Petersburger<br />
Dialog findet in einer Phase äußerst angespannter internationaler Beziehungen<br />
statt. Vor diesem Hintergrund können wir feststellen, dass die deutsch-russischen<br />
Beziehungen in den letzten einhundert Jahren noch nie so gut waren, wie sie heute sind.<br />
Und mir liegt daran, dass deutlich wird: diese ausgezeichneten ökonomischen, politischen<br />
und kulturellen Beziehungen sind gegen niemanden gerichtet, weder heute noch<br />
in der Zukunft. Sie bringen weder Schwierigkeiten in den europäischen Beziehungen mit<br />
sich noch haben sie negative Bedeutung für die transatlantischen Beziehungen. Das gilt<br />
sowohl für Deutschland als auch für Russland.<br />
In einer international schwierigen Situation ist es umso wichtiger, wenn Staaten und<br />
Völker, die eine so wechselvolle und bisweilen blutige Geschichte miteinander verbindet,<br />
deutlich machen, dass sie für die friedliche Lösung von Konflikten in der Welt und<br />
für mehr Stabilität in den internationalen Beziehungen stehen wollen. Ich denke, dass<br />
wir aus unserer gemeinsamen Geschichte die richtigen Konsequenzen gezogen haben.<br />
Das hängt natürlich mit dem Bemühen des Präsidenten zusammen, eine strategische<br />
Beziehung zu Europa und innerhalb Europas und - ohne dass dies Ausschließlichkeitsansprüche<br />
begründen sollte – auch zu Deutschland aufzubauen. Ich sage mit Respekt:<br />
erfolgreich aufzubauen. (...)<br />
21
«Mit Demokratie<br />
hat dies nichts gemein»<br />
_ Rede auf der Sicherheitskonferenz in München am 10. Februar 2007<br />
Die Münchner Sicherheitskonferenz ist eine seit 1963 jährlich stattfindende private<br />
Veranstaltung, die von der Bundesregierung unterstützt wird und immer prominente internationale<br />
Politiker als Referenten vorweisen kann. Horst Teltschik, außenpolitischer<br />
Berater von Kanzler Helmut Kohl, fungierte von 1999 bis 2008 als Konferenzleiter.<br />
Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin, Herr Teltschik, meine Damen und Herren!<br />
Ich bin sehr dankbar für die Einladung zu einer derart repräsentativen Konferenz, die<br />
Politiker, Militärs, Unternehmer und Experten aus über 40 Ländern zusammengeführt hat.<br />
Die Anlage dieser Konferenz enthebt mich dem Zwang zu übertriebener Höflichkeit<br />
und dem Erfordernis, in allgemeinen, gefälligen, aber inhaltsleeren diplomatischen Formeln<br />
zu sprechen. Der Charakter der Konferenz wird es mir ermöglichen zu sagen, was<br />
ich wirklich über internationale Sicherheitsprobleme denke. Sollten meine Bemerkungen<br />
unseren Kollegen unangemessen polemisch, zugespitzt oder ungenau erscheinen,<br />
bitte ich Sie, mir nicht böse zu sein. Schließlich ist das hier nur eine Konferenz, und ich<br />
hoffe, dass Herr Teltschik nicht nach den ersten zwei oder drei Minuten meiner Rede das<br />
rote Licht da drüben einschalten wird.<br />
Es ist wohlbekannt, dass die internationale Sicherheit viel mehr beinhaltet als die<br />
mit militärischer und politischer Stabilität zusammenhängenden Fragen. Sie schließt die<br />
Stabilität der Weltwirtschaft, die Überwindung der Armut, wirtschaftliche Sicherheit<br />
und die Entwicklung eines Dialogs zwischen den Kulturen ein.<br />
Dieses universelle, unteilbare Wesen der Sicherheit kommt in ihrem Grundprinzip<br />
zum Ausdruck: «Sicherheit für einen ist Sicherheit für alle.» Wie Franklin D. Roosevelt in<br />
den ersten Tagen des Zweiten Weltkriegs sagte: «Wenn der Friede irgendwo gebrochen<br />
wird, ist der Friede aller Länder in Gefahr.»<br />
Diese Worte sind auch heute noch aktuell. Davon zeugt übrigens auch das Thema<br />
unserer Konferenz – «Globale Krisen, globale Verantwortung».<br />
22<br />
Vor nur zwei Jahrzehnten war die Welt ideologisch und wirtschaftlich gespalten,<br />
und es war das gewaltige strategische Potenzial zweier Supermächte, das die globale<br />
Sicherheit gewährleistete.
Wladimir Putin auf der Sicherheitskonferenz 2007. Foto: Antje Wildgrube; MSC 2007; CCL 3.0<br />
Diese globale Konfrontation verdrängte die schärfsten ökonomischen und sozialen<br />
Probleme an den Rand der Agenda der internationalen Gemeinschaft und der ganzen<br />
Welt. Und wie jeder Krieg hinterließ auch der Kalte Krieg uns, bildlich gesprochen,<br />
Munition, die immer noch scharf ist. Ich meine damit die ideologischen Klischees, das<br />
Messen mit zweierlei Maß und andere für das Blockdenken des Kalten Krieges charakteristische<br />
Aspekte.<br />
Das unipolare Modell<br />
Die unipolare Welt, die nach dem Kalten Krieg postuliert wurde, kam jedoch ebenfalls<br />
nicht zustande. Sicherlich hat die Menschheit in ihrer Geschichte unipolare Perioden<br />
durchgemacht und Bestrebungen, die Weltherrschaft zu erlangen, erlebt. In der<br />
Geschichte hat es schließlich so ziemlich alles bereits gegeben.<br />
Doch was ist das, eine unipolare Welt? In wie freundlichen Farben auch immer man<br />
diese ausmalen mag, am Ende bleibt doch immer, dass der Terminus sich auf eine ganz bestimmte<br />
Situation bezieht, nämlich ein einziges Zentrum der Staatsgewalt, ein Machtzentrum,<br />
ein Entscheidungszentrum. Das ist eine Welt, in der es einen Herrn gibt, einen Souverän.<br />
Im Ergebnis ist das verheerend, nicht nur für alle, die diesem System angehören,<br />
sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen heraus selbst zerstört.<br />
Und mit Demokratie hat dies ganz gewiss nichts gemein. Denn Demokratie ist, wie<br />
Sie wissen, die Herrschaft der Mehrheit unter Berücksichtigung der Interessen und Meinungen<br />
der Minderheit.<br />
23
«Mit Demokratie hat dies nichts gemein»<br />
Es trifft sich, dass wir – Russland – permanent über die Demokratie belehrt werden.<br />
Aber aus irgendwelchen Gründen möchten diejenigen, die uns belehren, selber nicht<br />
dazulernen.<br />
Ich bin der Auffassung, dass das unipolare Modell nicht nur inakzeptabel, sondern in<br />
der heutigen Welt auch unmöglich ist. Und zwar nicht nur deshalb, weil für die Führung<br />
einer einzelnen Macht in der heutigen – ausgerechnet in der heutigen – Welt weder die<br />
militärischen noch die politischen und ökonomischen Ressourcen ausreichen würden.<br />
Noch wichtiger ist, dass das Modell selbst verfehlt ist, weil ihm keine moralischen Fundamente<br />
für die moderne Zivilisation zu Grunde liegen.<br />
Was gegenwärtig in der Welt geschieht – und wir haben gerade erst angefangen,<br />
darüber zu diskutieren – ist eine Folge der Versuche, genau dieses Konzept, das Konzept<br />
einer unipolaren Welt, in die internationalen Beziehungen zu tragen. Und was ist das<br />
Ergebnis?<br />
Unilaterale und häufig illegitime Aktionen haben kein einziges Problem gelöst. Vielmehr<br />
haben sie neue menschliche Tragödien verursacht und neue Spannungsherde geschaffen.<br />
Urteilen Sie selbst: Die Zahl der Kriege wie auch der lokalen und regionalen<br />
Konflikte hat sich nicht vermindert. Herr Teltschik hat dies sehr behutsam angesprochen.<br />
Und in diesen Konflikten gehen nicht weniger Menschen zugrunde – es sterben sogar<br />
noch mehr als zuvor. Beträchtlich mehr! Entschieden mehr!<br />
Gegenwärtig erleben wir eine fast unbeschränkte, übermäßige Anwendung von Gewalt<br />
– militärischer Gewalt – in den internationalen Beziehungen, einer Gewalt, die<br />
die Welt in einen Abgrund permanenter Konflikte stürzt. Im Ergebnis haben wir nicht<br />
genügend Kraft, auch nur einen dieser Konflikte wirklich umfassend zu lösen. Politische<br />
Lösungen zu finden, wird gleichfalls unmöglich.<br />
Wir erleben mehr und mehr Abneigung gegen die Grundprinzipien des Völkerrechts.<br />
Und Rechtsnormen, die unabhängig sein sollten, nähern sich in Wirklichkeit zunehmend<br />
dem Rechtssystem eines einzelnen Staates an. Ein Staat – und dabei spreche ich natürlich<br />
zunächst und vor allem von den Vereinigten Staaten – hat seine nationalen Grenzen<br />
in jeder Hinsicht überschritten. Das zeigen die wirtschaftlichen, politischen, kulturellen<br />
und Bildungs-Standards, die es anderen Nationen aufnötigt. Wem gefällt das? Wer ist<br />
glücklich darüber?<br />
24<br />
In den internationalen Beziehungen sehen wir eine zunehmende Neigung, bestimmte<br />
Fragen nach Kriterien sogenannter politischer Zweckmäßigkeit zu lösen, auf der Grundlage<br />
des aktuellen politischen Klimas. Natürlich ist das äußerst gefährlich. Es führt zu<br />
der Tatsache, dass niemand sich sicher fühlt. Ich möchte das betonen: Niemand fühlt<br />
sich sicher! Weil niemand sich hinter der schützenden Mauer des Völkerrechts in Sicherheit<br />
wiegen kann. Natürlich stimuliert eine derartige Politik das Wettrüsten. Die
Rede auf der Sicherheitskonferenz in München am 10. Februar 2007<br />
Dominanz der Gewalt regt unweigerlich eine ganze Reihe von Ländern dazu an, Massenvernichtungswaffen<br />
zu erlangen. Darüber hinaus sind neuartige Bedrohungen – obwohl<br />
sie auch vorher schon wohlbekannt waren – in Erscheinung getreten, und Gefahren wie<br />
der Terrorismus haben heute globalen Charakter angenommen.<br />
Der Aufstieg der BRIC-Staaten<br />
Meiner Überzeugung nach sind wir an jenem kritischen Punkt angelangt, an dem wir<br />
sehr ernst über die Architektur der globalen Sicherheit nachdenken müssen. Dabei müssen<br />
wir nach einer vernünftigen Balance zwischen den Interessen aller Teilnehmer des<br />
internationalen Dialogs suchen, besonders deshalb, weil die internationale Szenerie so<br />
vielfältig beschaffen ist und sich so schnell verändert – ein Wandel, der im Lichte der<br />
dynamischen Entwicklung in einer ganzen Reihe von Ländern und Regionen gesehen<br />
werden muss.<br />
Die Frau Bundeskanzlerin hat dies bereits erwähnt. Zusammengenommen ist das<br />
Bruttoinlandsprodukt, an der Kaufkraft gemessen, in Ländern wie Indien und China<br />
schon heute größer als dasjenige der Vereinigten Staaten. Und wenn man das Bruttoinlandsprodukt<br />
der BRIC-Länder – Brasilien, Russland, Indien und China – auf die gleiche<br />
Weise zusammenrechnet, übertrifft es bereits das Gesamt-BIP der EU. Experten zufolge<br />
wird dieser Abstand in Zukunft weiter wachsen.<br />
Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dass das ökonomische Potenzial der neuen<br />
Zentren des weltwirtschaftlichen Wachstums unweigerlich in politischen Einfluss umgemünzt<br />
werden und die Multipolarität stärken wird.<br />
In diesem Zusammenhang nimmt die Rolle der multilateralen Diplomatie erheblich<br />
zu. Die Notwendigkeit von Prinzipien wie Offenheit, Transparenz und Berechenbarkeit in<br />
der Politik ist unbestritten, und der Einsatz von Gewalt sollte wirklich eine Ausnahme<br />
sein, vergleichbar der Todesstrafe im Rechtssystem mancher Länder.<br />
Gegenwärtig erleben wir jedoch die gegenteilige Tendenz, nämlich eine Situation,<br />
in der Länder, die die Todesstrafe sogar für Mörder und andere gefährliche Kriminelle<br />
verbieten, sich leichtfertig an Militäreinsätzen beteiligen, die man kaum als legitim<br />
ansehen kann. Dabei kommen in diesen Konflikten Menschen zu Tode – Hunderte und<br />
Tausende von Zivilisten!<br />
Gleichzeitig erhebt sich allerdings die Frage, ob wir verschiedenen internen Konflikten<br />
in diversen Ländern oder autoritären Regimen, Tyrannen und der Weiterverbreitung<br />
von Massenvernichtungswaffen indifferent begegnen und uns heraushalten sollten.<br />
Das stand ja auch im Zentrum der Frage, die unser geschätzter Kollege Lieberman der<br />
Bundeskanzlerin gestellt hat. [Liebermann zugewandt:] Wenn ich Sie richtig verstanden<br />
25
«Mit Demokratie hat dies nichts gemein»<br />
habe, dann handelt es sich natürlich um eine sehr ernste Frage. Können wir angesichts<br />
dessen, was in der Welt vor sich geht, teilnahmslos zuschauen? Ich möchte versuchen,<br />
Ihre Frage zu beantworten: Natürlich nicht!<br />
Das Gewaltmonopol der UNO<br />
Aber verfügen wir über die Mittel, diesen Gefahren zu begegnen? Gewiss tun wir<br />
das. Ein Blick auf die jüngste Geschichte genügt. Hat nicht unser Land, Russland, einen<br />
friedlichen Übergang zur Demokratie vollzogen? In der Tat, wir haben die friedliche<br />
Transformation des Sowjetregimes erlebt – eine friedliche Transformation! Und was für<br />
ein Regime das war! Mit welcher Menge Waffen, darunter Atomwaffen! Warum sollten<br />
wir jetzt damit anfangen, bei jeder Gelegenheit zu schießen und Bomben zu werfen?<br />
Kann es denn sein, dass wir ohne die Bedrohung wechselseitiger Vernichtung nicht über<br />
genug politische Kultur, Respekt für demokratische Werte und das Recht verfügen?<br />
Ich bin überzeugt, dass der einzige Mechanismus, der Entscheidungen über den<br />
Einsatz militärischer Gewalt als letztes Mittel treffen kann, die Charta der Vereinten<br />
Nationen ist. In diesem Zusammenhang muss ich sagen, dass ich entweder nicht verstanden<br />
habe, was unser Kollege, der italienische Verteidigungsminister, eben sagte,<br />
oder das, was er gesagt hat, war ungenau. Ich habe ihn jedenfalls so verstanden, dass<br />
der Rückgriff auf Gewalt nur dann legitim sein könne, wenn die Entscheidung dazu von<br />
der NATO, der EU oder der UNO getroffen wird. Falls er wirklich so denkt, sind wir<br />
unterschiedlicher Auffassung. Vielleicht habe ich mich aber auch verhört. Der Einsatz<br />
von Gewalt kann nur dann legitim sein, wenn die Entscheidung dazu von den Vereinten<br />
Nationen getroffen oder bestätigt wird. Es besteht keine Notwendigkeit, die UNO<br />
Amerikanische B61-Nuklearbomben. Foto: Wikimedia Commons<br />
26
Rede auf der Sicherheitskonferenz in München am 10. Februar 2007<br />
durch NATO oder EU zu ersetzen. Wenn die Vereinten Nationen wirklich die Kräfte der<br />
internationalen Gemeinschaft vereinigen und wirklich auf die Vorgänge in verschiedenen<br />
Ländern reagieren können, und wenn wir diese Abneigung gegen das Völkerrecht<br />
überwinden, dann kann sich die Situation wandeln. Andernfalls wird sie einfach in einer<br />
Sackgasse enden, und die Anzahl ernstlicher Fehler wird sich vervielfachen. Gleichzeitig<br />
ist es erforderlich sicherzustellen, dass das Völkerrecht, sowohl im Verständnis wie in<br />
der Anwendung seiner Normen, universellen Charakter hat.<br />
Man darf auch nicht vergessen, dass demokratisches politisches Handeln Diskussionen<br />
und einen mühsamen Prozess der Entscheidungsfindung voraussetzt.<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren!<br />
Die Gefahr einer Destabilisierung der internationalen Lage ist mit einer offenkundigen<br />
Stagnation auf dem Gebiet der Abrüstung verbunden. Russland unterstützt die<br />
Erneuerung des Dialogs über diese wichtige Frage. Es ist wichtig, den internationalen<br />
Rechtsrahmen bezüglich der Abrüstung zu bewahren und so Kontinuität im Prozess der<br />
Reduzierung von Atomwaffen zu gewährleisten.<br />
Mit den Vereinigten Staaten haben wir vereinbart, unsere jeweiligen strategischen<br />
Raketenkapazitäten bis zum 31. Dezember 2012 auf maximal 1.700 bis 2.000 Atomsprengköpfe<br />
zu reduzieren. Russland ist entschlossen, die übernommenen Verpflichtungen<br />
strikt einzuhalten. Wir hoffen, dass auch unsere Partner auf transparente Weise<br />
vorgehen werden und darauf verzichten, ein paar hundert Atomsprengköpfe für den Fall<br />
der Fälle beiseite zu legen.<br />
Und wenn heute der neue amerikanische Verteidigungsminister erklärt, dass die<br />
Vereinigten Staaten diese überflüssigen Waffen nicht in Depots oder, wie man sagen<br />
könnte, unter einem Kopfkissen oder unter der Decke verstecken werden, dann sollten<br />
wir uns, finde ich, alle erheben und diese Erklärung mit stehenden Ovationen begrüßen.<br />
Es wäre eine sehr wichtige Erklärung.<br />
Russland hält sich strikt an den Atomwaffensperrvertrag, wie auch, an das multilaterale<br />
Regime zur Überwachung der Raketentechnologien, und wir beabsichtigen uns<br />
auch weiterhin dran zu halten. Die in diesen Dokumenten niedergelegten Grundsätze<br />
sind universeller Natur.<br />
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass die UdSSR und die Vereinigten<br />
Staaten in den 1980er Jahren ein Abkommen über die Vernichtung einer ganzen<br />
Kategorie von Kurz- und Mittelstreckenraketen unterzeichnet haben, dass diese Dokumente<br />
aber keinen universellen Charakter besitzen.<br />
Heute haben viele andere Staaten derartige Raketen, unter ihnen die Demokratische<br />
Volksrepublik Korea, die Republik Korea, Indien, der Iran, Pakistan und Israel. Viele Länder<br />
27
«Mit Demokratie hat dies nichts gemein»<br />
entwickeln solche Systeme und beabsichtigen, sie in ihre Waffenarsenale aufzunehmen.<br />
Nur die Vereinigten Staaten und Russland unterliegen heute der Verpflichtung, derartige<br />
Waffensysteme nicht zu entwickeln. Offensichtlich müssen wir unter solchen Umständen<br />
darüber nachdenken, wie wir unsere eigene Sicherheit gewährleisten können.<br />
Gleichzeitig ist es unmöglich, das Auftauchen neuer, destabilisierender Hightech-<br />
Waffen zu verhüten. Ich brauche wohl nicht auszuführen, dass dies Maßnahmen zur<br />
Verhütung neuer Konfrontationen, speziell im Weltraum, berührt. Der Krieg der Sterne<br />
ist nicht länger Fantasie – er ist Realität. Schon Mitte der 1980er Jahre waren unsere<br />
amerikanischen Partner fähig, einen eigenen Satelliten abzuschießen.<br />
Nach russischer Auffassung könnte die Militarisierung des Weltraums unvorhersehbare<br />
Konsequenzen für die internationale Gemeinschaft heraufbeschwören und nicht<br />
weniger als den Beginn einer nuklearen Ära provozieren. Wir haben mehr als einmal<br />
Initiativen ergriffen, die dem Einsatz von Waffen im Weltraum vorbeugen sollen.<br />
Ich möchte Ihnen heute mitteilen, dass wir einen Entwurf für ein Abkommen, das der<br />
Stationierung von Weltraumwaffen vorbeugen soll, vorbereitet haben. Es wird unseren<br />
Partnern in nächster Zeit als offizieller Vorschlag zugehen. Lassen Sie uns gemeinsam<br />
daran arbeiten.<br />
28<br />
Die Raketenrüstung von USA und NATO<br />
Die Pläne, bestimmte Elemente des Raketenabwehrsystems auf Europa auszuweiten,<br />
müssen uns zwangsläufig beunruhigen. Wer braucht einen neuen Schritt in Richtung<br />
auf etwas, was in diesem Falle unvermeidlich zu einem Wettrüsten geraten würde?<br />
Ich bezweifle zutiefst, dass die Europäer selbst so etwas brauchen.<br />
Raketenwaffen mit einer Reichweite von etwa fünf- bis achttausend Kilometern, die<br />
Europa also tatsächlich bedrohen würden, gibt es in keinem der sogenannten Problem-<br />
Länder. Und in der nächsten Zukunft wird es auch nicht dazu kommen. Es zeichnet sich<br />
auch nicht einmal irgendetwas in der Art ab. Und der hypothetische Abschuss beispielsweise<br />
einer nordkoreanischen Rakete in Richtung auf amerikanisches Gebiet über Westeuropa<br />
hinweg widerspricht offenkundig den Gesetzen der Ballistik. Es wäre, wie wir<br />
in Russland sagen, als benutzte man die rechte Hand, um sich ans linke Ohr zu fassen.<br />
Und hier in Deutschland kann ich es mir nicht versagen, den beklagenswerten Zustand<br />
zu erwähnen, in dem sich der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa befindet.<br />
Die Neufassung des Vertrags über die konventionellen Streitkräfte in Europa wurde 1999<br />
unterzeichnet. Sie berücksichtigt die neue geopolitische Realität, namentlich die Auflösung<br />
des Warschauer Blocks. Inzwischen sind sieben Jahre vergangen, aber nur vier<br />
Staaten, einschließlich der Russischen Föderation, haben dieses Dokument ratifiziert.
Rede auf der Sicherheitskonferenz in München am 10. Februar 2007<br />
Die NATO-Länder haben offen erklärt, dass sie diesen Vertrag, einschließlich der Bestimmungen<br />
über Beschränkungen an den Flanken des Vertragsgebiets [über die Stationierung<br />
einer gewissen Anzahl von Truppen in den Randgebieten] nicht ratifizieren werden,<br />
bis Russland seine Militärstützpunkte aus Georgien und Moldawien zurückgezogen<br />
hat. Unsere Armee verlässt zurzeit Georgien und folgt dabei sogar einem beschleunigten<br />
Zeitplan. Wir haben, wie jeder weiß, die Probleme, die es mit unseren georgischen Kollegen<br />
gab, gelöst. In Moldawien gibt es noch 1.500 Armeeangehörige, die friedenserhaltende<br />
Einsätze durchführen und Munitionsdepots aus Sowjetzeiten schützen. Über<br />
dieses Thema sind wir permanent im Gespräch mit Herrn Solana, und er kennt unsere<br />
Position. Wir sind bereit, weiter in diese Richtung zu arbeiten.<br />
Doch was geschieht gleichzeitig? Zur gleichen Zeit entstehen in Bulgarien und Rumänien<br />
sogenannte leichte vorgeschobene Stützpunkte der Amerikaner mit jeweils bis<br />
zu 5.000 Soldaten. Das bedeutet also, dass die NATO ihre vorgeschobenen Truppen<br />
an unseren Grenzen stationiert, während wir unsere Vertragsverpflichtungen weiterhin<br />
strikt erfüllen und auf diese Aktivitäten überhaupt nicht reagieren.<br />
Ich denke, es liegt auf der Hand, dass die Expansion der NATO mit der Modernisierung<br />
des Bündnisses selbst oder mit der Gewährleistung der Sicherheit in Europa in<br />
keinerlei Zusammenhang steht. Sie stellt im Gegenteil eine ernste Provokation dar, die<br />
das Maß des gegenseitigen Vertrauens vermindert. Wir haben das Recht zu fragen, gegen<br />
wen diese Expansion sich richtet. Und was ist aus den Zusicherungen geworden, die<br />
unsere westlichen Partner uns nach der Auflösung des Warschauer Paktes gaben? Wo<br />
sind diese Erklärungen heute? Niemand erinnert sich mehr daran. Aber ich erlaube mir<br />
meinerseits, diesem Auditorium ins Gedächtnis zu rufen, was seinerzeit erklärt wurde.<br />
Ich möchte aus der Rede von NATO-Generalsekretär Wörner am 17. Mai 1990 in Brüssel<br />
zitieren. Er sagte damals: «Die Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Truppen außerhalb<br />
des Territoriums der Bundesrepublik zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste<br />
Sicherheitsgarantien.» Was ist aus diesen Garantien geworden?<br />
Die Steine und Betonblöcke der Berliner Mauer sind längst als Souvenirs verteilt<br />
worden. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass der Fall der Berliner Mauer einer historischen<br />
Entscheidung zu verdanken ist – die auch unser russisches Volk getroffen hat<br />
– einer Entscheidung für Demokratie, Freiheit, Offenheit und aufrichtige Partnerschaft<br />
mit allen Mitgliedern der großen europäischen Familie.<br />
Und jetzt versucht man, uns neue Trennungslinien und neue Mauern aufzuzwingen.<br />
Diese Mauern mögen virtuell sein, aber sie teilen dennoch, sie durchschneiden unseren<br />
Kontinent. Ist es möglich, dass wir noch einmal Jahre und Jahrzehnte sowie mehrere<br />
Generationen von Politikern brauchen werden, um diese Mauern zu demontieren und<br />
abzutragen?<br />
29
«Mit Demokratie hat dies nichts gemein»<br />
Die Weiterverbreitung von Atomwaffen<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
wir treten unzweideutig für die Stärkung des Nichtweiterverbreitungs-Regimes ein.<br />
Die gegenwärtig geltenden internationalen Rechtsprinzipien gestatten es uns, Technologien<br />
für die Produktion von Kernbrennstoffen zu friedlichen Zwecken zu entwickeln.<br />
Und viele Länder möchten, aus gutem Grund, eine eigene Atomenergiewirtschaft entwickeln,<br />
als Grundlage für die Unabhängigkeit ihrer Energieversorgung. Uns ist aber auch<br />
klar, dass daraus schnell Kernwaffen entstehen können.<br />
Dies führt zu ernsthaften internationalen Spannungen. Die Situation, die im Umfeld<br />
des iranischen Nuklearprogramms entstanden ist, bietet ein klares Beispiel. Und wenn<br />
die internationale Gemeinschaft keine vernünftige Lösung findet, um diesen Interessenkonflikt<br />
zu lösen, wird die Welt weiterhin unter ähnlichen, destabilisierenden Krisen zu<br />
leiden haben, weil es mehr Schwellenländer gibt als nur den Iran. Beide Seiten wissen<br />
das. Wir werden weiterhin beharrlich gegen die Gefahr einer Weiterverbreitung von<br />
Massenvernichtungswaffen kämpfen.<br />
Im vergangenen Jahr hat Russland die Initiative zur Schaffung internationaler Zentren<br />
zur Urananreicherung ergriffen. Wir plädieren dafür, dass derartige Zentren nicht nur<br />
in Russland geschaffen werden, sondern auch in anderen Ländern, in denen es eine legitime<br />
Grundlage für die friedliche Nutzung der Kernenergie gibt. Länder, die ihr eigenes<br />
Nuklearpotenzial entwickeln wollen, könnten auf diese Weise sicherstellen, dass sie<br />
durch die direkte Beteiligung an diesen Zentren Nuklearbrennstoff erhalten. Und diese<br />
Zentren würden natürlich unter strikter IAEO-Aufsicht arbeiten.<br />
Die jüngsten Initiativen, die der amerikanische Präsident George W. Bush ergriffen<br />
hat, stimmen mit den russischen Vorschlägen überein. Meines Erachtens sind Russland<br />
und die USA objektiv und gleichermaßen an einer Stärkung des Regimes der Nichtweiterverbreitung<br />
von Massenvernichtungswaffen und deren Trägersystemen interessiert.<br />
Gerade unsere beiden Länder, die bei den Atom- und Raketenpotenzialen führen,<br />
müssen bei der Entwicklung neuer, strengerer Nichtweiterverbreitungs-Maßnahmen die<br />
Führungsrolle übernehmen. Russland ist dazu bereit. Und wir stehen in Konsultationen<br />
mit unseren amerikanischen Freunden.<br />
Wir sollten, ganz allgemein, über die Schaffung eines Systems politischer und ökonomischer<br />
Anreize sprechen, aufgrund dessen es nicht im Interesse der Staaten läge,<br />
eigene Kapazitäten auf dem Gebiet des nuklearen Brennstoffkreislaufs zu schaffen, das<br />
ihnen aber doch die Gelegenheit gäbe, Kernkraftpotenziale zu entwickeln und ihre Energiekapazitäten<br />
zu steigern.<br />
30
Putin und Horst Teltschik (rechts), 2007 Leiter der Sicherheitskonferenz. Foto: Kai Mörk; MSC 2007; CCL 3.0<br />
Chancen durch Kooperation<br />
In diesem Zusammenhang möchte ich detaillierter auf die internationale Zusammenarbeit<br />
im Energiebereich eingehen. Die Frau Bundeskanzlerin hat das Thema ebenfalls<br />
gestreift. Auf dem Energiesektor strebt Russland danach, einheitliche Marktprinzipien<br />
und transparente Konditionen für alle zu schaffen. Es liegt auf der Hand, dass die Energiepreise<br />
vom Markt bestimmt werden müssen, statt Gegenstand politischer Spekulation<br />
und wirtschaftlichen Drucks oder von Erpressungsversuchen zu sein.<br />
Wir sind offen für Kooperation. An allen wichtigen Energievorhaben sind bei uns<br />
ausländische Gesellschaften beteiligt. Bis zu 26 Prozent der Ölförderung in Russland<br />
wird, je nach Schätzung, von ausländischem Kapital betrieben – bitte denken Sie über<br />
diese Zahl nach: bis zu 26 Prozent! Versuchen Sie doch einmal, ein Beispiel zu finden, wo<br />
russische Unternehmen ähnlich massiv an Schlüsselsektoren westlicher Länder beteiligt<br />
sind. Solche Beispiele werden Sie nicht finden, es gibt sie nicht!<br />
Ich möchte auch an das Verhältnis zwischen ausländischen Investitionen in Russland<br />
und denen, die Russland im Ausland vornimmt, erinnern. Das Verhältnis beträgt etwa<br />
15:1. Hier haben wir ein eklatantes Beispiel für die Offenheit und Stabilität der russischen<br />
Wirtschaft.<br />
Die wirtschaftliche Stabilität ist der Bereich, in dem wir uns alle an einheitliche Prinzipien<br />
halten müssen. Wir sind zu fairem Wettbewerb bereit. Deshalb eröffnen sich in<br />
der russischen Wirtschaft immer mehr Möglichkeiten. Experten machen sich, wie unsere<br />
westlichen Partner, ein objektives Bild von diesen Veränderungen.<br />
Und so hat die Kreditwürdigkeit Russlands nach den Maßstäben der Organisation für<br />
31
«Mit Demokratie hat dies nichts gemein»<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [OECD] sich weiter verbessert; Russland<br />
ist von der vierten in die dritte Gruppe übergewechselt. Hier in München möchte<br />
ich heute die Gelegenheit nutzen, den deutschen Kollegen für ihre Hilfe bei der genannten<br />
Entscheidung zu danken.<br />
Darüber hinaus ist, wie Sie wissen, der Prozess des russischen Beitritts zur Welthandelsorganisation<br />
[WTO] in sein abschließendes Stadium eingetreten. Ich möchte darauf<br />
hinweisen, dass wir während der langen und komplizierten Gespräche mehr als einmal<br />
von Redefreiheit, Freihandel und ähnlichen Möglichkeiten gehört haben, aber aus irgendeinem<br />
Grund stets ausschließlich in Bezug auf den russischen Markt.<br />
Und es gibt noch ein weiteres Thema, das die globale Sicherheit unmittelbar berührt.<br />
Viele reden heutzutage über den Kampf gegen die Armut. Doch was geschieht tatsächlich<br />
in dieser Hinsicht? Einerseits werden – manchmal erhebliche – finanzielle Mittel für<br />
Programme bereitgestellt, die den ärmsten Ländern der Welt helfen sollen. Aber um der<br />
Wahrheit die Ehre zu geben – auch viele in diesem Raum hier wissen Bescheid –, die<br />
Mittel sind an die Entwicklung von Unternehmen im jeweiligen Geberland gebunden.<br />
Andererseits halten die entwickelten Länder gleichzeitig an ihren Agrarsubventionen<br />
fest und beschränken den Zugang einiger Länder zu Hochtechnologie-Produkten.<br />
Sprechen wir doch offen aus, wie die Dinge liegen – eine Hand verteilt milde Gaben,<br />
und die andere konserviert nicht nur die ökonomische Rückständigkeit, sondern zieht<br />
sogar Profit daraus. Die wachsenden sozialen Spannungen in wirtschaftlich schwachen<br />
Regionen führen unvermeidlich zu einem Anwachsen von Radikalismus und Extremismus,<br />
sie nähren Terrorismus und innere Konflikte. Und wenn all dies in einer Region<br />
wie dem Nahen und Mittleren Osten geschieht, wo das Gefühl wächst, dass die Welt<br />
insgesamt ungerecht ist, dann liegt darin die Gefahr einer globalen Destabilisierung.<br />
Die führenden Staaten der Welt müssen diese Gefahr offenkundig ins Auge fassen und<br />
deshalb ein demokratischeres, gerechteres System der globalen Wirtschaftsbeziehungen<br />
errichten – ein System, das jedem die Chance und Möglichkeit gibt, sich zu entwickeln.<br />
32<br />
Die Zerstörung der OSZE<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />
wenn man auf der Konferenz für Sicherheitspolitik spricht, ist es unmöglich, nicht auf<br />
die Aktivitäten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa [OSZE] zu<br />
sprechen zu kommen. Bekanntlich wurde diese Organisation zu dem Zweck geschaffen,<br />
sich mit allen – ich betone: allen – Aspekten der Sicherheit zu befassen: militärischen,<br />
politischen, wirtschaftlichen und humanitären, und ganz besonders mit dem Wechselverhältnis<br />
zwischen ihnen.
Rede auf der Sicherheitskonferenz in München am 10. Februar 2007<br />
Doch was müssen wir heute sehen? Wir sehen, dass dieses Gleichgewicht eindeutig<br />
zerstört ist. Es gibt Leute, die versuchen, die OSZE in ein vulgäres Werkzeug zu verwandeln,<br />
das der Förderung der außenpolitischen Interessen eines Landes oder einer Gruppe<br />
von Ländern dienen soll. Und diese Aufgabe wird vom bürokratischen Apparat der<br />
OSZE, der in keinerlei Verbindung mit den Gründerstaaten steht, auch erfüllt. Auf diese<br />
Aufgabe wurden auch die Entscheidungsverfahren und die Beteiligung sogenannter<br />
Nichtregierungsorganisationen zugeschnitten, die zwar formal unabhängig sind, aber<br />
zielgerichtet finanziert und daher kontrolliert werden.<br />
Folgt man den Gründungsdokumenten, so ist die OSZE auf humanitärem Gebiet dazu<br />
bestimmt, Mitgliedsländern auf deren Wunsch hin bei der Einhaltung internationaler<br />
Menschenrechtsnormen behilflich zu sein. Das ist eine wichtige Aufgabe. Wir befürworten<br />
dies. Aber das bedeutet nicht, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder<br />
einzumischen, geschweige denn ein Regime zu oktroyieren [aufzwingen], das darüber<br />
entscheidet, wie diese Staaten leben und sich entwickeln sollten.<br />
Offensichtlich fördert eine solche Einmischung die Entwicklung demokratischer Staaten<br />
durchaus nicht. Im Gegenteil, sie macht diese abhängig und, in der Folge, politisch<br />
und wirtschaftlich instabil. Wir erwarten, dass die OSZE sich von ihren ursprünglichen<br />
Aufgabenstellungen leiten lässt und Beziehungen mit souveränen Staaten auf der<br />
Grundlage von Respekt, Vertrauen und Transparenz aufbaut.<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren,<br />
mit der folgenden Bemerkung möchte ich schließen: Wir hören sehr oft – und ich<br />
persönlich höre sehr oft – Appelle unserer Partner, darunter auch unserer europäischen<br />
Partner, Russland möge eine immer aktivere Rolle in der Weltpolitik spielen. In diesem<br />
Zusammenhang möchte ich mir eine kleine Anmerkung gestatten: Es ist kaum nötig, uns<br />
zu einem solchen Verhalten anzuspornen. Russland ist ein Land mit über tausendjähriger<br />
Geschichte und hat so gut wie stets von dem Vorrecht Gebrauch gemacht, eine unabhängige<br />
Außenpolitik zu führen.<br />
Wir haben nicht die Absicht, heute von dieser Tradition abzugehen. Zugleich ist uns<br />
durchaus bewusst, wie die Welt sich verändert hat, und wir haben ein realistisches Gespür<br />
für unsere eigenen Möglichkeiten und Potenziale. Natürlich möchten wir es gerne<br />
mit verantwortlichen und unabhängigen Partnern zu tun haben, mit denen wir zusammenarbeiten<br />
können, um eine gerechte und demokratische Weltordnung zu schaffen, die Sicherheit<br />
und Wohlstand nicht nur für wenige Auserwählte, sondern für alle gewährleistet.<br />
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
Quelle: https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2007/maerz/%E2%80%9Ewas-ist-ausden-garantien-geworden%E2%80%9C<br />
33
«Gute Beziehungen<br />
zu Frau Merkel»<br />
_ Pressekonferenz während des G8-Gipfels in Heiligendamm am 6. Juni 2007<br />
Der Spiegel: Herr Präsident, es hat den Anschein, dass Russland dem Westen<br />
nicht sehr wohlgesonnen ist. Unsere Beziehungen haben sich irgendwie<br />
verschlechtert. Und hier kann auch die Verschlechterung Ihrer Beziehungen<br />
zu Amerika erwähnt werden. Nähern wir uns wieder einem Kalten Krieg?<br />
Wenn es um internationale Beziehungen, Beziehungen zwischen Ländern geht, kann<br />
man kaum dieselbe Terminologie verwenden, die auf eine Beziehung zwischen Menschen<br />
zutreffen würde – insbesondere während ihrer Flitterwochen oder ihrer Vorbereitungen<br />
für den Gang zum Standesamt. Im Verlauf der Geschichte waren Interessen<br />
stets der wichtigste Organisationsfaktor für Beziehungen zwischen Staaten und in der<br />
internationalen Arena. Und je zivilisierter diese Beziehungen werden, desto deutlicher<br />
wird, dass die eigenen Interessen gegenüber den Interessen anderer Staaten ausgewogen<br />
sein müssen. Man muss dazu fähig sein, Kompromisse zu finden, um auch die<br />
schwierigsten Probleme und Angelegenheiten lösen zu können.<br />
34<br />
Eine der gegenwärtigen Hauptschwierigkeiten besteht darin, dass bestimmte Mitglieder<br />
der internationalen Gemeinschaft von der Richtigkeit ihrer eigenen Meinung<br />
völlig überzeugt sind, und selbstverständlich trägt dies kaum dazu bei, eine Atmosphäre<br />
des Vertrauens zu schaffen, die ich für unverzichtbar halte, wenn es um mehr als<br />
lediglich gegenseitig annehmbare Lösungen geht. Nämlich um das Finden optimaler<br />
Lösungen. Aber wir meinen auch, dass wir nicht alles übermäßig dramatisieren sollten.<br />
Wenn wir unsere Meinung offen, ehrlich und geradeheraus äußern, bedeutet es<br />
nicht, dass wir auf Konfrontation aus sind. Außerdem bin ich zutiefst davon überzeugt,<br />
dass die Wiederaufnahme ehrlicher Diskussionen und die Fähigkeit zu Kompromissen<br />
allen Mitgliedern der internationalen Arena zum Vorteil gereichen würde. Und ich bin<br />
ebenso davon überzeugt, dass es dann bestimmte Krisen, denen sich die internationale<br />
Gemeinschaft heute gegenüber sieht, nicht geben würde und diese keine so schwerwiegenden<br />
Auswirkungen auf die innenpolitische Lage gewisser Länder hätten. So würden<br />
die Vorgänge im Irak den Amerikanern beispielsweise keine so heftigen Kopfschmerzen<br />
bereiten. Dies ist das anschaulichste und deutlichste Beispiel, aber ich möchte, dass<br />
Sie mich verstehen. Und wie Sie sich erinnern werden, waren wir gegen ein militärisches<br />
Einschreiten im Irak. Wir denken heute darüber nach, dass eine Bewältigung der
Auf dem G8-Gipfel im Juni 2007 in Heiligendamm zeigten sich Angela Merkel und Wladimir Putin noch<br />
ausgelassen. Foto: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung<br />
damaligen Probleme mit anderen Mitteln zu einem – meiner Meinung nach – besseren<br />
Ergebnis geführt hätte, als das, was wir heute sehen.<br />
Aus diesem Grund wünschen wir keine Konfrontation. Wir ziehen den Dialog vor.<br />
Aber wir möchten einen Dialog, der die Gleichberechtigung der Interessen beider Parteien<br />
berücksichtigt.<br />
Von Schröder zu Merkel<br />
Herr Präsident, der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat Sie als<br />
reinen Demokraten bezeichnet. Halten Sie sich selbst auch dafür?<br />
[Lacht] Bin ich ein reiner Demokrat? Natürlich bin ich es, absolut. Aber ist Ihnen das<br />
Problem bekannt? Nicht nur ein Problem, sondern eine echte Tragödie? Das Problem<br />
besteht darin, dass ich allein dastehe, der einzige meiner Art auf der ganzen Welt bin.<br />
Betrachten Sie nur, was sich in Nordamerika ereignet. Es ist einfach schrecklich: Folter,<br />
Obdachlose, Guantanamo, Gefangene ohne Anklage und Ermittlungen. Sehen Sie sich<br />
die Ereignisse in Europa an: Brutale Behandlung von Demonstranten, Gummigeschosse<br />
und Tränengas, die in den Hauptstädten eingesetzt werden, auf den Straßen getötete<br />
Demonstranten. Um die nachsowjetische Ära gar nicht erst zu erwähnen. Hoffnung gaben<br />
lediglich die Leute in der Ukraine, aber sie haben sich jetzt restlos diskreditiert, und<br />
die Dinge entwickeln sich dort hin zu einer kompletten Tyrannei, Preisgabe der Verfassung<br />
und der Gesetze und so weiter. Es gibt seit dem Tod Mahatma Gandhis niemanden,<br />
mit dem ich reden könnte.<br />
35
«Gute Beziehungen zu Frau Merkel»<br />
Und Ihr Land bewegt sich nicht zurück in die Richtung hin zu einem totalitären<br />
Regime?<br />
Daran ist kein Körnchen Wahrheit. Sie sollten nicht glauben, was Sie hören.<br />
Sie hatten eine sehr enge Beziehung zu Gerhard Schröder. Glauben Sie,<br />
dass Angela Merkel, die neue Kanzlerin, eher geneigt ist, sich den Vereinigten<br />
Staaten zuzuwenden als Russland?<br />
Jeder Mensch und jeder Politiker wählt seine eigene Verhaltensweise und setzt für<br />
sich Prioritäten. Ich habe nicht den Eindruck, dass es zu einer Verschlechterung unserer<br />
Beziehung mit Deutschland gekommen ist. Was meine guten Beziehungen zu Gerhard<br />
Schröder betrifft, kann ich nur sagen, dass ich auch eine gute und geschäftsmäßige Beziehungen<br />
zu Frau Merkel aufgebaut habe. Ja, sie scheint in manchen Bereichen beharrlicher<br />
zu sein. Es gefällt ihr beispielsweise sehr, sich für polnisches Fleisch einzusetzen.<br />
Wie ich bereits sagte, sie will es nicht selbst essen. Wir wissen alle, dass eine Lieferung<br />
Fleisch aus Polen in Berlin beschlagnahmt wurde. Wenn es aber um Kernfragen<br />
geht, um das Prinzip, gibt es zwischen uns keine Probleme, die bei der Entwicklung von<br />
Beziehungen zwischen unseren Ländern stören könnten. Wir haben sehr pragmatische<br />
und beständige Beziehungen, und wir sehen, dass es eine Fortsetzung der Beziehungen<br />
zur vorherigen Regierungspolitik gibt, wenn es um die Beziehungen zu Russland geht.<br />
36<br />
Wirtschaftliche Erfolge in Zahlen<br />
Wall Street Journal: Jetzt, da sich Ihre Amtszeit ihrem Ende nähert, wie<br />
möchten Sie, dass sich die Geschichte an Ihre Präsidentschaft erinnert? Was<br />
sind die Haupterrungenschaften Ihrer Präsidentschaft, von denen Sie wünschen,<br />
dass man sich daran erinnert? In dieser Hinsicht, mit welchem russischen<br />
oder globalen Führer möchten Sie, dass Ihre Präsidentschaft verglichen<br />
wird?<br />
Um am Ende zu beginnen, warum sollten Vergleiche gezogen werden? Die Situation<br />
in jeder historischen Periode und jedem Land ist stets einmalig, und ich sehe keine<br />
Notwendigkeit dafür, Vergleiche anzustellen. Die Zeit wird vergehen, und die Spezialisten,<br />
die Öffentlichkeit und die Experten werden objektiv beurteilen, was ich während<br />
dieser acht Jahre als Präsident der Russischen Föderation erreichen konnte. Ich glaube,<br />
dass es Dinge gibt, auf die die Leute, die mit mir gearbeitet haben, zu Recht stolz sein<br />
können. Dazu gehört die Wiederherstellung von Russlands territorialer Integrität, Stärkung<br />
des Staates, Fortschritt bei der Einrichtung eines Multiparteiensystems, Stärkung<br />
des parlamentarischen Systems, Wiederherstellung des Potenzials der Streitkräfte und<br />
natürlich die Entwicklung der Wirtschaft. Wie Sie wissen, ist unsere Wirtschaft im Ver-
Proteste gegen den G8-Gipfel. Foto: Salvatore Barbera; CC BY-SA 2.0<br />
lauf meiner Amtszeit jährlich um durchschnittlich 6,9 Prozent gewachsen, und unser<br />
Bruttosozialprodukt ist allein im Verlauf der ersten vier Monate dieses Jahres um 7,7<br />
Prozent angestiegen.<br />
Als ich mit meiner Arbeit im Jahre 2000 begann, lebten 30 Prozent unserer Bevölkerung<br />
unter der Armutsgrenze. Diese Zahlen sind seitdem zweistellig gefallen, und heute<br />
sind es nur noch 15 Prozent, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Wir werden diese<br />
Zahl bis 2009 oder 2010 auf 10 Prozent senken und damit den europäischen Durchschnitt<br />
erreicht haben.<br />
Wir hatten enorme Schulden, einfach katastrophal für unsere Wirtschaft. Aber wir<br />
haben unsere Schulden getilgt. Wir haben unsere Schulden nicht nur beglichen, sondern<br />
wir haben auch die positivste Auslandsverschuldung gegenüber der Bruttosozialprodukt-Rate<br />
in Europa. Unsere Gold- und Währungsreserven sind bekannt. Im Jahre 2000<br />
standen sie bei lediglich 12 Milliarden Dollar, und unsere Verschuldung überstieg unser<br />
Bruttosozialprodukt um mehr als 100 Prozent, aber heute haben wir die drittgrößten<br />
Gold- und Währungsreserven der Welt, und sie sind allein in den ersten vier Monaten<br />
dieses Jahres auf 90 Milliarden Dollar angestiegen.<br />
Während der 1990er Jahre und selbst in den Jahren 2000 und 2001 hatten wir eine<br />
massive Kapitalflucht aus Russland in einer Größenordnung von 15 Milliarden, 20 Milliarden<br />
und 25 Milliarden Dollar, die jährlich unser Land verließen. Im vergangenen Jahr<br />
haben wir diese Situation zum ersten Mal umgekehrt und hatten einen Kapitalzufluss<br />
von 41 Milliarden zu verzeichnen. Die ersten vier Monate dieses Jahres brachten bereits<br />
einen Kapitalzufluss von 40 Milliarden. Die Kapitalisierung der russischen Börse hat im<br />
37
«Gute Beziehungen zu Frau Merkel»<br />
vergangenen Jahr einen immensen Zuwachs von rund 50 Prozent zu verzeichnen gehabt.<br />
Dies ist eines der global besten Ergebnisse, vielleicht sogar das beste. Unsere Wirtschaft<br />
lag fast am Boden, sie stand am Ende der Liste der Weltwirtschaft. Aber heute<br />
hat sie sich den neunten Platz erobert und in manchen Bereichen sogar die Wirtschaft<br />
der anderen G8-Staaten überrundet. Das bedeutet, dass wir heute in der Lage sind,<br />
uns mit sozialen Problemen auseinanderzusetzen. Das Realeinkommen steigt jährlich<br />
um 12 Prozent. In den ersten vier Monaten diesen Jahrens war bereits ein Anstieg des<br />
Realeinkommens um 14 Prozent zu verzeichnen, während die Löhne und Gehälter um<br />
11 bis 12 Prozent gestiegen sind. Was die noch zu lösenden Probleme betrifft, ist eines<br />
der dringlichsten die klaffende Einkommensschere zwischen den Leuten an der Spitze<br />
und denen am Ende der Skala. Die Bekämpfung der Armut ist zweifellos eine unserer<br />
Spitzenprioritäten, und wir müssen auch noch viel tun, um unser Renten- und Pensionssystem<br />
zu verbessern, weil das Verhältnis zwischen Pensionen und dem Durchschnittseinkommen<br />
in Russland noch immer niedriger als in Europa ist. Die Lücke zwischen den<br />
Einkommen an der Spitze und am Ende der Skala ist noch groß – ein Unterschied vom<br />
15,6- bis 15,7-fachen. Das ist zwar weniger als in den Vereinigten Staaten, die bei 15,9<br />
liegen, aber mehr als in Großbritannien oder Italien mit 13,6 bis 13,7. Aber für uns ist es<br />
noch eine große Lücke, und die Bekämpfung der Armut hat bei uns absoluten Vorrang.<br />
Die demografische Situation ist eine andere Priorität. Wir müssen alles tun, um die<br />
demografische Situation zu ändern. Wir haben in diesem Bereich ein Sonderprogramm<br />
begonnen. Ich will hier nicht alle Einzelheiten dieses Programms wiederholen, aber wir<br />
stellen große Ressourcen für die Durchführung des Programms zur Verfügung. Und ich<br />
bin sicher, dass wir Ergebnisse erzielen werden.<br />
Ein zwölf Kilometer langer und 2,5 Meter hoher Zaun schirmte die Staatslenker ab.<br />
Foto: Ulrich Joho; CC BY-SA 2.0<br />
38
Pressekonferenz während des G8-Gipfels in Heiligendamm am 6. Juni 2007<br />
Was den Staatsaufbau betrifft, werden wir häufig für die Zentralisierung der staatlichen<br />
Macht kritisiert. Aber nur wenige beachten die Tatsache, dass wir viele Entscheidungen<br />
zur Dezentralisierung der staatlichen Macht getroffen und eine Fülle von<br />
Machtbefugnissen auf die regionale und, besonders wichtig, auf die kommunale Ebene<br />
verlagert haben. Mit Erstaunen habe ich die Debatte in Deutschland darüber verfolgt,<br />
welche Machtbefugnisse den Ländern übertragen werden sollen. Im Verlauf dieser<br />
gesamten Debatte konnte ich nur staunen und sehen, dass wir alles das schon lange<br />
vollzogen haben. In Russland wäre es heute einfach nur komisch, eine Debatte über die<br />
Übertragung der Vollmacht, sagen wir der Ladenschlusszeiten, auf Regionalbehörden zu<br />
führen. Die russischen Gemeinden haben entschieden mehr Machtbefugnisse, als es in<br />
vielen europäischen Staaten der Fall ist, und wir glauben, dass unsere Politik hier die<br />
richtige ist. Leider befanden wir uns in einer Situation, wo uns die nötigen Finanzmittel<br />
zur Begleitung dieser Machtübertragung nicht zur Verfügung standen, aber wir sind dabei,<br />
die Situation nach und nach zu verbessern. Das sind die wichtigsten Dinge, die uns<br />
in Russland heute noch Sorgen bereiten, und es liegt noch viel Arbeit vor uns.<br />
EU und Ukraine<br />
The Times: Wären Sie bereit zu akzeptieren, dass die Ukraine ein Mitglied<br />
der Europäischen Union wird? Wie stehen Sie dazu?<br />
Ich stehe dem positiv gegenüber. Wir unterstützen generell alles, was die Europäische<br />
Union stärkt. Sie werden sicher wissen, dass wir uns zu diesem Prozess niemals<br />
negativ geäußert haben. Aber ich bin nicht sicher, inwieweit die Europäische Union<br />
selbst darauf vorbereitet ist, neue Mitglieder aufzunehmen, einschließlich der Ukraine.<br />
Aber das ist nicht unsere Sache. Wie ich es sehe, ist die Europäische Union darauf<br />
noch nicht ausreichend vorbereitet. Wenn es zu einer zusätzlichen Erweiterung kommt,<br />
wären die Länder Südeuropas, die Balkanstaaten, die noch nicht beigetreten sind, die<br />
ersten Kandidaten auf der Liste. Die Ukraine ist ein Land mit 45 Millionen Einwohnern,<br />
und wie wir sehen, hat es enorme wirtschaftliche und politische Probleme. Aber wenn<br />
der Zeitpunkt gekommen ist, an dem die Ukraine in der Lage ist, sich der Europäischen<br />
Union anzuschließen, würden wir dagegen keinerlei Einwände erheben.<br />
Ich bin stets über provokative Diskussionen bezüglich des laufenden Integrationsprozesses<br />
in der nachsowjetischen Ära überrascht. Wir verhandeln beispielsweise über die<br />
Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes, der Russland, Ukraine, Belarus und<br />
Kasachstan umfasst, und die Leute beginnen darüber zu diskutieren, ob die Ukraine ihre<br />
zukünftige Entwicklung an Europa oder Russland binden möchte. Diesen Leuten scheint<br />
entgangen zu sein, dass Russland und die Europäische Union Abkommen über die Einrichtung<br />
von vier gemeinsamen Bereichen in der Wirtschaft, Sicherheit und der humanitären<br />
Sphäre unterzeichnet haben. Und wenn Russland und Europa dieses gemeinsame<br />
39
«Gute Beziehungen zu Frau Merkel»<br />
Rahmenwerk realisieren, und Russland gleichzeitig ein gemeinsames Rahmenwerk mit<br />
der Ukraine, Belarus und Kasachstan errichtet, würde das nicht zur Harmonisierung<br />
des gesamten eurasischen Raumes führen? Und sollte sich die Ukraine an irgendeinem<br />
Punkt in dieser Entwicklung, nachdem sie eine Reihe von Beziehungen eingegangen ist,<br />
dafür entscheiden, ein Kandidat für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu<br />
werden oder der Europäischen Union sogar beitreten, würde dieser gesamte Prozess<br />
den Vorgang zweifellos vereinfachen und dazu beitragen, die Chancen der Ukraine zu<br />
verbessern.<br />
Ich vermag die Logik hinter dieser Art von Diskussion, wie ich sie erwähnte, nicht zu<br />
erkennen. Es scheint mir so, dass es sich lediglich um medienwirksame politische Slogans<br />
handelt. Provokative Slogans, die den Mangel an Bereitwilligkeit erkennen lassen,<br />
sich mit der Substanz dessen, was sich ereignet, zu beschäftigen. Die von uns in der<br />
nachsowjetischen Ära betriebenen Integrationsprojekte sind für niemanden ein Hindernis,<br />
führen nicht zu Beschränkungen und errichten keine Schranken für die Entwicklung<br />
der Länder.<br />
Der hinter dem Projekt zur Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums von<br />
den vier Staaten, die ich erwähnte, stehende Hauptgedanke ist die Errichtung eines<br />
gemeinsamen Tarifgefüges. Nichts weiter. Interessant ist, dass es hauptsächlich Russland<br />
ist, das man darum bittet, diese gemeinsamen Tarife anzuwenden. Warum war der<br />
Präsident Kasachstans der Initiator dieses Projekts? Weil Kasachstan wünscht, dass<br />
Russland gemeinsame Tarife auf dem Energie- und Transportsektor anwendet. Es war<br />
seine Initiative, aber wir sind im gemeinsamen Interesse dazu bereit.<br />
Familienbild auf der Seebrücke von Heiligendamm. Foto: G8 Information Centre<br />
40
Pressekonferenz während des G8-Gipfels in Heiligendamm am 6. Juni 2007<br />
Aber jetzt hat man es so dargestellt, als sei es Russland gewesen, das mit diesem<br />
Projekt begonnen hat, und dass es vor allem uns zum Vorteil gereicht. Niemand wird zu<br />
irgend etwas gezwungen. In der Europäischen Union – soweit mir bekannt – wiederholen<br />
85 Prozent aller von den nationalen Parlamenten verabschiedeten Gesetze das, was<br />
zuvor vom Europaparlament beschlossen worden ist. Mit anderen Worten: Die nationale<br />
Unabhängigkeit wird beständig weniger, und die Souveränität der Staaten verschwindet<br />
nach und nach. Wir, in der nachsowjetischen Ära, haben beschlossen, uns auf gemeinsame<br />
Energie- und Transporttarife zu einigen, und das führte zu einem Sturm der<br />
Entrüstung, Debatten, politischem Klatsch und Provokation. Und ein solches Verhalten<br />
kann eindeutig nicht im Interesse Europas sein. Warum kommt es dazu? Ich verstehe es<br />
nicht. Aber ich meine, dass, wie im Fall der russischen Investitionen, sich mit der Zeit<br />
alles beruhigen wird und diese politische Agitation durch Pragmatismus und Vertrauen<br />
ersetzt werden wird.<br />
Corriere della Sera: Und wie verhält es sich mit der NATO?<br />
Wir meinen, dass es sich mit der NATO-Erweiterung anders verhält, denn bei der<br />
NATO handelt es sich um einen militärisch-politischen Block, und eine solche Erweiterung<br />
führt zu Reibungen bei den Beziehungen mit Russland. Wir sehen für die Ukraine<br />
kein Bedürfnis zum NATO-Beitritt, denn niemand hat die Absicht, die Ukraine anzugreifen.<br />
Und außerdem sind wir der Meinung, dass das Argument, die NATO-Erweiterung<br />
sei geeignet, den Kampf gegen den Terrorismus effektiver zu gestalten, nichts weiter als<br />
leeres Gerede ist, das jeden gesunden Menschenverstand vermissen lässt. Die NATO<br />
selbst trägt absolut nichts zur Bekämpfung des Terrorismus bei. Es ist die multinationale<br />
Zusammenarbeit, die im Kampf gegen den Terrorismus Wirkung zeigt. Heute sehen wir<br />
uns bestimmten Bedrohungen und Herausforderungen gegenüber: Terrorismus, Menschenhandel<br />
und Drogenhandel, organisierte Kriminalität und Verbreitung von Atomwaffen,<br />
und man muss fragen, inwiefern Blockpolitik hier wirksam sein könnte?<br />
Aber es gibt dazu noch mehr zu sagen. Wir haben darüber gesprochen, was sich<br />
gegenwärtig in internationalen Angelegenheiten ereignet. Wir kennen die Gründe für<br />
vermehrte Spannungen und so weiter. Dazu kommt es, weil unsere Partner sich auf bestimmten<br />
Gebieten für ein aggressiveres Vorgehen entschieden haben. Sie erwähnten<br />
den Fall der NATO und Ukraine. Öffentliche Umfragen haben ergeben, dass 50 bis 70<br />
Prozent, vielleicht sogar 80 Prozent der Bevölkerung in der Ukraine gegen den NATO-<br />
Beitritt ist. Dessen völlig ungeachtet, stimmt der US-Kongress dafür, die Aufnahme der<br />
Ukraine in die NATO zu finanzieren. Aber haben sie das ukrainische Volk danach gefragt,<br />
was es wünscht? Warum lassen sie die erklärten Wünsche des ukrainischen Volkes<br />
völlig unberücksichtigt?<br />
41
«Gute Beziehungen zu Frau Merkel»<br />
Bedrohung durch US-Raketenabwehr<br />
Globe and Mail: Wenn die NATO dadurch Vorteile hinsichtlich der Raketenabwehr<br />
hätte, könnte es vielleicht sinnvoll sein? Die Vereinigten Staaten<br />
handeln unilateral, aber wäre statt dessen die NATO beteiligt, würde es nicht<br />
nach einem imperialistischen Schritt aussehen. Durch die Beteiligung von<br />
NATO oder Russland könnten diese Pläne zur Raketenabwehr in einem völlig<br />
anderen Licht erscheinen.<br />
Die Beteiligung der NATO würde grundsätzlich nichts ändern, denn wir wissen, wie<br />
bei der NATO Entscheidungen getroffen werden. Sie wurden in derselben Weise im<br />
Warschauer Pakt getroffen. In Ostdeutschland gab es einen Witz: Woran kann man<br />
erkennen, welches der auf dem Schreibtisch Erich Honeckers stehenden Telefone der<br />
direkte Draht nach Moskau ist? Kennen Sie den Witz?<br />
Der Spiegel: Nein.<br />
Die Antwort lautet: Es ist das Telefon, das nur eine Hör-, aber keine Sprechmuschel<br />
hat. [Gelächter].<br />
Dasselbe gilt für die NATO, außer, dass diese Telefonleitung nicht nach Moskau, sondern<br />
nach Washington führt. Und folglich gibt es keinen Unterschied, wenn die NATO an<br />
der Spitze des Projekts steht.<br />
Was die Frage des Beitritts anderer Länder betrifft: Ja, wir haben nichts dagegen,<br />
aber niemand hat uns gefragt. Wir hören oft das Gerede von europäischer Solidarität,<br />
aber über welche Solidarität reden wir? Zwei Länder – Polen und die Tschechische Republik<br />
– haben die Stationierung von Raketenabwehrsystemen auf ihrem Territorium<br />
gestattet. Man sagt uns, es sei für die Verteidigung Europas unverzichtbar. Aber hat<br />
irgend jemand Europa gefragt? War es wirklich eine gemeinsame europäische Entscheidung?<br />
Zumindest hätte die Entscheidung von der NATO kommen können und sei es auch<br />
nur aus optischen Gründen. Aber es wurde niemand gefragt. Ich bin sicher, hätte man<br />
Europa diese Frage vorgelegt, wäre man sicherlich zu einer Übereinkunft gelangt, aber<br />
die Vereinigten Staaten haben nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, in<br />
diesem Fall ihre Verbündeten zu konsultieren.<br />
42<br />
Was Russland betrifft, haben wir niemals abgelehnt, über dieses Projekt nachzudenken.<br />
In der Tat, so merkwürdig es auch erscheinen mag, wir haben es von Anfang an<br />
angeboten. Wir haben vorgeschlagen, in dieser Sache von Anfang an zusammenzuarbeiten,<br />
aber unser Vorschlag wurde sofort abgelehnt. Später, angesichts der Ablehnung<br />
ihrer Pläne in Europa und überall auf der Welt, sagten unsere Kollegen und Partner, dass<br />
sie mit uns über das Projekt sprechen möchten. Aber wissen Sie, worauf ihre Vorschläge<br />
für eine Zusammenarbeit hinausliefen? Sie wollten, dass wir ihnen unsere Raketen
Im Strandkorb saßen die Chefs der G8-Staaten friedlich vereint. Foto: Presse- und Informationsamt<br />
der Bundesregierung<br />
als Ziele für die Ausbildung am Raketenabwehrsystem zur Verfügung stellen. Was für<br />
Schlauköpfe mögen wohl auf diesen Gedanken gekommen sein! Einige meiner amerikanischen<br />
Kollegen, Freunde, Leute mit sehr viel Erfahrung auf dem Gebiet der Politik und<br />
internationaler Angelegenheiten reagierten genauso wie Sie und lachten. Ich beziehe<br />
mich auf bedeutende amerikanische Gestalten der politischen Bühne.<br />
Aber wir haben keinerlei substanziierte Vorschläge gehört, keine Vorschläge bezüglich<br />
einer weitreichenden Zusammenarbeit, und wir wissen, dass es solche Vorschläge<br />
auch nicht geben wird, weil dieses System als Bestandteil der Atomstreitkräfte der Vereinigten<br />
Staaten geplant ist. Selbstverständlich wäre es in der Tat merkwürdig, würden<br />
sie Russland plötzlich in ihr Allerheiligstes eintreten lassen. In dieser Sache gibt es<br />
nichts weiter zu besprechen. Es ist eine äußerst ernste Angelegenheit. Aber hätten wir<br />
Bemühungen erkennen können, dass man bereit gewesen wäre, unsere Ansichten zu<br />
berücksichtigen, auch über unsere Sicherheit nachgedacht hätte, um ein gewisses Maß<br />
an Ausgewogenheit zu bewahren, und hätten wir gesehen, dass dieses System uns<br />
nicht bedroht oder unser eigenes Potenzial unterminiert, wären wir selbstverständlich<br />
zu einer Zusammenarbeit bereit gewesen. Aber ich denke, das es höchst unwahrscheinlich<br />
ist. Wie ich sagte, es würde bedeuten, uns den Zutritt in ihr Allerheiligstes der atomaren<br />
Streitkräfte zu ermöglichen, und das ist, wie jeder einsehen wird, eine schwere<br />
Entscheidung.<br />
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Auf Wiedersehen.<br />
Quelle: Auszüge aus der Pressekonferenz, transkribiert durch Initiative Information–Natur–<br />
Gesellschaft (www.initiative.cc), zuerst abgedruckt in Zeit-Fragen Nr. 16 vom 14.4.2008<br />
(zeit-fragen.ch)<br />
43
«Von unseren amerikanischen<br />
Freunden provoziert»<br />
_ Nach dem Georgien-Krieg: ARD-Interview am 29. August 2008<br />
In der Nacht von dem 7. auf den 8. August 2008 griffen georgische Regierungstruppen<br />
die abtrünnige Provinz Südossetien an, die sich 1991 für unabhängig erklärt hatte und<br />
Russland zuneigt. Die russische Armee kam den Angegriffenen zu Hilfe. Der Feldzug endete<br />
nach wenigen Tagen mit der vollständigen Niederlage der georgischen Einheiten.<br />
In der Folge erklärten sich Südossetien und Abchasien zu selbständigen Staaten und<br />
wurden von Russland diplomatisch anerkannt.<br />
Thomas Roth: Herr Ministerpräsident, nach der Eskalation in Georgien sieht<br />
das Bild in der internationalen Öffentlichkeit so aus – damit meine ich Politik,<br />
aber auch Presse: Russland gegen den Rest der Welt. Warum haben Sie Ihr<br />
Land mit Gewalt in diese Situation getrieben?<br />
Wladimir Putin: Was meinen Sie, wer hat den Krieg begonnen?<br />
Der letzte Auslöser war der georgische Angriff auf Tschinwali [Hauptstadt<br />
der Provinz Südossetien].<br />
Ich danke Ihnen für diese Antwort. So ist es auch, das ist die Wahrheit. Wir werden<br />
dieses Thema später ausführlicher erörtern. Ich möchte nur anmerken, dass wir diese<br />
Situation nicht herbeigeführt haben. Und jetzt zum Ansehen Russlands.<br />
Ich bin überzeugt, dass das Ansehen eines jeden Landes, das im Stande ist, das<br />
Leben und die Würde der Bürger zu verteidigen, eines Landes, das eine unabhängige<br />
Außenpolitik betreiben kann, dass das Ansehen eines solchen Landes mittel- oder langfristig<br />
steigen wird.<br />
Und umgekehrt: Das Ansehen der Länder, die in der Regel die Interessen anderer<br />
Staaten bedienen, die die eigenen nationalen Interessen vernachlässigen, unabhängig<br />
davon, wie sie das auch erklären mögen, wird sinken.<br />
Sie haben die Frage trotzdem noch nicht beantwortet, warum Sie die Isolation<br />
Ihres ganzen Landes riskiert haben.<br />
44<br />
Ich dachte, geantwortet zu haben, aber wenn Sie zusätzliche Erklärungen brauchen,
Reste einer georgischen Militärbasis bei Gori am 11. September 2008. Foto: Nino Ozbetelashvili|; CCL 3.0<br />
dann mache ich das. Unser Land, das die Würde und den Stolz unserer Bürger verteidigen<br />
kann, und die außenpolitischen Verpflichtungen im Rahmen der Friedensstiftung<br />
erfüllen kann, wird nicht in Isolation geraten, ungeachtet dessen, was unsere Partner in<br />
Europa und USA im Rahmen ihres Blockdenkens sagen. Mit Europa und den USA endet<br />
die Welt nicht. Und im Gegenteil – ich möchte es noch einmal betonen: Wenn Staaten<br />
ihre eigenen nationalen Interessen vernachlässigen, um außenpolitische Interessen anderer<br />
Staaten zu bedienen, dann wird die Autorität dieser Länder, unabhängig davon,<br />
wie sie das auch erklären mögen, nach und nach sinken. Das heißt, wenn die europäischen<br />
Staaten die außenpolitischen Interessen der USA bedienen wollen, dann werden<br />
sie, aus meiner Sicht, nichts dabei gewinnen.<br />
Jetzt reden wir mal über unsere internationalen rechtlichen Verpflichtungen. Nach<br />
internationalen Verträgen haben die russischen Friedensstifter die Pflicht, die zivile Bevölkerung<br />
von Südossetien zu verteidigen. Erinnern wir uns jetzt an das Jahr 1995 in<br />
Bosnien. Uns ist gut bekannt, dass die europäischen Friedenstruppen, die aus niederländischen<br />
Militärangehörigen bestanden, eine der angreifenden Seiten nicht aufgehalten<br />
haben und es dieser Seite ermöglicht haben, eine ganze Ortschaft zu vernichten.<br />
Hunderte wurden getötet und verletzt. Das Problem und die Tragödie von Srebrenica<br />
ist in Europa sehr bekannt. Wollten Sie, dass wir auch so verfahren? Dass wir uns zurückgezogen<br />
hätten und den georgischen Streitkräften erlaubt hätten, die in Tschinwali<br />
lebende Bevölkerung zu vernichten?<br />
45
«Von unseren amerikanischen Freunden provoziert»<br />
Präzedenzfall Kosovo und Irak<br />
Herr Ministerpräsident, Kritiker sagen, Ihr eigentliches Kriegsziel war gar<br />
nicht, nur die südossetische Bevölkerung, aus Ihrer Sicht, zu schützen, sondern<br />
zu versuchen, den georgischen Präsidenten aus dem Amt zu treiben, um<br />
den Beitritt Georgiens über kurz oder lang zur NATO zu verhindern. Ist das so?<br />
Das stimmt nicht, das ist eine Verdrehung der Tatsachen, das ist eine Lüge. Wenn<br />
das unser Ziel gewesen wäre, hätten wir vielleicht den Konflikt begonnen. Aber, wie sie<br />
selbst sagten, das hat Georgien gemacht.<br />
Jetzt gestatte ich mir, an die Tatsachen zu erinnern. Nach der nicht legitimen Anerkennung<br />
des Kosovo haben alle erwartet, dass wir Südossetien und Abchasien anerkennen.<br />
Alle haben darauf gewartet, und wir hatten ein moralisches Recht darauf. Wir<br />
haben uns mehr als zurückgehalten. Ich will das auch nicht kommentieren. Ja, mehr<br />
noch, wir haben das geschluckt. Und was haben wir bekommen? Eine Eskalation des<br />
Konfliktes. Überfall auf unsere Friedensstifter. Überfall und Vernichtung der friedlichen<br />
Bevölkerung in Südossetien. Das sind Tatsachen, die angesprochen wurden. Augenzeugen<br />
berichteten, dass georgische Militäreinheiten gegen Frauen und Kinder mit Panzern<br />
vorgegangen sind. Sie trieben die Menschen in Häuser und verbrannten sie lebendigen<br />
Leibes. Und als georgische Soldaten in Tschinwali einmarschiert waren, haben sie in<br />
Keller, in denen sich Frauen, Kinder versteckt haben, im Vorbeigehen Granaten geworfen.<br />
Was ist das, wenn nicht Völkermord?<br />
Nun zur georgischen Führung. Leute, die ihr Land in eine Katastrophe gestürzt haben,<br />
die Führung Georgiens selbst hat mit ihren Handlungen die territoriale Integrität und<br />
Staatlichkeit Georgiens untergraben. Solche Menschen dürfen meiner Meinung nach<br />
natürlich an gar keiner Staatsspitze stehen. Egal, ob das kleine oder große Staaten sind.<br />
Wären dies anständige Menschen, dann hätten sie selbst sofort zurücktreten müssen.<br />
Das ist jedoch nicht Ihre Entscheidung, sondern die der georgischen Regierung.<br />
Natürlich. Aber wir kennen ja andere Präzedenzfälle. Erinnern wir uns daran, wie<br />
die amerikanischen Truppen in den Irak einmarschiert waren und was sie mit Saddam<br />
Hussein gemacht haben, weil er einige Dörfer der Schiiten vernichtet hat. Hier dagegen<br />
wurden gleich in den ersten Stunden zehn Dörfer auf dem Territorium Südossetiens dem<br />
Erdboden gleichgemacht.<br />
46<br />
Herr Ministerpräsident, sehen Sie sich denn im Recht, in das Territorium<br />
eines souveränen Staates, nämlich Georgiens, vorzudringen und dort Bombardierungen<br />
durchzuführen? Ich selbst sitze hier nur aus purem Zufall mit Ihnen,
Nach dem Georgien-Krieg: ARD-Interview am 29. August 2008<br />
da buchstäblich einige Meter von mir eine Bombe explodiert ist, die aus Ihrem<br />
Flugzeug abgeworfen wurde. Gibt Ihnen das aus völkerrechtlicher Sicht das<br />
Recht?<br />
Wir haben uns absolut im Rahmen des Völkerrechts bewegt. Wir haben den Angriff<br />
auf unsere Friedensstifter, auf unsere Bürger als ein Angriff auf Russland aufgefasst. In<br />
den ersten Stunden der Kampfhandlungen töteten die georgischen Streitkräfte mehrere<br />
Dutzend unserer Blauhelmsoldaten. Sie haben unsere südliche Stellung – dort gab es im<br />
Süden und im Norden Stellungen der Friedenstruppen – mit Panzern umzingelt und sie<br />
unter direkten Beschuss genommen. Als unsere Blauhelmsoldaten die Technik aus einem<br />
Hangar holen wollten, wurde ein Schlag mit dem Artilleriesystem Grad ausgeführt.<br />
Zehn Leute, die in diesen Hangar reingingen, wurden auf der Stelle getötet, also lebendig<br />
verbrannt. Danach hat die georgische Luftwaffe Luftschläge in verschiedenen Punkten<br />
in Südossetien durchgeführt. Nicht in Tschinwali, sondern inmitten von Südossetien.<br />
Und wir sahen uns gezwungen, die Verwaltungspunkte der georgischen Streitkräfte, die<br />
sich außerhalb der Konfliktzone befanden, unschädlich zu machen. Das waren solche<br />
Punkte, von wo die Artillerieschläge und die Luftangriffe auf russische Blauhelmsoldaten<br />
koordiniert und ausgeführt wurden.<br />
Ich hatte ja gesagt, dass auch die Bombardierung der Zivilbevölkerung<br />
stattgefunden hat. Sie haben womöglich nicht alle Informationen.<br />
Ich verfüge möglicherweise nicht über alle Informationen. Im Zuge der Kampfhandlungen<br />
sind Fehler möglich. Vor Kurzem haben die amerikanischen Luftstreitkräfte in Afghanistan<br />
angeblich den Taliban einen Schlag versetzt, in Wirklichkeit aber haben sie mit<br />
einem Schlag an die hundert friedliche Menschen vernichtet. Das ist die erste Möglichkeit,<br />
aber die zweite Möglichkeit ist wahrscheinlicher: Die Feuerleitstellen, die Luftwaffenlenkstellungen<br />
und die Radarstationen hat die georgische Seite manchmal gerade in<br />
Wohngebieten untergebracht, um zu verhindern, dass wir gegen diese unsere Luftwaffe<br />
einsetzen. Dadurch hat sie die Zivilbevölkerung und auch Sie als Geiseln benutzt.<br />
Potenzielle weitere Konflikte<br />
Das ist eine Mutmaßung. Der französische Außenminister [Bernard] Kouchner<br />
hat viele Sorgen geäußert in den letzten Tagen, als Minister der [EU-] Ratspräsidentschaft.<br />
Er hat auch die Sorge geäußert, dass der nächste Konfliktherd<br />
um die Ukraine beginnt, nämlich um die Krim, um die Stadt Sewastopol. Ist die<br />
Krim das nächste Ziel, der Sitz der Schwarzmeerflotte?<br />
Sie sagten das nächste Ziel. Wir haben auch hier kein Ziel gehabt. Deshalb ist es<br />
nicht korrekt, so zu reden. Und, wenn Sie gestatten, dann bekommen Sie eine zufrieden<br />
47
US-Botschafter John F. Tefft spricht zu frisch ausgebildeten georgischen Soldaten am 26. August 2007.<br />
Foto: US Dept. of State; Public Domain<br />
stellende Antwort: Die Krim ist kein kritisches Territorium, da hat es keinen ethnischen<br />
Konflikt gegeben, im Unterschied zum Konflikt zwischen Südossetien und Georgien. Und<br />
Russland hat längst die Grenzen der heutigen Ukraine anerkannt. Im Grunde genommen<br />
haben wir die Grenzverhandlungen abgeschlossen. Da bleiben nur Demarkationsangelegenheiten,<br />
das ist eine technische Angelegenheit. Und eine solche Frage riecht nach<br />
Provokation. Da gibt es innerhalb der Krim komplizierte Prozesse, Krimtataren, ukrainische<br />
Bevölkerung, russische Bevölkerung, also slawische Bevölkerung. Das ist aber ein<br />
internes Problem der Ukraine. Es gibt einen Vertrag über die Flotte bis 2017.<br />
Herr Ministerpräsident, ein weiterer Außenminister hat Sorgen geäußert,<br />
in diesem Fall der britische Außenminister [David] Milliband. Er hat vor einem<br />
neuen – ich benutze dieses Wort als Zitat – Kalten Krieg zwischen Russland<br />
und dem Westen gewarnt. Er hat vor einem beginnenden Wettrüsten gewarnt.<br />
Wo stehen wir? Wie würden Sie das bezeichnen: Ist das eine Eiszeit, ist es<br />
schon ein Kalter Krieg und hat das Wettrüsten schon begonnen, oder schließen<br />
Sie alles aus?<br />
Es gibt den Ausspruch: Haltet den Dieb! Derjenige, der am lautesten schreit, der ist<br />
der Dieb.<br />
Also ist der Räuber der britische Außenminister?<br />
48<br />
Das haben Sie gesagt. Exzellent! Es ist angenehm, sich mit Ihnen zu unterhalten.<br />
Aber das haben Sie gesagt. Meint man es aber ernst, so ist Russland keinesfalls darauf<br />
aus, dass sich die Situation zuspitzt. Wir wollen keine Spannungen, mit wem auch
Nach dem Georgien-Krieg: ARD-Interview am 29. August 2008<br />
immer. Wir streben freundliche, gutnachbarliche Beziehungen an, Partnerschaftsbeziehungen<br />
mit allen Staaten.<br />
Wenn Sie gestatten, ich denke darüber Folgendes: Es hat die Sowjetunion und den<br />
Warschauer Vertrag gegeben. In Deutschland gab es sowjetische Truppen. Ehrlich gesagt<br />
waren es Besatzungstruppen, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
geblieben sind, als Truppen der Alliierten. Diese Besatzungstruppen wurden nach dem<br />
Zerfall der Sowjetunion abgezogen, der Warschauer Vertrag löste sich auf. Es gibt keine<br />
Gefahr seitens der Sowjetunion. Aber die NATO, die US-Truppen, sind in Europa geblieben.<br />
Warum?<br />
Um Ordnung im eigenen Haus, im eigenen Lager, mit den eigenen Verbündeten zu<br />
schaffen, um sie im Rahmen der Blockdisziplin zu halten – braucht man eine äußere<br />
Gefahr. Der Iran passt nicht ganz für eine solche Rolle. Also will man unbedingt Russland<br />
als Feindbild ins Leben zurückrufen. Aber in Europa hat man davor keine Angst mehr.<br />
Die EU muss sich entscheiden<br />
Die Europäische Union in Brüssel wird über Russland reden. Es wird wohl<br />
auch über Sanktionen gegen Russland zumindest geredet werden, möglicherweise<br />
werden sie beschlossen. Macht Ihnen das irgend eine Art von Sorge<br />
oder ist Ihnen das egal, weil Sie sagen, die Europäer finden sowieso nicht zu<br />
einer Stimme?<br />
Würde ich sagen, wir pfeifen drauf, es ist uns egal, würde ich lügen. Natürlich verfolgen<br />
wir alles sehr aufmerksam. Wir hoffen, dass der gesunde Menschenverstand<br />
triumphieren wird, und wir glauben, dass eine nicht politisierte, sondern objektive Einschätzung<br />
der Ereignisse gegeben wird. Wir hoffen auch, dass die Aktionen der russischen<br />
Friedensstifter unterstützt werden und die Aktionen der georgischen Seite, die<br />
diese verbrecherische Aktion durchgeführt hatte, sanktioniert werden.<br />
Herr Ministerpräsident, müssen Sie sich in Wirklichkeit nicht entscheiden?<br />
Sie wollen auf der einen Seite auf eine intensive Zusammenarbeit mit Europa<br />
nicht verzichten, Sie können es meines Erachtens wirtschaftlich auch gar<br />
nicht, andererseits wollen Sie trotzdem nach eigenen russischen Spielregeln<br />
spielen. Also auf der einen Seite ein Europa der gemeinsamen Werte, die Sie<br />
auch teilen müssen, andererseits spielen Sie nach russischen Spielregeln.<br />
Beides zusammen geht aber nicht…<br />
Wir wollen nicht nach irgendwelchen besonderen Spielregeln spielen. Wir wollen,<br />
dass alle nach einheitlichen völkerrechtlichen Regeln vorgehen. Wir wollen nicht, dass<br />
diese Begriffe manipuliert werden, in einer Region die Regeln, in einer anderen die<br />
49
«Von unseren amerikanischen Freunden provoziert»<br />
Regeln. Wir wollen einheitliche Regeln. Einheitliche Regeln, die die Interessen aller<br />
Teilnehmer berücksichtigen.<br />
Wollen Sie damit sagen, dass die EU je nach Region nach unterschiedlichen<br />
Regeln handelt, die nicht dem Völkerrecht entsprechen?<br />
Absolut. Wie hat man Kosovo anerkannt? Man vergaß die territoriale Souveränität<br />
der Staaten, die UN-Resolution 1244, die sie selbst beschlossen haben. Dort durfte man<br />
das und in Abchasien und Südossetien nicht. Warum?<br />
Das heißt Russland ist einzig und allein fähig die Regeln des internationalen<br />
Völkerrechts zu bestimmen. Alle anderen manipulieren, machen es, wie<br />
sie wollen? Hab ich Sie richtig verstanden?<br />
Sie haben mich falsch verstanden. Haben Sie die Unabhängigkeit Kosovos anerkannt?<br />
Ja oder Nein?<br />
Ich selbst nicht, ich bin Journalist.<br />
Die westlichen Länder. Im Grunde haben es alle anerkannt. Nur, wenn man es dort<br />
anerkennt, dann muss man auch die Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien<br />
anerkennen. Es gibt überhaupt keinen Unterschied. Der Unterschied ist ausgedacht.<br />
Dort gab es ethnische Spannungen und hier gibt es ethnische Spannungen. Dort gab<br />
es Verbrechen, praktisch von beiden Seiten, und hier kann man die wahrscheinlich finden.<br />
Wenn man etwas «gräbt», dann kann man die bestimmt finden. Dort gab es die<br />
Entscheidung, dass beide Völker nicht mehr zusammen in einem Staat leben können,<br />
und hier wollen sie es auch nicht. Es gibt keinen Unterschied und alle verstehen es in<br />
Wirklichkeit. Das alles ist nur Gerede, um rechtswidrige Schritte zu decken. Das nennt<br />
man, das Recht des Stärkeren. Und damit kann sich Russland nicht abfinden.<br />
Herr Roth Sie leben schon lange in Russland, sie sprechen hervorragend, fast ohne<br />
Akzent, russisch. Dass Sie mich verstanden haben, wundert mich nicht. Das ist mir sehr<br />
angenehm, jedoch möchte ich auch sehr, dass mich meine europäischen Kollegen verstehen,<br />
die sich am 1. September treffen und über diesen Konflikt beraten werden.<br />
50<br />
Wurde die Resolution 1244 angenommen? Ja! Dort wurde unterstrichen geschrieben:<br />
Territoriale Souveränität Serbiens! Die Resolution haben die in den Müll weggeworfen.<br />
Alles vergessen. Sie wollten die Resolution zuerst umdeuten, anders interpretieren,<br />
aber es ging nicht. Alles vergessen. Warum? Das Weiße Haus ordnete es an, und<br />
alle führen es aus! Wenn die europäischen Länder auch weiterhin eine solche Politik<br />
führen, dann werden wir über europäische Angelegenheiten in Zukunft mit Washington<br />
reden müssen.
Nach dem Georgien-Krieg: ARD-Interview am 29. August 2008<br />
Georgien-Krieg als US-Wahlkampf?<br />
Wo sehen Sie die Aufgabe von Deutschland in dieser Krise?<br />
Wir haben zu Deutschland sehr gute Beziehungen, vertrauensvolle Beziehungen, sowohl<br />
politische als auch ökonomische. Als wir mit Herrn [Nicolas] Sarkozy gesprochen<br />
haben, bei seinem Besuch hier, haben wir gesagt, dass wir keinerlei Territorien in Georgien<br />
wollen. Wir werden uns in die Sicherheitszone zurückziehen, die in den früheren<br />
internationalen Abkommen vereinbart wurde. Aber da werden wir auch nicht ewig bleiben.<br />
Wir betrachten das als georgisches Territorium. Unsere Absicht besteht nur darin,<br />
die Sicherheit zu gewährleisten und es nicht so zu machen, dass da Truppen und Kriegsgerät<br />
heimlich geballt werden. Und zu verhindern, dass da die Möglichkeit eines neuen<br />
Konfliktes entsteht. Dann begrüßen wir die Teilnahme von Beobachtern der EU, der OSZE<br />
und natürlich auch Deutschlands. Wenn die Prinzipien der Zusammenarbeit geklärt sind.<br />
Das heißt Sie werden Ihre Truppen auf jeden Fall zurückziehen?<br />
Natürlich. Es ist für uns als erstes wichtig, die Sicherheit in der Region sicherzustellen;<br />
als nächstes Südossetien zu helfen, die eigenen Grenzen zu sichern. Danach<br />
haben wir keine Gründe mehr uns dort aufhalten zu müssen. Und während dieser Arbeit<br />
würden wir die Kooperation mit der EU, OSZE nur begrüßen.<br />
Was können Sie unter der Berücksichtigung der Umstände, in dem sich diese<br />
Krise befindet, der Beziehungen zur USA und Europa, zur Eskalation dieser<br />
Krise beitragen?<br />
Als erstes, das habe ich bereits gestern Ihren CNN-Kollegen gesagt, dass diese Krise<br />
unter anderem von unseren amerikanischen Freunden, im Zuge des Vorwahlkampfes,<br />
provoziert wurde. Das schließt auch die Nutzung der administrativen Ressourcen in einer<br />
sehr bedauernswerten Ausführung ein, um einem der Kandidaten eine Mehrheit<br />
sicherzustellen. In dem Fall, dem der Regierungspartei. [Anspielung Putins auf den republikanischen<br />
Präsidentschaftskandidaten John McCain, der durch die Bush-Politik in der<br />
Georgien-Krise Rückenwind erhalten habe.]<br />
Das glauben Sie wirklich?<br />
Ja, ich glaube es.<br />
Haben Sie Fakten?<br />
Analyse.<br />
Das ist kein Fakt.<br />
51
«Von unseren amerikanischen Freunden provoziert»<br />
Das ist kein Fakt. Uns ist bekannt, dass es dort [in Georgien] viele amerikanische<br />
Berater gegeben hat. Es ist sehr schlecht, eine der Seiten beim ethnischen Konflikt aufzurüsten<br />
und dann diese dazu zu drängen, ethnische Probleme auf dem militärischen<br />
Wege zu lösen. Dies scheint zwar einfacher, als jahrelang zu verhandeln und nach Kompromissen<br />
zu suchen. Aber das ist zugleich ein sehr gefährlicher Weg, was sich ja dann<br />
aus der Entwicklung auch gezeigt hat.<br />
Aber die Berater und Instrukteure, die Ausbilder, das Personal, das die Truppen ausbildet<br />
und an der gelieferten Kriegstechnik trainiert hat, das muss sich auf dem Übungsgelände<br />
und in den Trainingszentren befinden. Und wo waren sie in Wirklichkeit? In der<br />
Zone der Kampfhandlungen. Und allein dies lässt vermuten, dass die Führung der USA<br />
über die vorbereitete Aktion im Bilde war. Mehr noch – sie hat daran höchst wahrscheinlich<br />
teilgenommen. Denn ohne das Kommando der höchsten Führung hätten amerikanische<br />
Bürger kein Recht, sich in der Konfliktzone aufzuhalten. In der Sicherheitszone<br />
durften sich nur Ortsbewohner, OSZE-Beobachter und die Friedenskräfte aufhalten. Dort<br />
haben wir aber Spuren amerikanischer Bürger entdeckt, die weder zur ersten, noch zur<br />
zweiten, noch zur dritten Kategorie gehört haben.<br />
Und da ergibt sich die Frage: Warum hat die oberste Führung der Vereinigten Staaten<br />
die Präsenz ihrer Bürger in der Sicherheitszone gestattet, die sich dort gar nicht aufhalten<br />
durften? Und wenn ihnen dies gestattet wurde, dann kommt bei mir der Verdacht auf,<br />
dass dies extra gemacht wurde, um einen kleinen siegreichen Krieg zu organisieren. Und<br />
als dieser misslungen war, wurde aus Russland ein Feindbild gemacht, um auf dieser<br />
Grundlage die Wähler um einen der Präsidentenanwärter zu scharen. Natürlich um den<br />
Kandidaten von der regierenden Partei. Weil nur die regierende Partei über solche Ressourcen<br />
verfügen kann. Dies sind meine Überlegungen und Annahmen. Es ist Ihre Sache,<br />
ob Sie damit einverstanden sind oder nicht, aber sie haben ihre Existenzberechtigung,<br />
weil wir auf die Spuren der US-Bürger in der Zone der Kampfhandlungen gestoßen sind.<br />
52<br />
Doppelter Standard in den Westmedien<br />
Und eine letzte Frage, die mich sehr interessiert. Denken Sie nicht, dass<br />
Sie sich in der Falle Ihres eigenen autoritären Systems befinden? Sie kriegen<br />
Informationen von Ihren Geheimdiensten und anderen Quellen, jedoch haben<br />
die Medien Angst etwas zu berichten, was nicht mit der Linie der Regierung<br />
übereinstimmt. Ist es nicht so, dass das von Ihnen geschaffene System Ihnen<br />
die Möglichkeit eines breiten Sichtfeldes auf diesen Konflikt nimmt, auf die<br />
Geschehnisse in Europa und anderen Ländern?<br />
Sehr geehrter Herr Roth, Sie haben unser politisches System als autoritär bezeichnet.<br />
Sie haben in unserer heutigen Diskussion auch mehrfach über unsere gemeinsa-
Nach dem Georgien-Krieg: ARD-Interview am 29. August 2008<br />
men Werte gesprochen. Woraus bestehen diese? Es gibt einige grundlegende Werte,<br />
wie das Recht zu leben. In der USA zum Beispiel gibt es immer noch die Todesstrafe, in<br />
Russland und Europa gibt es die nicht. Heißt das denn, dass Sie aus dem NATO-Block<br />
austreten wollen, weil es keine vollständige Übereinstimmung der Werte zwischen den<br />
Europäern und Amerikanern gibt?<br />
Jetzt zum Konflikt, über den wir heute sprechen. Wissen Sie denn nicht, was sich in<br />
Georgien die letzten Jahre abgespielt hat? Der rätselhafte Tod des Ministerpräsidenten<br />
[Surab] Schwania, Niederschlagung der Opposition, physische Zerschlagung von Protestmärschen<br />
der Oppositionellen, Durchführung der Wahlen während eines Ausnahmezustands<br />
und jetzt diese verbrecherische Aktion in Ossetien mit vielen Toten. Und<br />
da ist natürlich ein demokratisches Land, mit dem ein Dialog über die Aufnahme in die<br />
NATO oder gar EU geführt werden muss. Und wenn ein anderes Land seine Interessen<br />
verteidigt, das Recht seiner Bürger auf Leben verteidigt, 80 unserer Leute wurden sofort<br />
getötet, 2.000 aus der zivilen Bevölkerung wurden getötet – und wir dürfen unsere<br />
Bürger dort nicht schützen? Und wenn wir das machen, dann nimmt man uns die Wurst<br />
weg? Wir haben die Wahl Wurst oder Leben. Wir wählen das Leben, Herr Roth.<br />
Jetzt über den anderen Wert: Pressefreiheit. Sehen Sie nur wie diese Ereignisse in<br />
der amerikanischen Presse beleuchtet werden, die als leuchtendes Beispiel der Demokratie<br />
gilt. Und in der europäischen ist es ähnlich. Ich war in Peking [bei der Eröffnung<br />
der Olympischen Spiele], als die Ereignisse anfingen. Massiver Beschuss von Tschinwali,<br />
Anfang des Vorstoßes der georgischen Truppen, es gab sogar bereits vielfache<br />
Opfer, es hat keiner ein Wort gesagt. Auch Ihre Anstalt [ARD] hat geschwiegen, alle<br />
BMP 2-Panzer der 58. russischen Armee in Südossetien im August 2008. Foto: Yana Amelina; CCL 3.0<br />
53
«Von unseren amerikanischen Freunden provoziert»<br />
amerikanischen Anstalten. So als ob gar nichts passiert sei. Erst als der Aggressor<br />
«in die Fresse» bekam, «Zähne raus geschlagen» bekommen hat, als er seine ganze<br />
amerikanische Ausrüstung aufgegeben und ohne Rücksicht gerannt ist, haben sich alle<br />
erinnert. An das internationale Völkerrecht, an das böse Russland. Da waren alle wieder<br />
auf der Stelle. Wieso eine solche Willkür in der Berichterstattung?<br />
Für faire Wirtschaftsbeziehungen<br />
Nun zur «Wurst»: Wirtschaft. Wir wollen normale, wirtschaftliche Beziehungen zu<br />
allen unseren Partnern. Wir sind ein sehr zuverlässiger Partner, wir haben noch nie<br />
einen Partner betrogen. Als wir Anfang der 1960er Jahre die Pipeline in die BRD gebaut<br />
haben, hat unser transatlantischer Partner den Deutschen geraten, diesem Projekt<br />
nicht zuzustimmen. Sie müssen das ja wissen. Damals hat die Führung Deutschlands<br />
die richtige Entscheidung getroffen und die Pipeline wurde zusammen mit der Sowjetunion<br />
gebaut. Heute ist sie eine der zuverlässigsten Gas-Quellen für die deutsche<br />
Wirtschaft. 40 Milliarden Kubikmeter bekommt Deutschland jedes Jahr. Und wird es<br />
auch weiterhin, das garantiere ich. Sehen wir uns das globaler an. Wie ist die Struktur<br />
unseres Exports in die europäischen Länder und auch in die USA? 80 Prozent davon<br />
sind Rohstoffe (Öl, Gas, Ölchemie, Holz, Metalle). Das alles ist von der europäischen<br />
und Weltwirtschaft in höchstem Maße gefragt. Das sind sehr gefragte Produkte auf<br />
dem Weltmarkt. Wir haben auch die Möglichkeiten in hoch technologischen Gebieten,<br />
die sind jedoch sehr begrenzt. Mehr noch, trotz rechtsgültiger Abkommen mit der EU<br />
beispielsweise über atomaren Brennstoff werden wir rechtswidrig vom europäischen<br />
Markt ferngehalten. Wegen der Position unserer französischen Freunde. Aber sie wissen<br />
davon, wir haben mit denen lange diskutiert. Und wenn jemand diese Beziehungen<br />
aufgeben will, dann können wir nichts dagegen machen. Wir wollen das jedoch nicht.<br />
Wir hoffen sehr, dass unsere Partner ihre Pflichten genauso erfüllen wie wir unsere.<br />
Das war über unseren Export. Was Euren Export, also unseren Import, angeht, so ist<br />
Russland ein sehr zuverlässiger und großer Markt. Ich erinnere mich jetzt nicht an genaue<br />
Zahlen, der Import der Maschinenbautechnologie aus Deutschland wächst von Jahr zu<br />
Jahr. Dieser ist sehr groß heutzutage. Und wenn jemand uns nicht mehr beliefern will,<br />
dann werden wir das woanders kaufen. Nur wer braucht das, verstehe ich nicht?<br />
Wir drängen auf eine objektive Analyse der Geschehnisse und wir hoffen, dass gesunder<br />
Menschenverstand und die Gerechtigkeit siegen werden. Wir sind das Opfer<br />
der Aggression und wir hoffen auf die Unterstützung unserer europäischen Partner.<br />
54<br />
Quelle: tagesschau.de/ausland/putininterview100.html. Die ARD hatte zunächst nur eine auf<br />
zehn Minuten gekürzte Fassung des Interviews ausgestrahlt. Nach zahlreichen Zuschauerprotesten<br />
wurde die vollständige Version freigegeben.
«Wir dürfen keinerlei<br />
Fakten verschweigen»<br />
_ Rede zum Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkrieges in Polen<br />
am 1. September 2009<br />
Die Zeremonie fand auf der Halbinsel Westerplatte in Polen statt, wo der Angriff der<br />
Wehrmacht begonnen hatte. Es waren 30 Staatsoberhäupter anwesend.<br />
Sehr geehrter Präsident von Polen, sehr geehrter Herr Premierminister, sehr geehrte<br />
Damen und Herren, sehr geehrte Kollegen und Freunde! Wir, die Vertreter verschiedener<br />
Staaten, sind heute hier zusammengekommen, wo die ersten Salven des blutigsten und<br />
schlimmsten Krieges fielen, des schlimmsten Krieges in der Menschheitsgeschichte.<br />
Wir haben uns hier zusammengefunden, um uns zu verneigen vor den zig Millionen<br />
Opfern und gefallenen Soldaten, die sich einst gegen das faschistische Deutschland<br />
wandten. Wir verneigen uns vor den Alten, Kindern, Frauen und denen, die unter den<br />
Bomben und unter den Kugeln der Schänder, der Mörder, und in den Konzentrationslagern<br />
zu Tode kamen. Sie starben für ihre politischen Überzeugungen, für ihre religiösen<br />
Zugehörigkeiten. Der Sieg über Nazi-Deutschland verlangte einen hohen Preis. Alleine<br />
die Befreiung von Danzig kostete 53.000 Soldaten und Offizieren der Roten Armee das<br />
Leben. 600.000 Russen sind alleine in Polen gefallen, und von den 55 Millionen Gefal-<br />
Vorbeimarsch deutscher Truppen an Adolf Hitler im September 1939. Foto: Bundesarchiv; CCL 3.0<br />
55
«Wir dürfen keinerlei Fakten verschweigen»<br />
lenen des Krieges ist mehr als die Hälfte, mehr als die Hälfte waren Staatsbürger der<br />
Sowjetunion. Stellen Sie sich diese schreckliche Zahl vor! Und so ist es die Schuld, die<br />
Verpflichtung jedes Staates, jedes Volkes sich diesen hohen Preis stets vor Augen zu halten,<br />
die dramatischen Ereignisse in unserer gemeinsamen Geschichte nicht zu vergessen.<br />
Versailles als Auslöser des Krieges<br />
Wir erinnern uns an die ersten Kriegstage und müssen uns natürlich auch an die<br />
Gründe erinnern, die zu diesem Krieg führten. Wir müssen uns an die Bemühungen erinnern,<br />
die eigene Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer zu schützen. Wozu führen<br />
solche Intrigen, solche Pakte? Ich schließe mich dem heute Gesagten an. Es wurde aus<br />
dem Versailler Vertrag das Schlechteste gemacht: Er schrieb nicht nur die [territorialen]<br />
Verluste Deutschlands fest, sondern auch seine Unterdrückung, was sich letztlich 1933<br />
in dem weiteren Geschehen wieder spiegelte. Wir müssen allerdings auch festhalten,<br />
dass wir kein gemeinsames Sicherheitssystem in Europa hatten, wie wir es heute haben.<br />
Wir müssen uns heute den Zweiten Weltkrieg vor Augen halten und unsere Lehren<br />
daraus ziehen. Wir müssen uns daher von den politischen Stereotypen der Presse dieser<br />
Zeit distanzieren und dürfen keinerlei Fakten verschweigen.<br />
Wir müssen verstehen, dass jegliche Zusammenarbeit mit Extremisten, wie zum Beispiel<br />
seiner Zeit mit den Nazis, egal unter welchen Bedingungen, egal aus welchen<br />
Motiven, zu einer Tragödie führen muss. Und es ging hier ja nicht nur um eine Zusammenarbeit,<br />
sondern um eine Paktiererei. Wir müssen also anerkennen: Alle Maßnahmen<br />
zwischen 1934 und 1939 mit der Absicht, die Nazis an ihrer Kriegstreiberei zu hindern,<br />
Eine Staffel Stukas Ju 87 im September 1939. Foto: Bundesarchiv; CCL 3.0<br />
56
Rede zum Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkrieges in Polen am 1. September 2009<br />
waren echte Friedensbemühungen. Und vom politischen Standpunkt aus gesehen war<br />
das ein außerordentlich gefährliches Unterfangen, und schließlich endete all das in einer<br />
Tragödie, im Beginn des Zweiten Weltkrieges, und natürlich muss man diese damals<br />
gemachten Fehler heute anerkennen. Unser Land hat die eigenen Fehler anerkannt. Die<br />
Duma der Russischen Föderation, unser Parlament, hat den Hitler-Stalin-Pakt, den Pakt<br />
zwischen Ribbentrop und Molotow [August 1939], verurteilt. Wir möchten, dass auch<br />
andere Staaten, die mit Nazi-Deutschland paktierten, auf gleicher Ebene eine Verurteilung<br />
vornehmen und nicht nur auf der Ebene von Lippenbekenntnissen, sondern auch auf<br />
der politischen Ebene.<br />
Allerdings müssen wir auch an die Opfer denken. Wir müssen verstehen, was damals<br />
passiert ist, denn ohne dieses Verständnis können wir keine sichere Welt aufbauen. Wir<br />
müssen die Lehren aus dem Kalten Krieg, aus den künstlichen Trennlinien, ziehen. Ich<br />
möchte hier anmerken, dass mein Land nicht nur die Fehler und die Tragödien anerkennt,<br />
sondern auch einen Beitrag erbringen möchte für die gemeinsame Zukunft. Ich möchte<br />
dabei anmerken, dass mein Land es geschafft hat, sowohl die virtuelle, wie auch die reale<br />
Berliner Mauer zu überwinden. Wir haben es geschafft, ein Europa ohne Trennlinien<br />
zu schaffen. Wir müssen die Gesellschaften von Hass, von Xenophobie, von Fremdenhass<br />
befreien, müssen Geschichtsverfälschungen vorbeugen. Die heutige Politik muss<br />
basieren auf gemeinsamen moralischen und rechtlichen Prinzipien. Ich bin überzeugt,<br />
dass es uns nur dann möglich ist, die tragischen Ereignisse und Folgen des Zweiten<br />
Weltkrieges zu überwinden und eine gute Zukunft für unsere Kinder zu begründen.<br />
Hierzu können natürlich partnerschaftliche Verbindungen zwischen der Bundesrepublik<br />
Deutschland und dem neuen Russland beitragen, wie sie in den letzten Jahren entstanden<br />
sind, diese Freundschaft und die Freundschaft zwischen diesen beiden Staaten.<br />
Wir möchten, dass auch die russisch-polnischen Beziehungen von den Belastungen der<br />
letzten Jahrzehnte befreit werden, dass eine neue Zusammenarbeit entsteht, dass wir,<br />
zwei ehrenvolle, große Nationen Europas, zusammenfinden. Ich möchte mich abschließend<br />
an die Hauptpersonen der heutigen Zeremonie wenden – an diejenigen nämlich,<br />
die in Stalingrad und auf der Westerplatte gekämpft haben. Diejenigen, die Prag, Berlin,<br />
Paris und Warschau befreit haben. Euer Ruhm ist unsterblich. Dieser Ruhm ist Maßstab<br />
für die Ehre und den Erfolg der künftigen Jahre. Vielen Dank.<br />
Quelle: youtube.com/watch?v=hDfZ5IcBEiM; Übersetzung: Phoenix.<br />
[Am selben Tag auf einer weiteren Veranstaltung]<br />
Ich möchte die Aufmerksamkeit unserer verehrten Kollegen auf Folgendes lenken:<br />
Der Pakt Ribbentrop-Molotow [sogenannter Hitler-Stalin-Pakt, August 1939] war das<br />
letzte Dokument zwischen der Sowjetunion als europäischer Macht mit Hitlers Deutschland.<br />
Vorher aber gab es den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt im Jahre 1934.<br />
57
«Wir dürfen keinerlei Fakten verschweigen»<br />
Auch vor dem Ribbentrop-Molotow-Pakt wurden praktisch ähnliche Nichtangriffspakte<br />
zwischen Nazi-Deutschland und den anderen europäischen Großmächten abgeschlossen.<br />
Auch noch vor dem Ribbentrop-Molotow-Pakt wurde das sogenannte Münchener<br />
Abkommen [Zur Preisgabe des Sudetenlandes, September 1938, zwischen Deutschland,<br />
Großbritannien, Frankreich, Italien] unterzeichnet. Es wird auch als Münchner Verschwörung<br />
bezeichnet.<br />
Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf Folgendes lenken: Nachdem das Münchner Abkommen<br />
unterzeichnet wurde – ich glaube es war Ende September 1938, wenn ich<br />
mich nicht irre – nur einen Tag danach, wortwörtlich nur einen Tag nach der Unterzeichnung,<br />
erklärte Polens damalige Regierung das Ultimatum an die Tschechoslowakei<br />
und schickte zusammen mit der deutschen Wehrmacht am selben Tag Truppen auf das<br />
Territorium der Tschechoslowakei und okkupierte zwei tschechoslowakische Gebiete.<br />
Ich gebe jetzt keinerlei Bewertungen. Dafür bin ich nicht hergekommen. Ich wurde von<br />
Polens Premierminister hierhin eingeladen, um den Opfern des Zweiten Weltkrieges<br />
zu gedenken und den Mut und Heroismus des polnischen Volkes zu loben, das tapfer<br />
gegen Nazi-Deutschland kämpfte. Wenn wir aber von einer objektiven Bewertung der<br />
Geschichte reden wollen, müssen wir verstehen, dass sie [die Geschichte] nicht nur<br />
einfarbig ist. Die Geschichte um den Zweiten Weltkrieg hatte viele Nuancen, und es<br />
wurden von vielen Seiten riesige Fehler begangen. All diese Vorgänge und Taten vieler<br />
Länder schufen – auf die eine oder andere Art und Weise – Bedingungen für den Beginn<br />
der Aggressionen von Nazi-Deutschland in diesem riesigen Maßstab. An diesen<br />
Momenten sollten wir gemeinsam arbeiten, wenn wir ein objektives Bild des Zweiten<br />
Weltkrieges sehen wollen.<br />
Wenn sich aber jemand zum Ziel setzt, aus diesem alten, schimmeligen Brötchen der<br />
Geschichte nur die Rosinen für sich heraus zu bohren und den schimmeligen Rest des<br />
Brötchens nur der anderen Seite zu überlassen, dann wird daraus nichts Gutes, weil diese<br />
Vorgehensweise keine Vorbedingungen für gegenseitiges Verständnis und Vertrauen<br />
schaffen kann, und genau das brauchen wir alle so sehr! Genau danach sollten wir alle<br />
streben. Und ich bin mir sicher, wenn wir diesen konstruktiven Dialog in dem Geiste wie<br />
heute weiter führen werden, werden wir dieses Ziel sicherlich erreichen. Man sollte<br />
hierbei koordiniert vorgehen und [die Diskussion] entpolitisieren. Denn wenn wir das<br />
nicht tun werden, und deswegen habe ich vorhin mit Herrn [Premier Donald] Tusk bereits<br />
gesprochen, dann werden wir, wissen Sie, wie ein Arzt vorgehen, der seine Patienten<br />
absichtlich mit irgendeiner Krankheit infiziert, um dann von deren Heilung zu profitieren.<br />
Warum müssen wir dem öffentlichen Bewusstsein falsche Fakten eintrichtern, um dann<br />
damit innenpolitisch zu spekulieren?<br />
58<br />
Quelle: Russisches Fernsehen, youtube.com/watch?v=s9YY1Q7NiJU&noredirect=1.<br />
Übrsetzung: K. Ziske.
«Es darf kein Chaos<br />
zugelassen werden!»<br />
_ ARD-Interview am 8. April 2013<br />
WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn: Herr Präsident, Deutschland und<br />
Russland, das ist eine besondere Beziehung, wirtschaftlich passt das prima<br />
zusammen, politisch hakt es zur Zeit ein bisschen. Viele Deutsche sehen mit<br />
Sorge Razzien bei hunderten von Nichtregierungsorganisationen in Russland,<br />
zwei deutsche politische Stiftungen sind betroffen. Die deutsche Öffentlichkeit<br />
hat die Erklärung: Da soll eingeschüchtert werden. Warum handeln Ihre<br />
Behörden so?<br />
Wladimir Putin: Ich glaube, Sie schüchtern die deutsche Öffentlichkeit ein. Es passiert<br />
doch gar nichts Ähnliches und man muss die Menschen nicht einschüchtern. Man<br />
muss objektiv die Entwicklungen beleuchten und was ist denn die objektive Beleuchtung?<br />
Ende vergangenen Jahres wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet, nach dessen<br />
Maßgabe in der Russischen Föderation diejenigen Nichtregierungsorganisationen,<br />
die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, also aus dem Ausland finanziert<br />
werden und die innenpolitische Tätigkeit hierzulande betreiben, sich registrieren lassen<br />
müssen, als ausländische Agenten. Also geht es hier um Organisationen, die innerhalb<br />
unseres Landes auf politischem Parkett agieren und sich von ausländischem Geld bezahlen<br />
lassen. Das ist kein besonderes Novum in der globalen politischen Praxis. Ein<br />
genau solches Gesetz gibt es in den USA seit 1938. Wenn Sie zusätzliche Fragen haben,<br />
würde ich mich sehr gerne diesen Fragen stellen, um Ihnen zu erklären, was passiert.<br />
Und Ihren, also unseren Zuschauern.<br />
WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn und Wladimir Putin. Foto: ARD; Youtube<br />
59
«Beresowski, wir sind mit Dir»: Anti-Regierungs-Demonstration in Sankt Petersburg 2007.<br />
Foto: Marina Tsygankova; fontanka.ru<br />
Herr Präsident, mir ist nicht bekannt, dass in den USA ähnliche Durchsuchungen,<br />
Beschlagnahmungen stattfinden. Der Begriff «ausländischer Agent»,<br />
den die Organisationen tragen müssen, in unseren Ohren hört sich das nach<br />
Kaltem Krieg an.<br />
Ich... Dann werde ich präzisieren. In den USA gibt es ein solches Gesetz, es ist bislang<br />
in Kraft und unsere russischen Organisationen werden mit der gleichen Praxis konfrontiert,<br />
die dort vor Jahrzehnten eingeführt worden ist. [Putin wendet sich an einen<br />
seiner Begleiter] Ich werde Ihnen gleich ein Papier überreichen. Vor kurzem hat das<br />
amerikanische Justizministerium die Nichtregierungsorganisationen ersucht, Dokumente<br />
bereitzustellen, dass sie Gelder aus dem Ausland erhalten und dort gibt es eine lange<br />
Liste von Fragen. Wir haben ein genau ähnliches Gesetz verabschiedet, das nichts<br />
verbietet, das möchte ich unterstreichen. Dieses Gesetz verbietet ja nichts, dieses Gesetz<br />
schränkt nichts ein und lässt niemanden dicht machen. Und keine Tätigkeit, selbst<br />
innenpolitische Tätigkeit für Organisationen, die sich aus dem Ausland finanzieren, ist<br />
verboten. Wir wollen nur wissen, wer dieses Geld bekommt und wofür dieses Geld ausgegeben<br />
wird. Ich wiederhole: Das ist kein Novum, das wir uns haben einfallen lassen.<br />
Aber warum ist das so aktuell für uns? Was glauben Sie? Wie viele Nichtregierungsorganisationen<br />
gibt es in Europa, die sich aus Russland finanzieren lassen? Was glauben<br />
Sie persönlich?<br />
60<br />
Die Rolle der Nichtregierungsorganisationen<br />
Ich kann das nicht schätzen, Herr Präsident. Ich kann ja auch nur über meinen<br />
Eindruck sprechen. Lassen Sie mich...<br />
[Unterbricht Schönenborn] Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich werde es Ihnen<br />
sagen. [Er lässt sich eine Mappe mit Unterlagen reichen] Eine solche Organisation gibt
ARD-Interview am 8. April 2013<br />
es in Paris und die andere, die zweite Organisation ist in Nordamerika tätig und ist in<br />
den USA registriert worden. Es gibt zwei, insgesamt. Einmal in den USA, einmal in<br />
Europa. Ich habe schon geahnt, dass Sie mich fragen werden. Wie heißen Sie übrigens?<br />
Jörg Schönenborn.<br />
Jörg? [Nickt Schönenborn zu]<br />
Ja.<br />
Schauen Sie doch mal. In der Russischen Föderation gibt es 654 Nichtregierungsorganisationen,<br />
die, wie sich herausgestellt hat, Geld aus dem Ausland beziehen. 654<br />
Organisationen. Das ist ein ganzes Netzwerk, das die ganze Russische Föderation erfasst.<br />
Alle Regionen der Russischen Föderation. Nur in den vier Monaten, nachdem wir<br />
das entsprechende Gesetz verabschiedet haben, haben diese Organisationen aus dem<br />
Ausland – stellen Sie sich nur vor, Sie können sich das kaum vorstellen und ich wusste<br />
es auch nicht – also haben diese Organisationen 28.300.000.000 Rubel, das ist knapp<br />
eine Milliarde US-Dollar. 855.000.000.000 bekamen sie über diplomatische Vertretungen.<br />
Das sind die Organisationen, die eine politische Tätigkeit hier zu Lande betreiben.<br />
Darf denn unsere Gesellschaft nicht wissen, wer und wofür er sein Geld bekommt? Und<br />
– ich möchte es unterstreichen – ich möchte, dass Sie es wissen und dass die Europäer<br />
es wissen, dass die Deutschen es wissen: Niemand verbietet diese Organisationen. Wir<br />
bitten nur, dass diese zugeben: Ja, wir betreiben die politische Tätigkeit, aber lassen<br />
uns aus dem Ausland finanzieren. Die Gesellschaft hat einen Anspruch darauf. Und man<br />
muss niemanden einschüchtern, dass hier jemand festgehalten wird, dass hier etwas<br />
beschlagnahmt wird. Vielleicht hätte man was beschlagnahmen können, wenn die Menschen<br />
Gesetze verletzen. Dort gibt es administrative Strafen, aber ich glaube, das alles<br />
vollzieht sich im Rahmen von zivilisierten Regeln.<br />
Nach unserem Verständnis funktioniert Demokratie mit einer starken Opposition.<br />
Nach unserem Verständnis ist eine Opposition immer Regierung im Wartestand,<br />
gibt es auch in der Politik Wettbewerb, weil sie es im Zweifel besser<br />
machen kann als eine Regierung. Braucht Russland eine starke Opposition?<br />
[Hat Papiere aus der Mappe geholt und blickt darauf] Ja natürlich braucht es das.<br />
Ich werde gleich die Frage beantworten. [Reicht Schönenborn die Papiere] Hier sind die<br />
Dokumente, die unsere Organisationen in den USA bereitzustellen haben. Und gucken<br />
Sie, von wem diese Liste unterschrieben ist: Das ist der Aufklärungsdienst. Das ist keine<br />
Generalstaatsanwaltschaft, das ist der Aufklärungsdienst des Justizministeriums der<br />
USA. Das ist das Dokument, das man an die Organisationen verschickte. Und gucken<br />
Sie, wie viele Fragen sie zu beantworten haben. Ist das demokratisch oder nicht? [Macht<br />
eine fragende Geste]<br />
61
«Es darf kein Chaos zugelassen werden!»<br />
Demokratie braucht Opposition<br />
[Mit den Dokumenten in der Hand] Herr Präsident, wir schauen uns das Dokument<br />
an. Mir ist von ähnlichen Durchsuchungen in den USA, wie gesagt,<br />
nichts bekannt. Ich will auf die nächste Frage kommen. Ich habe gerade schon<br />
gesagt, nach unserem Verständnis lebt Demokratie auch von einer starken Opposition.<br />
Eine Opposition, die es im Zweifel immer besser machen kann als die<br />
Regierung. Wettbewerb um das politische Geschäft. Braucht Russland nicht<br />
auch eine starke Opposition?<br />
Ja natürlich braucht Russland eine starke Opposition und nicht nur das. Ich glaube,<br />
ohne Wettbewerb ist keine Entwicklung möglich, im politischen Bereich und im wirtschaftlichen<br />
Bereich. Und wir wollen diese Entwicklung gewährleisten für unser Land<br />
und für unsere Menschen. Ohne diesen Wettbewerb ist es unmöglich, effektive Regeln<br />
aufzustellen und begründete Entscheidungen zu treffen. Deshalb werden wir es natürlich<br />
anstreben, dass unsere Gesellschaft auf diesem Wettbewerb in allen Lebensbereichen<br />
beruht, besonders im politischen Bereich.<br />
Die...<br />
[Unterbricht Schönenborn] Das heißt aber nicht, dass diese Opposition sich aus dem<br />
Ausland finanzieren muss. Stimmen Sie dem nicht zu? Haben Sie eine andere Meinung?<br />
Heißt das, dass die Opposition frei demonstrieren darf?<br />
Ja, natürlich, aber im Rahmen des Gesetzes. Es gibt bestimmte Regeln, die es vorsehen,<br />
dass es verschiedene Formen politischen Engagements gibt. Wahlen, öffentliche<br />
Meinungsbekundungen, insbesondere Demonstrationen. Es gibt ein Gesetz. Ob dieses<br />
Gesetz gut oder schlecht ist, dieses Gesetz lässt sich demokratisch ändern. Ordnung<br />
muss sein. Das ist eine bekannte Regel und die findet Anwendung in allen Staaten. Und<br />
sie ist universell. Ordnung muss sein, es darf kein Chaos zugelassen werden. Wozu ein<br />
Chaos führen kann, sehen wir am Beispiel von Nordafrika. Wer braucht das?<br />
Stichwort Oppositionstätigkeit. Ich möchte Sie da auf Folgendes hinweisen: Um<br />
politische Parteien zu registrieren, musste man noch vor kurzem 50.000 Mitglieder in<br />
dieser Partei haben. Wir haben diese Mitgliedschaftsanforderungen radikal reduziert.<br />
Jetzt sind nur 500 Menschen erforderlich, um eine politische Partei zu registrieren. Wir<br />
haben 37 Parteien bereits in Russland. Und mehrere Dutzend Parteien haben das Registrierungsverfahren<br />
beantragt. Wir wollen den politischen Wettbewerb weiterentwickeln.<br />
Wir haben das Wahlverfahren für die Mitglieder der Oberkammer des russischen Parlaments,<br />
des Föderationsrates, geändert.<br />
62<br />
Die Mitglieder des Föderationsrates werden auch in geheimer, allgemeiner Abstim-
ARD-Interview am 8. April 2013<br />
mung in den entsprechenden Regionen gewählt. Die Oberkammer der Bundesrepublik<br />
wird nicht so gewählt. Wenn ich mich nicht irre, werden Abstimmungen in entsprechenden<br />
Landtagen durchgeführt. In diesem Sinne haben wir einen Schritt nach vorne<br />
gemacht. Ich bin jetzt bei den Wahlen der Gouverneure der Russischen Föderation. Wir<br />
haben Direktwahlen von Gouverneuren wieder eingeführt. In der Bundesrepublik werden<br />
Ministerpräsidenten in den Landtagen gewählt. Viele Vertreter unserer politischen<br />
Kräfte haben geglaubt, wir müssten zu der Form zurückkehren, wo das Parlament nach<br />
gemischtem Wahlsystem gebildet werden soll. Mehrheitssystem und Direktmandate.<br />
Also wir sind zu diesem System übergegangen. Wir sind auf der Suche, wir suchen nach<br />
den akzeptablen Formen der politischen Organisation unserer Gesellschaft, die den Bedürfnissen<br />
der Menschen entsprechen würden. Und das gilt auch für politische Parteien.<br />
Natürlich wünschen wir politische Konkurrenz.<br />
Die Rolle der Wirtschaftsbeziehungen<br />
Sie fahren nach Deutschland zu einer großen Wirtschaftsmesse. Ich denke,<br />
dass Ihnen vor allem die Wirtschaftsbeziehungen am Herzen liegen. Haben Sie<br />
Sorge, dass die Punkte, die wir gerade besprochen haben, das belasten können?<br />
Nein, im Gegenteil, ich freue mich sehr darüber, über unser Interview. Denn das gibt<br />
uns die Möglichkeit, die Positionen zu klären; zu erklären, was in Wirklichkeit passiert<br />
und wovon wir uns leiten lassen. Sie haben ja mit Razzien angefangen, mit Durchsuchungen,<br />
mit Verhaftungen. Von welchen Verhaftungen sprechen Sie denn? Nennen Sie<br />
bitte nur einen Namen. Das findet ja gar nicht statt.<br />
Genadi Sjuganow (rechts), Chef der Kommunistischen Partei, ist seit den 1990er Jahren der aussichtsreichste<br />
Oppositionskandidat für das Präsidentenamt. Foto: Bogomolov.PL; CCL 3.0<br />
63
«Es darf kein Chaos zugelassen werden!»<br />
Ich habe nicht von Verhaftungen gesprochen, Herr Präsident. Ich habe von<br />
Durchsuchungen gesprochen.<br />
Das hört sich so an. Es schreit nach Hilfe. Ja, es gibt die Generalstaatsanwaltschaft<br />
in der Russischen Föderation, die in der Pflicht steht, die Einhaltung der russischen Gesetze<br />
zu überwachen. Und alle Bürger, alle Organisationen, alle natürlichen und russischen<br />
und juristischen Personen müssen sich daran halten und sie müssen die Gesetze<br />
der Russischen Föderation respektieren.<br />
Was wünschen Sie sich von Ihrem Besuch in Deutschland, in wirtschaftlicher<br />
Hinsicht? Die Deutschen, vermute ich, werden eingeladen, zu investieren.<br />
Was, konkret, ist ihr Wunsch?<br />
[Seufzt] Sie haben gerade eben gesagt, dass Deutschland und Russland sehr bedeutende<br />
Partner füreinander sind. Und so ist es auch. Die europäischen Mitgliedsstaaten,<br />
die Europäische Union insgesamt, ist für uns der größte Handels- und Wirtschaftspartner.<br />
Über 50 Prozent unseres Handelsumsatzes entfallen auf die Europäische Union. Einmal<br />
mehr, einmal weniger, angesichts der schwierigen Situation in der Eurozone, in der Europäischen<br />
Union. Aber das ist trotzdem sehr viel. In den absoluten Zahlen geht es hier um<br />
450 Milliarden US-Dollar. Wir sind der drittstärkste Handels- und Wirtschaftspartner für<br />
Europa nach den USA und China. Und dabei ist der Abstand nicht so groß. Während wir<br />
450 Milliarden US-Dollar Handelsvolumen mit Europa haben, haben die USA 600 Milliarden.<br />
Wissen Sie, der Unterschied ist eigentlich nicht so groß. Deutschland ist in dieser<br />
Reihe Partner Nummer eins unter den europäischen Staaten. Denn das Handelsvolumen<br />
liegt bei 74 Milliarden US-Dollar und es nimmt zu, trotz aller Schwierigkeiten.<br />
Damit es alle verstehen können, in Russland und in der Bundesrepublik, muss man<br />
sagen, dass das nicht nur Zahlen sind. Hinter diesen Zahlen stecken Arbeitsplätze, hinter<br />
diesen Zahlen stecken neueste Technologien, die gegenseitig ausgetauscht werden.<br />
Die Struktur des Handelsumsatzes entspricht nicht nur den Wirtschaftsmöglichkeiten<br />
Deutschlands, sondern auch den Interessen. Denn der wichtigste Schwerpunkt liegt bei<br />
Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland bei der Industrieproduktion. Ich<br />
wiederhole: dahinter stecken zehntausende Arbeitsplätze, Einkommen von Familien in<br />
Deutschland und in Russland. Zu 40 Prozent deckt Russland den deutschen Bedarf an<br />
Erdgas, zu 30 Prozent decken wir den Erdölbedarf. Wir erweitern unsere Zusammenarbeit<br />
im hochtechnologischen Bereich, beim Flugzeugbau, beim Maschinen- und Anlagenbau,<br />
bei Nanotechnologien, bei aussichtsreichen Entwicklungen im Bereich der<br />
Physik. Das ist eine sehr vielfältige, interessante und aussichtsreiche Zusammenarbeit.<br />
64<br />
Deutschland ist einer der größten Investoren für Russland: Es gibt 25 Milliarden<br />
US-Dollar akkumulierte Investitionen in Russland. Die deutschen Investitionen kommen<br />
sehr gut in der russischen Wirtschaft an. Das ist sehr wichtig, das ist sehr interessant
ARD-Interview am 8. April 2013<br />
und das ist sehr zukunftsweisend – das möchte ich unterstreichen. Wir werden sechs<br />
große Pavillons bei der Hannover Messe haben. Wir haben eine sehr gute Losung in<br />
die Industrieproduktion. Also das ist immer die Stärke Deutschlands gewesen und wir<br />
haben ein großes Interesse an diesen Bereichen. In diesen Pavillons werden auf der<br />
Hannover- Industriemesse über hundert russische Großunternehmen vertreten sein. Und<br />
ich lade Sie ein und alle unsere deutschen Freunde, zur Hannover-Industriemesse zu<br />
kommen und natürlich unsere russischen Pavillons zu besichtigen.<br />
Das westliche Finanzsystem<br />
Sie haben die Zahl genannt: 27 Milliarden deutsche Direktinvestitionen in<br />
Russland. Ich will die Brücke zu Zypern schlagen. Bei der Zypernkrise jetzt haben<br />
viele Deutsche zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, wie viel russisches<br />
Geld in Zypern liegt und fragen sich: Warum sollen deutsche Unternehmen<br />
europäische Investitionen in Russland finanzieren, während viele Russen<br />
ihr Geld außer Landes bringen?<br />
Verstehen Sie wirklich nicht, wie absurd Ihre Frage ist? Bitte nehmen Sie es mir nicht<br />
übel. Was hat denn Russland und was haben denn russische Anleger in einem europäischen<br />
Mitgliedsland damit zu tun? Je mehr Sie ausländische Anleger in Finanzinstitutionen<br />
ihrer Länder anzapfen, desto besser ist es für uns. Denn alle Verletzten, alle<br />
Eingeschüchterten – wir hoffen wenigstens darauf – oder die vielen anderen, werden<br />
zu uns kommen und werden ihr Geld in unsere Banken bringen. Viele russische Anleger<br />
haben seinerzeit ihre Gelder zum Beispiel nach Zypern verbracht. Man muss ganz offen<br />
sagen, weil sie das russische Finanzsystem nicht als sicher angesehen haben. Erinnern<br />
Sie sich zum Beispiel an das Jahr 1998. Da kam es zu einem Einbruch. Im Jahr 2000,<br />
das ist doch unser gemeinsames Problem, da gab es große Ängste in Bezug auf das<br />
Weiterbestehen des Finanzsystems. 2008, als eine neue Krise kam, haben wir nicht nur<br />
unser Finanzsystem stabilisiert, wir haben es gefestigt. Und kein Finanzinstitut ist bei<br />
uns eingestürzt, wir haben niemandem erlaubt, seine Anleger zu verlassen.<br />
Natürlich hatten es die Menschen schwer, zu Krisenzeiten, aber wir haben die Zusammenarbeit<br />
mit dem Bankensystem so gestaltet, dass wir es nicht nur unterstützt haben,<br />
sondern auch bestärkt haben und bestimmte Schritte eingeleitet haben, um dieses<br />
System zu restrukturieren, um es auf diese Weise zu festigen. Und ich hoffe sehr, dass<br />
die Menschen es auch heute verstehen werden. Dass es zur Enteignung der Anleger<br />
kommt, der russischen Anleger in Zypern oder in anderen Staaten, ist ein Vertrauensverlust<br />
gegenüber dem Bankensystem der Eurozone.<br />
Jetzt zur Frage, wer wie unterstützt werden soll; wer ist schuld: Die Menschen, die<br />
dort hingegangen sind, die ihre Gelder dorthin gebracht haben, haben ja keine Gesetze<br />
65
«Es darf kein Chaos zugelassen werden!»<br />
verletzt. Sie haben die zyprischen Gesetze nicht verletzt, sie haben die europäischen Gesetze<br />
nicht verletzt. Und plötzlich hat man sie angezapft, ihre Einlagen, zu 60 Prozent. Ist<br />
das gerecht? Sie haben ja gegen nichts verstoßen. Doch wenn wir glauben, dass dieses<br />
Land eine Geldwaschanlage gewesen ist, so muss das unter Beweis gestellt werden.<br />
Wissen wir nicht, dass es ganz klare Regeln gibt? Und eine dieser klaren Regeln heißt<br />
Unschuldsvermutung. Und wenn es nicht nachgewiesen ist, dass der Mensch sich etwas<br />
hat zu Schulden kommen lassen, so ist dieser Mensch unschuldig. Wie kann man<br />
denn diese Fragen übersehen? Da kann man doch alle zu Schwindlern und Betrügern<br />
erklären.<br />
Diese Offshore-Zone, sie wurde ja nicht von uns geschaffen. Das ist das Werk der<br />
Europäischen Union. Oder die zyprischen Regierungen haben dieses geschafft und die<br />
europäischen Mächte haben es zugelassen. Ist das die einzige Offshore-Zone, die von<br />
europäischen Staaten ins Leben gerufen worden ist? Vielleicht gibt es andere Offshore-<br />
Zonen Großbritanniens oder irgendwelche anderen Offshore-Zonen. Wenn sie glauben,<br />
das ist schlecht, dann sollen sie diese Zonen schließen. Warum haben sie für alle Probleme,<br />
die in diesem Land entstanden sind, die Anleger verantwortlich gemacht? Von<br />
wo sie auch kommen: Briten, russische Bürger, Franzosen oder wer auch immer. Ich<br />
habe ja die Führung der Europäischen Kommission getroffen, ich habe ein sehr gutes<br />
persönliches Verhältnis zu ihnen aufgebaut. Wir streiten sehr viel. Viele fragen: Ist Russland<br />
daran schuld, dass es zu Problemen gekommen ist? Wenn Anleger kommen, dann<br />
unterstützen sie dadurch das ganze Bankensystem des Landes und die ganze Wirtschaft<br />
des Landes durch ihr Vertrauen.<br />
Öl und Gas bleiben Russlands wichtigste Exportgüter. Foto: Bair175; CC BY-SA 3.0<br />
66
ARD-Interview am 8. April 2013<br />
Russland und der Euro<br />
Ärgern Sie sich dass, zumindest nach allem, was ich weiß, die Europäische<br />
Union Sie nicht früher einbezogen hat, wo doch in Zypern so viele russische<br />
Unternehmen und Staatsbürger betroffen sind?<br />
Nein, natürlich nicht. In gewissem Sinne freue ich mich sogar darüber, denn das hat<br />
gezeigt, wie inkonsistent und wie unzuverlässig die Einlagen bei westlichen Banken<br />
sind. Übrigens haben wir eine viel vorteilhaftere Besteuerung als bei Ihnen. 13 Prozent<br />
ist bei uns die Einkommensteuer. Und was zahlen Sie in Deutschland?<br />
Das wäre schön. Lassen Sie uns...<br />
[Unterbricht Schönenborn] Nicht: «Das wäre schön». Das ist schön!<br />
Wenn es bei uns 13 Prozent wären, wäre das schön. [Putin lacht). Bei uns<br />
wird Wahlkampf gemacht mit Steuererhöhungen. Herr Präsident, ich will beim<br />
Euro bleiben...<br />
[Unterbricht Schönenborn] So kämpfen Sie doch bitte um die Steuerherabsetzung.<br />
Herr Präsident, ich will beim Thema Euro bleiben. Sie haben aus Ihrer Sicht<br />
über die Schwächen des Finanzsystems in Europa gesprochen. Russland hat,<br />
so weit ich weiß, etwa 40 Prozent seiner Devisenreserven in Euro angelegt,<br />
also das ist Ihr vitales Interesse.<br />
Genau.<br />
Vertrauen Sie dem Euro noch?<br />
[Seufzt] Also ich möchte vorwegstellen: Wir vertrauen dem Euro, wir vertrauen<br />
der Wirtschaftspolitik der europäischen Großmächte und der wirtschaftlichen Politik,<br />
der Führung der Bundesrepublik Deutschland. Wir wissen im Detail um verschiedene<br />
Meinungen hierzu, zur Entwicklung der Wirtschaft, zur Unterstützung des Wirtschaftswachstums,<br />
zur Unterstützung der Währung. Ich stimme dem zu, dass zunächst Ursachen<br />
behoben werden müssen, die die Krise hervorrufen. Und erst dann müsste man<br />
Liquiditätsspritzen verpassen. Aber ich will jetzt nicht ins Detail gehen und mich in diese<br />
Polemik einmischen, die uns eigentlich nicht direkt betrifft. Das ist die Angelegenheit<br />
der europäischen Staats- und Regierungschefs.<br />
Aber was wir hören und was wir sehen, von dem, was unsere Kollegen in den führenden<br />
Wirtschaften der Eurozone machen, von dem, was von der Europäischen Kommission<br />
unternommen wird – Ich wiederhole: in vielen Fragen haben wir Meinungsver-<br />
67
«Es darf kein Chaos zugelassen werden!»<br />
schiedenheiten, aber bezüglich grundlegender Fragen glauben wir, dass man dort richtig<br />
handelt, auf dem richtigen Weg ist. Und gerade das stimmt uns optimistisch, dass wir<br />
es richtig gemacht haben, dass wir einen so großen Teil unserer Gold- und Devisenreserven<br />
und unserer Reserven überhaupt in europäischer Währung angelegt haben.<br />
Und ich bin zuversichtlich. Sollte sich diese Situation so weiter entwickeln, so werden<br />
unsere Kollegen und Freunde in Europa die Schwierigkeiten meistern, mit denen wir<br />
heute konfrontiert werden. Wir haben ganz große Reserven. Wir haben 534 Milliarden<br />
US-Dollar Reserven der Zentralbank. Hinzu kommen noch 89 Milliarden US-Dollar des<br />
Reservefonds der Regierung. Es gibt noch 87 Milliarden, das ist der dritte Fonds, der<br />
nationale Wohlstandsfonds. Also das sind große Gelder.<br />
68<br />
Der Krieg in Syrien<br />
Herr Präsident, unsere Zeit ist fast um, aber ich möchte auf einen anderen<br />
Krisenherd zu sprechen kommen, der den Deutschen große Sorgen macht. Das<br />
ist Syrien, wo jeden Tag 200 Menschen ums Leben kommen. Die Position des<br />
Westens und Ihre im UN-Sicherheitsrat waren unterschiedlich. Das ist ausgetauscht,<br />
da gibt es unterschiedliche Positionen. Mich interessiert, wie sehen<br />
Sie die Möglichkeit, das Blutvergießen dort zu verändern? Was tun die russischen<br />
Behörden, was tut die russische Regierung, um diesem Blutvergießen<br />
ein Ende zu setzen?<br />
Ich glaube, die Feindseligkeiten müssen unverzüglich gestoppt werden und die Waffenlieferungen<br />
müssen sofort gestoppt werden. Man sagt uns immer wieder, Russland<br />
liefere Waffen an Assad. Aber es gibt keine Verbote für Waffenlieferungen an die amtierenden<br />
legitimen Regierungen. Und nur über die an Syrien anliegenden Flughäfen, ich<br />
glaube die New York Times hat darüber geschrieben, hat die Opposition in letzter Zeit<br />
3.500 Tonnen Rüstungen und Munition erhalten. Das muss gestoppt werden. Und ich<br />
möchte aber ein weiteres Mal unterstreichen, ich glaube, das ist eine äußerst wichtige<br />
Sache.<br />
Es gibt doch ein Völkerrecht. Es gibt doch völkerrechtliche Normen, nach deren Maßgabe<br />
Waffenlieferungen an die Gruppierungen, die die Situation in dem einen oder dem<br />
anderem Land auf bewaffnetem Wege destabilisieren wollen, unzulässig sind. Diese<br />
Normen liegen ja auf dem Tisch, sie sind ja von niemandem aufgehoben worden. Und<br />
wenn man sagt, dass Assad gegen sein eigenes Volk kämpft, na wissen Sie, das ist<br />
doch der bewaffnete Teil der Opposition. Dass dieses Massaker passiert, ist ja eine<br />
Plage, ist eine Katastrophe und dem muss ein Ende gesetzt werden. Alle rivalisierenden<br />
Parteien müssen an den Verhandlungstisch gebracht werden. Und das müsste der erste<br />
Schritt sein, den man einzuleiten habe. Und bei diesen Diskussionen muss Folgendes<br />
herausgearbeitet werden.
ARD-Interview am 8. April 2013<br />
Was ist aus unserer Sicht wichtig? Ich habe mich bereits öffentlich dazu geäußert,<br />
das werde ich Ihnen auch erzählen und ich will, dass ihre Zuschauer es auch wissen.<br />
Worin liegt denn unsere Position? Nicht darin, dass Assad heute geht, wie das unseren<br />
Partnern vorgeschlagen wird. Und erst morgen möchte man sich damit auseinandersetzen,<br />
was weiter zu machen ist. Und das ist bereits praktiziert worden, in anderen<br />
Ländern. Es ist unklar, wo sich Syrien hinbewegen wird, es ist im Grunde in zwei Teile<br />
gespalten. Wir wollen ja nicht, dass dort eine ebenso schwierige Situation, wie im Irak<br />
einkehrt, wie im Jemen und so weiter und so fort. Unsere Position liegt darin, dass alle<br />
an den Verhandlungstisch gesetzt werden, dass alle rivalisierenden Parteien sich einigen,<br />
wie ihre Interessen eingehalten werden und wie sie sich an der Regierungsführung<br />
beteiligen werden. Und wenn die Internationale Gemeinschaft Garantien abgegeben<br />
hat, wird man diesen Plan gemeinsam erfüllen.<br />
Vor einigen Monaten hat man übrigens in Genf darüber gesprochen, und das wurde<br />
auch vereinbart. Doch unsere westlichen Partner sind dann von diesen Vereinbarungen<br />
abgerückt. Ich glaube, man muss ganz beharrlich daran arbeiten, gegenseitig vorteilhafte<br />
Lösungen zu finden. Kürzlich war der französische Präsident, Herr [François] Hollande,<br />
bei uns zu Besuch. Er hat eine Reihe interessanter, aus meiner Sicht machbarer Ideen.<br />
Aber die Diplomaten müssen das noch in Angriff nehmen. Wir sind bereit, sie zu unterstützen<br />
und man sollte versuchen, diese Ideen in die Tat umzusetzen.<br />
Russland im Wandel<br />
Herr Präsident, ich möchte zum Schluss den Bogen schlagen, zu dem Thema,<br />
mit dem wir eingestiegen sind. Demokratie. Offenbar ein kontroverses<br />
Thema. Ich will Ihren Ministerpräsidenten zitieren, der hat gesagt, Herr [Dmitri]<br />
Medwedew: Über die Entwicklung von Demokratie in Russland wird man<br />
erst in hundert Jahren urteilen dürfen. Das klingt für unsere Ohren nicht sehr<br />
ehrgeizig. Sagt man das, wenn man Demokratie in Wirklichkeit gar nicht will?<br />
Ich glaube, das lag vielleicht an der Übersetzung. Würden Sie es bitte noch mal<br />
sagen.<br />
Ihr Ministerpräsident Medwedew hat sinngemäß gesagt: Über die Entwicklung<br />
von Demokratie in Russland wird man erst in hundert Jahren wirklich<br />
urteilen dürfen. Und ich habe gefragt: Ist das nicht ein bisschen wenig ehrgeizig?<br />
Sagt man das, wenn man Demokratie gar nicht will?<br />
Ich weiß nicht, ob er das wirklich gesagt hat. Man muss das im Kontext sehen. Diesen<br />
Kontext sehe ich ja gar nicht. Dass wir uns eindeutig für Demokratie entschieden<br />
haben und dass wir uns keinen anderen Entwicklungsweg vorstellen, ist offensicht-<br />
69
«Es darf kein Chaos zugelassen werden!»<br />
lich. Dass bestimmte Standards, die in den einen Ländern zur Anwendung kommen,<br />
nur schwer angewendet werden können in anderen Ländern, das ist auch eine Tatsache.<br />
Und basierend auf den fundamentalen Demokratieprinzipien müssen wir solche<br />
Instrumente ausarbeiten, die der überwiegenden Mehrheit der Menschen in unserem<br />
Lande es möglich machen, die Innen- und Außenpolitik zu beeinflussen. Das gilt für die<br />
Mehrheit und dass diese Mehrheit die Minderheiten respektiert und ihre Meinungen<br />
berücksichtigt. Wenn wir das ganze Haus unserer Innenpolitik, alle unsere staatlichen<br />
Institutionen auf diese Grundlage stellen werden, so glaube ich, könnten wir über einen<br />
Erfolg der Demokratie in Russland sprechen. Aber dass Russland sich auf diesem Wege<br />
befindet, dass Russland diesen Weg geht, ist eine offensichtliche Tatsache. Es reicht ja,<br />
zu schauen, was in der Sowjetunion gewesen ist und was bei uns momentan stattfindet,<br />
wie sich die Wirtschaft bei uns entwickelt, wie der politische Bereich vorankommt, wie<br />
sich alles entwickelt, was die Volksvertretung anbelangt. Der Unterschied ist ja kolossal.<br />
Oder wollen Sie, dass wir in zwei Jahrzehnten den Weg gegangen sind, den andere<br />
Staaten in 200, 300 oder 400 Jahren gegangen sind? Natürlich muss alles schrittweise<br />
stattfinden, Schritt für Schritt. Aber wir verstehen, wohin wir uns bewegen werden und<br />
wir werden von diesem Weg nicht abkommen.<br />
Dann erlaube ich mir zum Schluss noch eine persönliche Frage. Sie waren<br />
acht Jahre Präsident, sind dann ins Amt des Ministerpräsidenten gegangen.<br />
Jetzt läuft wieder eine sechsjährige Amtszeit. Gibt es einen persönlichen<br />
Plan? Wollen Sie so lange Präsident bleiben, wie es geht, wie Sie gewählt<br />
werden? Oder denken Sie manchmal über ein Leben danach nach?<br />
Ich glaube, wie ein jeder normaler Mensch, so bin ich auch. Ich gucke über einen<br />
bestimmten Horizont hinaus und ich bin kein langlebiger Politiker. Auch kein langlebiger<br />
europäischer Politiker. Es gibt in Europa Politiker, die viel länger als ich erste Plätze in<br />
der Politik inne hatten und viel länger gearbeitet haben, als ich momentan arbeite. In<br />
Europa, in Nordamerika, in Kanada. Aber ich hoffe sehr, dass nach dem Abschluss meiner<br />
politischen Tätigkeit, meiner staatlichen Tätigkeit, ich Möglichkeiten haben werde,<br />
auch anderen Fragen nachzukommen. Ich mag Literatur, ich mag Rechtswissenschaften.<br />
Und ich hoffe sehr, dass ich es schaffen werde, jetzt ein mal ohne konkrete Verbindung<br />
mit der politischen Arbeit, auch anderen gesellschaftlichen oder sportlichen Aktivitäten<br />
nachkommen zu können.<br />
Herr Präsident, vielen Dank für das Gespräch Ich bedanke mich.<br />
Ich bedanke mich auch.<br />
Quelle: nach tagesschau.de/ausland/putininterview104.pdf<br />
70
«Die Identitäten<br />
der Völker erhalten»<br />
_ Rede auf dem Valdai-Forum am 19. September 2013<br />
Das Valdai-Forum ist ein seit 2004 jährlich stattfindendes, internationales Diskussionsforum,<br />
bei dem sich bekannte Experten mit Russlands Außen- und Innenpolitik<br />
beschäftigen.<br />
Guten Tag, Freunde, meine Damen und Herren,<br />
ich hoffe, sie empfinden den Ort und den Zeitpunkt für Ihre Gespräche und für unser<br />
aller Treffen gut gewählt. Wir befinden uns hier im Zentrum Russlands, nicht im<br />
geografischen Zentrum, aber im spirituellen. Die Nowgorod-Region ist die Wiege der<br />
russischen Unabhängigkeit. Unsere hervorragenden Historiker haben das so analysiert<br />
und glauben, dass die einzelnen Elemente der russischen Eigenstaatlichkeit hier zusammen<br />
gekommen sind, in Anbetracht der Tatsache, dass zwei große Flüsse, Wolchow und<br />
Newa, zu der Zeit als Hauptorte der Kommunikation fungierten, beziehungsweise sie<br />
eine gemeinsame Nahrungsmittelquelle und auch Arbeitsstelle darstellten. Und es war<br />
genau hier, wo sich die russische Souveränität nach und nach zu entwickeln begann.<br />
Russlands neues Finanzzentrum Moskwa City. Foto: Dmitry A. Mottl; CCL 3.0<br />
71
«Die Identitäten der Völker erhalten»<br />
Wie erwähnt, haben wir in diesem Jahr des Valdai-Clubs eine noch nie dagewesene<br />
Teilnehmerliste zusammen gebracht. Wir sehen hier nun mehr als 200 russische<br />
und ausländische Politiker, öffentliche und geistige Führungspersönlichkeiten, philosophische<br />
und kulturelle Menschen, Menschen mit sehr unterschiedlichen und sogar mit<br />
gegensätzlichen Ansichten.<br />
Sie verweilen hier nun schon ein paar Tage und ich möchte Sie auf keinen Fall langweilen.<br />
Dennoch möchte ich mir erlauben, noch einmal meine Ansichten über Themen,<br />
die während der einen oder anderen Diskussion schon aufkamen, zu verdeutlichen. Und<br />
damit spreche ich nicht von meinen Ansichten über die historische, kulturelle Geschichte<br />
Russlands oder über meine persönlichen Erfahrungen in der Staatsführung, sondern<br />
in erster Linie möchte ich mit Ihnen die generelle Diskussion über Strategien und Werte<br />
führen: Über die Zukunft an sich, wie wir uns die Welt im 21. Jahrhundert wünschen,<br />
wie wir die Entwicklung unserer Länder stärken könnten, wie diese globalen Prozesse<br />
wiederum dann nationale Identitäten beeinflussen könnten und wie wir, also Russland,<br />
dazu beitragen können diese Ziele gemeinsam mit unseren Partnern zu erreichen.<br />
Heute brauchen wir neue Strategien, um unsere Identität in einer sich schnell verändernden<br />
Welt, in einer Welt, die sich mehr öffnet, voneinander abhängiger und transparenter<br />
wird, zu bewahren. Diese Tatsache stellt praktisch alle Länder und Völker in<br />
der einen oder anderen Form – Russland, Europa, China und Amerika, praktisch die<br />
Gesellschaften aller Länder – vor Herausforderungen. Und natürlich verbinden wir das<br />
hier auch auf dem Treffen in Valdai, und wir wollen uns bemühen, besser zu verstehen,<br />
wie unsere Partner versuchen diesen Herausforderungen zu begegnen, denn wir treffen<br />
hier mit Experten zusammen. Und wir gehen davon aus, dass unsere Gäste ihre Ansichten<br />
über die Interaktionen und Beziehungen zwischen Russland und den Ländern, die Sie<br />
vertreten, auch offen äußern.<br />
72<br />
Debatte um Identität<br />
Bei uns – damit meine ich Russland und sein Volk – werden Fragen, wer wir sind und<br />
wer wir sein wollen, immer populärer. Wir haben die sowjetische Ideologie hinter uns<br />
gelassen, und es wird keine Rückkehr zu ihr geben. Die Befürwortung des fundamentalen<br />
Konservatismus, der vor 1917 in Russland idealisiert wurde, scheint ähnlich weit von<br />
der Realität zu sein, genauso fern, wie die Anhängerschaft eines extremen Liberalismus<br />
nach westlichem Vorbild.<br />
Offensichtlich ist es unmöglich, sich ohne geistige, kulturelle und nationale Selbstbestimmung<br />
vorwärts zu bewegen. Ohne diese werden wir weder in der Lage sein,<br />
internen und externen Herausforderungen Stand zu halten, noch in der globalen Konkurrenz<br />
erfolgreich zu sein. Heute geht diese Konkurrenz in eine neue Runde. Heute liegen
Rede auf dem Valdai-Forum am 19. September 2013<br />
die Schwerpunkte der Herausforderungen in der Wirtschaft, in der Technologie und in<br />
den ideologischen Informationen. Militärische und politische Probleme nehmen zu, und<br />
die Rahmenbedingungen verschlechtern sich. Die Welt wird immer rücksichtsloser, und<br />
manchmal wird nicht nur das Völkerrecht missachtet, sondern auch immer öfter die elementarste<br />
Gepflogenheit des Anstandes.<br />
Jedes Land braucht militärische, technologische und wirtschaftliche Stärke, aber ob<br />
diese erfolgreich sein wird, wird einzig und alleine von der Qualität des Volkes, der<br />
Gesellschaft und ihrer intellektuellen, geistigen und moralischen Stärke bestimmt.<br />
Schließlich hängt am Ende das Wirtschaftswachstum der Wohlstand und der geopolitische<br />
Einfluss von der gesellschaftlichen Vitalität ab. Sie hängen davon ab, ob die Bürger<br />
eines Landes sich als eine Nation betrachten, in welchem Umfang sie sich mit ihr und<br />
mit ihrer eigenen Geschichte identifizieren, mit ihren Werten und Traditionen, und ob<br />
sie sich durch gemeinsame Ziele und Aufgaben verbunden fühlen. Deshalb ist diese<br />
Frage, wie wir die Stärkung unserer nationalen Identität erreichen, so fundamental und<br />
grundlegend für Russland.<br />
Das Fehlen einer nationalen Idee<br />
Unterdessen steht die nationale Identität Russlands unter Druck, nicht nur wegen<br />
der Globalisierung, sondern auch angesichts der nationalen Katastrophen des zwanzigsten<br />
Jahrhunderts, in denen wir den Zusammenbruch unseres Staates zweimal erleben<br />
mussten. Das Ergebnis war ein verheerender Schlag für die kulturellen und spirituellen<br />
Normen unserer Nation. Wir wurden mit der Zerstörung der Traditionen und der Harmonie<br />
der Geschichte, mit der Demoralisierung der Gesellschaft, mit einem Defizit von<br />
Vertrauen und Verantwortung konfrontiert. Das sind die Ursachen der vielen drängenden<br />
Probleme, denen wir uns heute gegenübersehen. Denn die Frage nach der Verantwortung<br />
für uns selbst, gegenüber der Gesellschaft und vor dem Gesetz, ist etwas Grundlegendes,<br />
für die Funktionsweise von Recht und Gesetz wie für den privaten Alltag.<br />
Nach 1991 gab es die Illusion, dass eine neue nationale Ideologie, beziehungsweise<br />
die Entwicklung zur Ideologie, einfach von selbst entstehen würde. Dem Staat, den<br />
Behörden und den Experten der intellektuellen und politischen Bereiche wurde die Beteiligung<br />
an dieser Arbeit sogar praktisch verweigert, gerade auch weil die frühere, teils<br />
offizielle Ideologie so schwer zu schlucken war. Und in der Tat waren auch sehr viele<br />
einfach zu ängstlich, das Thema anzusprechen. Darüber hinaus nutzte das Fehlen einer<br />
nationalen Idee, die sich aus einer nationalen Identität speist, der Elite und ihren quasikolonialen<br />
Elementen – genau jenen, die Kapital stehlen und wegschaffen wollten und<br />
die ihre Zukunft nicht mit der ihres Landes verknüpften, sondern dieses nur als einen Ort<br />
zum Geldverdienen ansahen.<br />
73
«Die Identitäten der Völker erhalten»<br />
Die Praxis hat gezeigt, dass eine neue nationale Idee nicht einfach von selbst entsteht<br />
und sich nicht einfach nach den Gesetzen des Marktes entwickelt. Der Staat und seine<br />
Gesellschaft funktionieren nicht, wenn sie spontan aufgebaut werden, und es bringt auch<br />
nichts, einfach die Mechanismen und die Erfahrungen anderer Länder zu kopieren. Solche<br />
primitiven Vorschläge und Versuche, Russland aus dem Ausland zu «zivilisieren», werden<br />
von Russland und auch von der absoluten Mehrheit unserer Menschen nicht akzeptiert.<br />
Der Wunsch nach Unabhängigkeit und Souveränität in geistigen, ideologischen und außenpolitischen<br />
Bereichen ist nämlich schon immer ein fester Bestandteil unseres nationalen<br />
Charakters. Übrigens ist eine solche Herangehensweise auch schon in vielen anderen<br />
Ländern und Kulturen gescheitert. Die Zeit, in der Lifestyle-Modelle von ausländischen<br />
Staaten wie Computer-Programme fix und fertig installiert werden konnten, ist vorbei.<br />
Wir wissen, dass unsere nationale Identität nicht einfach von oben und auch nicht<br />
auf der Basis eines ideologischen Monopols verordnet werden kann. Eine solche Konstruktion<br />
ist sehr instabil und anfällig. Das wissen wir aus eigener Erfahrung. Sie hat<br />
keine Zukunft in der modernen Welt. Wir brauchen historische Kreativität, eine Synthese<br />
der besten nationalen Praktiken und Ideen, ein Verständnis der kulturellen, geistigen<br />
und politischen Traditionen aus verschiedenen Blickwinkeln, und wir müssen verstehen,<br />
dass die nationale Identität kein steifes Ding, das ewig Bestand hat, sondern vielmehr<br />
ein lebender Organismus ist. Nur, wenn wir das verstehen, wird unsere Identität auf<br />
einer soliden Grundlage ruhen, die auf die Zukunft gerichtet ist und nicht auf die Vergangenheit.<br />
Das Wichtigste ist, dass zur Entwicklung einer neuen Ideologie Menschen<br />
mit verschiedenen Blickwinkeln und Meinungen, über das was zu tun ist, zusammen<br />
kommen, um Probleme objektiv auszudiskutieren und zu lösen.<br />
Nationaldichter Puschkin Foto: Vasiliy Mate; CCL 3.0<br />
Dostojewski Foto: Wikimedia Commons; Public Domain<br />
74
Rede auf dem Valdai-Forum am 19. September 2013<br />
Patriotismus als Synthese<br />
Alle, ob nun die sogenannten Neoslawisten oder die westlich Orientierten, die Etatisten<br />
und die sogenannten Liberalen – die ganze Gesellschaft muss zusammenarbeiten,<br />
um gemeinsame Entwicklungsziele zu definieren. Wir müssen mit der Angewohnheit<br />
brechen, nur den Menschen zuzuhören, die das sagen, was wir hören möchten, und<br />
aufhören, Andersdenkenden mit Wut, Ablehnung oder sogar mit Hass zu begegnen. Und<br />
das von Anfang an. Die Zukunft eines jeden Landes kann man weder per Fingerschnipp<br />
verändern, noch kann man sie mit Füßen treten wie einen Fußball – so stürzt man in<br />
hemmungslosen Nihilismus, in Konsumismus, in Negativismus gegenüber allem und<br />
jedem, in düsteren Pessimismus.<br />
Dass bedeutet, dass die Liberalen lernen müssen, mit den Vertretern der Linken zu<br />
sprechen und umgekehrt, dass Nationalisten bedenken müssen, dass Russland im Besonderen<br />
sich von Anfang an als ein multiethnisches und multikonfessionelles Land gebildet<br />
hat. Nationalisten müssen verstehen, dass sie durch die Infragestellung unseres<br />
multiethnischen Charakters und die Instrumentalisierung des russischen, tatarischen,<br />
kaukasischen, sibirischen oder eines anderen Nationalismus oder Separatismus beginnen,<br />
unseren genetischen Code zu zerstören. In der Tat würden wir beginnen, uns selbst<br />
zu zerstören.<br />
Die Souveränität, die Unabhängigkeit und territoriale Integrität Russlands sind bedingungslos.<br />
Das sind rote Linien, die niemand überschreiten darf. Und bei allen unseren<br />
verschiedenen Ansichten ist doch klar, dass wir Debatten über unsere nationale Identität<br />
und Russlands Zukunft nur führen können, wenn die daran Teilnehmenden allesamt<br />
Patrioten sind. Natürlich meine ich den Patriotismus im wahrsten Sinne des Wortes.<br />
Zu oft in der Geschichte unserer Nation hatten wir es nicht mit einer Opposition<br />
zur jeweiligen Regierung zu tun, sondern mit antirussischen Oppositionellen. Das habe<br />
ich bereits erwähnt, und auch [der Nationaldichter Alexander] Puschkin sprach schon<br />
darüber. Und wir wissen, wie es endete, nämlich mit dem Abriss des Staates als solchen.<br />
Es gibt praktisch keine russische Familie, die von den Wirrungen des vergangenen<br />
Jahrhunderts völlig unberührt blieb. Fragen, wie wir bestimmte historische Ereignisse<br />
beurteilen, teilen unser Land und unsere Gesellschaft immer noch.<br />
Wir müssen diese Wunden endlich heilen und die Matrix unseres historischen Stoffes<br />
reparieren. Wir können nicht weiter in Selbsttäuschung leben und die unansehnlichen<br />
oder ideologisch unbequemen Seiten unserer Geschichte einfach ausblenden,<br />
die Verbindungen zwischen den Generationen zerstören, in Extreme flüchten und Idole<br />
entweder aufs Podest heben oder stürzen. Es ist auch höchste Zeit, damit aufzuhören,<br />
unsere Geschichte nur auf das Schlechte zu reduzieren. Wir beschimpfen uns teilweise<br />
sogar schlimmer als unsere Gegner es je tun würden. Selbstkritik ist notwendig, aber<br />
75
«Die Identitäten der Völker erhalten»<br />
ohne ein Gefühl von Selbstwert oder der Liebe zu unserem Vaterland wirkt so eine Kritik<br />
nur demütigend und kontraproduktiv. Wir müssen stolz auf unsere Geschichte sein, und<br />
wir haben Gründe, um stolz zu sein. Unsere gesamte, unzensierte Geschichte muss ein<br />
Teil der russischen Identität sein. Ohne diese Anerkennung ist es unmöglich, gegenseitiges<br />
Vertrauen aufzubauen und die Gesellschaft nach vorne zu entwickeln.<br />
Exzesse der politischen Korrektheit<br />
Eine weitere Herausforderung für die russische Identität hängt mit den Prozessen<br />
zusammen, die wir in der Welt beobachten. Dazu zählen außenpolitische und moralische<br />
Aspekte. Wir sehen, dass viele euro-atlantisch Staaten den Weg eingeschlagen<br />
haben, ihre eigenen Wurzeln zu verneinen beziehungsweise abzulehnen, einschließlich<br />
der christlichen Wurzeln, die die Grundlage der westlichen Zivilisation bilden. In diesen<br />
Staaten werden moralische Grundlagen und jede traditionelle Identität negiert. Nationale,<br />
religiöse, kulturelle oder sogar geschlechtliche Identitäten werden verneint. Dort<br />
wird eine Politik durchgesetzt, die eine kinderreiche Familie mit einer homosexuellen<br />
Partnerschaft gleichsetzt, den Glauben an Gott mit dem Glauben an Satan.<br />
Die Exzesse der politischen Korrektheit in diesen Ländern führen dazu, dass sogar ganz<br />
ernsthaft die Zulassung von Parteien diskutiert wird, die sich für Pädophilie einsetzen. Die<br />
Menschen in vielen europäischen Staaten schämen sich und haben regelrecht Angst, offen<br />
über ihre religiöse Zugehörigkeit zu sprechen. Christliche Feiertage und Feste werden<br />
abgeschafft oder sogar umbenannt. Damit versteckt oder verheimlicht man den tieferen<br />
moralischen Wert dieser Feste. Und dieses Modell versuchen diese Leute aggressiv welt-<br />
Rachmaninoff Foto: Wikimedia Commons; CCL 3.0<br />
Tschaikowski Foto: Public Domain<br />
76
Rede auf dem Valdai-Forum am 19. September 2013<br />
weit zu exportieren. Ich bin überzeugt, dass das der direkte Weg zur Degradierung und<br />
Primitivisierung der Kultur ist. Das führt zu tiefen demografischen und moralischen Krisen.<br />
Was kann denn ein besserer Beleg für die moralische Krise einer menschlichen Gesellschaft<br />
sein als der Verlust ihrer Reproduktionsfähigkeit? Heute können sich beinahe<br />
alle entwickelten westlichen Staaten reproduktiv nicht erhalten, nicht einmal mit Hilfe<br />
der Migranten. Ohne moralische Werte, die im Christentum und anderen Weltreligionen<br />
begründet liegen, ohne Normen und moralische Werte, die sich Jahrtausende lang formiert<br />
und entwickelt haben, werden die Menschen unvermeidlich ihre Menschenwürde<br />
verlieren. Und wir halten es für richtig und natürlich, diese moralischen Werte zu verteidigen.<br />
Man muss das Recht einer jeden Minderheit auf Andersartigkeit respektieren,<br />
aber die Rechte der Mehrheit dürfen nicht angezweifelt werden.<br />
Gleichzeitig sehen wir, wie versucht wird, auf der Welt das Modell einer monopolaren<br />
Welt zu installieren und die Institutionen des Völkerrechts und der nationalen Souveränität<br />
zu verwischen. In einer solchen unipolaren, standardisierten Welt gibt es keinen Bedarf<br />
für souveräne Staaten, sondern nur für Vasallen. Im historischen Verständnis bedeutet<br />
das die Ablehnung jeder eigenen Identität und somit der von Gott geschaffenen Vielfalt.<br />
Künstlicher und echter Multikulturalismus<br />
Russland stimmt denen zu, die glauben, dass die wichtigsten Entscheidungen nur<br />
auf kollektiver Basis diskutiert und entschieden werden können, anstatt nach dem Dafürhalten<br />
nur eines Staates oder einer gewissen Staatengruppe. Russland ist der Überzeugung,<br />
dass das Völkerrecht zählt und nicht das Recht des Stärkeren. Und wir halten<br />
jedes Land und jede Nation für einzigartig, aber nicht für außerordentlich, und finden,<br />
dass jedes Land und jede Nation gleiche Rechte, einschließlich des Rechts auf die unabhängige<br />
Wahl seines Entwicklungsweges, haben sollte.<br />
Dies ist unsere Perspektive, die aus unserem historischen Schicksal und aus Russlands<br />
Rolle in der Weltpolitik resultiert. Unsere heutige Haltung hat tiefe historische Wurzeln.<br />
Russland entwickelte sich auf der Grundlage von Vielfalt, Harmonie und Gleichgewicht,<br />
und es brachte ein solches Gleichgewicht auch auf die Bühne der internationalen Politik.<br />
Ich möchte daran erinnern, dass der Wiener Kongress von 1815 und die Vereinbarungen<br />
von Jalta 1945, bei denen Russland eine sehr aktive Rolle spielte, einen langen Frieden<br />
gesichert haben. Die Kraft Russlands, die Kraft des Siegers bei diesen Zeitwenden,<br />
äußerte sich in Großherzigkeit und Gerechtigkeit. Denken wir dagegen an den Versailler<br />
Vertrag, der ohne Russlands Teilnahme unterzeichnet wurde... Ich bin mit vielen Experten<br />
einer Meinung, dass gerade der Versailler Vertrag die Grundlage für den Zweiten<br />
Weltkrieg legte, weil er das deutsche Volk unfair behandelte. Er legte ihm Bedingungen<br />
auf, die unerfüllbar waren. Das wurde im Verlauf des nächsten Jahrhunderts klar.<br />
77
«Die Identitäten der Völker erhalten»<br />
Es gibt noch einen wesentlichen Aspekt, auf den ich Ihre Aufmerksamkeit lenken<br />
möchte. In Europa und in einigen anderen Ländern wird der sogenannte Multikulturalismus<br />
transplantiert, ein in vielerlei Hinsicht künstliches Modell, das nun aus verständlichen<br />
Gründen in Frage gestellt wird. Das ist die Rechnung für die koloniale Vergangenheit.<br />
Und es ist kein Zufall, dass heute europäische Politiker und Persönlichkeiten des<br />
öffentlichen Lebens vermehrt über das Versagen des Multikulturalismus diskutieren,<br />
und dass sie nicht in der Lage seien, Fremdsprachen oder fremde Kulturen in ihre Gesellschaft<br />
zu integrieren.<br />
Im Verlauf der letzten Jahrhunderte ist in Russland, obwohl es von einigen als «Völkergefängnis»<br />
betitelt wurde, noch nicht einmal die kleinste ethnische Gruppe verschwunden.<br />
Sie haben nicht nur ihre innere Autonomie und kulturelle Identität behalten,<br />
sondern auch ihren historischen Siedlungsraum. Wie Sie wissen, war ich selber sehr<br />
daran interessiert, darüber etwas zu erfahren, weil ich selber keine Ahnung darüber<br />
hatte, dass die Behörden in der Sowjetzeit darauf so großen Wert legten, dass praktisch<br />
jeder noch so kleinen ethnischen Gruppe ihre Printmedien finanziert wurden, um den<br />
Erhalt ihrer Sprache und ihrer Nationalliteratur zu sichern. Vieles von dem, was in dieser<br />
Hinsicht getan wurde, sollten wir übernehmen und wieder einführen.<br />
Dank der verschiedenen Kulturen Russlands haben wir einen einzigartigen Erfahrungsschatz<br />
der gegenseitigen Beeinflussung, des gegenseitigen Respekts und der gegenseitigen<br />
Bereicherung. Diese Multikulturalität und Multiethnizität lebt in unserem<br />
historischen Bewusstsein, in unserem Geist und in unserer historischen Verfassung.<br />
Unser Staat hat sich im Laufe eines Jahrtausends auf der Grundlage dieses organischen<br />
Modells entwickelt.<br />
Russland hat sich, wie es der Philosoph Konstantin Leontjew lebhaft beschrieb,<br />
schon immer aus «der blühenden Komplexität» einer Staats-Zivilisation entwickelt,<br />
die vom russischen Volk, der russischen Sprache, der russischen Kultur, der russischorthodoxen<br />
Kirche und anderen traditionellen Religionen des Landes geprägt wurde. Es<br />
ist gerade dieses Modell einer Staats-Zivilisation, die unsere Staatspolitik geformt hat.<br />
Russland hat immer die unterschiedlichen ethnischen und religiösen Besonderheiten<br />
der einzelnen Gebiete geschmeidig anerkannt und respektiert, woraus die Vielfalt in der<br />
Einheit resultierte.<br />
Das Christentum, der Islam, der Buddhismus, das Judentum und andere Religionen<br />
bilden einen integralen Bestandteil der Identität Russlands, des historischen Erbes und<br />
auch des heutigen Lebens unserer Bürger. Die Hauptaufgabe des Staates, die in der Verfassung<br />
verankert ist, besteht darin, gleiche Rechte für die Anhänger der traditionellen<br />
Religionen, wie für Atheisten sowie Gewissensfreiheit für alle Bürger zu gewährleisten.<br />
78
Rede auf dem Valdai-Forum am 19. September 2013<br />
Auf dem Weg zur Eurasischen Union<br />
Es ist also offensichtlich unmöglich, sich in einer so großen Nation mit multiethnischer<br />
Bevölkerung nur über eine Ethnie oder Religion zu identifizieren. Um die Einheit<br />
der Nation zu erhalten, müssen die Menschen eine bürgerliche Identität auf der<br />
Grundlage gemeinsamer Werte, eines patriotischen Bewusstseins, staatsbürgerlicher<br />
Verantwortung und Solidarität, sowie auf dem Respekt vor dem Gesetz und auf einem<br />
Gefühl der Verantwortung für das Schicksal ihrer Heimat entwickeln, ohne dass sie<br />
dabei den Kontakt mit ihren ethnischen oder religiösen Wurzeln verlieren.<br />
Es gibt eine breite Diskussion darüber, wie die Ideologie der nationalen Entwicklung<br />
politisch und konzeptionell strukturiert werden müsste – auch mit Ihrer Teilnahme,<br />
werte Kollegen. Aber ich glaube fest daran, dass die persönliche, moralische,<br />
intellektuelle und körperliche Entwicklung des Einzelnen im Mittelpunkt unserer Philosophie<br />
stehen muss. Zu Beginn der 1990er Jahre sagte [der Schriftsteller Alexander]<br />
Solschenizyn, dass die nationale Hauptaufgabe darin bestehen sollte, die Bevölkerung<br />
nach einem sehr schwierigen 20. Jahrhundert zu erhalten. In der Tat müssen wir heute<br />
zugeben, dass wir die negative demografische Entwicklung noch nicht vollständig gestoppt<br />
haben, obwohl wir den gefährlichen Rückgang des nationalen Potenzials hinter<br />
uns haben.<br />
Leider wurde im Laufe der Geschichte unserer Nation dem einzelnen Menschenleben<br />
wenig Wert beigemessen. Zu oft wurden die Menschen nur als Mittel, nicht als<br />
Ziel und Aufgabe der Entwicklung gesehen. Dazu haben wir heute kein Recht mehr, und<br />
wir können nicht Millionen von Menschenleben für das Interesse der Entwicklung ins<br />
Feuer werfen. Wir müssen jeden Einzelnen schätzen. Die Hauptstärke Russlands wird<br />
in den zukünftigen Jahrhunderten mehr in seinen gebildeten, kreativen, körperlich und<br />
geistig gesunden Menschen, als in den natürlichen Ressourcen liegen.<br />
Die Bildung spielt in der Erziehung zum individuellen Patriotismus eine erhebliche<br />
Rolle und deswegen müssen wir die Lehren der großen russischen Kultur und Literatur<br />
wieder aufleben lassen. Sie müssen als Grundlage für die persönliche Identität<br />
der Menschen, die Quelle ihrer Einzigartigkeit und ihrer Basis für das Verständnis der<br />
nationalen Idee dienen. Hier hängt viel von der Lehrerschaft ab, die schon immer ein<br />
sehr wichtiger Behüter der gesamtnationalen Werte, Ideen und Philosophien war und<br />
sein wird. Und obwohl sich diese Lehrerschaft über ein enormes Gebiet verteilt, von<br />
Kaliningrad bis Wladiwostok, sprechen sie alle die gleiche Sprache, die Sprache der<br />
Wissenschaft, der Bildung und des Wissens. Auf diese Weise hält die Lehrerschaft,<br />
beziehungsweise im weiteren Sinne die Bildungsgemeinschaft, die Nation zusammen.<br />
Die Unterstützung dieser Gemeinschaft ist einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg<br />
zu einem starken, blühenden Russland.<br />
79
«Die Identitäten der Völker erhalten»<br />
Ich möchte noch einmal betonen: Wenn wir keinen Schwerpunkt auf unsere Anstrengungen<br />
für die Bildung und Gesundheit der Menschen, auf die Schaffung gemeinsamer<br />
Verantwortung zwischen jedem Einzelnen und den Behörden setzen und auf die Stärkung<br />
des Vertrauens in der Gesellschaft, werden wir den Wettlauf um die Geschichte<br />
verlieren. Russlands Bürger müssen spüren, dass sie die verantwortlichen Eigentümer<br />
ihres Landes, ihrer Region, ihrer Heimatstadt, ihres Eigentums, ihrer Habe und ihres<br />
Lebens sind. Ein Bürger ist jemand, der in der Lage ist, seine oder ihre Angelegenheiten<br />
unabhängig zu regeln und dabei mit Gleichgestellten frei zusammenzuarbeiten.<br />
Lokale Regierungen und Bürgerorganisationen in Eigenverantwortung dienen als<br />
beste Schule für bürgerschaftliches Bewusstsein. Natürlich beziehe ich mich auf nichtkommerzielle<br />
Zusammenschlüsse. Zufällig wurde eine der besten russischen politischen<br />
Traditionen, der Länderrat, auch auf den Grundsätzen der lokalen Regierung gebaut.<br />
Eine wahre politische Elite, die wirklich fürs Nationale denkt, eine echte Zivilgesellschaft<br />
und eine Opposition mit ihrer eigenen Ideologie für Werte und Standards, für<br />
Gut und Böse – mit ihrer eigenen, nicht einer von den Medien oder aus dem Ausland<br />
diktierten Ideologie – kann nur durch eine effektive Kommunalpolitik beziehungsweise<br />
durch effektive Selbstverwaltungsmechanismen wachsen. Die Regierung ist bereit, den<br />
Bürgerbewegungen in Eigenverantwortung und Selbstverwaltungsverbänden zu vertrauen.<br />
Aber wir müssen wissen, wem wir vertrauen. Das ist eine ganz normale Praxis<br />
überall auf der Welt und genau deshalb haben wir neue Gesetze ins Leben gerufen, um<br />
die Transparenz der Tätigkeiten der Nichtregierungsorganisationen zu erhöhen.<br />
Bei jeder Art von Reformen ist es wichtig zu bedenken, dass es mehr um unsere<br />
ganze Nation, als nur um Moskau und Sankt Petersburg geht. Bei der Entwicklung des<br />
russischen Föderalismus müssen wir uns auf unsere eigenen historischen Erfahrungen<br />
verlassen und flexible sowie vielfältige Modelle anwenden. Das russische Föderalismus-Modell<br />
hat ein großes Potenzial. Es ist zwingend notwendig, dass wir lernen, es<br />
kompetent zu benutzen und dabei nicht seine wichtigsten Aspekte vergessen, nämlich<br />
dass die Entwicklung der Regionen und ihre Unabhängigkeit Chancengleichheit für alle<br />
Bürgerinnen und Bürger unseres Landes schaffen sollte, unabhängig davon, wo sie leben,<br />
um Ungleichheiten in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung auf dem russischen<br />
Territorium zu beseitigen und dadurch die Einheit der Nation zu stärken. Dies ist<br />
letztlich eine große Herausforderung, weil die Entwicklung dieser Gebiete im Laufe der<br />
Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte sehr unausgewogen war.<br />
80<br />
Ich möchte noch ein anderes Thema anschneiden. Das 21. Jahrhundert verspricht das<br />
Jahrhundert der großen Veränderungen zu werden, der Bildung großer geopolitischer<br />
Zonen, sowie finanzieller und wirtschaftlicher, kultureller, zivilisatorischer, militärischer<br />
und politischer Bereiche. Deshalb hat die Integration mit unseren Nachbarn absolute<br />
Priorität. Die künftige Eurasische Wirtschaftsunion, die wir erklärt und ausführlich bis
Rede auf dem Valdai-Forum am 19. September 2013<br />
zum Schluss besprochen haben, ist nicht nur eine Sammlung von gegenseitig vorteilhaften<br />
Vereinbarungen. Die Eurasische Union ist ein Projekt für die Erhaltung der Identitäten<br />
der Völker, in dem historischen eurasischen Raum, in diesem neuen Jahrhundert und<br />
in dieser neuen Welt. Die eurasische Integration gibt uns die Chance für den gesamten<br />
postsowjetischen Raum, ein unabhängiges Zentrum für globale Entwicklung zu werden,<br />
statt am Rande von Europa und Asien zu verbleiben.<br />
Ich möchte betonen, dass die eurasische Integration ebenso auf dem Prinzip der Vielfalt<br />
gebaut werden wird. Dies ist eine Vereinigung, in der jeder seine Identität, seinen<br />
unverwechselbaren Charakter und seine politische Unabhängigkeit behält. Gemeinsam<br />
mit unseren Partnern werden wir dieses Projekt nach und nach in die Tat umsetzen,<br />
Schritt für Schritt. Wir erwarten, dass es unser gemeinsamer Beitrag zur Erhaltung der<br />
Vielfalt und zur stabilen globalen Entwicklung sein wird.<br />
Kolleginnen und Kollegen, die Jahre nach 1991 werden oft als die der postsowjetischen<br />
Ära bezeichnet. Wir haben diese turbulente und dramatische Zeit erlebt und<br />
überwunden. Russland hat durch diese Irrungen und Wirrungen zu sich selbst zurück<br />
gefunden, zu seiner eigenen Geschichte, so wie es dies auch schon an anderen Punkten<br />
seiner Geschichte getan hat. Nach der Festigung unserer nationalen Identität und der<br />
Stärkung unserer Wurzeln bewahren wir uns die Offenheit und Empfänglichkeit für die<br />
besten Ideen und Praktiken des Ostens und des Westens; auf diese Weise müssen und<br />
werden wir uns vorwärts bewegen.<br />
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
Das Bolschoi-Theater in Moskau besteht seit 1776. Foto: Wikimedia Commons; CCL 3.0<br />
81
«Die Identitäten der Völker erhalten»<br />
82<br />
Diskussionsbeitrag von Volker Rühe<br />
[Rühe war von 1990 bis 1998 Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland]<br />
Rühe: Ich wollte über die junge Generation in Russland sprechen. Als erstes würde<br />
ich gerne mit Folgendem beginnen, weil ich hier von Anfang an dabei war, und ein<br />
großes Kompliment an meine russischen Freunde für dieses Format des Valdai-Forums<br />
aussprechen. Ebenso an die Gestalter dieses Forums, denn sie nur Organisatoren zu<br />
nennen, wäre zu wenig. Was wir hier gesehen haben, nenne ich die Kultur der Integration<br />
und der Liebe zum Pluralismus. Und ich kann Ihnen sagen, Herr Präsident, dass wir<br />
von den pluralistischen Stimmen aus Russland, unter denen ja auch starke Aussagen<br />
von Menschen sind, die in Opposition zu Ihrer Politik stehen, ganz fasziniert sind, und ich<br />
denke, dass diese Form der Organisation die Stärke des Landes zeigt.<br />
Ich habe nie auf Russland mit dem eingeschränkten Blick eines Verteidigungsministers<br />
geschaut, das wissen Sie. Ich war das erste Mal 1971 hier und Sergej Karaganow<br />
ist ein Freund von mir seit den späten 1970er Jahren. Wir sehen vielleicht nicht so aus,<br />
aber es ist eine Tatsache des Lebens. Wir haben die SS-20 und Pershing [neue Mittelstreckenraketen<br />
der USA und UdSSR in den 1980er Jahren] durchlebt.<br />
Und was ich erwähnen möchte ist, dass, als ich 1995 als Verteidigungsminister<br />
hierher kam und nach St. Petersburg ging, keine Panzer, Artillerie oder Generäle sehen<br />
wollte, sondern den Bürgermeister, Sobtschak [Als Anatoli Sobtschak 1991 Bürgermeister<br />
von Petersburg wurde, holte er Putin als Stellvertreter ins Amt]. Ich wollte und<br />
lernte auch Sie kennen, als Teil des Teams. Warum wollte ich das? Nun, er war wie ein<br />
Leuchtturm für mich, einen jungen Abgeordneten in Westdeutschland, im noch geteilten<br />
Deutschland. Und ich denke, dass das, was er tat, viel wichtiger war als Panzer und<br />
Artillerie, und es hat sich als richtige Entscheidung herausgestellt. Es ist ein lebenslanges<br />
Interesse am Nachbarn. Und ich glaube, dass wir alle auf diesem Kontinent ein<br />
Interesse an einem erfolgreichen und modernen Russland haben.<br />
Nun zur jungen Generation. Was ich gesehen habe... Und natürlich war es für mich<br />
sehr interessant, seine Tochter vor zwei Tagen zu hören, welche eine starke Stimme für<br />
die junge Generation in Russland ist. Was ich hier gesehen habe, was ich in Russland<br />
gesehen habe, ist, dass Sie in den jungen Leuten eine wirkliche Bereicherung für das<br />
Land haben. Sie sind sehr intelligent, wollen eine gute Bildung und größere internationale<br />
Vernetzung. Sie wollen auch mehr Mitsprache in der Politik des Landes haben. Sie<br />
klopfen förmlich an die Türen des Kremls.<br />
Die jungen Leute aus meinem Land wollen auch ihr Privatleben aufbauen und sie<br />
sind international sehr vernetzt. Die Türen unseres Kremls, die des Parlaments und der<br />
Regierung, sind weit geöffnet, aber sie klopfen nicht an. Sie überlassen es einfach den<br />
Politikern, weil sie denken, dass sie die Dinge immer sehr gut arrangiert haben. Und wir
Rede auf dem Valdai-Forum am 19. September 2013<br />
sind sehr traurig, dass einige von ihnen nur an einem erfolgreichen Privatleben interessiert<br />
sind, aber sich nicht im öffentlichen Leben engagieren.<br />
Und deshalb ist meine eigentliche Botschaft, dass Russland wirklich stolz auf seine<br />
junge Generation sein kann, gerade weil es politische Kontrahenten hat, die sich<br />
im öffentlichen Leben engagieren wollen, was in vielen westlichen Ländern nicht der<br />
Fall ist. Und ich habe auch früher schon in Russland gesagt, dass wir im Westen die<br />
Visa-Regelung aufgeben sollten, weil [die Visa-Freiheit] Hunderttausenden von jungen<br />
Russen einen Einblick in unser Leben und politisches System geben könnte. Aber ich<br />
muss auch sagen, dass es auch Russland verändert hätte, denn wenn sie erst einmal in<br />
Rom, London oder Washington studiert haben, wären sie auch Kräfte der Veränderung<br />
geworden, der notwendigen Veränderung in diesem Land. Aber ich denke, es würde das<br />
Land auch wettbewerbsfähiger machen.<br />
Nun, was hat das mit Sicherheitspolitik zu tun? Ich denke, genau das ist der beste<br />
Weg, um Sicherheit zu gewährleisten und gemeinsame Standpunkte zu entwickeln. Ich<br />
bin sehr froh über die Kultur des Valdai-Forums, ich denke es gibt nichts Vergleichbares,<br />
und ich bin auf vielen Konferenzen gewesen, auch in München [auf der alljährlichen<br />
Münchner Sicherheitskonferenz], wo es sehr engstirnig um Sicherheit geht. Es gibt auf<br />
der Welt keine vergleichbare Konferenz.<br />
Und wenn wir nun vier Stunden lang Ihren Menschen zuhören, über Ideen und Politik...<br />
Wir reden manchmal über unsere Politik von Montag bis Donnerstag. Es war sehr faszinierend<br />
zu sehen, dass die russischen Redner ein viel größeres Interesse an grundsätzlichen<br />
Fragen der Gesellschaft haben, als wir bei uns, wo so etwas oft nur oberflächlich besprochen<br />
wird. Ich denke, das ist etwas, womit man anfangen kann, aber ich denke, die eigentliche<br />
Nachricht ist, dass es ein sehr gutes Projekt für Ihre dritte Amtszeit wäre, diese junge<br />
Generation zu integrieren, wenn sie an die Türen des Kremls klopft. Denn vergessen Sie<br />
nicht, wir hätten gerne mehr junge Leute im Westen, die an unseren Türen der politischen<br />
Macht klopfen, und Sie können sehr stolz auf diese Menschen sein. Das ist meine Botschaft.<br />
[Erneute Wortmeldung von Volker Rühe]<br />
Präsident Putin, ich stimme Ihrer Meinung bezüglich des Irakkrieges zu und wir waren<br />
diesbezüglich genauso kritisch, wie auch die Franzosen. Es [der Angriff auf Irak 2003]<br />
war keine NATO-Entscheidung, sondern eine US-amerikanische Entscheidung.<br />
Aber in Libyen [2011] war es anders. Ich möchte Sie daran erinnern, dass im ersten<br />
Jahrzehnt dieses Jahrtausends die Vereinten Nationen neue Entwicklungen im internationalen<br />
Recht schufen, die sogenannte Schutzverantwortung. Was bedeutet das?<br />
Jeder Staat hat eine Verantwortung, die eigene Bevölkerung zu schützen. Und wenn er<br />
das nicht tut, dann gibt es ein Recht der Internationalen Gemeinschaft, zu intervenieren,<br />
sobald es einen Beschluss des Sicherheitsrates gibt.<br />
83
Das Ballett steht international für russische Hochkultur. Foto: Wikimedia Commons; CCL 3.0<br />
Russland enthielt sich [im Sicherheitsrat] der Stimme und machte so diesen Angriff<br />
[auf Libyen] möglich. Und ich möchte nur betonen, dass ich sehr dankbar bin, dass die<br />
französischen Streitkräfte das Leben von Tausenden von Menschen in Bengasi gerettet<br />
haben. Das geschah nicht, um dort die Demokratie zu schaffen, das wird auch noch lange<br />
dauern und wird immer anders sein als bei uns. Aber wie viele Menschen kann man<br />
in seinem Land umbringen und gleichzeitig behaupten: «Das betrifft das Ausland nicht?»<br />
Das Völkerrecht sagt, dass es so etwas nicht mehr gibt, es ist nicht mehr möglich.<br />
Und kommen wir nun zu Syrien. Das ist ein anderer Fall, denn es gibt keine internationale<br />
Grundlage für die Intervention. Wenn Sie sich daran erinnern, wie es [2011]<br />
begann, wir hatten letzte Nacht eine sehr interessante Debatte darüber. Es war in Daraa<br />
im Süden des Landes, wo die jungen Menschen in den Straßen demonstrierten, wie sie<br />
es auch bei uns und auch in Russland tun. Und sie wurden erschossen. Und später sahen<br />
wir die Bilder, wie der Präsident [Baschar al Assad] seine Luftwaffe zum Töten auf eine<br />
Schlange von Menschen losschickte, die für Brot anstanden. Ich kann Ihnen eines sagen:<br />
Ein Präsident, der auf Menschen schießt, die für Brot anstehen, hat keine Zukunft. Er<br />
hat keine Zukunft!<br />
84<br />
Und da können wir nicht zuschauen! Wir müssen zu einer Einigung darüber kommen,<br />
was zu tun ist, und ich bin sehr dankbar für das, was zwischen Ihnen und den Vereinigten<br />
Staaten vereinbart wurde. [Wenige Tage zuvor, Mitte September 2014, war es zu einer<br />
Verständigung zwischen Obama und Putin in Bezug auf die Abrüstung der Chemiewaffen<br />
in Syrien gekommen.] Es ist sehr kostbar. Und ich hoffe, es wird zu Ergebnissen führen,<br />
und es wird Ihnen beiden helfen. Es ist eine Win-Win-Situation für uns alle.
Rede auf dem Valdai-Forum am 19. September 2013<br />
Aber wir müssen auch verstehen, dass man in der Welt von heute nicht einfach Staaten,<br />
die andere Staaten angreifen, angehen kann. Das war im 20. Jahrhundert der Fall.<br />
Aber was macht man mit Staaten, die nicht die eigene Bevölkerung schützen? Sie haben<br />
nicht einfach das Recht zu intervenieren, aber auf der Grundlage eines Beschlusses<br />
der Vereinten Nationen hat das Sinn. Denn jeder, jeder Präsident eines jeden Landes,<br />
hat auch eine Verantwortung, seine eigenen Leute zu schützen. Das ist meine Meinung<br />
dazu.<br />
Putin entgegnet Rühe<br />
Putin: Ich bin vollkommen einverstanden damit, dass die Anwendung von Gewalt<br />
nur durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates möglich ist. Auch sonst stimme ich<br />
natürlich völlig mit Ihnen überein. (...)<br />
Unser deutscher Kollege sprach leider darüber, dass die jungen Menschen in<br />
Deutschland nicht wirklich an der Politik interessiert seien. Allerdings bin ich da nicht<br />
ganz seiner Meinung, denn seinerzeit wurde die Grüne Partei hauptsächlich von jungen<br />
Menschen gegründet, und erst kürzlich wurde wieder eine von jungen Menschen gegründet.<br />
(...) Dann erschien die Piratenpartei. Jetzt ist sie zwar nicht ganz so erfolgreich,<br />
im Hinblick auf die Wahlen, aber sie ist immer noch da und sie besteht auch aus jungen<br />
Menschen. Im Prinzip sind die jungen Menschen überall aktiv. Ich würde mir wünschen,<br />
dass diese Aktivitäten einen positiven Charakter annehmen. Natürlich muss es auch<br />
politischen Kampf und Wettbewerb geben. Ich hoffe sehr, dass dies geschehen wird,<br />
dass herausragende Führer entstehen, denn das Land braucht sie.<br />
Keine Diskriminierung Homosexueller<br />
Gerhard Mangott: Herr Präsident mein Name ist Gerhard Mangott aus Österreich und<br />
ich bin Professor für internationale Beziehungen an der Universität in Innsbruck. (...) Ich<br />
bewundere wirklich die Vielfalt ihres Landes. Es ist ein tolles Land. Aber diese Vielfalt<br />
ist auch der Nährboden für viele Widersprüche in Bezug auf die Werte. Sie erfordert<br />
gegenseitigen Respekt zwischen den Menschen. Den Respekt der Mehrheit gegenüber<br />
den Minderheiten, aber auch den Respekt der Minderheiten gegenüber der Mehrheit.<br />
Und ich persönlich befürworte die Liebe, die Liebe egal in welcher Form, egal welchen<br />
Ausdrucks, welche über das ganze Land verteilt sein sollte, ohne Schikane und ohne<br />
Angst, dafür schikaniert oder getötet zu werden.<br />
Putin: Gut lassen Sie uns mit ihrem zweiten Punkt beginnen. Es gibt keine Schikane<br />
auf sexueller Basis. Russland hat keine Gesetze zum Schikanieren sexueller Minderheiten<br />
wegen ihrer... ihrer was?<br />
85
«Die Identitäten der Völker erhalten»<br />
Zuruf: Wegen ihrer Orientierung.<br />
Genau, wegen ihrer sexuellen Orientierung! Solche Gesetze, die diese bestrafen,<br />
haben wir nicht! Daher brauchen Sie sich diesbezüglich keine Sorgen zu machen. Wir<br />
haben vor einiger Zeit ein Gesetz verabschiedet, das die Propaganda der Homosexualität<br />
gegenüber Minderjährigen untersagt. Ich möchte Ihnen den Sinn dieses Gesetzes<br />
erklären. In Ihrem Land [Österreich], in allen europäischen Ländern und in Russland<br />
gibt es ein großes Problem mit der Demografie. Das heißt, die Geburtenraten sind sehr<br />
niedrig. Die Europäer sterben aus! Verstehen Sie das denn nicht? Aus homosexuellen<br />
Ehen und Partnerschaften kommen keine Kinder! Verstehen Sie? Oder wollen Sie etwa<br />
dadurch überleben, indem Sie viele Einwanderer in Ihre Länder holen? Aber eine solch<br />
große Zahl an Einwanderern, die zur Reproduktion nötig wäre, kann die europäische<br />
Gesellschaft nicht adaptieren beziehungsweise assimilieren. Gut, Sie haben Ihre Wahl<br />
in Ihren Ländern getroffen. Homosexuellen-Ehe und das damit verbundene Recht, Kinder<br />
zu adoptieren und so weiter. Sie haben diese Entscheidungen in Ihren Ländern getroffen!<br />
Ihr Recht, bitte schön! Aber lassen Sie uns unser Recht, unsere Wahl selbstständig<br />
so zu treffen, wie wir sie für das Wohl unseres Landes als am besten betrachten!<br />
Und bezüglich der Rechte von Homosexuellen in Russland wiederhole ich: Vertreter<br />
der homosexuellen Minderheiten sind in Russland in keiner Weise in ihren Rechten<br />
beschränkt oder diskriminiert! Wir haben überhaupt keine Regelungen oder Gesetze,<br />
die die sexuellen Minderheiten irgendwie benachteiligen würden! Wir haben solche<br />
Gesetze nicht! Weder am Arbeitsplatz, noch sonstwo im alltäglichen Leben werden sexuelle<br />
Minderheiten bei uns benachteiligt. So etwas haben wir nicht! Ich habe bereits<br />
vorher diesen Sachverhalt mehrmals erklärt. Ich selber arbeite in meinem alltäglichen<br />
Leben mit solchen Menschen, die homosexuell sind, zusammen. Ich selber habe solchen<br />
Menschen mehrfach Staatsauszeichnungen für ihre beruflichen Verdienste verliehen.<br />
Also, Sie brauchen hier keine antirussischen Ängste zu schüren beziehungsweise ein<br />
Angstklima zu erzeugen! Diese Besorgnis ist sehr weit hergeholt.<br />
Übrigens, sehen Sie: In einigen Ländern wird Homosexualität noch heute gesetzlich<br />
bestraft. Zum Beispiel sind in einigen Bundesstaaten der USA Gefängnisstrafen für Homosexualität<br />
vorgesehen. Diese Gesetze sind heute noch in Kraft! Das Bundesgericht<br />
der USA ist gegen diese Gesetze in jenen Bundesstaaten der USA, weil sie nach dessen<br />
Meinung gegen die US-Verfassung verstoßen. Aber das US-Bundesgericht schafft es<br />
trotzdem nicht, diese Gesetze außer Kraft zu setzen, warum auch immer. Also warum<br />
beschuldigen alle diesbezüglich ausgerechnet Russland? Warum werden gegen Russland<br />
Ängste geschürt? Homosexuelle haben in Russland keine Probleme. Bitte lassen<br />
Sie diese Angstmacherei!<br />
Quelle: eng.kremlin.ru/news/6007 (Auszüge). Übersetzung: Yasmin Pazio<br />
86
«Das wäre eine<br />
humanitäre Mission»<br />
_ Über ein mögliches militärisches Eingreifen in der Ukraine nach dem Umsturz in Kiew:<br />
Auszüge aus der Rede vor Pressevertretern am 4. März 2014<br />
Am 22. Februar 2014 wurde der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch von<br />
Aufständischen gestürzt und eine neue Regierung, gebildet aus bisherigen Oppositionskräften,<br />
übernahm die Macht. Dabei wurden wesentliche Verfassungsgrundsätze<br />
gebrochen.<br />
Zuerst gebe ich Ihnen meine Einschätzung von dem, was in Kiew und in der ganzen<br />
Ukraine passiert ist. Da kann es nur eine Einschätzung geben: Das war eine gegen die<br />
Verfassung gerichtete Übernahme, eine bewaffnete Machtergreifung. Stellt das irgend<br />
jemand in Frage? Niemand stellt es in Frage.<br />
Hier gibt es aber eine Frage, die weder ich noch meine Kollegen, mit denen ich, wie<br />
Sie wissen, die Situation in der Ukraine in diesen vergangenen Tagen immer wieder<br />
diskutiert habe, beantworten kann – keiner von uns kann sie beantworten. Die Frage<br />
lautet: Warum wurde das gemacht?<br />
Der Putsch vom 22. Februar 2014<br />
Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache richten, dass Präsident Janukowitsch<br />
durch die Vermittlung der Außenminister dreier europäischer Länder – Polens,<br />
Deutschlands und Frankreichs – und in Gegenwart meines Vertreters [das war der Russische<br />
Kommissar für Menschenrechte Wladimir Lukin] am 21. Februar eine Vereinbarung<br />
mit der Opposition unterzeichnet hat. Ich möchte betonen, dass gemäß dieser Vereinbarung<br />
– ich sage nicht, dass sie gut oder schlecht ist, nur um die Tatsache festzuhalten<br />
– Herr Janukowitsch eigentlich die Macht übergeben hat. Er hat allen Forderungen der<br />
Opposition zugestimmt: Er stimmte vorgezogenen Parlamentswahlen zu und der Rückkehr<br />
zur Verfassung von 2004, wie es von der Opposition verlangt wurde. Er gab eine positive<br />
Antwort auf unsere Anfrage, die Anfrage der westlichen Länder und zuvorderst die<br />
der Opposition, keine Gewalt anzuwenden. Er gab keinen einzigen illegalen Befehl aus,<br />
auf die armen Demonstranten zu schießen. Darüber hinaus gab er den Befehl aus, alle<br />
Polizeikräfte aus der Hauptstadt abzuziehen, und sie stimmten zu. Er ging nach Charkow,<br />
um an einem Empfang teilzunehmen, und als er die Stadt verließ, besetzten sie plötz-<br />
87
Angehöriger der ukrainischen Spezialeinheit Berkut während der Maidan-Proteste im Februar 2014.<br />
Foto: Mstyslav Chernov; CCL 3.0<br />
lich die Residenz des Präsidenten und das Regierungsgebäude, anstatt die besetzten<br />
Verwaltungsgebäude freizugeben – all das, statt gemäß der Vereinbarung zu handeln.<br />
Ich frage mich, was war die Absicht von all dem? Ich möchte verstehen, warum das<br />
gemacht wurde. Er [Janukowitsch] hatte tatsächlich seine Macht bereits abgegeben<br />
und hätte – ich glaube, ich habe ihm das gesagt – keine Chance gehabt, wiedergewählt<br />
zu werden. Jeder stimmt dem zu, jeder, mit dem ich in den wenigen vergangenen Tagen<br />
am Telefon gesprochen habe. Was war die Absicht all dieser illegalen, verfassungswidrigen<br />
Handlungen, warum mussten sie so ein Chaos in dem Land anrichten?<br />
Bewaffnete und maskierte Militante streunen noch immer durch die Straßen von<br />
Kiew. Dies ist eine Frage, auf die es keine Antwort gibt. Wollten sie jemanden erniedrigen<br />
und ihre Macht demonstrieren? Ich denke, diese Handlungen sind absolut töricht.<br />
Das Ergebnis ist genau das Gegenteil von dem, was sie erwarteten, weil ihre Handlungen<br />
den Osten und den Südosten der Ukraine beträchtlich destabilisiert haben.<br />
88<br />
Die Vorgeschichte des Putsches<br />
Wie kam es zu dieser Situation? Meiner Ansicht nach gärt diese revolutionäre Situation<br />
schon lange, seit den ersten Tagen der Unabhängigkeit der Ukraine. Der normale<br />
ukrainische Bürger, der normale Mensch, litt während der Herrschaft von [Zar] Nikolaus<br />
II., während der Herrschaft von [Leonid] Kutschma [1992/1994 bis 2005], und während<br />
der von [Viktor] Juschtschenko [2005 bis 2010] und der von Janukowitsch. Nichts oder<br />
fast nichts hat sich zum Besseren gewendet. Die Korruption hat Dimensionen erreicht,<br />
die man sich hier in Russland nicht vorstellen kann. Akkumulation von Wohlstand und<br />
soziale Unterschiede – Probleme, die auch in diesem Land [Russland] akut sind – sind in<br />
der Ukraine um vieles schlimmer, grundlegend schlimmer. Da sind sie jenseits von allem,<br />
was wir uns vorstellen können. Die Menschen wollten Veränderung, aber man sollte<br />
keine illegalen Veränderungen unterstützen.<br />
Im postsowjetischen Raum, in dem die politischen Strukturen noch sehr fragil sind<br />
und die Wirtschaft noch schwach ist, sollten nur verfassungsmäßige Mittel benutzt wer-
Auszüge aus der Rede vor Pressevertretern am 4. März 2014<br />
den. Über das verfassungsmäßige Feld hinauszugehen, wäre in solch einer Situation<br />
immer ein Kardinalfehler.<br />
Übrigens verstehe ich die Menschen auf dem Maidan [zentraler Protestplatz der Opposition<br />
in Kiew], obwohl ich diese Art der Übernahme nicht unterstütze. Ich verstehe diese<br />
Menschen auf dem Maidan, die nach einer radikalen Veränderung rufen, anstatt einer<br />
kosmetischen Umgestaltung der Macht. Warum verlangen sie das? Weil sie damit aufgewachsen<br />
und gewohnt sind, dass eine Reihe von Dieben durch eine weitere ersetzt wurde.<br />
Darüber hinaus werden die Menschen in den Regionen nicht einmal daran beteiligt,<br />
ihre eigenen Regionalregierungen zu bilden. Es gab einen Zeitabschnitt in diesem Land<br />
[Russland], als der Präsident regionale Führungskräfte bestimmte, diese aber dann von<br />
den örtlichen Gesetzgebern anerkannt werden mussten, während sie in der Ukraine direkt<br />
ernannt werden. Wir [in Russland] haben uns jetzt zu Wahlen hinbewegt, während<br />
sie nicht einmal nahe daran sind.<br />
Und sie [die neuen Machthaber in Kiew] haben alle möglichen Oligarchen und Milliardäre<br />
ernannt, um die östlichen Gebiete des Landes zu regieren. Kein Wunder, dass<br />
die Menschen das nicht akzeptieren, kein Wunder, dass sie denken – genauso viele<br />
Menschen denken das auch hier –, dass jene Personen auf Grund von unehrlicher Privatisierung<br />
reich geworden und jetzt auch an die Macht gekommen sind.<br />
Zum Beispiel wurde Herr Kolomoisky zum Gouverneur von Dnepropetrovsk ernannt.<br />
Das ist ein erstrangiger Gauner. Es ist ihm vor zwei oder drei Jahren sogar gelungen,<br />
unseren Oligarchen Roman Abramowitsch zu betrügen. Ihn über den Tisch zu ziehen, wie<br />
es unsere Intellektuellen gerne sagen. Sie haben irgendeinen Deal abgemacht, Abramowitsch<br />
hat mehrere Milliarden Dollar überwiesen, während dieser Typ nie geliefert und<br />
das Geld in die eigene Tasche gesteckt hat. Als ich ihn [Abramowitsch] fragte: «Warum<br />
hast du es gemacht?», sagte er: «Ich hätte das nie für möglich gehalten.» Ich weiß übrigens<br />
nicht, ob er je sein Geld zurückbekommen hat und ob der Handel abgeschlossen<br />
wurde. Aber das hat sich wirklich vor ein paar Jahren abgespielt. Und jetzt ist dieser Gauner<br />
zum Gouverneur von Dnepropetrovsk ernannt worden. Kein Wunder, dass die Menschen<br />
unzufrieden sind. Sie waren unzufrieden und werden es bleiben, wenn jene, die<br />
sich jetzt selbst als die legitime Autorität bezeichnen, auf die gleiche Art weiter machen.<br />
Die neue Macht ist illegal<br />
Das Wichtigste ist: Die Menschen sollten das Recht haben, ihre eigene Zukunft zu<br />
bestimmen, die ihrer Familien und ihrer Region, und dort gleichberechtigt mitwirken<br />
können. Ich möchte das betonen: Wo immer eine Person lebt, in welchem Landesteil<br />
auch immer, er oder sie sollte das Recht haben, gleichberechtigt die Zukunft des Landes<br />
mitbestimmen zu können.<br />
89
«Das wäre eine humanitäre Mission»<br />
Sind die jetzigen Autoritäten rechtmäßig? Das Parlament ist es zum Teil, aber alle<br />
anderen sind es nicht. Der jetzt amtierende Präsident [Olexandr Turtschynow] ist sicher<br />
nicht rechtmäßig. Es gibt aus rechtlicher Sicht nur einen rechtmäßigen Präsidenten. Natürlich,<br />
er hat keine Macht. Wie ich jedoch schon sagte, und ich werde es wiederholen:<br />
Janukowitsch ist der einzige zweifelsfrei rechtmäßige Präsident.<br />
Es gibt drei Arten, wie man nach ukrainischem Gesetz einen Präsidenten absetzen<br />
kann: Die eine ist durch Tod, eine weitere ist, wenn er persönlich zurücktritt, und die<br />
dritte ist durch ein Absetzungsverfahren. Das letztere ist eine gut entwickelte verfassungsmäßige<br />
Norm. Es muss den Verfassungsgerichtshof, den obersten Gerichtshof und<br />
die Rada [das Parlament] mit einbeziehen. Das ist ein kompliziertes und langwieriges<br />
Verfahren. Es wurde noch nicht angewendet. Daher ist dies [die Präsidentschaft Janukowitschs]<br />
aus rechtlicher Sicht eine unbestrittene Tatsache.<br />
Außerdem denke ich: Vielleicht ist das der Grund, warum sie [die neuen Machthaber]<br />
das Verfassungsgericht aufgelöst haben, was allen rechtlichen Normen zuwiderläuft,<br />
sowohl denen der Ukraine als auch denen von Europa. Sie haben nicht nur das Verfassungsgericht<br />
auf eine unrechtmäßige Art aufgelöst, sondern, stellen Sie sich vor, sie<br />
haben auch die Generalstaatsanwaltschaft angewiesen, gegen Mitglieder des Verfassungsgerichts<br />
strafrechtlich vorzugehen.<br />
Worum geht es eigentlich? Ist es das, was sie freie Justiz nennen? Wie kann man irgend<br />
jemanden anweisen, strafrechtlich vorzugehen? Wenn eine Straftat, eine strafbare<br />
Handlung begangen worden ist, sehen das die Exekutivorgane und reagieren. Aber sie<br />
anzuweisen, Strafanzeigen zu erstatten, ist Unsinn, das sind krumme Touren.<br />
90<br />
Russischer Militäreinsatz als Notwehr<br />
Nun zur Finanzhilfe an die Krim. Wie Sie vielleicht wissen, haben wir entschieden,<br />
in den russischen Regionen Unterstützung zu organisieren, um der Krim zu helfen, die<br />
sich wegen humanitärer Hilfe an uns wandte. Wir werden sie natürlich zur Verfügung<br />
stellen. Ich kann nicht sagen, wie viel, wann oder wie – die Regierung arbeitet daran,<br />
indem sie die Regionen, die an die Krim grenzen, an einen Tisch bringt und indem sie<br />
unseren Regionen zusätzliche Unterstützung bietet, damit sie dem Volk der Krim helfen<br />
können. Das werden wir selbstverständlich tun.<br />
Was die Entsendung von Truppen, den Einsatz bewaffneter Kräfte, betrifft: Bisher<br />
besteht dazu keine Notwendigkeit, aber die Möglichkeit bleibt bestehen. Ich möchte<br />
hier sagen, dass die Militärmanöver, die wir kürzlich durchführten, nichts mit den Ereignissen<br />
in der Ukraine zu tun hatten. Sie waren vorher geplant, aber wir haben diese<br />
Pläne natürlich nicht offengelegt, denn es handelte sich um eine Spontaninspektion der<br />
Kampfbereitschaft der Truppen. Wir planten das schon vor langem, der Verteidigungs-
Auszüge aus der Rede vor Pressevertretern am 4. März 2014<br />
minister berichtete mir, und ich hatte den Befehl bereit, um die Übung zu beginnen. Wie<br />
Sie vielleicht wissen, sind die Manöver vorbei; ich gab den Truppen gestern den Befehl,<br />
in ihre regulären Standorte zurückzukehren.<br />
Was kann als Grund für den Einsatz bewaffneter Kräfte dienen? Eine solche Maßnahme<br />
wäre bestimmt das letzte Mittel.<br />
Erstens, zur Frage der Rechtmäßigkeit. Wie Sie wahrscheinlich wissen, erhielten wir<br />
ein direktes Gesuch des Amtsinhabers und, wie ich schon sagte, rechtmäßigen Präsidenten<br />
der Ukraine, Herrn Janukowitsch, der uns darum bat, die Streitkräfte einzusetzen,<br />
um das Leben, die Freiheit und die Gesundheit der Bürger der Ukraine zu schützen.<br />
Was ist unsere größte Sorge? Wir sehen, dass das Wüten der reaktionären Kräfte,<br />
der nationalistischen und antisemitischen Kräfte in gewissen Teilen [der Ukraine], auch<br />
in Kiew, weitergeht. Ich bin sicher, dass Sie, Vertreter der Medien, sahen, wie [vor dem<br />
Umsturz] einer der Gouverneure gefesselt und mit Handschellen an etwas gekettet wurde<br />
und wie sie, in der winterlichen Kälte, Wasser über ihn gossen. Danach wurde er<br />
übrigens in einen Keller gesperrt und gefoltert.<br />
Worum geht es hier eigentlich? Ist das Demokratie? Ist dies eine Erscheinungsform<br />
von Demokratie? Er [der gefolterte Gouverneur] ist in Wirklichkeit erst vor kurzem, ich<br />
glaube im Dezember, in diese Position berufen worden. Selbst wenn wir annehmen,<br />
dass sie dort alle korrupt sind, hatte er kaum Zeit, etwas zu entwenden.<br />
Und wissen Sie, was geschah, als sie [die Putschisten] das Gebäude der Partei der<br />
Regionen [der Janukowitsch-Partei] besetzten? Zu der Zeit waren überhaupt keine Parteimitglieder<br />
dort. Zwei oder drei Angestellte kamen heraus, einer war ein Ingenieur,<br />
und er sagte zu den Angreifern: «Könnten Sie uns gehen lassen? Und lassen Sie die<br />
Frauen raus, bitte. Ich bin Ingenieur, ich habe nichts mit Politik zu tun.» Er wurde genau<br />
dort vor der Menge erschossen. Ein anderer Angestellter wurde in einen Keller geführt,<br />
und dann warfen sie Molotowcocktails auf ihn und verbrannten ihn lebendig. Ist auch<br />
das eine Manifestation von Demokratie?<br />
Wenn wir das sehen, verstehen wir die Sorgen der Bürger der Ukraine, der russischen<br />
wie der ukrainischen, und der russischsprachigen Bevölkerung in den östlichen<br />
und südlichen Regionen der Ukraine. Es ist dieses unkontrollierte Verbrechen, das sie<br />
beunruhigt.<br />
Wenn wir sehen, wie sich solche unkontrollierte Kriminalität in die östlichen Gebiete<br />
des Landes ausbreitet und die Menschen uns um Hilfe bitten, und da wir schon das<br />
offizielle Ersuchen des rechtmäßigen Präsidenten haben, behalten wir uns das Recht<br />
vor, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um diese Menschen zu schützen. Wir sind überzeugt,<br />
dass das absolut legitim wäre. Das wäre unser letztes Mittel.<br />
91
«Das wäre eine humanitäre Mission»<br />
Was ich außerdem dazu sagen möchte, ist Folgendes: Wir haben die Ukraine immer<br />
nicht bloß als Nachbarn, sondern als benachbarte Schwesterrepublik betrachtet, und<br />
werden das auch weiterhin tun. Unsere Streitkräfte sind Waffenbrüder, Freunde, viele<br />
von ihnen kennen sich persönlich. Ich bin sicher, und ich betone das, ich bin sicher, dass<br />
die ukrainische Armee und die russische Armee sich nicht gegenüberstehen werden, sie<br />
werden in einem Kampf auf derselben Seite stehen.<br />
Übrigens vollzieht sich das, worüber ich spreche – diese Einigkeit –, auf der Krim. Sie<br />
sollten zur Kenntnis nehmen, dass dort Gott sei Dank nicht ein einziger Schuss gefallen<br />
ist. Es gibt keine Opfer, mit Ausnahme derer beim Massenauflauf auf dem Platz [in der<br />
Krimhauptstadt Simferopol] vor rund einer Woche. Was geschah dort? Leute kamen, umringten<br />
Einheiten der bewaffneten Kräfte und sprachen mit ihnen und überzeugten sie davon,<br />
die Forderungen und den Willen der Menschen, die in dem Gebiet leben, zu befolgen.<br />
Es gab nicht einen einzigen bewaffneten Konflikt, nicht einen einzigen Gewehrschuss.<br />
Daher ebbte die Spannung auf der Krim, mit der die Möglichkeit eines Einsatzes<br />
unserer Streitkräfte zusammenhing, ab, und es gab keine Notwendigkeit für einen Einsatz.<br />
Das einzige, was wir zu tun hatten, und das taten wir, war die bessere Sicherung<br />
unserer Militäreinrichtungen, weil sie ständig Drohungen erhielten und wir Kenntnis<br />
vom Eindringen der bewaffneten nationalistischen Bewegung hatten. Wir taten das, wir<br />
taten das Richtige, und es war genau zur rechten Zeit. Deshalb gehe ich von der Vorstellung<br />
aus, dass wir nichts Derartiges in der Ostukraine werden tun müssen.<br />
Dennoch möchte ich etwas betonen. Das, was ich sagen werde, gehört offensichtlich<br />
nicht in meine Zuständigkeit, und wir beabsichtigen nicht, einzugreifen. Aber wir sind<br />
fest davon überzeugt, dass allen Bürgern der Ukraine, ich wiederhole, wo immer sie leben,<br />
das gleiche Recht gewährt werden sollte, sich am Leben ihres Landes zu beteiligen<br />
und seine Zukunft zu bestimmen.<br />
Wenn ich in den Schuhen derjenigen stehen würde, die sich selbst als rechtmäßige<br />
Behörden betrachten, würde ich keine Zeit vergeuden und alle notwendigen Schritte<br />
in die Wege leiten; denn sie [diese Behörden] haben kein nationales Mandat, um die<br />
Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik der Ukraine zu führen, und vor allem, ihre Zukunft<br />
zu bestimmen.<br />
92<br />
Nun zum Aktienmarkt. Wie Sie vielleicht wissen, war die Börse schon nervös, bevor<br />
sich die Situation in der Ukraine verschlechterte. Das hängt in erster Linie mit der Politik<br />
der Federal Reserve zusammen, deren jüngste Entscheidungen die Attraktivität einer<br />
Investition in die US-Wirtschaft erhöhten. Und die Investoren begannen, ihre Fonds von<br />
den sich entwickelnden Märkten in den amerikanischen Markt zu verschieben. Das ist<br />
ein allgemeiner Trend und hat nichts mit der Ukraine zu tun. Ich glaube, es war Indien,<br />
das am meisten in Mitleidenschaft gezogen wurde, wie auch die übrigen BRICS-Staa-
Proteste in Kiew zu Jahresbeginn 2014. Foto: Turchynow; CCL 3.0<br />
ten. Russland war davon auch betroffen, nicht so hart wie Indien, aber es war es. Das<br />
ist der wesentliche Grund. Was die Ereignisse in der Ukraine betrifft, so beeinflusst die<br />
Politik den Aktienmarkt immer in der einen oder anderen Weise. Geld liebt Ruhe, Stabilität<br />
und Gelassenheit. Dennoch denke ich, dass dies eine taktische, vorübergehende<br />
Entwicklung und ein vorübergehender Einfluss ist. (…)<br />
Die geopolitische Erpressung<br />
Unsere Partner, vor allem in den Vereinigten Staaten, formulieren ihre eigenen geopolitischen<br />
und Staatsinteressen immer klar und verfolgen sie mit Beharrlichkeit. Dem<br />
Prinzip folgend, «Ihr seid entweder mit uns oder gegen uns», ziehen sie sodann die<br />
ganze Welt mit hinein. Und jene, die nicht mitmachen, werden solange «geprügelt», bis<br />
sie es tun.<br />
Unser Ansatz ist anders. Wir gehen von der Überzeugung aus, dass wir alles tun,<br />
um rechtmäßig zu handeln. Ich persönlich war immer ein Befürworter des Vorgehens<br />
in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht. Ich möchte zum wiederholten Male betonen,<br />
dass wir, wenn wir die Entscheidung treffen, wenn ich die Entscheidung treffe, die<br />
Streitkräfte [in der Ukraine] einzusetzen, dann wird das eine rechtmäßige Entscheidung<br />
sein in voller Übereinstimmung, sowohl mit den allgemeinen Normen des Völkerrechtes<br />
– da wir das rechtmäßige Gesuch des rechtmäßigen Präsidenten [Janukowitsch]<br />
haben, – als auch mit unseren Verpflichtungen; in diesem Fall mit unseren Interessen<br />
zum Schutz des Volkes, mit dem wir enge historische, kulturelle und wirtschaftliche<br />
Verbindungen haben. Diese Menschen zu schützen, liegt in unserem nationalen Interesse.<br />
Das ist eine humanitäre Mission. Wir haben nicht die Absicht, irgend jemanden<br />
zu unterwerfen oder jemandem zu diktieren. Wir können aber nicht indifferent bleiben,<br />
wenn wir sehen, dass sie verfolgt, vernichtet und erniedrigt werden. Dennoch hoffe ich<br />
aufrichtig, dass es nie soweit kommen wird. (...)<br />
Quelle: eng.kremlin.ru/transcripts/6763). Übersetzung: zeit-fragen.ch.<br />
93
«Das Volk ist die Quelle<br />
einer jeden Macht»<br />
_ Rede zum Beitritt der Krim zur Russischen Föderation im Kreml am 18. März 2014<br />
Bei einem Referendum auf der Halbinsel Krim am 16. März 2014 sprachen sich nach<br />
Angaben der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti 96,77 Prozent der Abstimmenden<br />
für einen Anschluss an Russland aus; die Wahlbeteiligung hat demnach 83,1<br />
Prozent betragen.<br />
Guten Tag, sehr verehrte Mitglieder des Föderationsrats, sehr verehrte Abgeordnete<br />
der Staatsduma. Sehr geehrte Vertreter der Republik Krim und der Stadt Sewastopol –<br />
ja, sie sind hier, unter uns, als Bürger Russlands, Einwohner der Krim und Sewastopols.<br />
Verehrte Freunde, heute haben wir uns zur Besprechung einer Frage hier versammelt,<br />
die lebenswichtig und von historischem Ausmaß für uns alle ist. Am 16. März hat auf der<br />
Krim ein Referendum stattgefunden. Dieses Referendum verlief in voller Übereinstimmung<br />
mit demokratischen Normen und internationalen Vorschriften.<br />
An der Abstimmung haben mehr als 82 Prozent der Wähler teilgenommen, über 96<br />
Prozent sprachen sich für einen Anschluss an Russland aus. Diese Zahlen sind durchaus<br />
überzeugend.<br />
Um zu verstehen, warum es zu genau dieser Wahl gekommen ist, genügt es, die<br />
Geschichte Russlands zu kennen und zu verstehen, was die Krim für Russland und was<br />
Russland für die Krim bedeutet.<br />
94<br />
Zur Geschichte der Krim<br />
Alles auf der Krim ist von unserer gemeinsamen Geschichte, unserem gemeinsamen<br />
Stolz durchdrungen. Hier liegt das antike Chersones, wo der heilige Fürst Wladimir getauft<br />
wurde. Seine geistliche Aufopferung – die Annahme des orthodoxen Glaubens –<br />
bestimmte die allgemeine kulturelle Basis, das Wertesystem und die Zivilisation voraus,<br />
welche die Völker Russlands, der Ukraine und Weißrusslands vereint. Auf der Krim gibt<br />
es Gräber der russischen Soldaten, durch deren Heldenmut die Krim im Jahre 1783 unter<br />
russische Herrschaft kam. Die Krim – das ist Sewastopol, eine Legende von einer Stadt,<br />
eine Stadt mit einem großartigen Schicksal, eine Festungsstadt und die Heimatstadt der
Rede zum Beitritt der Krim zur Russischen Föderation im Kreml am 18. März 2014<br />
Schwarzmeerflotte. Die Krim – das ist Balaklawa und Kertsch, Malachow und Sapungora.<br />
Jeder dieser Orte ist ein Heiligtum für uns, all das sind Symbole für militärischen<br />
Ruhm und Heroismus.<br />
Die Krim ist eine einmalige Mischung aus den Kulturen und den Traditionen verschiedener<br />
Völker, und auch dadurch ähnelt sie dem großen Russland, wo im Verlauf der<br />
Jahrhunderte keine einzige der zahlreichen Völkerschaften verschwunden ist oder sich<br />
aufgelöst hat. Russen und Ukrainer, Krimtataren und Vertreter anderer Völkerschaften<br />
lebten und wirkten gemeinsam auf dem Boden der Krim, sie bewahrten sich ihre Eigenständigkeit,<br />
ihre Sprache und ihren Glauben.<br />
Übrigens sind von den 2.200.000 Einwohnern der Krim heute fast anderthalb Millionen<br />
Russen, 350.000 Ukrainer, die überwiegend die russische Sprache als ihre Muttersprache<br />
betrachten, sowie ungefähr 290.000 bis 300.000 Krimtataren, von denen ein<br />
bedeutender Teil, wie das Referendum gezeigt hat, sich ebenfalls in Richtung Russland<br />
orientiert.<br />
Ja, es gab eine Zeit, als man den Krimtataren, wie auch anderen Völkerschaften der<br />
UdSSR gegenüber mit Härte und Ungerechtigkeit aufgetreten ist. Ich will eines sagen:<br />
Millionen von Menschen verschiedener Nationalitäten wurden Opfer der damaligen Repressionen,<br />
vor allem natürlich auch Russen. Die Krimtataren sind inzwischen in ihre<br />
Heimat zurückgekehrt. Ich bin der Ansicht, dass es notwendig ist, alle politischen und<br />
rechtlichen Schritte zu unternehmen, die Rehabilitation der Krimtataren zu vollenden<br />
und ihren guten Namen in vollem Umfang wiederherzustellen.<br />
Russland und die Krim unterzeichnen den Beitrittsvertrag am 18. März 2014. Foto: Kremlin.ru; Public Domain<br />
95
«Das Volk ist die Quelle einer jeden Macht»<br />
Wir achten Vertreter aller Nationalitäten, die auf der Krim leben. Das ist ihr gemeinsames<br />
Haus, ihre kleine Heimat, und es wäre sicher richtig – denn ich weiß, dass die<br />
Einwohner der Krim das unterstützen –, gäbe es dort nebeneinander drei gleichberechtigte<br />
Landessprachen: Russisch, Ukrainisch und Krimtatarisch.<br />
Verehrte Kollegen! Im Herzen und im Bewusstsein der Menschen war und bleibt die<br />
Krim ein unabdingbarer Bestandteil Russlands. Diese auf der Wahrheit und Gerechtigkeit<br />
beruhende Überzeugung war unerschütterlich und wurde von einer Generation<br />
an die nächste übergeben, vor ihr waren Zeit, Umstände und all die dramatischen Umbrüche<br />
machtlos, die wir und unser Land im Verlauf des 20. Jahrhunderts durchlitten<br />
haben.<br />
Nach der Revolution haben die Bolschewiken aus verschiedenen Beweggründen,<br />
Gott möge ihnen ein Richter sein, bedeutende Gebiete des historischen Südrussland<br />
an die Ukrainische Unionsrepublik abgetreten. Das passierte ohne Berücksichtigung der<br />
nationalen Zusammensetzung der Bewohner, und das ist der heutige Südosten der Ukraine.<br />
1954 folgte dann die Entscheidung, den Oblast Krim an die Ukraine zu übergeben,<br />
dazu kam noch die Stadt Sewastopol, obwohl diese damals direkt der Union unterstand.<br />
Der Initiator dahinter war der Chef der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, [Nikita]<br />
Chruschtschow, persönlich. Was seine Beweggründe waren, ob das Streben nach<br />
Unterstützung bei der ukrainischen Nomenklatur oder das Bemühen, seine Mitschuld<br />
an den massiven Repressionen in der Ukraine in den 1930er Jahren auszubügeln, sei<br />
dahingestellt; das mögen Historiker untersuchen.<br />
96<br />
Demokratie für die Krim<br />
Für uns ist etwas anderes wichtig: Diese Entscheidung war eine Verletzung aller<br />
schon damals gültigen verfassungsmäßigen Normen. Diese Entscheidung wurde im Geheimen,<br />
in Hinterzimmern getroffen. Natürlich wurde unter den Bedingungen des totalitären<br />
Staates nicht die Meinung der Bewohner der Krim und Sewastopols eingeholt.<br />
Natürlich gab es Fragen, warum denn die Krim plötzlich zur Ukraine gehört. Aber im<br />
Großen und Ganzen, das muss man direkt so sagen, wir verstehen das ja, wurde diese<br />
Entscheidung als reine Formsache empfunden, denn es war ja nichts als eine Umverteilung<br />
von Territorium innerhalb eines großen Landes. Damals war es nicht vorstellbar,<br />
dass die Ukraine und Russland einmal nicht mehr zusammen sind, dass sie zu verschiedenen<br />
Staaten werden. Aber so ist es gekommen.<br />
Das, was unwahrscheinlich schien, wurde leider zu Realität. Die Sowjetunion zerfiel.<br />
Die Ereignisse entwickelten sich so schnell, dass kaum jemand unter den damaligen<br />
Menschen die ganze Dramatik der Ereignisse und ihrer Folgen einzuschätzen wusste.<br />
Viele Menschen sowohl in Russland, als auch in der Ukraine und auch in anderen ehe-
Rede zum Beitritt der Krim zur Russischen Föderation im Kreml am 18. März 2014<br />
maligen Sowjetrepubliken hofften, dass die damals neu entstandene Gemeinschaft Unabhängiger<br />
Staaten zu einer neuen Form einer gemeinsamen Staatlichkeit erwächst. Es<br />
wurden ja eine gemeinsame Währung, ein einheitlicher Wirtschaftsraum und gemeinsame<br />
Streitkräfte versprochen, doch all das blieben nur Versprechungen, dabei hat aber<br />
ein großes Land aufgehört zu existieren. Als die Krim sich nun auf dem Gebiet eines<br />
anderen Staates befand, hat Russland das so empfunden, als sei es nicht nur beraubt,<br />
sondern nach allen Regeln der Kunst bestohlen worden.<br />
Gleichzeitig muss man einräumen, dass Russland selbst durch die Initiierung der Unabhängigkeitserklärungen<br />
dem Zerfall der UdSSR Vorschub geleistet hat, bei dessen Gestaltung<br />
sowohl die Krim, als auch die Hauptbasis der Schwarzmeerflotte Sewastopol<br />
vergessen wurden. Millionen von Russen gingen in einem Land schlafen, und wachten<br />
hinter einer Grenze auf; sie wurden in einem Augenblick zu einer nationalen Minderheit<br />
in den ehemaligen Sowjetrepubliken, und das russische Volk wurde damals zum größten<br />
geteilten Volk der Welt.<br />
Heute, viele Jahre später, hörte ich, wie die Einwohner der Krim sagten, dass sie<br />
damals, 1991, wie ein Sack Kartoffeln einfach aus den einen Händen in andere übergeben<br />
wurden. Es ist schwer, dem zu widersprechen. Der russische Staat tat – was?<br />
Er senkte sein Haupt und fand sich damit ab, schluckte diese Beleidigung. Unser Land<br />
befand sich damals in einer kritischen Lage, es konnte einfach nicht für seine Interessen<br />
einstehen. Doch die Menschen konnten sich mit dieser himmelschreienden historischen<br />
Ungerechtigkeit nicht abfinden. All diese Jahre haben sowohl die Bürger, als auch viele<br />
Persönlichkeiten der Gesellschaft dieses Thema oft angesprochen, indem sie sagten,<br />
dass die Krim seit jeher russische Erde sei, und Sewastopol eine russische Stadt. Ja,<br />
wir haben all das gut verstanden und im Herzen und in der Seele nachfühlen können,<br />
aber man musste von den Gegebenheiten ausgehen und nun auf einer neuen Grundlage<br />
gutnachbarliche Beziehungen mit der unabhängigen Ukraine aufbauen. Die Beziehungen<br />
zur Ukraine, mit dem ukrainischen Brudervolk waren und bleiben für uns höchst wichtig<br />
– ganz ohne Übertreibung.<br />
Heute kann man bereits offen darüber sprechen, deswegen möchte ich Ihnen einige<br />
Details aus den Verhandlungen vom Beginn der 2000er Jahre anführen. Damals hat<br />
der ukrainische Präsident [Leonid] Kutschma mich gebeten, den Prozess der Grenzziehung<br />
der russisch-ukrainischen Grenze zu beschleunigen. Bis dahin war dieser Prozess<br />
faktisch nicht vorangekommen. Irgendwie hatte Russland die Krim als Teil der Ukraine<br />
anerkannt, doch Gespräche über eine Grenzziehung gab es nicht. Ich war mir der ganzen<br />
Schwierigkeiten dieser Sache bewusst, gab aber gleich Anweisung, mit dieser Arbeit zu<br />
beginnen, nämlich die Grenzen festzuschreiben, damit alle verstehen: Durch ein Einverständnis<br />
mit einer Grenzziehung erkennen wir die Krim de facto und de jure als ukrainisches<br />
Territorium an, womit wir diese Frage ein für alle Mal klären.<br />
97
«Das Volk ist die Quelle einer jeden Macht»<br />
Wir sind der Ukraine nicht nur in der Frage der Krim entgegengekommen, sondern<br />
auch in solch schwierigen Fragen wie der Grenzziehung im Aquatorium des Asowschen<br />
Meeres und der Straße von Kertsch. Wovon sind wir damals ausgegangen? Wir gingen<br />
davon aus, dass ein gutnachbarliches Verhältnis zur Ukraine für uns das Wichtigste<br />
ist, und dass es nicht Geisel unauflösbarer Territorialstreitigkeiten sein dürfe. Aber bei<br />
alledem rechneten wir natürlich auch damit, dass die Ukraine uns ein guter Nachbar<br />
sein wird, dass die Russen und die russischsprachigen Bürger in der Ukraine, besonders<br />
in ihrem Südosten, in Verhältnissen eines freundschaftlichen, demokratischen und<br />
zivilisierten Staates leben werden, wo ihre Rechte in Entsprechung mit internationalen<br />
Normen gewährleistet werden.<br />
Allerdings begann die Lage sich anders zu entwickeln. Mal für Mal kam es zu Versuchen,<br />
die Russen ihrer historischen Erinnerungen zu berauben, mitunter auch ihrer<br />
Muttersprache, womit sie zwangsweise assimiliert werden sollten. Natürlich litten die<br />
Russen wie auch andere Bürger der Ukraine unter der permanenten politischen und<br />
staatlichen Krise, welche die Ukraine bereits seit mehr als 20 Jahren erschüttert.<br />
Staatsstreich in der Ukraine<br />
Ich kann gut verstehen, warum die Menschen in der Ukraine Veränderung wollten.<br />
In den Jahren der Unabhängigkeit sind sie dieser Staatsmacht überdrüssig geworden.<br />
Es wechselten die Präsidenten, die Premiers, die Abgeordneten der Rada, aber das Verhältnis<br />
zu ihrem Land, zum Volk, blieb immer das Gleiche. Sie saugten die Ukraine aus,<br />
«Marsch für den Frieden» in Moskau am 15. März 2014. Foto: Dharmikatva; CC BY-SA 3.0<br />
98
Rede zum Beitritt der Krim zur Russischen Föderation im Kreml am 18. März 2014<br />
stritten untereinander um Vollmachten, Aktiva und Finanzströme. Dabei interessierte<br />
es die Mächtigen kaum, wie es den einfachen Menschen geht, warum beispielsweise<br />
Millionen von Ukrainern keine Perspektive im eigenen Land sehen und deshalb gezwungen<br />
waren, zu Tagelöhnerarbeiten ins Ausland zu gehen. Das will ich unterstreichen,<br />
es ging nicht um die «Silicon Valleys», sondern genau um Tagelöhnerarbeiten. Allein in<br />
Russland gingen im vergangenen Jahr um die drei Millionen Ukrainer einer Arbeit nach.<br />
Nach einigen Angaben beträgt die Summe ihrer Einkünfte für das Jahr 2013 in Russland<br />
insgesamt über 20 Milliarden US-Dollar, das sind etwa zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts<br />
der Ukraine.<br />
Ich wiederhole: Ich kann diejenigen gut verstehen, die unter friedlichen Losungen<br />
auf den Maidan gingen, um gegen Korruption, ineffiziente Staatsführung und Armut zu<br />
protestieren. Das Recht auf friedliche Proteste, auf demokratische Prozesse und Wahlen<br />
existiert ja gerade dazu, um eine Regierung abzuwählen, die den Menschen missfällt.<br />
Doch die, welche hinter den letzten Ereignissen standen, verfolgten ganz andere Ziele,<br />
sie bereiteten einem Staatsstreich den Weg. Dazu wurden Terror, Mord und Pogrome<br />
veranstaltet. Die treibenden Kräfte des Staatsstreichs waren Nationalisten, Neonazis,<br />
Russophobe und Antisemiten. Genau sie sind es auch, die bis heute in vielerlei Hinsicht<br />
das Leben in der Ukraine bestimmen.<br />
Gleich zu Beginn wird von der sogenannten «Regierung» über eine skandalöse Gesetzesvorlage<br />
einer Änderung der Sprachenpolitik im Lande beraten, wodurch die Rechte<br />
nationaler Minderheiten direkt verletzt würden. Freilich haben die ausländischen Sponsoren<br />
dieser heutigen «Politiker», die Berater der heutigen «Regierung» die Initiatoren<br />
dieser Idee sogleich zurückgepfiffen. Sie sind ja durchaus kluge Leute, das muss man<br />
ihnen schon zugestehen, und sie wissen, wozu Versuche führen werden, eine ethnisch<br />
reine Ukraine zu schaffen. Die Gesetzesvorlage wurde zurückgestellt, aber ganz offenbar<br />
auf Zeit. Von der Existenz dieser Gesetzesvorlage wird jetzt geschwiegen, offenbar<br />
kalkuliert man mit dem kurzen Gedächtnis der Menschen. Aber es ist allen vollkommen<br />
klar geworden, was genau die heutigen ideellen Erben [Stepan] Banderas, Hitlers Mittäter<br />
in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in nächster Zeit unternehmen werden.<br />
Klar ist ebenso, dass es bis heute keine legitime exekutive Macht in der Ukraine gibt,<br />
es gibt niemanden, mit dem man verhandeln könnte. Viele staatliche Organe sind von<br />
Titelbetrügern usurpiert worden, dabei haben sie keine Kontrolle über irgendetwas im<br />
Lande, im Gegenteil, das will ich betonen, oftmals befinden sie sich unter der Kontrolle<br />
von Radikalen. Um zu einem Empfang bei manchem Minister der heutigen Regierung<br />
vorgelassen zu werden, benötigt man die Genehmigung bewaffneter Schläger vom Maidan.<br />
Das ist kein Scherz, sondern heutige Realität.<br />
Denen, die dem Putsch Widerstand leisteten, wurden Repressionen und Strafexpeditionen<br />
angedroht. Und natürlich war die russischsprachige Krim die erste in dieser<br />
99
«Das Volk ist die Quelle einer jeden Macht»<br />
Reihe. Im Zusammenhang damit haben sich die Bewohner der Krim und Sewastopols<br />
an Russland gewandt, mit dem Aufruf, ihre Rechte und ihr Leben zu schützen und das,<br />
was im Lande ablief, nicht zuzulassen, was aber bis heute noch in Kiew, in Donezk, in<br />
Charkow und anderen Städten in der Ukraine passiert.<br />
Natürlich konnten wir diese Bitte nicht ausschlagen, wir konnten die Krim und ihre<br />
Bewohner nicht der Not überlassen, denn das wäre Verrat gewesen.<br />
100<br />
Krim-Beitritt und Völkerrecht<br />
Vor allem ging es darum, Bedingungen für eine friedliche, freie Meinungsäußerung<br />
zu schaffen, damit die Bewohner der Krim ihr Schicksal erstmals in der Geschichte<br />
selbst bestimmen konnten. Allerdings was hören wir heute von unseren Kollegen in<br />
Westeuropa, in Nordamerika? Uns wird gesagt, wir würden die geltenden Normen des<br />
Völkerrechts verletzen. Erstens, es ist sehr gut, dass sie sich wenigstens daran erinnern,<br />
dass es ein Völkerrecht gibt. Vielen Dank schon allein dafür; besser spät, als nie.<br />
Und zweitens, das Wichtigste: Was ist es denn, was wir angeblich verletzen? Ja, der<br />
Präsident der Russischen Föderation bekam vom Oberhaus des Parlaments das Recht,<br />
die Streitkräfte in der Ukraine einzusetzen. Doch von diesem Recht wurde streng genommen<br />
noch nicht einmal Gebrauch gemacht. Die Streitkräfte Russlands sind nicht auf das<br />
Territorium der Krim vorgedrungen, sondern sie waren auf der Grundlage eines internationalen<br />
Vertrages bereits dort. Ja, wir haben unsere Gruppierung vor Ort verstärkt, haben<br />
dabei aber, ich möchte das unterstreichen, damit es alle wissen und hören, die maximal<br />
zulässige Mannstärke unserer Truppenpräsenz auf der Krim nicht überschritten; diese<br />
sieht 25.000 Mann vor, aber es bestand kein Bedarf an einer solchen Zahl.<br />
Und weiter. Bei der Unabhängigkeitserklärung und der Ausrufung eines Referendums<br />
hat sich der Oberste Rat der Krim auf die UN-Charta berufen, in der davon die Rede ist,<br />
dass eine Nation über das Selbstbestimmungsrecht verfügt. Übrigens hat die Ukraine<br />
selbst sich textlich fast identisch darauf berufen, als sie aus der UdSSR ausschied, das<br />
sei angemerkt. Die Ukraine nahm dieses Recht für sich in Anspruch, und den Bewohnern<br />
der Krim wird es verwehrt. Aus welchem Grund?<br />
Außerdem stützte sich die Regierung der Krim auf den bekannten Präzedenzfall mit<br />
Kosovo, ein Präzedenzfall, den unsere westlichen Partner selbst geschaffen haben,<br />
quasi mit eigenen Händen, und zwar in einer Lage, die der in der Krim ganz analog<br />
ist; man erklärte die Trennung des Kosovo von Serbien für legitim und versuchte die<br />
Beweisführung, dass es keines Einverständnisses der Zentralmacht für solche unilateralen<br />
Unabhängigkeitserklärungen bedürfe. Der Internationale Gerichtshof der UN hat<br />
auf Grundlage von Paragraph 1 Punkt 2 der UN-Charta sein Einverständnis damit erklärt<br />
und in seiner Entscheidung am 22. Juli 2010 Folgendes erklärt. Ich zitiere wörtlich: «Es
Russischer Panzersoldat auf der Krim im Frühjahr 2014. Foto: OSZE<br />
besteht kein allgemeines Verbot einseitiger Unabhängigkeitserklärungen, das aus der<br />
Praxis des Sicherheitsrates resultieren würde.» Und weiter: «Das allgemeine Völkerrecht<br />
beinhaltet keinerlei anwendbares Verbot von Unabhängigkeitserklärungen». Wie<br />
man so schön sagt, alles glasklar.<br />
Ich mag es nicht besonders, Zitate anzubringen, aber kann doch nicht davon absehen,<br />
noch einen Auszug aus einem offiziellen Dokument zu bringen, diesmal ist das ein<br />
schriftliches Memorandum der USA vom 17. April 2009, das diesem Internationalen<br />
Gerichtshof im Zusammenhang mit der Anhörung zu Kosovo vorgelegt wurde. Wieder<br />
Zitat: «Unabhängigkeitserklärungen können, wie das auch häufig passiert, das innere<br />
Recht verletzen. Aber das bedeutet nicht, dass dadurch das Völkerrecht verletzt wird.»<br />
Zitat Ende. Sie haben es selbst geschrieben, der ganzen Welt verkündet, alles zurechtgebogen,<br />
und nun regen sie sich auf. Worüber denn? Das, was die Bewohner der Krim<br />
tun, passt exakt in diese Instruktion, eine solche ist es ja faktisch. Das, was die Albaner<br />
in Kosovo – denen wir mit Achtung begegnen – dürfen, wird den Russen, Ukrainern und<br />
Krimtataren auf der Krim verwehrt. Wieder die Frage: Warum?<br />
Von genau den gleichen, von den Vereinigten Staaten und von Europa, hören wir,<br />
dass Kosovo angeblich ein Sonderfall gewesen sei. Worin besteht denn das Besondere<br />
nach Meinung unserer Kollegen? Es stellt sich heraus, dass es darin besteht, dass<br />
es im Verlauf des Kosovokonflikts viele menschliche Opfer gegeben hat. Was ist das<br />
denn? Ein juristisches Argument? In der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs<br />
ist davon überhaupt keine Rede. Wissen Sie, das sind schon nicht einmal mehr doppelte<br />
Standards. Das ist ein frappierend primitiver und unverhohlener Zynismus. Es kann doch<br />
101
«Das Volk ist die Quelle einer jeden Macht»<br />
nicht sein, dass man alles so grob für seine Interessen zurechtbiegt, ein und dieselbe<br />
Sache heute «schwarz» und morgen «weiß» nennt. Denn soll daraus etwa folgen, dass<br />
man einen jeden Konflikt vorantreiben muss, bis es zu Toten kommt?<br />
Ich will es direkt sagen: Wenn die örtlichen Einheiten der Selbstverteidigung die<br />
Lage [auf der Krim] nicht rechtzeitig unter ihre Kontrolle gebracht hätten, hätte es dort<br />
auch Opfer geben können. Und Gott sei Dank ist das nicht passiert! In der Krim ist es<br />
zu keinem einzigen bewaffneten Zusammenstoß gekommen, es gab keine menschlichen<br />
Opfer. Was denken Sie, weshalb? Die Antwort ist einfach: weil es schwierig oder<br />
praktisch unmöglich ist, gegen ein Volk und dessen Willen Krieg zu führen. In diesem<br />
Zusammenhang möchte ich den ukrainischen Armeeangehörigen danken, und das sind<br />
nicht wenige, insgesamt 22.000 Mann mit voller Bewaffnung. Ich will denjenigen ukrainischen<br />
Armeeangehörigen danken, die sich nicht zu einem Blutvergießen haben hinreißen<br />
lassen und sich nicht mit Blut befleckt haben.<br />
Die USA und das Recht des Stärkeren<br />
Verehrte Kollegen. Im Zusammenhang mit der Lage in der Ukraine spiegelt sich all<br />
das, was derzeit, aber auch bereits in den vergangenen Jahrzehnten in der Welt passiert.<br />
Nach dem Verschwinden der bipolaren Welt ist diese Welt nicht etwa stabiler geworden.<br />
Wichtige und internationale Institutionen erstarken nicht, im Gegenteil, häufig<br />
ist es so, dass sie an Bedeutung verlieren. Unsere westlichen Partner, allen voran die<br />
Vereinigten Staaten, ziehen es vor, in ihrer praktischen Politik nicht vom Völkerrecht,<br />
sondern vom Recht des Stärkeren Gebrauch zu machen. Sie glauben an ihre Auserwähltheit<br />
und Exklusivität, daran, dass sie die Geschicke der Welt lenken dürfen und daran,<br />
dass immer nur sie allein Recht haben können. Sie handeln so, wie es ihnen einfällt: Mal<br />
hier, mal da wenden sie Gewalt gegen souveräne Staaten an, bilden Koalitionen nach<br />
dem Prinzip «Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns». Um ihren Aggressionen das Mäntelchen<br />
der Rechtmäßigkeit zu verleihen, erwirken sie entsprechende Resolutionen bei<br />
internationalen Organisationen, und wenn das aus irgendeinem Grunde nicht gelingt,<br />
dann ignorieren sie sowohl den UN-Sicherheitsrat, als auch die UNO als Ganzes.<br />
So war es in Jugoslawien, daran können wir uns gut erinnern – im Jahr 1999. Es<br />
war kaum zu glauben, ich traute meinen Augen nicht, doch am Ende des 20. Jahrhunderts<br />
wurde eine der europäischen Hauptstädte, Belgrad, wochenlang von Raketen- und<br />
Bombenangriffen erschüttert, wonach eine wirkliche Intervention folgte. Was, gab es<br />
denn damals zu dieser Frage eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, die ein solches<br />
Vorgehen gestatten würde? Nichts dergleichen. Danach folgten Afghanistan, Irak, und<br />
unverhohlene Verletzungen der UN-Sicherheitsrat-Resolution zu Libyen, als man anstelle<br />
der Errichtung einer sogenannten Flugverbotszone mit Bombardements begann.<br />
102
Rede zum Beitritt der Krim zur Russischen Föderation im Kreml am 18. März 2014<br />
Es gab auch eine ganze Serie an gesteuerten «farbigen» Revolutionen. Es ist klar,<br />
dass die Menschen in den Ländern, in denen sie passierten, müde waren von der Tyrannei,<br />
von der Armut, von der Perspektivlosigkeit, doch diese Gefühle wurden zynisch ausgenutzt.<br />
Diesen Ländern wurden Standards aufgezwungen, die in keinerlei Weise den<br />
Lebensweisen, den Traditionen oder der Kultur dieser Völker entsprachen. Im Endeffekt<br />
herrscht, anstelle von Demokratie und Freiheit, das Chaos, Gewalt und eine Abfolge an<br />
Staatsstreichen. Der «Arabische Frühling» wurde zum «Arabischen Winter».<br />
Ein ähnliches Szenario kam in der Ukraine zur Anwendung. Im Jahr 2004 erfand man<br />
eine von der Verfassung nicht vorgesehene dritte Runde bei den Präsidentschaftswahlen,<br />
um dem genehmen Kandidaten damit zum Sieg zu verhelfen. Das ist ein Absurdum<br />
und ein Hohn gegenüber der Verfassung. Jetzt wurde eine vorab ausgebildete, gut ausgerüstete<br />
Armee aus bewaffneten Radikalen mobil gemacht.<br />
Wir verstehen sehr gut, was hier abläuft, wir wissen, dass diese Aktionen sowohl<br />
gegen die Ukraine, als auch gegen Russland gerichtet waren, ebenso auch gegen eine<br />
Integration im eurasischen Raum. Und das während einer Zeit, in der Russland aufrichtig<br />
um Dialog mit unseren Kollegen im Westen bemüht war. Wir schlagen ständig<br />
Kooperation in Schlüsselfragen vor, wir wollen das gegenseitige Vertrauen fördern, wir<br />
wünschen, dass unsere Beziehungen auf Augenhöhe stattfinden, dass sie offen und<br />
ehrlich seien. Aber wir sehen keinerlei Entgegenkommen.<br />
Im Gegenteil, wir wurden Mal um Mal betrogen, es wurden Entscheidungen hinter<br />
unserem Rücken getroffen, man stellte uns vor vollendete Tatsachen. So war es mit<br />
der NATO-Osterweiterung, mit der Installation von militärischer Infrastruktur an unseren<br />
Grenzen. Uns wurde immer ein und dasselbe erzählt: «Na, das hat nichts mit euch zu<br />
tun.» Es ist leicht gesagt, es habe nichts mit uns zu tun.<br />
US-Präsident Barack Obama und sein nationaler Sicherheitsrat beraten die Krimkrise im März 2014.<br />
Foto: White House Photo, Pete Souza<br />
103
«Das Volk ist die Quelle einer jeden Macht»<br />
So war es auch mit dem Aufbau der Raketenabwehrsysteme. Ungeachtet all unserer<br />
Befürchtungen bewegt sich die Maschinerie vorwärts. So war es auch mit dem endlosen<br />
In-die-Länge-Ziehen der Verhandlungen zu Fragen der Visafreiheit, mit den Versprechen<br />
eines ehrlichen Wettbewerbs und eines freien Zugangs zu den globalen Märkten.<br />
Heute droht man uns mit Sanktionen, aber wir leben ohnehin schon unter einer Reihe<br />
an Einschränkungen, die für uns, unsere Wirtschaft und unser Land insgesamt sehr<br />
bedeutend sind. Beispielsweise haben die USA, danach auch andere Länder, es noch im<br />
Kalten Krieg verboten, bestimmte Technologien und Ausrüstung an die UdSSR zu verkaufen,<br />
es gab dazu die sogenannten CoCom-Listen. Diese sind heute formal annulliert,<br />
aber nur formal, denn faktisch gelten viele Verbote auch weiterhin.<br />
104<br />
Rote Linie überschritten<br />
Kurz, wir haben allen Grund zu der Annahme, dass die sprichwörtliche Eindämmungspolitik<br />
gegen Russland, die sowohl im 18., im 19. und im 20. Jahrhundert betrieben<br />
wurde, auch heute noch fortgeführt wird. Man versucht ständig, uns in irgendeine Ecke<br />
zu drängen, und zwar dafür, dass wir eine unabhängige Position vertreten, dafür, dass<br />
wir diese verteidigen, und dafür, dass wir die Dinge beim Namen nennen und nicht heucheln.<br />
Im Falle der Ukraine haben unsere westlichen Partner eine Grenze überschritten,<br />
sie handelten grob, verantwortungslos und unprofessionell.<br />
Sie waren doch ausgezeichnet im Bilde darüber, dass sowohl in der Ukraine, als auch<br />
auf der Krim Millionen russischer Menschen leben. Wie sehr muss man denn politisches<br />
Feingefühl und Augenmaß eingebüßt haben, um die Folgen seiner Handlungen nicht<br />
vorauszusehen? Russland ist an eine Grenze gelangt, hinter die es nicht mehr zurück<br />
konnte. Wenn man eine Feder bis zum Anschlag zusammendrückt, wird sie sich irgendwann<br />
einmal mit Gewalt ausspannen. Dessen sollte man immer gewahr sein.<br />
Heute ist es notwendig, die Hysterie abzustellen, die Rhetorik aus Zeiten des Kalten<br />
Kriegs zu beenden und eine offensichtliche Sache anzuerkennen: Russland ist ein selbständiger,<br />
aktiver Faktor der Internationalen Gemeinschaft, es hat, wie andere Länder<br />
auch, nationale Interessen, die man berücksichtigen und achten muss.<br />
Dabei sind wir all denen dankbar, die unseren Schritten zur Lage auf der Krim mit<br />
Verständnis begegnet sind; wir sind dem chinesischen Volk dankbar, dessen Führung die<br />
Lage um die Ukraine und die Krim in der Fülle der historischen und politischen Komplexität<br />
betrachtete und auch weiterhin betrachtet; wir schätzen die Zurückhaltung und die<br />
Objektivität Indiens hoch.<br />
Heute möchte ich mich ebenso auch an das Volk der Vereinigten Staaten von Amerika<br />
wenden, an die Menschen, die seit den Zeiten der Gründung dieses Staates, der
Rede zum Beitritt der Krim zur Russischen Föderation im Kreml am 18. März 2014<br />
Annahme der Unabhängigkeitserklärung stolz darauf sind, dass die Freiheit ihr höchstes<br />
Gut ist. Ist denn das Streben der Menschen auf der Krim nach freier Wahl ihres Schicksals<br />
nicht ein ebensolches Gut? Verstehen Sie uns?<br />
Ich denke, auch die Europäer werden Verständnis haben, vor allem die Deutschen.<br />
Ich möchte daran erinnern, dass im Verlauf der politischen Konsultationen zur Vereinigung<br />
der BRD und der DDR auf Expertenebene gelinde gesagt bei weitem nicht alle<br />
Vertreter der Länder, die Verbündete Deutschlands waren und sind, die Idee der Wiedervereinigung<br />
befürwortet haben. Unser Land hat, ganz im Gegenteil, das aufrichtige und<br />
unaufhaltsame Streben der Deutschen nach nationaler Einheit eindeutig unterstützt. Ich<br />
bin mir sicher, dass Sie das nicht vergessen haben, und rechne damit, dass die Menschen<br />
in Deutschland ebenso auch das Bestreben der russischen Welt, des historischen<br />
Russland nach Wiedererrichtung der Einheit unterstützen.<br />
Ich wende mich ebenso an das Volk der Ukraine. Ich wünsche aufrichtig, dass ihr uns<br />
versteht: wir wollen euch auf keine Weise schaden oder eure nationalen Gefühle verletzen.<br />
Wir haben die territoriale Integrität des ukrainischen Staates immer geachtet, im<br />
Gegensatz übrigens zu denen, die die Einheit der Ukraine ihren politischen Ambitionen<br />
opfern. Sie protzen mit Losungen von einer Großukraine, doch genau die selben sind es,<br />
die alles dafür tun, das Land zu spalten. Der heutige gesellschaftliche Konflikt lastet<br />
vollständig auf deren Gewissen. Ich möchte, dass ihr mich anhört, liebe Freunde. Glaubt<br />
denen nicht, die euch mit Russland schrecken wollen, die davon schreien, dass der Krim<br />
weitere Regionen folgen werden. Wir wünschen keine Spaltung der Ukraine, das ist<br />
nicht das, was wir brauchen. Was die Krim anbetrifft, so ist und bleibt sie russisch,<br />
ukrainisch und krimtatarisch.<br />
Ich wiederhole es – sie wird, wie es seit Jahrhunderten gewesen ist, eine Heimat für<br />
Vertreter aller dort lebenden Völker bleiben. Aber sie wird nie eine Heimat für Bandera-<br />
Anhänger sein!<br />
Die Krim ist unser gemeinsames Erbe und ein höchst wichtiger Stabilitätsfaktor in<br />
der Region. Dieses strategisch bedeutsame Territorium muss sich unter einer starken,<br />
stabilen Souveränität befinden, die zum heutigen Tag de facto nur Russland bieten kann.<br />
Sonst, liebe Freunde – und damit wende ich mich sowohl an die Ukraine, als auch an<br />
Russland – können wir die Krim insgesamt verlieren, und zwar in durchaus nicht langer<br />
Zeit. Bitte bedenken Sie diese Worte.<br />
Ich möchte ebenso daran erinnern, dass es in Kiew bereits schon Erklärungen über<br />
einen Beitritt der Ukraine zur NATO gegeben hat. Was würde diese Perspektive für die<br />
Krim und Sewastopol bedeuten? Es würde bedeuten, das in einer Stadt der russischen<br />
militärischen Ehre die NATO-Flagge weht, dass es eine Bedrohung für den gesamten<br />
Süden Russlands gäbe – keine vorübergehende, sondern eine ganz konkrete. Alles, was<br />
105
«Das Volk ist die Quelle einer jeden Macht»<br />
hätte passieren können, ist eben das, was hätte passieren können, gäbe es die Wahl der<br />
Bewohner der Krim nicht. Dafür sei ihnen großer Dank.<br />
Übrigens sind wir nicht gegen eine Zusammenarbeit mit der NATO, ganz und gar<br />
nicht. Wir sind dagegen, dass eine Militärallianz, und die NATO ist und bleibt bei allen<br />
internen Prozessen immer noch eine Militärallianz, vor unserem Zaun, an unserem Haus<br />
und auf unseren historischen Territorien das Sagen hätte. Wisst ihr, ich kann es mir<br />
einfach nicht vorstellen, dass wir nach Sewastopol zu Besuch bei NATO-Seeleuten fahren.<br />
Sie sind übrigens überwiegend ganz wunderbare Jungs, aber sollen sie lieber nach<br />
Sewastopol zu uns zu Besuch kommen, als wir zu ihnen.<br />
Ich will es direkt sagen: Es tut uns in der Seele weh, was gerade in der Ukraine<br />
passiert, dass Menschen leiden, dass sie nicht wissen, wie sie heute leben sollen und<br />
was morgen wird. Unsere Besorgnis ist verständlich, wir sind ja nicht einfach nur gute<br />
Bekannte, sondern wir sind faktisch, und das habe ich schon mehrfach betont, ein Volk.<br />
Kiew ist die Mutter der russischen Städte. Die alte Rus ist unser gemeinsamer Ursprung,<br />
und wir können nicht ohne einander, egal, was passiert.<br />
Noch eines will ich sagen. In der Ukraine leben und werden weiterhin Millionen<br />
russischer Menschen, russischsprachiger Bürger leben, und Russland wird ihre Interessen<br />
auch weiterhin politisch, diplomatisch und juristisch schützen. Allerdings muss die<br />
Ukraine in erster Linie selbst daran interessiert sein, die Interessen dieser Menschen<br />
Bürgerwehr mit Schutzschilden in den Farben der Autonomen Republik Krim am 2. März 2014 in Simferopol.<br />
Foto: Elizabeth Arrott; VOA; CCL<br />
106
Rede zum Beitritt der Krim zur Russischen Föderation im Kreml am 18. März 2014<br />
zu garantieren. Darin besteht ein Unterpfand für die Stabilität des ukrainischen Staates<br />
und der territorialen Integrität des Landes.<br />
Wir wollen Freundschaft mit der Ukraine, wir wollen, dass sie ein starker, souveräner<br />
und sich selbst genügender Staat ist. Für uns ist die Ukraine ja einer der wichtigsten<br />
Partner, es gibt unzählige gemeinsame Projekte, und ungeachtet aller Dinge glaube ich<br />
an ihren Erfolg. Und das wichtigste: Wir wollen, dass Frieden und Einvernehmen auf<br />
ukrainischem Boden einkehren, und gemeinsam mit anderen Ländern wollen wir darin<br />
umfassende Unterstützung leisten. Doch ich wiederhole es: Nur die Bürger der Ukraine<br />
selbst sind dazu in der Lage, im eigenen Haus für Ordnung zu sorgen.<br />
Die Entschiedenheit der außenpolitischen Position Russlands beruhte auf dem Willen<br />
von Millionen von Menschen, auf einem gesamt nationalen Konsens, auf der Unterstützung<br />
der führenden politischen und gesellschaftlichen Kräfte. Ich möchte allen<br />
für diese patriotische Einstellung Dank sagen. Allen ohne Ausnahme. Doch für uns ist<br />
es jetzt wichtig, diese Konsolidierung auch weiterhin zu bewahren, um die Aufgaben<br />
anzugehen, die vor Russland stehen.<br />
Wir werden es mit Sicherheit auch mit Gegenmanövern von außen zu tun bekommen,<br />
doch wir müssen für uns selbst entscheiden, ob wir dazu bereit sind, unsere nationalen<br />
Interessen konsequent zu verteidigen, oder ob wir sie mehr und mehr aufgeben und<br />
uns wer weiß wohin zurückziehen. Manche westlichen Politiker schrecken uns bereits<br />
nicht nur mit Sanktionen, sondern auch mit der Perspektive einer Verschärfung der inneren<br />
Probleme. Es wäre interessant zu erfahren, was sie damit meinen: Aktivitäten<br />
einer gewissen Fünften Kolonne, also verschiedener Vaterlandsverräter, oder rechnen<br />
sie damit, dass sie die soziale und wirtschaftliche Lage Russlands verschlechtern können<br />
und damit eine Unzufriedenheit der Menschen hervorrufen? Wir betrachten solche<br />
Verlautbarungen als unverantwortlich und offen aggressiv, und werden entsprechend<br />
darauf reagieren. Dabei werden wir selbst niemals nach einer Konfrontation mit unseren<br />
Partnern, weder in Ost, noch in West, streben; ganz im Gegenteil, wir werden alles<br />
Notwendige unternehmen, um zivilisierte, gutnachbarliche Beziehungen aufzubauen,<br />
so, wie es sich in der heutigen Welt gehört.<br />
Wiedervereinigung im Interesse der Völker<br />
Verehrte Kollegen. Ich verstehe die Bewohner der Krim, die die Frage beim Referendum<br />
maximal direkt und klar formuliert haben, ob die Krim mit der Ukraine, oder mit<br />
Russland sein soll. Man kann mit Sicherheit sagen, dass die Führung der Krim und der<br />
Stadt Sewastopol und die Abgeordneten der gesetzgebenden Organe bei der Formulierung<br />
der Frage des Referendums jegliche Gruppen- und Parteieninteressen beiseite<br />
legten und sich einzig von den wirklichen Interessen der Menschen haben leiten lassen.<br />
107
«Das Volk ist die Quelle einer jeden Macht»<br />
Eine jede beliebige andere Variante einer Volksabstimmung, wie verlockend sie auch<br />
auf den ersten Blick erschiene, wäre aufgrund historischer, demografischer, politischer<br />
und wirtschaftlicher Besonderheiten dieses Gebiets von nur zeitweiligem und instabilem<br />
Charakter; das würde zu einer weiteren Verschärfung der Lage um die Krim führen<br />
und sich auf denkbar schlechte Weise im Leben der Menschen niederschlagen. Die Bewohner<br />
der Krim formulierten die Frage hart, kompromisslos und ohne jegliche Nuancen.<br />
Das Referendum verlief offen und ehrlich, und die Menschen auf der Krim haben<br />
klar und überzeugend ihren Willen bekundet: sie wollen mit Russland sein.<br />
Auch Russland steht es bevor, eine schwierige Entscheidung zu treffen, unter Berücksichtigung<br />
der Gesamtheit an inneren und äußeren Faktoren. Wie ist jetzt die Meinung<br />
der Menschen in Russland? Hier gibt es, wie in jeder demokratischen Gesellschaft, verschiedene<br />
Standpunkte, doch die Position der absoluten, und das möchte ich unterstreichen,<br />
der absoluten Mehrheit der Bürger ist ebenso offensichtlich.<br />
Sie kennen die jüngsten soziologischen Umfragen, die man in Russland dieser Tage<br />
durchgeführt hat: Ungefähr 95 Prozent der Bürger sind der Meinung, dass Russland die<br />
Interessen von Russen und anderen Nationalitäten auf der Krim verteidigen sollte. 95<br />
Prozent. Und mehr als 83 Prozent gehen davon aus, dass Russland das tun muss, selbst<br />
wenn eine solche Position unsere Beziehungen zu manchen Staaten verschlechtert. 86<br />
Prozent der Bürger unseres Landes sind der Meinung, dass die Krim nach wie vor russisches<br />
Territorium, russische Erde sei. Und hier eine sehr wichtige Zahl, sie korreliert<br />
absolut mit dem Ergebnis des Krim-Referendums, fast 92 Prozent sind für eine Wiedervereinigung<br />
der Krim mit Russland.<br />
Auf diese Weise ist sowohl die überwiegende Mehrheit der Bewohner der Krim, als<br />
auch die absolute Mehrheit der Bürger der Russischen Föderation für eine Wiedervereinigung<br />
der Republik Krim und der Stadt Sewastopol mit der Russischen Föderation.<br />
Jetzt ist es an einer politischen Entscheidung in Russland selbst. Und diese kann sich<br />
einzig auf dem Willen des Volkes gründen, denn das Volk ist die Quelle einer jeden Macht.<br />
Sehr geehrte Mitglieder des Föderationsrats! Verehrte Abgeordnete der Staatsduma!<br />
Bürger Russlands, Einwohner der Krim und Sewastopols! Auf Grundlage der Ergebnisse<br />
des Referendums, das auf der Krim stattgefunden hat, auf Grundlage der Willensbekundung<br />
des Volkes, bringe ich ein Verfassungsgesetz über die Aufnahme zweier<br />
neuer Subjekte – der Republik Krim und der Stadt Sewastopol – in den Bestand der Russischen<br />
Föderation im Föderationsrat ein; ich bitte ebenso darum, den zur Unterschrift<br />
vorbereiteten Vertrag über den Beitritt der Republik Krim und der Stadt Sewastopol zur<br />
Russischen Föderation zu ratifizieren. Ich zweifle nicht an Ihrer Unterstützung!<br />
108<br />
Quelle: kremlin.ru/news/20603. Übersetzung: zeit-fragen.ch.
«Den Menschen helfen,<br />
ihre Rechte zu verteidigen»<br />
_ Über die Situation in der Ostukraine äußerte sich der Präsident in einer<br />
Fernsehdiskussion am 17. April 2014<br />
Ab Ende März 2014 wurden in der Ostukraine immer mehr Stadt- und Regionalverwaltungen<br />
von sogenannten Selbstverteidigungskräften besetzt, die in Opposition zu<br />
den neuen Machthabern in Kiew standen. Ab Mitte April begann die ukrainische Armee<br />
mit Militäroperationen zur Zerschlagung des Aufstandes. In dieser Situation stellte sich<br />
Wladimir Putin etwa vier Stunden lang in einer Live-Schaltung den direkten Fragen der<br />
Zuschauer. Ein eigens eingerichtetes Callcenter war für eine Woche in Betrieb und erhielt<br />
in dieser Zeit 2,2 Millionen Anrufe, über 400.000 Textnachrichten, etwa 200.000<br />
Meldungen auf der Webseite und über 7.500 Videoanfragen.<br />
Es gibt im Osten der Ukraine keine russischen Einheiten, keine Sonderservices oder<br />
taktischen Berater. Alles was dort passiert, wird von den lokalen Bürgern organisiert und<br />
durchgeführt, und der Beweis dafür ist die Tatsache, dass diese Menschen ihre Masken<br />
buchstäblich abgenommen haben. Also sagte ich zu meinen westlichen Partnern, dass<br />
die Menschen dort nirgendwo hingehen müssen und sie werden nirgendwo anders hingehen.<br />
Das ist ihr Land und sie müssten mit ihnen verhandeln! (…)<br />
Zu der Frage, was zuerst kommen sollte, ein Verfassungsreferendum, gefolgt von<br />
Wahlen, oder erst Wahlen und dann ein Referendum: Die wesentliche Frage ist doch,<br />
wie man die legitimen Rechte und Interessen der ethnischen Russen und russisch sprechenden<br />
Menschen im Südosten der Ukraine sichert.<br />
Ich möchte daran erinnern, dass das, was man zur Zeit der Zaren Neurussland nannte<br />
– Charkow, Lugansk, Donezk, Cherson, Nikolajew und Odessa –, damals kein Teil der<br />
Ukraine war. (...) Russland verlor diese Territorien aus verschiedenen Gründen, aber die<br />
Menschen blieben.<br />
Heute leben sie in der Ukraine, und sie sollten vollwertige Bürger ihres Landes sein.<br />
Darum geht es hier. Die Frage ist nicht, ob auf das Referendum über die Dezentralisierung<br />
oder Föderalisierung Wahlen folgen, oder ob die Wahlen stattfinden, bevor die<br />
Architektur des Staates geändert wird. Das Entscheidende ist, diesen Menschen Garantien<br />
zu geben. Unsere Rolle ist es, eine Lösung in der Ukraine zu erleichtern, und sicherzustellen,<br />
dass es Garantien gibt. Die Menschen im Südosten der Ukraine werden uns<br />
109
Prorussische Demonstration in Donezk im April 2014. Foto: Andrew Butko; CCL 3.0<br />
fragen und sie werden die gegenwärtige Führung in Kiew fragen: «Schön, die Wahlen<br />
werden am 25. Mai [2014] stattfinden, aber wollt ihr, dass wir das Ergebnis anerkennen?<br />
Ihr werdet eure Versprechen gleich am nächsten Tag vergessen und neue Oligarchen<br />
nach Donezk, Charkow und Lugansk schicken. Was ist mit Garantien? Wir brauchen<br />
Antworten!» Ich hoffe, dass eine Antwort gefunden werden wird... (...)<br />
Trotz der Ereignisse auf der Krim sollten wir nicht den Kopf verlieren, sondern von den<br />
Realitäten ausgehen. Als Erstes muss man zugeben, dass die ethnische Zusammensetzung<br />
der Krim anders ist als die der Südostukraine. Die ethnische Zusammensetzung der<br />
dortigen Bevölkerung ist ungefähr 50 zu 50. Ich habe schon erwähnt, dass die letztendliche<br />
Entscheidung über die Rückkehr der Krim zur Russischen Föderation allein auf dem<br />
Ergebnis des Referendums beruhte. Als ich diese Resultate sah, und selbst sah, dass fast<br />
alle Bewohner für den Anschluss an Russland gestimmt hatten – ich wiederhole mich,<br />
hatten wir keine andere Wahl und es konnte auch keine andere Entscheidung geben.<br />
Was nun in der Südostukraine geschieht, das wissen wir nicht mit Sicherheit. Aber<br />
wir glauben, dass wir alles tun sollten, was wir können, um diesen Menschen zu helfen,<br />
ihre Rechte zu verteidigen, und wir sie selbst über ihr Schicksal entscheiden lassen<br />
sollten. Das ist es, wofür wir kämpfen werden. Lassen Sie mich Sie daran erinnern, dass<br />
der legitime Präsident der Ukraine dem Föderationsrat von Russland das Recht gegeben<br />
hat, die Streitkräfte in der Ukraine einzusetzen. Ich hoffe sehr, dass wir dieses Recht<br />
nicht wahrnehmen müssen und dass wir durch politische und diplomatische Mittel in<br />
der Lage sein werden, alle diese dringenden, um nicht zu sagen brennenden, Fragen in<br />
der Ukraine zu lösen. (…)<br />
110<br />
Zur Lage in Moldawien<br />
Das ist eines der komplexesten Probleme, die wir nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion<br />
geerbt haben. Zunächst einmal besteht die Bevölkerung der Republik [Transnistrien,<br />
Abspaltung von Moldawien] aus mehr als 500.000 Menschen, wenn ich mich
Über die Situation in der Ostukraine äußerte sich der Präsident in einer Fernsehdiskussion am 17. April 2014<br />
nicht irre. Die Menschen dort drücken ihre prorussischen Gefühle aus, und auch eine<br />
große Anzahl der russischen Bürger lebt in Transnistrien. Sie haben ihre eigenen Ansichten<br />
darüber, wie sie ihre Zukunft und ihr Schicksal aufbauen wollen. Und es wäre nicht<br />
mehr als ein klarer Beweis für die Demokratie, wenn wir ihnen erlauben würden, nach<br />
ihren Wünschen zu leben. Natürlich müssen wir den Dialog, sowohl mit der Republik<br />
Moldawien, als auch mit der Ukraine, aufrecht erhalten, um die Problemlösungsgespräche<br />
in Form des 5-plus-2-Formates voranzubringen, welches die Republik Moldawien,<br />
Transnistrien und fünf weitere Staaten einschließt. Ich denke, dass die Blockade [Transnistriens<br />
durch die Nachbargebiete in Moldawien und der Ukraine] unverzüglich aufgehoben<br />
werden muss; die Bewohner der Republik fühlen ihre negativen Folgen, sowohl<br />
auf Seiten der Republik Moldawien, als auch auf Seiten der Ukraine. Nationalistische<br />
bewaffnete Gruppen haben sich bereits an der Grenze zwischen Transnistrien und der<br />
Ukraine versammelt. Derartige Maßnahmen müssen unverzüglich gestoppt werden. Auf<br />
lange Sicht sollten die Menschen die Möglichkeit haben, über ihr eigenes Schicksal<br />
zu entscheiden. Das ist das, woran wir und unsere Partner arbeiten wollen, und das<br />
natürlich unter der Berücksichtigung der Interessen der Einwohner Transnistriens. (...)<br />
Die Absicht, Russland und die Ukraine aufzuteilen, etwas zu trennen, was im Wesentlichen<br />
und in vielerlei Hinsicht eine einzige Nation ist, ist seit Jahrhunderten ein<br />
Problem der internationalen Politik. Wenn Sie sich an die Aussagen der Führer der<br />
Weißen [die antikommunistischen Gruppierungen im Bürgerkrieg 1918 bis 1920] erinnern,<br />
werden Sie sehen, dass sie unabhängig von ihren politischen Meinungsverschiedenheiten<br />
mit den Bolschewiki nie auch nur im Geringsten an eine mögliche Trennung<br />
zwischen der Ukraine und Russland gedacht hatten; das wurde immer als Teil eines<br />
gemeinsamen, vereinigten Raumes und als eine einzige Nation wahrgenommen. Und<br />
sie lagen absolut richtig.<br />
Aber heute leben wir in getrennten Ländern. Und leider wird diese Politik der Teilung,<br />
des Auseinanderreißens, was beide Teile einer einzigen Nation schwächt, fortgeführt.<br />
Es gibt genügend Kräfte in der Welt, die Angst vor unserer Stärke haben, vor «unserer<br />
gewaltigen Größe», wie es einer unserer Herrscher sagte. Also versuchen sie uns zu teilen,<br />
das ist eine bekannte Tatsache. Schauen Sie, was sie mit Jugoslawien getan haben:<br />
Sie haben es in kleine Stücke geschnitten und sind nun dabei, alles zu manipulieren,<br />
was dort manipuliert werden kann – und das ist fast alles. (…)<br />
Aber ich kann denen nicht zustimmen, die sagen, die Ukraine sei ein verdammtes<br />
Land. Bitte hören Sie auf, solche Ausdrücke in Bezug auf die Ukraine zu benutzen! Es<br />
ist ein Land, das sehr lange litt, und eine sehr komplizierte Gemeinschaft, und wenn<br />
ich es so sage, meine ich es genau im Sinne des Wortes, dass es sehr lange großes<br />
Leid ertragen musste. Nationalismus und sogar Neonazimus blühen in der Westukraine<br />
wieder auf. Und Sie kennen die Geschichte der Menschen dieses Raumes. Einige dieser<br />
111
«Den Menschen helfen, ihre Rechte zu verteidigen»<br />
Gebiete [der heutigen Ukraine] waren Teil der Tschechoslowakei, einige Ungarns, einige<br />
von Österreich-Ungarn und einige Polens, wo sie [die Ukrainer] nie vollwertige Bürger<br />
sein durften. Sie wissen, dass schon immer «etwas» in ihren Herzen heranwuchs.<br />
Einige Leute scheinen zu glauben, dass es dazu [zur EU-Annäherung besonders in der<br />
Westukraine] kam, weil diese Gebiete früher zu einigen heutigen EU-Ländern gehörten<br />
und sie so mit einigen speziellen europäischen Substanzen getränkt wurden. Dass sie<br />
Bürger zweiter Klasse in den Staaten waren, scheint vergessen worden zu sein, aber<br />
es lauert immer noch in ihrem historischen Gedächtnis, unter der Kruste, tief in ihren<br />
Herzen, sehen Sie es? Das ist es, denke ich, wo ihr Nationalismus herkommt.<br />
Die Zentral-, Ost- und Südostukraine sind eine andere Sache. Ich habe gerade erwähnt,<br />
dass dieses Gebiet «Neurussland» seine Wurzeln mit den Wurzeln des russischen<br />
Staates stark verflochten hat. Die Einheimischen haben zwar eine etwas andere<br />
Mentalität und sie empfinden sich selbst als Teil der heutigen Ukraine, die in der Sowjetzeit<br />
zusammengesetzt worden war... Natürlich ist es schwierig für sie, richtige Beziehungen<br />
zu etablieren und sich gegenseitig zu verstehen. Aber wir sollten ihnen dabei<br />
helfen, so gut wir können. (…)<br />
112<br />
Die Wahlen vom 25. Mai 2014<br />
Wir halten die aktuelle Regierung [in der Ukraine] für illegitim. Sie [die neuen Machthaber<br />
in Kiew] können nicht legitim sein, da sie kein nationales Mandat für die Führung<br />
des Landes haben, was für sich selbst spricht. Zur gleichen Zeit haben wir uns dennoch<br />
nicht geweigert, mit ihnen zu verkehren. Wir bleiben auf Ministerebene in Kontakt. Unsere<br />
Minister unterhalten weiterhin Beziehungen zu ihren ukrainischen Kollegen. [Ministerpräsident<br />
Dmitri] Medwedew sprach mit [seinem Amtskollegen Arsenij] Jazenjuk. Herr [Parlamentspräsident<br />
Sergei] Naryschkin sprach mit [seinem Amtskollegen] Herrn [Olexandr]<br />
Turtschinow. Sie bleiben in Kontakt. Apropos, zu den Präsidentschaftskandidaten [für die<br />
Wahl in der Ukraine am 25. Mai 2014], wissen Sie, was da los ist im Präsidentschafts-<br />
Rennen? Was da geschieht, ist absolut inakzeptabel. Wenn es so weitergeht, werden wir<br />
nicht in der Lage sein, alles, was nach dem 25. Mai passiert, als legitim anzuerkennen.<br />
Wie kann diese Wahl legitim sein, wenn Kandidaten aus dem Osten überfallen werden<br />
oder mit Tinte bespritzt und von Treffen mit Wählern abgehalten werden? Welche<br />
Art von Wahlkampf ist das? Und ganz zu schweigen von der ukrainischen Verfassung.<br />
Irina Chakamada hatte eine Frage über die Legitimität der Wahl nach der ukrainischen<br />
Verfassung. Ohne Änderungen an der Verfassung kann die neue Wahl nicht abgehalten<br />
werden, weil so Herr [Viktor] Janukowitsch der amtierende Präsident bleibt. Nach<br />
dieser Verfassung kann ein neuer Präsident nicht gewählt werden, wenn es noch einen<br />
lebenden, amtierenden und legitimen Präsidenten gibt. Also, wenn wir wollen, dass die
Über die Situation in der Ostukraine äußerte sich der Präsident in einer Fernsehdiskussion am 17. April 2014<br />
Wahlen legitim sind, muss die Verfassung geändert werden. Nur dann können wir über<br />
die Föderalisierung und Dezentralisierung sprechen. Das ist, was mir mein gesunder<br />
Menschenverstand sagt.<br />
Wir könnten natürlich auch weiterhin ohne gesunden Menschenverstand handeln,<br />
auch wenn ich nicht weiß, wo das uns hinführen soll. Aber wir bleiben in Kontakt mit<br />
allen. Herr [Petro] Poroschenko ist derzeit einer der führenden Kandidaten. Ein wesentlicher<br />
Teil seines Geschäfts befindet sich in Russland. Seine Firma produziert Süßigkeiten,<br />
die viele von Ihnen, wahrscheinlich ohne zu wissen, dass Poroschenko die Fabrik<br />
besitzt und dass er für das Präsidentenamt kandidiert, gegessen haben.<br />
Ich kenne Frau [Julia] Timoschenko sehr gut. Als sie [in einem abgehörten Telefonat<br />
nach dem Krim-Referendum im März 2014] forderte, die Russen «mit Kernwaffen<br />
zu zerstören», glaube ich, sagte sie das, während sie im Zustand eines psychischen<br />
Zusammenbruchs war. Aber ich kenne sie ganz gut. Immerhin unterzeichnete sie den<br />
Gasliefervertrag, den ihre Parteikollegen und andere Vertragsparteien nicht akzeptieren<br />
wollten. [im Jahr 2009; Timoschenkos Unterschrift führte unter Janukowitsch zu ihrer<br />
Gefängnisstrafe]. Doch irgendwann hatten wir gute Geschäftsbeziehungen mit ihr. (…)<br />
Der Treuebruch der NATO<br />
Es wurde uns einmal versprochen, ich erwähnte es bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz<br />
[vgl. Seite 22], dass nach der Vereinigung Deutschlands die NATO<br />
nicht nach Osten erweitert werden würde. Der damalige NATO-Generalsekretär [Manfred<br />
Wörner] sagte uns, dass sich die Allianz nicht über seine [die deutschen] östlichen<br />
Grenzen ausweiten würde. Allerdings begannen sie sich dennoch dorthin auszuweiten,<br />
durch die Aufnahme der ehemaligen Warschauer Pakt-Mitgliedstaaten und später durch<br />
die Aufnahme baltischer Staaten, ehemaliger Sowjetrepubliken.<br />
Früher fragte ich dann: «Warum tun Sie das? Möchten Sie etwa die Sicherheit dieser<br />
Länder gewährleisten? Glauben Sie, dass jemand sie angreifen würde? Also ist es ausreichend,<br />
einen bilateralen Vertrag über Freundschaft und gegenseitige Unterstützung,<br />
einschließlich militärischer Hilfe, zu unterzeichnen, und ihre Sicherheit wird gewährleistet<br />
sein.» Ich hörte dann als Antwort: «Das geht Sie nichts an. Nationen und Länder haben<br />
ihr Recht, eigene Möglichkeiten für die Gewährleistung ihrer Sicherheit zu wählen.»<br />
Gut, das ist wahr. Aber es ist auch wahr, dass wir dann, wenn die Infrastruktur eines<br />
Militärblockes sich unserer Grenze nähert, Gründe für bestimmte Befürchtungen und<br />
Fragen haben. Wir müssen bestimmte Gegenmaßnahmen unternehmen, und es ist auch<br />
wahr, dass niemand uns dieses Recht verweigern kann. Und das zwingt uns, Gegenmaßnahmen<br />
zu treffen.<br />
113
«Den Menschen helfen, ihre Rechte zu verteidigen»<br />
Ich werde diese Gelegenheit nutzen, um ein paar Worte über unsere Gespräche über<br />
die Raketenabwehr zu sagen. Dieses Problem ist nicht von geringerer, sondern von sogar<br />
größerer Bedeutung als die NATO-Osterweiterung. Übrigens wurde unsere Entscheidung<br />
bezüglich der Krim teilweise durch genau dieses Problem provoziert.<br />
Und ich muss dabei nicht erwähnen, dass wir in erster Linie die Bewohner der Krim<br />
unterstützen wollten, aber wir folgten auch einer gewissen Logik. Wenn wir nichts getan<br />
hätten, würde die Ukraine irgendwann in der Zukunft in die NATO gezogen werden.<br />
Uns würde dann gesagt werden: «Das geht euch nichts an», und die NATO Schiffe würden<br />
in Sewastopol, der Stadt des Ruhmes der russischen Flotte, andocken.<br />
Aber das ist noch nicht einmal die emotionale Seite des Problems. Der Punkt ist, dass<br />
die Krim in das Schwarze Meer ragt, ins Zentrum sozusagen. Zwar hat sie in militärischer<br />
Hinsicht nicht die Bedeutung, die sie im 18. und 19. Jahrhundert hatte – ich beziehe<br />
mich auf moderne Angriffswaffen, einschließlich derjenigen an den Küsten. Aber<br />
wenn die NATO-Truppen einmarschieren, werden sie sofort diese Angriffswaffen dort<br />
aufstellen. Ein solcher Schritt wäre für uns geopolitisch sensibel, weil in diesem Fall<br />
Russland praktisch aus dem Schwarzen Meer verdrängt werden würde. Uns bliebe nur<br />
eine kleine Küstenlinie von 450 oder 600 Kilometern, und das wäre es!<br />
Auf diese Weise kann Russland wirklich aus dieser Region verdrängt werden, die für<br />
uns sehr wichtig ist. Es ist eine Region, für die so viele Russen ihr Leben gaben in all den<br />
Jahrhunderten. Das ist eine ernste Sache. Folglich sollten wir vor nichts Angst haben,<br />
aber wir müssen diese Umstände berücksichtigen und entsprechend reagieren.<br />
Wie ich gerade beschrieben habe, ist das Gleiche bei unseren Gesprächen über die<br />
Stationierung von US-Raketenabwehrelementen geschehen. Das ist kein Verteidigungssystem,<br />
sondern ein Teil des Offensivpotenzials, das weit weg von zu Hause stationiert<br />
wird. Und wieder wird uns gesagt: «Das ist nicht gegen Sie gerichtet.»<br />
Auf Expertenebene jedoch versteht wohl jeder sehr gut, dass, wenn diese Systeme<br />
näher an unseren Grenzen stationiert werden, unsere bodengestützten strategischen<br />
Raketen innerhalb ihres Zielradius liegen. Jeder ist sich dessen bewusst, aber uns wird<br />
wieder nur gesagt: «Bitte glauben Sie uns, das ist nicht gegen Sie gerichtet.»<br />
Unsere amerikanischen Partner haben sich sogar unserem Vorschlag verweigert, einige<br />
rechtlich unbedeutende Papiere, die besagen würden, dass diese Systeme nicht<br />
gegen uns gerichtet sind, zu unterzeichnen. Das war gleichermaßen eine Überraschung<br />
wie eine Tatsache. Natürlich haben wir dann gefragt: «Und warum haben Sie sich geweigert,<br />
diese zu unterschreiben, wenn sie doch nicht gegen uns gerichtet sind?»<br />
114<br />
Ein Stück Papier, das heute unterzeichnet und morgen weggeworfen werden könnte!<br />
Es wäre eine Kleinigkeit gewesen [zu unterschreiben], aber sie sind nicht willens, auch
Die Front verläuft mitten durch die Ukraine. Foto: Andrew Butko; CCL 3.0<br />
nur das zu tun. Wenn sie diese Waffenelemente in Europa stationieren, dann müssen<br />
wir darauf antworten, wie wir es schon so oft gesagt haben. Aber das bedeutet eine<br />
Eskalation des Wettrüstens! Warum das alles? (…)<br />
Keine Angst vor Sanktionen<br />
Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Zahlen richtig zusammenbekomme, aber wenn<br />
meine Erinnerungen mich nicht täuschen, kommt der Großteil der [staatlichen] Öl- und<br />
Gaseinnahmen nicht über das Gas, sondern über das Öl. Umgerechnet in Dollar entsprechen<br />
unsere Öl-Einnahmen im vergangenen Jahr 191 bis 194 Milliarden Dollar, und die<br />
Gaseinnahmen entsprechen etwa 28 Milliarden Dollar. Sehen Sie den Unterschied? 191<br />
Milliarden für Öl gegenüber Gas mit 28 Milliarden.<br />
Öl wird auf dem Weltmarkt verkauft. Gibt es eine Möglichkeit, uns zu schaden? Man<br />
kann es versuchen. Aber was wären die Folgen für diejenigen, die versuchen würden,<br />
das zu tun? Vor allem, wie würde das geschehen? Von allen Ländern in der Welt hat nur<br />
Saudi-Arabien das tatsächliche Potenzial, die Produktion zu erhöhen und damit die Weltmarktpreise<br />
zu senken. Saudi-Arabiens Haushalt geht von einem Preis von 85 bis 90 Dollar<br />
pro tausend Kubikmeter [Öl] aus. (...) Unser Haushalt geht, glaube ich, von 90 Dollar<br />
aus. Also, wenn man unter 85 Dollar geht, wird Saudi-Arabien auf der Verliererseite sein<br />
und Probleme haben. Für uns ist ein Verlust von 90 auf 85 Dollar nicht kritisch. Erstens.<br />
Zweitens haben wir ein sehr gutes Verhältnis zu Saudi-Arabien. Unsere Ansichten in<br />
Bezug auf Syrien zum Beispiel können sich zwar unterscheiden, aber wir haben praktisch<br />
identische Positionen zu der Entwicklung der Lage in Ägypten. Es gibt viele andere Dinge,<br />
wo wir gleiche Ansichten haben. (…)<br />
Darüber hinaus sind sie [die Saudis] Mitglied der OPEC, wo wir viele Unterstützer<br />
haben. Es ist nicht so, dass sie Sympathie für uns haben, aber sie haben ihre eigenen<br />
wirtschaftlichen Interessen, und eine starke Reduzierung der Produktion, die nur in einer<br />
Art und Weise getan werden kann, nämlich innerhalb der OPEC mit einer Vereinbarung<br />
– und das ist eine ziemlich komplizierte Angelegenheit – [liegt nicht in ihrem Interesse].<br />
115
«Den Menschen helfen, ihre Rechte zu verteidigen»<br />
Schließlich, zu den Vereinigten Staaten, wo die Entwicklungen der Schiefergas- und<br />
Schieferölproduktion mit sehr hohen Produktionskosten verbunden sind: Das sind sehr teure<br />
Projekte. Wenn die Weltmarktpreise fallen, können sich diese Projekte als unrentabel<br />
und verlustreich entpuppen und die entstehende Industrie könnte einfach zugrunde gehen.<br />
Können die [russischen] Lieferungen ganz gestoppt werden? Ich denke, das ist völlig<br />
unrealistisch. Aber man [ein einzelnes Land] könnte es einzeln auf eigene Kosten tun,<br />
um sich selbst zu verletzen. Allerdings kann ich mir eine solche Situation nicht vorstellen.<br />
Deswegen ist natürlich jeder scharf auf die Diversifizierung seiner Bezugsquellen.<br />
Europa spricht über eine größere Unabhängigkeit von Russland als Lieferant, und wir<br />
beginnen ähnlich zu sprechen und zu handeln, um weniger abhängig von unseren Konsumenten<br />
zu werden. (…)<br />
Diskussion mit Edward Snowden<br />
Edward Snowden: Hallo. Ich möchte Ihnen eine Frage über die Massenüberwachung<br />
der Online-Kommunikation und der privaten Daten durch Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden<br />
stellen. Vor Kurzem haben die Vereinigten Staaten im Rahmen von<br />
zwei unabhängigen Untersuchungen, des Weißen Hauses sowie eines Bundesgerichts,<br />
festgestellt, dass alle diese Programme wirkungslos sind, um den Terrorismus zu stoppen.<br />
Sie fanden auch heraus, dass sie unverhältnismäßig in die Privatsphäre der Bürger<br />
eindringen – von Personen, die noch nie irgendeines Fehlverhaltens oder krimineller Aktivitäten<br />
verdächtigt wurden –, und dass diese Art von Programmen nicht die sensibelsten<br />
Instrumente sind, die solchen Behörden für Ermittlungszwecke zur Verfügung stehen.<br />
Zur selben Zeit habe ich kaum eine öffentliche Diskussion über Russlands eigene<br />
Politik der Massenüberwachung wahrgenommen. Deshalb würde ich Sie gerne fragen:<br />
Findet in Russland ein Abfangen, Speichern oder irgendeine Form der Auswertung der<br />
Posten prorussischer Rebellen. An das Gebäude im Hintergrund haben sie «Russland» geschrieben.<br />
Foto: Andrew Butko; CCL<br />
116
Über die Situation in der Ostukraine äußerte sich der Präsident in einer Fernsehdiskussion am 17. April 2014<br />
Kommunikation von Millionen Menschen statt, und glauben Sie, dass man das – also<br />
dass man ganze Gesellschaften und nicht einzelne Personen mit Überwachung überzieht<br />
– mit der Begründung der Erhöhung der Wirksamkeit der Geheimdienst-, Ermittlungsoder<br />
der Strafverfolgungsbehörden rechtfertigen kann? Danke.<br />
Putin: (…) Herr Snowden, Sie sind ein ehemaliger Geheimdienstoffizier und ich habe<br />
auch für einen Geheimdienst gearbeitet. Lassen Sie uns also wie zwei Profis sprechen. Um<br />
damit zu beginnen: Russland hat Gesetze, die die Verwendung von speziellen Geräten von<br />
Sicherheitsdiensten, auch für das Anzapfen von Privatgesprächen und für die Überwachung<br />
von Online-Kommunikation, streng regeln. Sie brauchen eine richterliche Anordnung, in<br />
jedem Einzelfall, um eine solche Technik anwenden zu können. Eine wahllose Massenüberwachung<br />
kann es daher nicht geben und gibt es nicht, nicht nach russischem Recht.<br />
Seit Kriminelle, einschließlich Terroristen, diese modernen Kommunikationssysteme<br />
für ihre kriminellen Aktivitäten verwenden, sollten die Sicherheitsdienste in der Lage<br />
sein, mit modernen Geräten zur Bekämpfung von Straftaten, einschließlich des Terrorismus,<br />
entsprechend zu reagieren. Ja, wir tun dies, aber nicht in einem so großen Maßstab<br />
und nicht willkürlich. Hoffentlich, ich hoffe das sehr, werden wir nie in dieser Art<br />
und Weise vorgehen. Außerdem haben wir nicht solche technischen Fähigkeiten und<br />
Mittel wie die Vereinigten Staaten. Aber die Hauptsache ist, dass unsere Sicherheitsdienstleistungen<br />
glücklicherweise durch den Staat und die Gesellschaft streng kontrolliert<br />
werden und die Vorgehensweise, wie gesagt, gesetzlich streng geregelt ist. (…)<br />
Das Volk und seine Essenz<br />
Einige Experten glauben nun, dass die Menschen als Gemeinschaft nicht über spezielle<br />
Fähigkeiten verfügen, sondern dass nur einzelne Personen sie haben. Es fällt mir<br />
schwer, diese Position zu teilen, denn wenn die Menschen mit der gleichen Sprache<br />
leben, in einem gemeinsamen Staat, auf einem gemeinsamen Territorium, in einem<br />
bestimmten Klima, wenn sie gemeinsame kulturelle Werte und eine gemeinsame Geschichte<br />
haben, führt das dazu, dass sie einige gemeinsame Merkmale haben.<br />
Was unser Volk angeht: Unser Land hat wie ein Magnet Vertreter der verschiedensten<br />
ethnischen Gruppen, Nationen und Nationalitäten angezogen. Übrigens ist das das<br />
Rückgrat nicht nur unseres gemeinsamen kulturellen Codes, sondern unseres sehr leistungsfähigen<br />
genetischen Codes geworden, denn in all diesen Jahrhunderten und sogar<br />
Jahrtausenden sind infolge von Mischehen Gene ausgetauscht worden.<br />
Und dieser unser genetischer Code ist wahrscheinlich, und das ist in der Tat fast sicher,<br />
einer unserer wichtigsten Wettbewerbsvorteile in der heutigen Welt. Dieser Code<br />
ist sehr flexibel und ausdauernd. Wir fühlen ihn vielleicht gar nicht, aber wir wissen,<br />
dass er vorhanden ist.<br />
117
«Den Menschen helfen, ihre Rechte zu verteidigen»<br />
Also, was sind unsere besonderen Merkmale? Wir haben sie natürlich, und ich denke,<br />
dass sie auf Werten beruhen. Es scheint mir, dass der russische Mensch – oder<br />
allgemeiner gesagt: ein Mensch der russischen Welt – in erster Linie über seine oder<br />
ihre höchste moralische Bestimmung beziehungsweise über einige der höchsten moralischen<br />
Wahrheiten nachdenkt. Die russischen Personen oder eine Person der russischen<br />
Welt konzentriert sich also nicht auf seine oder ihre eigene wertvolle Persönlichkeit.<br />
Natürlich denken wir alle im täglichen Leben darüber nach, wie man ein wohlhabenderes<br />
und besseres Leben leben kann, wie man gesünder leben kann und wie wir<br />
unseren Familie helfen können, aber das sind noch nicht unsere wichtigsten Werte.<br />
Unsere Leute öffnen sich nach außen. Westliche Werte sind anders und werden auf das<br />
Innere eines Selbst fokussiert. Der persönliche Erfolg ist der Maßstab für den Erfolg im<br />
Leben, und dies wird von der Gesellschaft anerkannt. Je erfolgreicher ein Mensch ist,<br />
desto besser ist er.<br />
Das ist nicht genug für uns, in diesem Land. Selbst sehr reiche Leute sagen: «Okay,<br />
ich habe Millionen und Milliarden gemacht, also was nun?» Jedenfalls ist alles nach<br />
außen gerichtet und auf die Gesellschaft orientiert. Ich denke, dass nur unsere Leute<br />
mit dem berühmten Ausspruch kommen: «Die Angst vor dem Tod geht, wenn man genug<br />
Leute um sich hat.» Wie kommt das? Der Tod ist doch schrecklich, nicht wahr? Aber<br />
nein, anscheinend kann er schön sein, wenn er den Menschen dient: Tod für den Freund,<br />
für das Volk oder für die Heimat, um ein modernes Wort zu verwenden.<br />
Dies sind die tiefen Wurzeln unseres Patriotismus. So erklärt sich die Bereitschaft zu<br />
massenhaftem Heroismus in bewaffneten Konflikten und Kriegen und zur Aufopferung<br />
auch in Friedenszeiten. Daher kommen das Gefühl der Gemeinschaft und die Werte<br />
der Familie. Natürlich sind wir weniger pragmatisch, weniger berechnend als Vertreter<br />
anderer Völker, und wir haben größere Herzen. Vielleicht ist dies ein Spiegelbild<br />
der Größe unseres Landes und seiner grenzenlosen Weiten. Unsere Leute haben einen<br />
großzügigeren Geist.<br />
Ich will niemanden beleidigen, wenn ich das sage. Viele Völker haben ihre eigenen<br />
Vorteile, aber dieser Vorteil ist sicherlich der unsere. Ein intensiver Austausch von Genen,<br />
Informationen und Kulturen findet in der modernen Welt statt. Es besteht auch kein<br />
Zweifel, dass andere Völker über wertvolle und nützliche Dinge verfügen, die wir uns<br />
ausleihen können, aber wir haben uns seit Jahrhunderten auf unsere eigenen Werte<br />
verlassen, die uns nie im Stich gelassen haben und uns gute Dienste in der Zukunft<br />
leisten werden.<br />
118<br />
(Eine vollständige englische Übersetzung der Mitschrift dieser Sendung finden Sie auf der<br />
Internetseite des Kreml unter eng.news.kremlin.ru/news/7034. Deutsche Übersetzung:<br />
Yasmine Pazio).
«300.000 Jobs wurden in<br />
Deutschland durch die Zusammenarbeit<br />
mit uns geschaffen»<br />
_ Zur Zukunft der russischen Gaslieferungen: Antwort auf eine Frage im Rahmen<br />
einer internationalen Pressekonferenz am 24. Mai 2014<br />
Ulf Mauder, dpa: (...) Im Westen, in Deutschland, ist man besorgt wegen der politischen<br />
Entwicklung Russlands, der Verlässlichkeit der Partnerschaft und des Vertrauens.<br />
Wir haben diese Fragen im Forum diskutiert. Erdgas ist jetzt der wichtigste Punkt<br />
zwischen Russland und Deutschland – ob noch genug Gas für den Westen übrig ist,<br />
nachdem Sie einen großen Vertrag mit China abgeschlossen haben. Sie sollten auch<br />
dazu Stellung nehmen, was das für Ihre anderen Vorhaben bedeutet – die South Stream<br />
Pipeline [russische Gasversorgung für die EU über die Balkanroute, geplant] und die<br />
Nord Stream Verbindungen [russische Gasversorgung für die EU über die Ostsee, bereits<br />
fertig]. Müssen Sie... Oder sprechen Sie darüber nicht mehr?<br />
Beginnen wir mit den Wirtschaftsfragen. Was die Beziehungen mit unseren chinesischen<br />
Partnern und Freunden und unsere Beziehungen mit den europäischen Partnern,<br />
Deutschland eingeschlossen, angeht: Wenn wir den Vertrag mit China umsetzen, wird<br />
dieses Land zu einem gleichrangigen Abnehmer wie Deutschland werden. Russland<br />
wird beiden Abnehmern ähnliche Mengen zur Verfügung stellen: Deutschland nimmt<br />
jährlich ungefähr 40 Billionen Kubikmeter Gas ab, und China wird auch ungefähr 40<br />
Billionen kaufen.<br />
Die Verträge mit China<br />
Ja, und wenn wir das sogenannte zweite Projekt mit China umsetzen, in dessen Rahmen<br />
russisches Gas auf der Westroute per Schiff nach China gelangt, wird China unser<br />
größter Gaspartner werden. Der erste Vertrag, dem zufolge die Ostroute verwendet wird<br />
– ich habe das schon erwähnt, aber ich wiederhole das, um sicherzustellen, dass es<br />
jeder versteht – wird die Versorgung Europas in keiner Weise berühren. Da geht es um<br />
Gas aus neuen Feldern in Südjakutien und in der Region Irkutsk, die noch nicht einmal<br />
erschlossen sind. (...) Ich hab das schon gesagt, das wäre das größte Bauprojekt mit russischem<br />
Kapital, insgesamt 55 Milliarden US-Dollar, wobei unsere chinesischen Partner<br />
weitere 20 Milliarden US-Dollar dazugeben, um die Anlagen an ihrem Streckenende zu<br />
119
Pipeline im russischen Norden. Foto: Gazprom<br />
bauen. Das hat mit Europa überhaupt nichts zu tun. Die zweite Route wird erst diskutiert<br />
mit unseren chinesischen Kollegen. Sie ist im Verhandlungsstadium und bisher sind keine<br />
Verträge auf dem Tisch. Aber ich denke, sie wird vermutlich implementiert werden.<br />
Dieses Projekt wird die Vorkommen in Westsibirien nutzen, woher bisher das ganze Gas<br />
für die Versorgung Europas, einschließlich Deutschlands, kommt. Aber auch deswegen<br />
sollten Sie nicht besorgt sein, weil Gazprom – Entschuldigung, meine Zahlen könnten<br />
nicht ganz präzise sein – derzeit 440 bis 450 Billionen Kubikmeter pro Jahr fördert, und<br />
sie können die Produktion sogar noch auf 650 Billionen Kubikmeter erhöhen. (...)<br />
Was die geplante Versorgung von China über die Westroute angeht: Über diese<br />
wurde noch keine Übereinkunft erzielt, aber der Umfang wird sicherlich weniger als<br />
200 Billionen Kubikmeter betragen. Die zusätzlichen 200 Billionen Kubikmeter Gas, die<br />
wir fördern können, werden sicherlich ausreichen, um China zu versorgen und die Versorgung<br />
unserer europäischen Abnehmer zu steigern, und sogar für den wachsenden<br />
Bedarf der russischen Wirtschaft. (...)<br />
120<br />
Gasstreit mit der Ukraine<br />
Verlässlichkeit ist der Schlüssel. Selbst in den kritischsten Phasen des Kalten Krieges<br />
hat die Sowjetunion niemals – das will ich betonen –, niemals die Versorgung Europas,<br />
einschließlich Deutschlands, gekappt. So wird sich auch die Russische Föderation verhalten.<br />
Es gab einen Vorfall im Jahre 2009, als unberechtigte und unfaire Forderungen –<br />
das will ich betonen – der Ukraine, die Forderung nach einem unglaublichen Preisnach-
Antwort auf eine Frage im Rahmen einer internationalen Pressekonferenz am 24. Mai 2014<br />
lass für die Lieferungen in die Ukraine, dazu führten, dass sich die Ukraine weigerte,<br />
russisches Gas nach Europa durchzuleiten.<br />
Wissen Sie, Sie können über diese Tatsachen entweder schreiben oder sie zurückhalten,<br />
wie das oft passiert. Aber wir alle verstehen: Russland ist interessiert an Lieferungen<br />
an zuverlässige Kunden, die den vereinbarten Preis bezahlen. Glauben Sie, wir<br />
würden die Gaslieferungen nach Europa stoppen, obwohl uns das nur selbst schaden<br />
würde? Unsinn, das wäre Selbstmord. Aber als die ukrainischen Partner sich weigerten,<br />
unser Gas durchzuleiten und es stattdessen aus der Transit-Pipeline stahlen, was konnten<br />
wir dagegen machen? (...)<br />
Nun hören wir, dass sie [die Ukrainer] unsere Pipeline beschädigen oder die Bezahlung<br />
einstellen könnten. Was soll das heißen, die Zahlungen einstellen? Sie haben uns<br />
seit Juli [2013] nichts bezahlt! (...) Wir haben die Ukraine bereits mit zehn Billionen – ich<br />
glaube, 9,8 Billionen – Kubikmetern Gas umsonst versorgt. Das war eine kostenlose<br />
Lieferung im Umfang dessen, was wir jährlich an Polen liefern. Das ist beispiellos. (...)<br />
Für alles gibt es eine Grenze. Wir werden sehen, was passiert, nachdem die neue ukrainische<br />
Regierung gebildet ist, nach den Wahlen [vom 25. Mai 2014]. Aber um sicherzustellen,<br />
dass uns niemand wegen Plünderung anklagt, hat Gazprom schon gewarnt,<br />
und ich auch, dass Gazprom vertragsgemäß zum Vorauszahlungsmodus übergehen wird.<br />
(...)<br />
Die Kanzlerin als Partner<br />
Nun möchte ich ein paar Worte über unsere Beziehungen mit der Bundesrepublik sagen.<br />
Wir haben gut entwickelte Beziehungen, und ich denke, diese sind wichtig, sowohl<br />
für Russland wie für die Bundesrepublik Deutschland. Nach vorsichtigen Schätzungen<br />
– ich habe diese Zahl bereits angeführt – wurden ungefähr 300.000 Arbeitsplätze in<br />
Deutschland als Ergebnis unserer bilateralen Wirtschaftskooperation geschaffen, unsere<br />
Energiekontakte nicht eingerechnet. Deswegen bin ich der festen Überzeugung,<br />
dass wir bei der Behandlung unserer Beziehungen sehr vorsichtig sein und sie immun<br />
gegenüber den gegenwärtigen politischen Umständen halten sollten. Keiner weiß, wer<br />
in diesen politischen Streitfragen Recht hat. Natürlich glaube ich, dass wir es sind.<br />
Für unsere Verhandlungspositionen nutzen wir unsere Kontakte mit der Kanzlerin. Ich<br />
habe sehr warmherzige Beziehungen mit Frau Merkel, jedenfalls bis zum heutigen Tag,<br />
sowohl persönlich wie geschäftlich. Wir haben es immer geschafft, Berührungspunkte<br />
zu finden und in Streitfragen einen Kompromiss zu erzielen. Das wollen wir auch in<br />
Zukunft so halten. Dankeschön.<br />
Quelle: eng.kremlin.ru/transcripts/7237. Übersetzung: Jürgen Elsässer.<br />
121
Die Herausgeber<br />
_ Jürgen Elsässer<br />
Jürgen Elsässer hat knapp 30 Bücher<br />
über geo- und wirtschaftspolitische Themen<br />
verfasst, die zum Teil auch in französischer,<br />
italienischer, serbischer, polnischer,<br />
türkischer und japanischer Ausgabe<br />
vorliegen. – Seit Dezember 2010 ist Elsässer<br />
Chefredakteur des Monatsmagazins<br />
<strong>COMPACT</strong>.<br />
_ Yasmine Pazio<br />
Yasmine Pazio engagierte sich seit ihrer<br />
frühen Jugend in der Friedensbewegung<br />
und später bei Occupy. Sie wirkt als Publizistin,<br />
freie Autorin und Übersetzerin, außerdem<br />
führt sie die deutsche Facebook-<br />
Seite «Vladimir Putin».<br />
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