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COMPACT-Magazin | ERSTAUSGABE | 12-2010

Sog. 'Nullnummer' des erfolgreichen gesellschaftspolitischen Nachrichten-Magazins

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Dezember <strong>2010</strong> / Nullnummer / Preis 4.-<br />

www.compact-magazin.com<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Unabhängiges<br />

Monatsmagazin<br />

Geert Wilders<br />

Israels Mann<br />

in Europa<br />

Kirsten Heisig<br />

Die Richterin<br />

und ihre Henker<br />

Love Parade – Death Parade<br />

Die Nackten, die Toten<br />

und die Schuldigen<br />

Peter Scholl-Latour<br />

Interview mit einem<br />

alten Europäer<br />

Martin Lohmann<br />

Von der Lust,<br />

katholisch zu sein<br />

Lungenküsse<br />

Ver botenes<br />

Vergnügen<br />

DER NÄCHSTE BUNDESKANZLER?<br />

Was eine neue Volkspartei erreichen kann


Dezember<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

und Fritz Kuhn, von Anfang an ihr<br />

Projekt. Durchgesetzt hat sich dieses<br />

Gender Mainstreaming, weil<br />

auch Staat und Groß kapital die Ab -<br />

schaf fung der teuren Familie wünschen.<br />

Die aus allen Bindungen<br />

gelöste Konsummonade ist der<br />

ideale Sklave der Schönen Neuen<br />

Welt.<br />

EDITORIAL<br />

DIE VERSUCHUNG <strong>COMPACT</strong><br />

«Manch einer, der vor der Ver suchung<br />

flieht, hofft doch heimlich,<br />

dass sie ihn einholt», schreibt Giovanni<br />

Guareschi, der Autor von Don<br />

Camillo und Peppone. Das könnte das<br />

Motto dieser Zeitschrift sein. Sie<br />

will ihre Leser in Versuchung<br />

führen und weiß, dass viele gerade<br />

in diesem Land darauf warten.<br />

Die Macht der Tugendwächter<br />

wankt.<br />

Mit Sarrazin haben wir die süßeste<br />

Versuchung für die alternde BRD<br />

ins Zentrum dieses Heftes gestellt.<br />

Was von den Hohepriestern der<br />

ver öffentlichten Meinung verboten<br />

wird, macht offensichtlich viele<br />

scharf. Dabei wollen wir die Schrift,<br />

die er an die Wand geschrieben hat,<br />

nur als Anstoß nehmen, nicht als<br />

neues Dogma. Die Zeit der Dogmen<br />

ist näm lich prinzipiell vorbei. Es<br />

geht um die Lust an der Debatte,<br />

am Pro und Contra.<br />

Ganz generell muss die Verführung<br />

wechselseitig sein. Der Linke<br />

muss anfangen, mit dem Rechten<br />

zu diskutieren. Der Konservative<br />

soll die Argumente des Sozial demokraten<br />

– auch Sarrazin ist einer!<br />

– schätzen lernen. «Von der Lust,<br />

katholisch zu sein», schreibt der<br />

Papst-Biograph Martin Lohmann in<br />

dieser Ausgabe – das soll noto rische<br />

Atheisten herausfordern. Der<br />

badische Muslim Andreas Rieger<br />

rühmt die deutsche Klassik in<br />

Weimar – das mag die geschichtsver<br />

gessene Guido Knopp-Gemeinde<br />

provozieren.<br />

Wichtig ist nur: Die Tabus müssen<br />

fallen. Sonst stirbt dieses Land<br />

an intellektueller Austrocknung.<br />

Also schreiben wir über die Sehnsucht<br />

nach (und das Leiden an)<br />

Deutschland. Über die Suche nach<br />

Gott. Über Ehe und Familie als<br />

Inseln in den Feuchtgebieten des<br />

kalten Mammon. Wer Facebook zum<br />

Opium des Volkes und Goog le zum<br />

Kompass einer offenen Ge sell -<br />

schaft machen will, wird daran<br />

freilich keinen Spaß haben. Pech<br />

gehabt. Es gibt kein richtiges Leben<br />

im virtuellen.<br />

Als Chefredakteur will ich nicht<br />

verhehlen, dass mein Herz immer<br />

noch links schlägt. Dass ich mir mit<br />

dieser Zeitschrift bei meinen Genos<br />

sen wenig Freunde machen<br />

werde, nehme ich allerdings nicht<br />

nur in Kauf – das ist regelrecht beabsichtigt.<br />

Denn die Achtundsechziger<br />

sind längst nicht nur Teil des<br />

Systems geworden – sie bilden<br />

mittler weile seine Avantgarde. So<br />

war et wa die Umerziehung von<br />

Männern und Frauen zu androgynen<br />

Androiden, die sich am Ende<br />

so ähnlich sehen wie Renate Künast<br />

Zurück zu Don Camillo und Peppo<br />

ne: Die Filme aus den fünfziger<br />

Jahren zeigen, dass konservative<br />

Christen und orthodoxe Marxisten<br />

mehr gemeinsam haben, als sich die<br />

heutige Latte Macchiato-Linke vor -<br />

stellen kann. In einer Folge lässt sich<br />

der Bürgermeister durch sein kom -<br />

munistisches Parteibuch nicht davon<br />

abhalten, sein Neugeborenes<br />

zu Don Camillo in die Kirche zu<br />

bringen – zur Taufe. Allerdings be -<br />

steht er drauf, dass das Söhnchen<br />

Lenin heißen müsse. Der Priester ist<br />

empört, die beiden prügeln sich im<br />

Glockenturm. Danach einigt man<br />

sich: Peppone will auf Lenin ver zich -<br />

ten und bietet großzügig Camil lo an.<br />

Nach Zwiesprache mit dem Jesus<br />

am Kreuz schlägt der Gottesmann<br />

listig vor, Lenin immerhin hinzuzufügen<br />

– neben seinem Namen<br />

verblasse der andere ohnedies.<br />

Der Streit war ebenso leidenschaft<br />

lich wie die Versöhnung herzlich.<br />

Die beiden wussten bei aller<br />

Unterschiedlichkeit um die gemein -<br />

same Verantwortung, die sie für ihr<br />

Dorf trugen. Katholik und Kommunist<br />

hatten als Partisanen für die<br />

Freiheit ihres Landes gekämpft –<br />

das hatte sie jenseits der Ideologien<br />

zusammengebracht.<br />

Bedrohung und Besatzer sind<br />

heu te andere als damals, die<br />

Heraus for derung bleibt dieselbe.<br />

<strong>COMPACT</strong> soll deshalb eine Zeitschrift<br />

sein, in der sich Don Camillo<br />

und Peppone gleichermaßen zu<br />

Hause fühlen.<br />

3


<strong>COMPACT</strong><br />

Dezember<br />

+ + + Ed i torial. Vo n J ü rgen Elsässer: S . 3 + + + Fo to des Monat s : S . 5 + + + R u b r i k : Z i t ate des Monat s : S . 6 + + +<br />

Foto: AP Images/Kai-Uwe Knoth<br />

Rechtspartei oder Volkspartei? S. 7 Terrorpäckchen aus Jemen? S. 39 Lungenküsse S. 48<br />

Foto: Simone von Maiwald<br />

TITELTHEMA<br />

POLITIK<br />

LEBEN<br />

7<br />

<strong>12</strong><br />

17<br />

20<br />

22<br />

25<br />

28<br />

Rechtspartei oder Volkspartei?<br />

Von Jürgen Elsässer<br />

Tit for Tat. Von André F.<br />

Lichtschlag<br />

In der Sarrazin-Falle. Von A.<br />

Rieger & S. Wilms<br />

Die Sarrazin-Linke. Von<br />

Hans-Ulrich Wehler u.a.<br />

Israels Mann in Europa. Von<br />

Andrea Ricci<br />

«Warum keine Extratouren mit<br />

China?» Interview mit Peter<br />

Scholl-Latour<br />

Die Richterin und ihre Henker.<br />

Von Josephine Barthel<br />

31<br />

34<br />

37<br />

39<br />

42<br />

43<br />

44<br />

Luftpostterror aus Sanaa? Von<br />

Utz Anhalt<br />

Uncle Sams schmutzige A-<br />

Bombe. Von Frieder Wagner<br />

Love Parade – Death Parade.<br />

Von Johannes Heckmann<br />

Die Dinar-Revolution von<br />

Kelantan. Von Stefan Breuer<br />

Gold und Silber bieten Schutz.<br />

Von Walter K. Eichelburg<br />

Hayek contra Merkel. Von<br />

Oliver Janich<br />

O-Ton «Das Undenkbare<br />

denken». Quelle: UBS research<br />

45<br />

47<br />

48<br />

51<br />

54<br />

57<br />

59<br />

Wie das Ausatmen der Zeit<br />

zwischen zwei Kriegen. Von<br />

Roger Willemsen<br />

Gefährliche 8. Von Gerd<br />

Schulze-Meyer<br />

Lungenküsse. Von Walter<br />

Wippersberg (Text) & Simone<br />

von Maiwald (Fotos)<br />

Der Klassiker auf dem Divan.<br />

Von Andreas Rieger<br />

Von der Lust, katholisch zu<br />

sein. Von Martin Lohmann<br />

Für die Statistik. Von Christian<br />

von Aster<br />

Comic: Affe mit Waffe. Von<br />

animue<br />

I m p r e s s u m <strong>COMPACT</strong><br />

Herausgeber & Verlag:<br />

Compact <strong>Magazin</strong> GbR<br />

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Josephine Barthel, Stefan Breuer und Andrea Ricci<br />

Mit Beiträgen u.a. von:<br />

Utz Anhalt, Christian von Aster, Johannes Heckmann,<br />

Oliver Janich, Martin Lohmann, Gerd Schulze-Meyer,<br />

Andreas Rieger, Stephan Steins, Rolf Stolz, Frieder<br />

Wagner, Hans Ulrich Wehler, Roger Willemsen, Sulaiman<br />

Wilms und Walter Wippersberg<br />

Layout/Gestaltung:<br />

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<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Dezember<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Foto des Monats<br />

Am 15. Oktober fraßen die Monster-Bohrer die letzten Granitschichten zwischen den Stollen weg. Seither ist unter dem Gotthard-Massiv der<br />

Weg frei für den Bau des größten Eisenbahntunnels der Welt – 37 Kilometer lang, unter Alpengipfeln von bis zu 3.000 Metern Höhe. Typisch<br />

Schweiz: Das Megaprojekt wurde dem Volk zur Entscheidung vorgelegt. Beim Referendum 1992 stimmten zwei Drittel dafür. Schweiz-21 ist die<br />

Alternative zu Stuttgart-21.<br />

Foto: ALP Transit Gotthard AG<br />

4<br />

5


<strong>COMPACT</strong><br />

Dezember<br />

+++ Zitate des Monats +++<br />

«In diesem Jahr ist es<br />

mit der Krise wie mit<br />

Lena Meyer-Landrut.<br />

Man fragt sich: Wo ist<br />

sie denn plötzlich hin?»<br />

(Daimler-Chef Dieter Zetsche,<br />

Pfälzischer Merkur, 5.11.<strong>2010</strong>)<br />

Foto: Daniel Kruczynski<br />

Christlich-Jüdisches (I)<br />

«Nein, es gab keine jüdisch-christliche<br />

Tradition, sie ist eine Erfindung der<br />

europäischen Moderne und ein Lieblingskind<br />

der traumatisierten Deutschen.<br />

Jüdisch-christlich ist eine Kons<br />

truktion, geprägt von einer Genese<br />

des Fortschritts, die in der Reformation<br />

und in der Französischen Revolution<br />

gipfelt. Erst nach der Schoah hat<br />

in Deutschland ein jüdisch-christlicher<br />

Dialog begonnen.» (A.S. Brockstein Coruh,<br />

Professorin für jüdische Philosophie,<br />

Tagesspiegel, <strong>12</strong>.10.<strong>2010</strong>)<br />

Al CIAda (I)<br />

«Es klingt bizarr. Kriegspartei eins<br />

(NATO) fliegt angeblich ranghohe<br />

Vertre ter von Kriegspartei zwei (Taliban)<br />

zu Treffen mit Kriegspartei drei<br />

(afgha nische Regierung). Die kooperiert<br />

mit Kriegspartei eins und ist noch<br />

viel zu schwach, um ohne Unterstützung<br />

zu agieren. So schreibt es die New<br />

York Times, und ein echtes Dementi gibt<br />

es von Kriegspartei eins, also von der<br />

NATO, dazu nicht.» (Süddeutsche Zeitung,<br />

21.10.<strong>2010</strong>)<br />

Al CIAda (II)<br />

«Am Mittwoch wurde die Verhaftung<br />

eines 34jährigen Mannes aus Ashburn,<br />

Virginia, einem Vorort der Hauptstadt<br />

Washington, gemeldet. Farooque Ahmed<br />

ist US-Bürger pakistanischer Abstammung,<br />

verheiratet und hat einen<br />

kleinen Sohn. Aus der Anklageschrift<br />

geht hervor, daß sich Agenten des FBI<br />

und möglicherweise auch anderer<br />

Dienststellen im April gezielt an Ahmed<br />

heran gemacht und ihn seither zu einer<br />

Reihe von ‘konspirativen’ Treffen<br />

überredet hatten. Angeblich gaben die<br />

staatlichen Provokateure vor, Verbindung<br />

zu Al-Qai da zu haben.» (Junge<br />

Welt, 29.10.<strong>2010</strong>)<br />

Euro-Diktatur<br />

«Im Grunde agieren jene, die den permanenten<br />

Krisenmechanismus jedenfalls<br />

ohne Referendum, wenn möglich<br />

sogar ohne Vertragsänderung durchsetzen<br />

wollen, wie jeder durchschnittliche<br />

südamerikanische Diktator, der<br />

sich mit Notstandsverordnungen an<br />

der Macht hält.» (Die Presse, Wien, am<br />

1.11.<strong>2010</strong> zum EU-Gipfel und den dort<br />

beschlossenen Sanktionsmechanismen<br />

gegen Defizitstaaten)<br />

Alles Rechtsradikale<br />

«Wenn das, was ich sage, rechtsradikal<br />

ist, sind zwei Drittel in der Bevölkerung<br />

rechtsradikal.» (Horst Seehofer<br />

auf dem CSU-Parteitag, 31.10.<strong>2010</strong>)<br />

Abzocker<br />

«Eine falsche Bilanz ist keine gefälschte<br />

Bilanz.» (Dirk Jens Nonnenmacher, Chef<br />

der HSH Nordbank, über Unregelmäßigkeiten<br />

in der Buchhaltung, Frankfurter<br />

Allgemeine Zeitung, 1.11.<strong>2010</strong>)<br />

AKW plus Minarett<br />

«Diejenigen, die gestern gegen Kernenergie,<br />

heute gegen Stuttgart-21 demonstrieren,<br />

agitieren, die müssen sich<br />

dann auch nicht wundern, wenn sie<br />

übermorgen irgendwann ein Minarett<br />

im Garten stehen haben.» (CSU-Ge neralsekretär<br />

Alexander Dobrindt auf einer<br />

CSU-Veranstaltung, 7.11.<strong>2010</strong> / youtube-Mitschnitt)<br />

Al CIAda (III)<br />

«Die Enthüllungen über den US-Agenten<br />

David Headley gehen weiter. Am<br />

Wochenende war es die New York Times,<br />

die bisher nicht öffentlich bekannte<br />

Einzelheiten berichtete. Headley,<br />

ein V-Mann der Drogenbehörde<br />

DEA, hatte zwei Jahre lang potentielle<br />

Ziele für die Terrorangriffe im indischen<br />

Mumbai ausgekundschaftet, bei<br />

denen im November 2008 etwa 170<br />

Menschen getötet wurden.» (Junge<br />

Welt, 11.10.<strong>2010</strong>)<br />

Christlich-Jüdisches (II)<br />

«Beim Reden von der christlich-jüdischen<br />

Tradition handelt es sich aber um<br />

eine gewaltige Heuchelei. Die deutsche<br />

Politik drückt die alte, früher stigmatisierte<br />

Minderheit der Juden an die<br />

Brust, um die neue Minderheit, die<br />

Muslime, zu stigmatisieren. Die Juden<br />

werden missbraucht, um die Muslime<br />

als unverträglich zu kennzeichnen.»<br />

(Heribert Prantl, Süddeutschen Zeitung,<br />

9.11.10)<br />

Die Russen sind zurück<br />

«Moskau liefert Kabul kostenlos<br />

Waffen. (…) Mit der NATO verhandelt<br />

Moskau auch über die Lieferung<br />

russischer Hubschrauber an die afghanische<br />

Armee.» (Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung, 13.11.<strong>2010</strong>)<br />

«Die Bankenkrise ist<br />

mitnichten ausge standen,<br />

die Schuldenkrise<br />

einiger Euro- Staaten<br />

noch lange nicht über -<br />

wunden. Droht der Währungsunion<br />

der nächste<br />

Belas tungstest?»<br />

(Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung, 13.11.<strong>2010</strong>)<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Titelthema<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Foto: dpa/picture-alliance.de<br />

Angestoßen durch den Sarrazin-Impuls formiert sich jenseits des<br />

etablierten Machtkartells eine neue explosive Kraft. Doch die<br />

Mischung ist so instabil, dass sie auch vorzeitig verpuffen könnte.<br />

Rechtspartei oder Volkspartei?<br />

Von Jürgen Elsässer<br />

So viel Aufbruchsstimmung war seit<br />

der Gründungsphase der Grünen noch<br />

nie in der Bundesrepublik. Damit sind<br />

nicht die Proteste gegen Stuttgart-21<br />

und das neue Atomprogramm gemeint:<br />

Bürgerwut und Massendemons -<br />

trationen gab es bekanntlich auch bei<br />

der Startbahn-West, und die aktuellen<br />

Auseinandersetzungen in Gor leben<br />

haben ebenfalls einen Vorlauf von dreißig<br />

Jahren. Zum ersten Mal seit den<br />

Tagen von Petra Kelly und Herbert Gruhl<br />

ist jedoch der ernsthafte Versuch zu beobachten,<br />

eine neue Kraft zu formieren.<br />

«Nicht links, nicht rechts, sondern<br />

vorn» lautete das Motto, unter dem die<br />

Sonnenblumenpartei damals ihre ersten<br />

Wahlkämpfe gewann. Man wollte<br />

sich nicht einsortieren in die überkommenen<br />

Kategorien, in die verrunzelte<br />

ideologische Gesäßgeografie, sondern<br />

einen Ausbruch wagen.<br />

«Nicht links, nicht<br />

rechts, sondern<br />

vorn» lautete das<br />

Motto, unter dem<br />

die Sonnenblumenpartei<br />

damals ihre<br />

ersten Wahlkämpfe<br />

gewann.<br />

Der aktuelle Ausbruchsversuch<br />

findet unter der Fahne von Thilo Sarra<br />

zin statt. Mit seinem Buch hat er das<br />

Unbehagen am ancien régime gebün -<br />

delt und, jenseits der Ein-Punkt-Bewegungen,<br />

die Debatte um das gro ße<br />

Ganze aufgemacht: um die Zukunft<br />

unseres Landes und der deutschen<br />

Nation. Das Ensemble an Fakten, die<br />

der langjährige Berliner Finanzsenator<br />

vorgelegt hat, bildet die Basis für jede<br />

weitere Strategiedebatte. Es ist unmög -<br />

lich, davon abzusehen oder dahinter<br />

zurück zu fallen. Der Titel Deutsch land<br />

schafft sich ab ist dabei kein Ausdruck<br />

intellektueller Larmoyanz oder alters -<br />

schwacher Apathie von wegen «Da<br />

kann man sowieso nix mehr machen».<br />

Vielmehr legt Sarrazin eine self des tro -<br />

ying prophecey vor: Durch das Aus -<br />

ma len der möglichen Katastrophe sollen<br />

alle Kräfte zur Verhinderung der<br />

selben mobilisiert werden.<br />

Das ist geglückt: Weit über eine<br />

Million Deutsche haben das Buch gekauft<br />

– das ist Nachkriegs rekord für<br />

ein politisches Werk. Damit ist offensichtlich,<br />

was das Establishment durch<br />

Euro-Denglish und globa listisches Ab -<br />

ra kadabra immer weghexen wollte:<br />

Es gibt die nationale Frage noch. Ein<br />

rele vanter Teil der Bevölkerung will<br />

«deutsches Volk» bleiben und das<br />

Abwracken unseres Nationalstaates<br />

6<br />

7


<strong>COMPACT</strong><br />

Titelthema<br />

verhindern. Das ist das Movens einer<br />

neu en Partei – so wie die Ökologie das<br />

Mo vens der Grünen war.<br />

Dass diese Debatte durch politischko<br />

r rekte Tugendwächter so lange ge de -<br />

c kelt oder in braune Schmud del ecken<br />

abgedrängt werden konnte, hat freilich<br />

seinen Preis: Der lange auf gestau te<br />

National-Frust explodiert im diskursiven<br />

Chaos. Da die etablierten Medien<br />

an einer konstruktiven Diskussion der<br />

Sarrazin-Fragen kein Interesse haben<br />

(mit Ausnahme der Bild-Zeitung, die<br />

trickreich zumindest das Gegenteil<br />

vorgibt), müssen selbst minimale Kom -<br />

munikationsstrukturen zur Selbstverständigung<br />

der «Sarraziner» erst aufgebaut<br />

werden.<br />

Bis dahin rennet, rettet,<br />

flüchtet jeder Vernünftige aus dem<br />

Mei nungs käfig der «Schland»-Parteien<br />

– aber keiner weiß genau, wohin. Bei<br />

einer Emnid-Umfrage von Anfang Sep -<br />

tember entfielen 18 Prozent auf eine<br />

fiktive Sarrazin-Partei, eine vom CDU-<br />

Dissidenten Friedrich Merz geführ te<br />

Formation hätte 20 Prozent bekom men,<br />

Ost-Pfarrer Joachim Gauck könn te sogar<br />

25 Prozent abräumen. Offensichtlich<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Titelthema<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

ist den Leuten egal, wer sie aus dem<br />

Jammertal führt, solange derjenige für<br />

eine gewisse Respektabilität und<br />

Professionalität steht.<br />

Rechte Extremisten jedenfalls, das<br />

zeigen die demoskopischen Werte für<br />

die entsprechenden Splitterparteien,<br />

können von «Volksheld Sarrazin»<br />

(Spiegel) nicht profitieren. Dazu passt,<br />

wie stark seine Anstöße nach links ausstrahlen:<br />

Bei der erwähnten Umfrage<br />

hatten 29 Prozent der Linke-Wähler ihr<br />

Kreuzchen bei der imaginären Sarrazin-<br />

Partei gemacht – das waren mehr<br />

als bei den Anhängern aller anderen.<br />

Das Ergebnis muss die Nomenklatura<br />

um Gregor Gysi schockieren – die war,<br />

ihrem Verständnis von Antifaschismus<br />

folgend, beim Verbellen des angeblichen<br />

Rechtspopulisten besonders lautstark<br />

gewesen. Die von Sarrazin befürchtete<br />

Abschaffung Deutschlands<br />

wurde im Zentralorgan frech bejubelt:<br />

«Muss das etwas Schlechtes sein? (…)<br />

Vielleicht muss es wirklich so geschehen,<br />

wie es in einem Punk-Klassiker<br />

besungen wird: »<br />

Dass dieser antideutsche Hass in einer<br />

Zeitung versprüht werden kann, die<br />

immer noch den patriotischen SED-<br />

Titel Neues Deutschland trägt, zeigt, wie<br />

sehr sich die neue und allerneueste Lin -<br />

ke von ihren Traditionen entfernt hat<br />

– und von einem Gutteil ihrer Wähler.<br />

Dass Sarrazin im Kern ein sozial<br />

reformerisches und keineswegs ein<br />

rechtsradikales Manifest vorgelegt hat,<br />

hat Hans-Ulrich Wehler, einer der linken<br />

Gegner von Ernst Nolte im so genannten<br />

Historikerstreit, herausgearbeitet<br />

(vg. S. 20). Dass dieser Kern nicht<br />

immer sichtbar ist, muss sich Sarrazin<br />

zwar auch selbst zuschreiben – seine<br />

Ausflüge in die Erbbiologie hätte er<br />

besser unterlassen, und auch zu seinen<br />

Angriffen auf den Islam wird unten<br />

noch Kritisches vermerkt werden. Die<br />

Unschärfe dieses Kerns erklärt sich<br />

jedoch weniger durch seine Darstellungsschwächen,<br />

als durch den politisch-korrekten<br />

Knick in der Optik seiner<br />

linken Kritiker. Diese können nicht<br />

erkennen, dass die im Buch zentrale<br />

Forderung nach einer Umkehr in der<br />

Einwanderungspolitik ganz im Interes<br />

se der arbeitenden Menschen in diesem<br />

Land – im marxistischen Duktus:<br />

im Klasseninteresse des Proletariats –<br />

liegt. Die Zuwanderung ist seit ihrem<br />

Beginn in den sechziger Jahren ein<br />

Projekt der Großkonzerne, die durch<br />

den Import billiger «Gastarbeiter» die<br />

Lohn quote immer mehr absenken<br />

konn ten. Das ist ökonomisch gewollte<br />

Inländerfeindlichkeit – wobei man den<br />

Begriff durchaus weit fassen sollte: So,<br />

wie schwäbische Betongießer in der<br />

Altbundesrepublik anatolischen Zuzüg<br />

lern weichen mussten, werden<br />

deren Jobs heute von polnischen oder<br />

baltischen Dienstleistern übernommen.<br />

Mit anderen Worten: Auch die Türken<br />

in Deutschland müssten in ihrem eige -<br />

nen Interesse mit Sarrazin dafür sein,<br />

dass vor der großen Flut die Schleusen<br />

geschlossen werden.<br />

Auch die Türken in<br />

Deutschland müssten<br />

in ihrem eige nen<br />

Interesse für Sarrazin<br />

sein.<br />

Sarrazin selbst hat ganz richtig<br />

erkannt, dass die notwendige Sammlung<br />

der Kräfte auf einer breiten Basis,<br />

also in der Mitte der Gesellschaft, erfolgen<br />

muss. «Eine Partei, die sich ausschließlich<br />

dem Thema Zuwanderung<br />

und Integration widmen würde, wäre<br />

eine Rechtspartei. Und ich möchte<br />

keine Rechtspartei in Deutschland (…)<br />

Ich lasse mich nicht in die rechte Ecke<br />

drängen», sagte er Ende Oktober der<br />

Bild am Sonntag. Bei den Themen, die<br />

hinzu kommen müssten, hat er in<br />

seinem Buch noch Ausarbeitungen zu<br />

Demographie und zur Familien- sowie<br />

Bildungspolitik vorgelegt.<br />

Zwei große Themenkreise fehlen: Die<br />

Zerstörung Deutschlands durch die<br />

undemokratischen Eingriffe der EU in<br />

alle Lebens bereiche sowie durch die<br />

US-amerikanische Finanz- und Kriegspolitik.<br />

Letzteres ist eine déformation<br />

professionelle bei einem Politiker,<br />

der in seiner Zeit als Berliner Senator<br />

die Priva tisierung von kommu na lem -<br />

Ei gen tum – eines der schlimmsten<br />

Ele men te des angelsächsischen Wirtschafts<br />

modells – immer voran ge trieben<br />

und sich mit Außenpolitik nie<br />

beschäftigt hat. Sein blinder Fleck in Bezug<br />

auf die EU verwundert hin gegen:<br />

8<br />

9


<strong>COMPACT</strong><br />

Titelthema<br />

Die Immigrationsproblematik wurde<br />

durch die von Brüs sel erzwunge nen<br />

Grenzöffnungen innerhalb der EU dra -<br />

ma tisch verschärft. Wenn Sarra zin die<br />

Ein wan derung sozialverträg lich re gu -<br />

lie ren, also sehr weit gehend eindämmen<br />

will, müsste er nicht nur den Lis sa -<br />

bonner, sondern auch den Maas trichter<br />

Vertrag kündigen – also die Mitgliedschaft<br />

in der EU, jedenfalls in ihrer bisherigen<br />

Form, zur Disposition stellen.<br />

Dass man mit diesem Thema<br />

punkten könnte, zeigt das Beispiel der<br />

br itischen Unabhängigkeitspartei UKIP:<br />

Unter ihrem rhetorischen Sturmgeschütz<br />

Nigel Farage gelang ihr bei den<br />

Europa-Wahlen 2009 auf breiter Ebene<br />

ein Einbruch in bürgerliche Wählerschichten.<br />

Mit 16,5 Prozent wurde UKIP<br />

hinter den Konservativen die zweitstärkste<br />

Kraft auf der Insel. Die Souve -<br />

ränität Großbritanniens bildet bei UKIP<br />

den programmatischen Rahmen, der<br />

unterschiedliche Strömungen zusammenhält.<br />

Im Rahmen dieses Souveränismus<br />

werden auch die Probleme der<br />

Immigration angesprochen und, als<br />

wichtiger Unterpunkt, die der Immigra<br />

tion aus islamischen Ländern. Hier<br />

fordert UKIP eine klare Begrenzung.<br />

Aber nicht «Ausländer raus aus unsrem<br />

Land», sondern «Unser Land raus<br />

aus der EU!» ist das Panier, mit dem<br />

Farage seine Wahlsiege erficht. Der<br />

Kampf gegen die Brüsseler Kommissare<br />

steht im Vordergrund, nicht der<br />

Kampf gegen den Islam.<br />

Sarrazin setzt die Akzente<br />

leider anders. Anstatt über die für<br />

Deutschland zerstörerischen Einflüsse<br />

von EU und USA schreibt er in seinem<br />

Buch lieber über die Gefahren, die uns<br />

vom Islam drohen. Auch mit diesem<br />

Fokus kann man eine Protestpartei<br />

stark machen, wie das Beispiel der<br />

niederländischen Partij voor de Vrijheid<br />

von Geert Wilders zeigt. Doch man<br />

muss sich über die Konsequenzen<br />

dieser Schwerpunktsetzung im Klaren<br />

sein: Wer «den» Islam als unser Problem<br />

oder gar als das Hauptproblem<br />

sieht, wird sich nicht auf die Wiederaneignung<br />

nationaler Souveränitätsrechte<br />

etwa zur Steuerung der Immigration<br />

beschränken können. Vielmehr<br />

wird er auf einer glitschigen Rutschbahn<br />

Platz nehmen, die ihn in die weltweite<br />

Front gegen den Islam führt –<br />

wofür dann schnurstracks weitere Souveränitätsrechte<br />

an die Kommandeure<br />

dieser Front abgegeben werden müssen.<br />

Nicht die Verteidigung Deutschlands,<br />

sondern die Verteidigung USame<br />

rikanischer Ölinteressen in Nahund<br />

Mittelost ist der Fluchtpunkt dieser<br />

Politik, und ihr Lackmustest wird<br />

die deutsche Unterstützung für is ra e-<br />

lische Bomben auf Teheran sein.<br />

Die Alternative, ob eine neue<br />

poli tische Kraft eher nach dem Farage-<br />

Modell als Unabhängigkeitspartei oder<br />

eher nach dem Wilders-Modell als Anti-<br />

Islam-Partei ausgerichtet werden müss -<br />

te, ist noch kaum herausgearbeitet.<br />

Manche sehen das auch gar nicht als<br />

Entweder-Oder. Nehmen wir die Vorgänge<br />

in Berlin im Spätherbst <strong>2010</strong>, die<br />

im weiteren Verlauf der Geschichte<br />

zwar nur eine Fussnote bilden werden,<br />

aber doch als Momentaufnahme der<br />

Riffe unter der von Sarrazin ausgelösten<br />

Dis kurs-Welle taugen. So mag man<br />

dem CDU-Dissidenten René Stadtkewitz<br />

ger ne zubilligen, dass er sich von<br />

Wilders bei der Taufe seiner Freiheits-<br />

Partei nur deswegen helfen ließ, weil<br />

er nicht früher von Farage kontaktiert<br />

wurde. Israel-Liebesbekundungen erscheinen<br />

Moderaten wie ihm vielleicht<br />

nur als probater Schutzschild, um Unterwanderer<br />

aus DVU und NPD abzuschrecken<br />

– auf hartge sottene Antisemiten<br />

wirkt Wilders Davidstern wie<br />

das Kruzifix auf Vampire.<br />

Das Problem bei diesem allzu trickreichen<br />

Kalkül ist, dass man durch das<br />

Schwenken israelischer Fahne zwar die<br />

eine Sorte Extremisten abschreckt, aber<br />

eine andere anzieht, die im Hier und<br />

Heute – wir leben ja nicht mehr in den<br />

dreißiger Jahren! – noch gefährlicher<br />

ist: die eliminatorischen Zionisten und<br />

weltkriegsgeilen Neokonservativen.<br />

Der vergleichsweise harmloseste<br />

Rekrut dieser Truppe ist Aaron König,<br />

anfänglich Stadtkewitz’ Nummer zwei,<br />

der seine Karriere bei der Piratenpartei<br />

beenden musste, nachdem er die Bombardierung<br />

des Iran gefordert hatte.<br />

Gefährlicher ist schon Eliezer Cohen, der<br />

von Stadtkewitz als Co-Referent bei Wilders’<br />

Auftritt in Berlin eingeladen worden<br />

war. Nichts hätte dagegen gesprochen,<br />

durch einen Redner aus<br />

Israel historische Verantwortung zu demonstrieren.<br />

Doch Cohen ist kein Vertreter<br />

der israelischen Friedensbewegung,<br />

noch nicht einmal der durchaus<br />

zionistischen Arbeitspartei – sondern<br />

er gehört zur Partei von Aussenminister<br />

Avigdor Lieberman. Diese Partei<br />

träumt offen von der Depor tation nicht<br />

nur der Palästinenser, sondern auch<br />

der arabischen Staatsbürger Israels,<br />

und wird auch in der dortigen Presse<br />

als «rassistisch» oder «fa schistisch»<br />

bezeichnet.<br />

Das Maß voll macht die Anwesenheit<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Titelthema<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

von Daniel Pipes auf dem im engsten<br />

Kreis angesetz ten Gründungstreff der<br />

Stadtkewitz-Partei. Pipes gehört zu den<br />

härtesten Fal ken der Bush-Ära, die jeden<br />

Krieg ge gen islamische Staaten<br />

propagandistisch rechtfertigten. Im<br />

Frühjahr forderte er Präsident Obama<br />

auf, den Iran anzu greifen. Er unterstützte<br />

die Wilders-Partei angeblich mit<br />

fünfstel ligen Beträgen. Nun hat er bei<br />

der Berliner Freiheit angedockt. Aber<br />

wohin wird deren Reise gehen, wenn<br />

sie einen Steuermann hat, der nicht<br />

deutsche, son dern US-amerikanische<br />

und zionis tische Interessen verfolgt –<br />

und zwar in deren extremster Variante?<br />

Entsteht auf diese Weise nicht statt einer<br />

Volkspartei doch eine Rechtsaussenpartei?<br />

Die Stoßtruppen für die Auflösung<br />

Deutschlands sind jedenfalls<br />

nicht die Muslime, sondern die Achtundsechziger.<br />

Das ist oft schwer zu er -<br />

kennen, weil sich Claudia Roth und Co.<br />

als Sachwalter der Muslime ausgeben,<br />

freilich ohne sie groß gefragt zu haben.<br />

Aber bei einem Kernthema der Sarrazin-Untersuchung<br />

wird der Unter -<br />

schied zwischen beiden Gruppen deut -<br />

lich – beim dramatischen Sinken der<br />

Geburtenrate. Dafür sind der Femi nismus<br />

und dessen karzinogene Mu tation,<br />

die Gender Mainstream-Ideologie,<br />

verantwortlich, die bös artigs ten<br />

Früchte der 68er Revolte und mit die<br />

Hauptanliegen der grünen Bewegung<br />

(samt ihrer Ausläufer in den alten<br />

Volksparteien).<br />

Sie wollen die Hetero sexualität und<br />

die Familie in den Zoo der Minderheiten<br />

und ins Muse um verbannen.<br />

Frau und Mann sind ihnen zufolge<br />

keine biologische Reali tät, sondern<br />

ein soziales Konstrukt – wo doch ein<br />

Blick in den eigenen Slip jeden und<br />

jede vom Gegen teil überzeu gen kann.<br />

Schwule, Lesben und Transen sollen<br />

heiraten und Kinder adoptieren dürfen,<br />

den Famili en wird über die Abschaffung<br />

des Ehegatten-Splittings<br />

die Finanzierungs grundlage entzogen,<br />

in Berlin hisst der Polizeipräsident<br />

zum Christopher Street Day die<br />

Regenbogenfahne.<br />

Was in diesem Land abläuft,<br />

ist der Krieg einer familienfeindlichen<br />

68er-Minderheit unter Führung ide o-<br />

logisch verbohrter Feministinnen gegen<br />

die Mehrheit der Normalos, die<br />

zum Aussterben überredet werden<br />

sollen. Nota bene: An diesem Krieg<br />

sind die Muslime nicht beteiligt. Im<br />

Gegen teil: Ihre Ideale von Liebe und<br />

Partnerschaft, von Familie und Respekt<br />

stehen den ursprünglichen deutschen<br />

sehr nahe.<br />

Dass junge Türken Deutschland ablehnen<br />

und sich einer Integration verweigern,<br />

hat zumindest zum Teil damit<br />

zu tun, dass unser Land seine eigenen<br />

Traditionen verraten hat. Das Kopftuch<br />

junger Türkinnen in Kreuz berg ist<br />

nicht nur, aber auch ein Protest gegen<br />

die Pornographisierung der gleichaltrigen<br />

Deutschen. Wenn Cindy und<br />

Wo die nationale<br />

Leitkultur stark ist,<br />

können Minderheiten<br />

integriert werden.<br />

Ein Beispiel dafür ist<br />

Preußen.<br />

Mandy sich von der Oberlippe bis zum<br />

Arschgeweih tätowieren und piercen<br />

lassen, flüchten Fatima und Ayse unter<br />

das Kopftuch, was immerhin ein Ausdruck<br />

ihrer Kultur und ihrer Religion<br />

ist.<br />

Dass auch wir unsere kulturellen<br />

und religiösen Wurzeln wieder frei legen<br />

und stärken, müsste – neben der<br />

Wiedergewinnung der äußeren Souve -<br />

r änität – ein wichti ges Element einer<br />

Partei sein, die Deutschland vor dem<br />

Un tergang in einer to tali tären One<br />

World bewahren will. Musli me wie<br />

Andreas Rieger, die die Weimarer Klassik<br />

verstehen und schätzen (vgl. S. 51),<br />

werden diesen Weg sicherlich eher mitgehen<br />

als die Anhänger von Lady Gaga<br />

und Renate Künast.<br />

Wo die nationale Leitkultur<br />

stark ist, können Minderheiten integriert<br />

werden. Ein Beispiel ist Preußen,<br />

in dem die zugewanderten Huge notten<br />

zeitweise 20 Prozent der Bevölkerung<br />

ausmachten – und trotzdem keine<br />

Parallelgesellschaft bildeten. Das wird<br />

mit Türken und Arabern zweifellos<br />

schwieriger werden. Nur wenn der Zuzug<br />

gestoppt wird, werden die bisher<br />

Gekommenen sich gut einfinden kön-<br />

nen. Der alte Preuße Sarrazin hat immerhin<br />

die Melodie aufgeschrieben,<br />

die man unseren Mitbürgern vorsingen<br />

müsste:<br />

«Wer da ist und einen legalen Aufent<br />

haltsstatus hat, ist willkommen.<br />

Aber wir erwarten von euch, dass ihr<br />

die Sprache lernt, dass ihr euren Lebens<br />

unterhalt mit Arbeit verdient, dass<br />

ihr Bildungsehrgeiz für eure Kinder<br />

habt, dass ihr euch an die Sitten und<br />

Gebräuche Deutschlands anpasst und<br />

dass ihr mit der Zeit Deutsche werdet<br />

– wenn nicht ihr, dann spätestens eure<br />

Kinder. Wenn ihr muslimischen Glaubens<br />

seid, OK. Damit habt ihr dieselben<br />

Rechte und Pflichten wie heid nische,<br />

evangelische oder katholische<br />

Deutsche. Aber wir wollen keine nati -<br />

o nalen Minderheiten. Wer Türke oder<br />

Araber bleiben will und dies auch für<br />

seine Kinder möchte, der ist in seinem<br />

Herkunftsland besser aufgehoben.<br />

Und wer vor allem an den Segnungen<br />

des deutschen Sozialstaats interessiert<br />

ist, der ist bei uns schon gar nicht<br />

willkommen.»<br />

10<br />

11


<strong>COMPACT</strong><br />

Titelthema<br />

Das Feindbild als Spiegelbild. Über<br />

Henryk M. Broders Vorstöße in der<br />

deutschen Islam-Debatte.<br />

Foto: Florian Siebeck<br />

Tit for Tat<br />

Dubai City im Jahre <strong>2010</strong>: Bedroht der Islam die Moderne – oder die Moderne den Islam?<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Titelthema<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Von André F. Lichtschlag<br />

Der Journalist Henryk M. Broder betrach -<br />

tete das Gestammel der Gut menschen-<br />

Kollegen nach dem Schweizer Minarettvotum<br />

als «luschtig». Die Schweizer,<br />

so Broder, seien «die erste europäische<br />

Nation, die sich in einer freien Abstimmung<br />

gegen die Isla misie rung ihres<br />

Landes entschieden» habe. Es sei<br />

tatsächlich eine Abstimmung gegen<br />

eine bisherige «Asy mmetrie», denn<br />

«Moslems dürfen in Europa Gebetshäuser<br />

bauen, Christen in den arabischislamischen<br />

Ländern dürfen es nicht.<br />

In Afghanistan und Pakistan droht<br />

Konvertiten die Todesstrafe, Touristen<br />

dürfen nach Saudi-Arabien nicht einmal<br />

Bibeln im Gepäck mitführen.» Das,<br />

so Broder, «sind Zustände, die nicht<br />

toleriert werden können.» Nun sei die<br />

Zeit für das alte jüdische «Tit-for-tat-<br />

Prin zip» gekommen: «So wie zwischen<br />

den Regierungen Slots für die Flug -<br />

gesellschaften ausgehandelt werden,<br />

werden jetzt auch Landerechte für den<br />

Bau von religiösen Einrichtungen<br />

vereinbart. Wenn es in Bonn eine König-Fahd-Aka<br />

demie geben kann, die<br />

nicht der Schulaufsicht untersteht,<br />

muss es in Riad oder Jedda eine Evangelische,<br />

eine Ka tholische oder eine<br />

Akademie für Theorie und Praxis des<br />

Atheismus geben können. Wenn iranische<br />

Frauen in Voll verschleierung<br />

durch München flanieren können,<br />

müssen europäische Frauen in der<br />

Kleidung ihrer Wahl durch Teheran<br />

oder Isfahan gehen dür fen, ohne von den<br />

notgeilen Greifern der Sittenpolizei belästigt<br />

zu werden.»<br />

«Gut gebrüllt», antwortet ihm<br />

Kollege Hermann L. Gremliza: Schade<br />

nur, «dass der Rat zu spät kommt für<br />

die USA, um dem deutschen Emigran -<br />

ten Brecht zu sagen, er dürfe in Amerika<br />

erst schreiben, wenn im Deutschen<br />

Reich wieder Pressefreiheit herrscht.»<br />

Claudius Seidl fügt mit Voltaire hinzu:<br />

«Ich mag Ihr Kopftuch nicht. Aber ich<br />

werde mein Leben dafür einsetzen,<br />

dass Sie sich kleiden dürfen, wie Sie<br />

wollen.»<br />

Dabei spricht durchaus auch viel für<br />

Broders Provokation. Zweifellos ist die<br />

genannte «islamische Asymmetrie»<br />

bezüglich Religionsfreiheit gegeben,<br />

und dass sie bislang von den Kol legen<br />

der Mainstream-Presse nicht thematisiert<br />

wurde, ist ein Skandal. Es bleibt<br />

nur die alte Frage: Was unterscheidet<br />

den nach eigenem Bekunden Toleranten<br />

vom Intoleranten, wenn er dessen<br />

Intoleranz gegen ihn selbst wendet?<br />

Sollten wir dann nicht besser gleich<br />

alle zum Islam konvertieren und<br />

umgekehrt?<br />

Wäre es nicht entschieden<br />

aufrichtiger, das Abendland bliebe seinen<br />

Werten treu, statt sie zu verraten?<br />

Daher ein anderer Vorschlag: Broders<br />

einflussreiche Arbeitgeber Spiegel und<br />

Welt könnten zur Abwechslung mit<br />

den Berichten über Christenver folgungen<br />

in arabischen Ländern beginnen.<br />

Oder ARD und ZDF könnten themati<br />

sieren, dass seit dem 1. Januar 2000<br />

nahezu alle Kinder türkischer Eltern<br />

von Geburt an Deutsche sind.<br />

Ein Faktum über viele momentan<br />

heranwachsende und statistisch bereits<br />

deutsche Mitbürger, das vielen Abstam<br />

mungsdeutschen kaum bewusst<br />

ist, wurde das Gesetz doch in etwa so<br />

heimlich eingeführt wie die Einwanderungspolitik<br />

von Beginn an systema<br />

tisch geplant und betrieben wurde.<br />

Das gar nicht mehr so neue Staatsbürgerschaftsrecht<br />

jedenfalls könnte sich<br />

in ein paar Jahren als Meilenstein auf<br />

dem Weg zum Bürgerkrieg erweisen,<br />

dann nämlich, wenn der Sozialstaat<br />

endgültig zusammenbricht, der all das<br />

Prekariat angezogen, herausgebildet<br />

und zielgerichtet vermehrt hat, das<br />

nicht nur den Schweizern langsam zu<br />

teuer wird.<br />

Oder wie wäre es, wenn die em -<br />

pörten Deutschen und Schweizer Urlaubslän<br />

der wie Ägypten mieden oder<br />

begännen, Waren aus entsprechenden<br />

Ländern zu boykottieren? Das wäre<br />

zwar für jeden einzelnen unbequemer,<br />

aber es würde auch nicht den eigenen<br />

Anspruch verraten. Und die Methode<br />

könnte erfolgversprechender sein, als<br />

auch hierzulande die Religionsfreiheit<br />

zu beschneiden.<br />

Und wenn schon Broders rabiates po -<br />

li tisches Mittel, dann bitte auch konse -<br />

quent: Irakische und afghanische Truppen<br />

dürfen nach kleineren dor tigen<br />

Gefechten und Bombardements in<br />

Berlin und Washington stationiert werden,<br />

und auch der Iran darf natür lich<br />

Atomwaffen bauen. Abschreckung ist<br />

machbar, Herr Nachbar. Oder auch:<br />

«Tit-for-tat».<br />

Broder erklärt die neue Angst<br />

des Westens vor dem Islam allein mit<br />

dessen Fehlern. Die andere Seite der<br />

Me daille verschweigt er, jene diffuse<br />

Grundangst, die aus eigener Schwäche<br />

herrührt. Deutschland und darüber<br />

hinaus das, was gemeinhin als «der<br />

Wes ten» bezeichnet wird, «haben fertig».<br />

Viele wissen das. Noch mehr ahnen<br />

es. Demographisch, demokratisch,<br />

kulturell, moralisch und ökonomisch<br />

zehren wir von der Vergangenheit und<br />

leben auf Kosten der Zukunft. So ist<br />

das im Sozialismus, immer. Große<br />

Gelehrte wie Ludwig von Mises oder<br />

Friedrich August von Hayek haben dicke<br />

Bücher zur Erklärung des Phänomens<br />

verfaßt. Roland Baader in Deutschland<br />

oder Igor Schafarewitsch in Russland<br />

haben erklärt, warum jeder neue so zi -<br />

a lis ti sche Menschenversuch – und es<br />

gab im Laufe der Jahrhunderte viele –<br />

immer wieder aus vier Komponenten<br />

besteht: Eigentumszerstörung, Religions<br />

zerstörung, Familienzerstörung,<br />

gekop pelt mit der Utopie der sozialen<br />

Gleichheit. Jetzt steht auch unsere neoso<br />

zialistische Gesellschaft wie vor<br />

mehr als zwanzig Jahren der Real sozi -<br />

a lismus vor dem Offenbarungseid.<br />

Wie damals suchen Kapital und Menschen<br />

das Weite. Wer kann, haut ab. Die<br />

Auswandererziffern nähern sich bereits<br />

den Zahlen der Einwanderer.<br />

Leistungsfähige und -willige ziehen in<br />

Scharen fort im Austausch gegen<br />

Anatoliens Landbevölkerung, die, bildungs<br />

fern, aber bauernschlau, vom<br />

hiesigen Sozialschlaraffenland wie magisch<br />

angezogen wird. Das düstere Bild<br />

der Zukunft ist an hiesigen Problemschulen<br />

bereits heute zu bewun dern.<br />

Die Überwachung der verbleibenden<br />

Produktiven wird immer lückenloser,<br />

fliehendem Kapital wird an den Grenzen<br />

polizeistaatlich nachgespürt. Der<br />

Klassenfeind lauert in Liechtenstein.<br />

Mauer und Stacheldraht sind nur noch<br />

eine Frage der Zeit. Auch so ist das im<br />

Sozialismus, auf Dauer immer.<br />

Die Beweggründe des auf gebrach<br />

ten Volkes sind ja nachvoll ziehbar:<br />

Immer mehr Straßenzüge im ei ge -<br />

nen Land mutieren zum No-go- Bezirk<br />

für Deutsche, die zudem noch gedemü<br />

tigt werden von den stets juristisch,<br />

soziologisch, politisch und sozialstaat -<br />

lich bevorzugten Jungmänner-«Migranten».<br />

Gemeint sind nicht die Rhein-<br />

<strong>12</strong><br />

13


<strong>COMPACT</strong><br />

Titelthema<br />

Die Metropolis von Dubai City als Menetekel der Verwestlichung.<br />

Fotos: Florian Siebeck<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Titelthema<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

«Ist nicht auch die islamische Jugend im Westen wie in<br />

der eigentlichen Heimat von der Pop-Kultur der Untreue,<br />

des unproduktiven Konsums und der Ehr- wie Kinderlosigkeit<br />

bereits weitaus stärker angezogen als vom Prediger<br />

in der Moschee? Und ist nicht auch die moslemische<br />

Welt diesseits alter Ideen vom Gold-Dinar längst eine<br />

Schuldengemeinschaft, die nicht nur in Dubai auf Sand<br />

gebaut ist?» (André F. Lichtschlag)<br />

14<br />

15


<strong>COMPACT</strong><br />

Dezember<br />

länder in Berlin. Die Bauzeichnung der<br />

Ehrenfelder Großmoschee – des «neu -<br />

en Kölner Doms» – ist eine eindrucksvolle<br />

symbolische Demonstration der<br />

Macht. Da ist es verständlich, wenn<br />

sich Angst und Wut auf «die Musels»<br />

weiter verbreiten. Zunehmend stehen<br />

sie für alles Böse dieser Welt: «Politisch<br />

inkorrekte Westler» wie Broder erklären,<br />

die islamische Religion sei in Wirklichkeit<br />

eine aggressive politische Ide -<br />

ologie, ihr Religions stifter bereits sei<br />

ein Krieger und ein Kinderschänder<br />

gewesen. Die Muslime seien kulturell,<br />

moralisch und ökonomisch rückständig,<br />

und ihre Religion habe anders als<br />

das Christentum im Westen eine «Aufklärung»<br />

nie erfahren.<br />

Schließlich würden Moslems in weni<br />

gen Jahrzehnten bereits demographi -<br />

sch im Westen die Macht ergreifen. Ein<br />

Blick in die Neugeborenenab teilung eines<br />

Krankenhauses in einer beliebigen<br />

westlichen Großstadt sagt dazu mehr<br />

als tausend Worte.<br />

Gerade die Angst aber vor der<br />

Macht übernahme durch künftige muslimische<br />

Mehrheiten im alten Europa<br />

zeigt, dass wir es auch heute lediglich<br />

mit einem Blick in den Spiegel zu tun<br />

haben. Denn würden die westlichen<br />

Gesellschaften nicht selbst absterbende<br />

sein und wäre die Geburtenrate bei den<br />

Einheimischen nicht tendenziell eine<br />

Selbstmordrate, so würden nicht andere<br />

jene Macht an sich reißen können.<br />

Mohammedaner vermehren sich, der<br />

Westen ist verbraucht, alt, gebrechlich,<br />

lendenlahm und überlebt nur noch<br />

notdürftig auf Pump. In einer solchen<br />

Gesellschaft wird die Selbsttötung<br />

eines unscheinbaren und vergleichswei<br />

se wenig bekannten Torhüters als<br />

kollek tives emotionales Großereignis<br />

ze lebriert wie andernorts und zu an -<br />

de rer Zeit der im Kampf gefallene «unbekannte<br />

Soldat». Was zuweilen als<br />

«Land nahme» bezeichnet wird, ist deshalb<br />

eher eine milde «Landgabe».<br />

Doch schauen wir uns die Vorwürfe<br />

der Spiegelfechter noch einmal ge nau -<br />

er an: Im ehemals christlichen Westen<br />

folgten nach der Aufklärung Kommunismus,<br />

Nationalsozialismus und Sozi<br />

al demokratismus – und in der Fol -<br />

ge dieser Ideologien das inflationäre<br />

Papiergeldsystem sowie Abermil lionen<br />

Ermordete und Beraubte. Wo finden<br />

wir mit dem Gulag, dem «großen<br />

Sprung nach vorn» und dem Holocaust<br />

auch nur entfernt Vergleichbares im<br />

«unaufgeklärten moslemischen Kulturraum»?<br />

Die schlimmsten Verbrechen,<br />

die gegen die Armenier, wurden<br />

auch dort ausgerechnet von den «aufgeklärten»<br />

Jungtürken begangen, die<br />

sich an westlichen Modernisierern<br />

orientierten.<br />

Wessen Armeen<br />

stehen seit mehr als<br />

100 Jahren in<br />

wessen Kulturraum?<br />

damentalistischen wie US-ergebenen<br />

Saudis kostete etwa 400.000 Muslime<br />

das Leben. Die wenigen Terroristen unter<br />

mehr als einer Milliarde Muslimen<br />

haben finanziell, bildungsspezifisch<br />

und kulturell weit überdurchschnittlich<br />

häufigen Kontakt zu westlichen<br />

Gesellschaften im allgemeinen, zu deren<br />

Ideologien im besonderen und zu<br />

ihren Geheimdiensten im speziellen.<br />

Die gesamte Geschichte der RAF stellt<br />

sich 30 Jahre später von Kurras über<br />

Baader und Mahler bis Viett als in jedem<br />

Schritt beobachtet, wenn nicht gar<br />

inszeniert von diversen Geheimdiensten<br />

heraus. Was werden wir in 30 Jahren<br />

über den «islamistischen Terrorismus»<br />

erfahren, von dem bereits heute<br />

auffällig viele entsprechende Querver -<br />

bindungen bekannt sind?<br />

Und die Intoleranz? Die Sultane<br />

ließen im 15. und 16. Jahrhundert mehr<br />

als 10.000 aus Spanien vertriebene Juden<br />

in der heutigen Türkei siedeln. Das<br />

Osmanische Reich war wie jetzt noch<br />

das Russische ein Vielvölkerreich und<br />

im Vergleich zum «aufgeklärten 20.<br />

Jahrhundert» ausgesprochen tolerant<br />

gegenüber Minderheiten. Noch heute<br />

leben im Iran Juden und Christen weitgehend<br />

unbehelligt, sie praktizieren ih -<br />

re Religion in ihren Kirchen und Syna -<br />

Und was den aggressiven,<br />

kriegerischen und terroristischen Islam<br />

betrifft: Wessen Armeen stehen seit<br />

mehr als 100 Jahren in wessen Kulturraum?<br />

Wer finanzierte jahrzehntelang<br />

die fundamentalistischen Strömungen<br />

in Saudi-Arabien und in Afghanistan?<br />

Waren es Muslime oder Amerikaner?<br />

Die Machtergreifung der ebenso fungogen.<br />

Der Unterschied nur zu den<br />

Mus limen im Westen und die bes sere<br />

Erklärung für das wachsende Unbehagen<br />

an den «neuen Mitbürgern»<br />

hier: Die traditionellen Minderheiten<br />

leben und arbeiten auf eigene Kosten.<br />

Damit wir uns nicht falsch verstehen:<br />

Die Christenverfolgung in manchen<br />

islamischen Ländern bleibt ein<br />

Skandal, das Schweigen der westlichen<br />

Presse dazu nur ein weiterer Beleg für<br />

eine untergehende Ordnung. Die verbreitete<br />

Geringschätzung und Unterdrückung<br />

von Frauen im Islam ist eher<br />

noch verwerflicher als die moderne<br />

Männerverachtung im feministischen<br />

Westen. Und ja, Mohammed war im<br />

Ge gensatz zum friedliebenden Jesus<br />

ein Krieger. Da darf man werten. Und<br />

richtig, es gibt auch deshalb religiöse<br />

Unterschiede. Nur würden «die Musli<br />

me» dennoch nicht so furchteinflößend<br />

vor der vermeintlichen Machtübernahme<br />

stehen, wenn nicht der<br />

Wes ten selbst in jeder Beziehung vor<br />

dem Ende stünde.<br />

Sarrazin hat trotzdem Recht:<br />

Viele real existierende Einwanderer in<br />

Deutschland wie in der Schweiz – und<br />

mehr noch in Frankreich oder Belgien<br />

– sind ein großes Problem. Der Anteil<br />

des «Prekariats» unter den Türken und<br />

vor allem Arabern ist insbesondere in<br />

Berlin augenfällig höher als unter «Einheimischen».<br />

Doch das ist ein durch<br />

Einwanderungspolitik und Sozialstaat -<br />

lichkeit hervorgerufenes Übel, mit dem<br />

wir uns im folgenden ausführlicher<br />

beschäftigen wollen, weniger eines der<br />

Religion. Und es ist, soviel vorweg,<br />

auch nur ein Symptom des Zusammenbruchs,<br />

in etwa vergleichbar mit<br />

dem Zustand des Maschinenparks, der<br />

Straßen oder der verängstigten Menschen<br />

im Osteuropa des Jahres 1988.<br />

André F. Lichtschlag ist<br />

Herausgeber des Monats<br />

magazins eigentümlich<br />

frei. Seinem aktuellen<br />

Buch Feindbild Muslim.<br />

Schauplätze verfehlter<br />

Ein wanderungs- und Sozial<br />

politik (manuscriptum-Verkag,<br />

8.80 Euro)<br />

entnahmen wir den obigen<br />

leicht gekürzten Text.<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Titelthema<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

In der<br />

Sarrazin-Falle<br />

Der ehemalige Finanz<br />

senator blendet<br />

sein eigenes<br />

Fach gebiet – den<br />

Finanzsektor –<br />

aus. Dafür glaubt<br />

er, alles über den<br />

Islam zu wissen.<br />

Von A. Rieger und S. Wilms<br />

Deutschland schafft sich ab – schon der<br />

Titel ist eine gelungene Mar ketingmaß<br />

nahme. Auf beinahe 400 Seiten<br />

beschäftigt sich Thilo Sarrazin mit der<br />

Angst des «weißen Mannes» vor dem<br />

Untergang des Abendlandes. Die<br />

Fakten sind schnell erzählt: Unser<br />

Gemein wesen wird, nach Sicht des<br />

ehemaligen Berliner Finanzsenators,<br />

von bildungsfernen Schichten bedroht,<br />

eine Bevölkerungsgruppe die, so sein<br />

biopolitisches Bedrohungsszenario,<br />

zudem stetig wachse und eines Tages<br />

aus der bequemen «Sozialschaukel»<br />

aufstehen und das Land ins Chaos<br />

stürzen könnten. Neben der deutschen<br />

Unterschicht wird, so Sarrazin weiter,<br />

die Republik auch von revoltierenden<br />

Immigranten unterwandert. Schuld an<br />

dieser Misere habe «eine unhistorische,<br />

naive und opportunistische staatliche<br />

Migrationspolitik». Der europäische<br />

Nationalstaat, so könnte man<br />

die Lage zusammenfassen, stehe vor<br />

der Selbstauflösung.<br />

Seit Erscheinen dieses Buches<br />

wird in der Berliner Republik wenigstens<br />

mal wieder richtig gestritten. Das<br />

Buch, Carl Schmitt hätte seine Freude<br />

daran, gibt einige Steilvorlagen für<br />

neue Freund-Feind-Unterscheidungen,<br />

etabliert aber auch gleichzeitig eine<br />

machtvolle Dialektik zu Füßen des<br />

Establishments. Das funktioniert umso<br />

besser, als Sarrazin, wie noch zu zeigen<br />

ist, statt der Etikette «Ausländer» lieber<br />

den Begriff «Muslime» wählt. Der<br />

Volkszorn, auch dazu verhilft die<br />

Sarrazin-Debatte, wendet sich von den<br />

«bildungsfernen» Finanzjongleuren<br />

und Profiteuren und ihren Parallel gesellschaften<br />

ab und damit von den<br />

Eliten, die ja für den eigentlichen Abgrund<br />

dieses Jahrhunderts, die Folgen<br />

der aktuellen Finanzkrise, Mitverantwortung<br />

tragen. Die nicht gerade unwichtige<br />

Frage «Was ist ein Derivat?»<br />

können folglich bis heute nur ein paar<br />

Promille unserer Mitbürger beantworten,<br />

während fast jeder zu wissen<br />

glaubt, was im Koran steht. Dazu passt,<br />

dass Sarrazin bei seiner Selbstdarstellung<br />

einer deutschen «Beamtenkar ri -<br />

ere» seine ungeklärte Rolle bei den Berliner<br />

Finanzskandalen der letzten Jahre<br />

vergisst.<br />

Natürlich gibt die Person Sarrazins<br />

Vorlagen für einige Polemik. Gerade<br />

aus muslimischer Sicht liegen einige<br />

Vor aussetzungen vor, auf den vermeint<br />

lichen «Feind» und seine Truppen<br />

einzuschlagen. Peinlich wird es<br />

jedoch, wenn in Talkshows die meisten<br />

Muslime zugeben müssen, dass<br />

sie das Buch selbst nicht gelesen haben.<br />

Nur: Was, wenn gerade in dieser<br />

Ignoranz gegenüber den Inhalten<br />

die eigentliche Sarrazin-Falle für die<br />

Muslime liegt?<br />

Erlauben wir uns also für<br />

einen Moment den Luxus der Differenzierung<br />

(Das Motto: Wir Muslime<br />

sind nicht schon deswegen gut, weil er<br />

böse ist!). Zunächst muss man sportlich<br />

fair feststellen, dass Sarrazin natürlich<br />

ein unglaublicher Bestseller gelungen<br />

ist. Ob es uns gefällt oder nicht<br />

– seit dem Zweiten Weltkrieg hat kein<br />

anderes politisches Buch so einen Verkaufserfolg<br />

hingelegt. Punkt. Man wird<br />

einwenden dürfen, dass dies ohne die<br />

tatkräftige Unterstützung der Massen -<br />

medien kaum gelungen wäre, aber als<br />

Erklärungsmodell greift dies ein deutig<br />

zu kurz. Die Frage, «wie wir unser<br />

Land aufs Spiel setzen», scheint immer<br />

hin hunderttausende Leser zu<br />

beschäftigen. Deswegen muss man<br />

natür lich die Fragen, die dieser Ver -<br />

kaufs schlager aufwirft, durchaus ernst<br />

nehmen – nur so können auch Chancen<br />

genutzt werden.<br />

16<br />

17


<strong>COMPACT</strong><br />

Titelthema<br />

Gewünschtes Endziel «Integration»? Deutschunterricht in den Räumlichkeiten der Zentrale des türkischen Verbandes DITIB in Köln<br />

E i n z w e i t e r E i n w a n d gegen<br />

die Sarrazin-Abfertiger ist auch strategischer<br />

Natur: Ein Sarrazin in der<br />

SPD ist allemal besser, als ein Volkstribun<br />

ausserhalb der SPD, der gar<br />

den rechten Mob anzieht. Deswegen<br />

sind Forderungen nach einer Verurteilung<br />

Sarrazins oder seinem Ausschluss<br />

aus der Debatte tatsächlich<br />

wenig hilfreich.<br />

Darüber hinaus, bei allen berechtigten<br />

Vorbehalten: Sarrazin mag mit dem<br />

Feuer spielen – ein Rassist oder Rechtsradikaler<br />

ist das langjährige SPD-<br />

Mitglied allerdings beileibe nicht. In<br />

seiner öffentlichen Buchpräsentation<br />

in Potsdam bemerkte denn auch Sarra -<br />

zin selbst verwundert, dass die<br />

hunderte von Seiten, in der er die Deutschen<br />

selbst kritisiert habe, kaum polarisierten,<br />

seine Passagen über die Integration<br />

aber inzwischen eine heftige<br />

Kulturdebatte ausgelöst haben.<br />

Bevor man sich dem eigentlichen<br />

Buch annähert, sollte man also ruhig<br />

durchatmen und vielleicht den eigenen<br />

Blickwinkel auf das Werk kurz fest legen.<br />

Man wird nämlich als betroffene<br />

muslimische Minderheit deutlich weniger<br />

Probleme mit den Unterstellungen<br />

und auch den Binsen weis heiten<br />

des Buches (wer ist denn auch schon<br />

für Ali, den Schläger?) haben, wenn<br />

man sich kurz, sozusagen vor dem<br />

Einstieg in die Debatte, klar macht, was<br />

der Islam ist. Nur zur Erinnerung: Der<br />

Islam ist keine Kultur. Der Islam<br />

befördert keinen Nationalismus. Der<br />

Islam ist keine Ideologie. Der Islam ist<br />

kein System. Worauf man gegen<br />

ungerechtfertigte Pauschalisierungen<br />

aus der Sicht eines deutschen Muslim<br />

entschieden verweisen muss, ist die<br />

Plura lität unseres Glaubens. Angesichts<br />

weit über einer Milliarde Menschen<br />

weltweit findet man eine breite<br />

Auswahl von Überzeugungen und<br />

Lebens stilen: Es gibt zum Beispiel muslimische<br />

Heilige, muslimische Ausländer,<br />

muslimische Otto-Normal-Verbraucher<br />

und muslimische Kriminelle.<br />

Dieser Ansatz ist deswegen wichtig,<br />

um nicht in die Falle zu laufen, man<br />

mü sse nun als Muslim in einer Art<br />

«Soli da ri tätsverpflichtung» jeden aberwitzigen<br />

Irrweg irgendeiner muslimischen<br />

Grup pe vertreten oder gar ver -<br />

teidigen. Ergo, es mag muslimische<br />

Bankräuber geben, aber keinen islamischen<br />

Bankraub. Das ist die Linie,<br />

um die es zunächst geht.<br />

Sarrazin steht an diesem Punkt auf<br />

der anderen Seite. In den 76 Seiten, in<br />

denen er über Integration nachdenkt<br />

und insbesondere die Muslime ins Visier<br />

nimmt, behauptet er ja unter Anderem,<br />

dass der Islam selbst kulturell<br />

vom «Westen», seinem «Westen», verschieden<br />

sei, dass er Ideologie befördere<br />

und der Gewalt nahe stehe. Sätze<br />

wie «Millio nen muslimischer Frauen<br />

in unserer Mitte werden zur Beachtung<br />

von Kleidervorschriften gezwungen»<br />

artikulieren billige Polemik. So schreibt<br />

Sarrazin über die Muslime: «Tatsache<br />

ist, dass es sich um eine abgeschlossene<br />

Religion und Kultur handelt,<br />

deren Anhänger sich für das umgebende<br />

westliche Abendland kaum<br />

interessieren – es sei denn als Quelle<br />

materieller Leistungen.»<br />

Bevor wir einige konkrete<br />

Aussagen näher unter die Lupe nehmen,<br />

muss leider festgehalten werden:<br />

Wie alle Finanztechniker ist Thilo Sarra<br />

zin grundsätzlich blind gegenüber<br />

dem abgründigen Beitrag des ent fesselten<br />

Kapitalismus, der ganzheitliche<br />

und religiöse Maßstäbe annimmt und<br />

heute im globalen Maßstab zur Entwick<br />

lung, besser gesagt zur Degenerierung<br />

von Kultur, Familie und all den<br />

Werten, die er vorgibt zu verteidigen,<br />

beiträgt. Ernst Jünger hat dies einmal<br />

die «große Weißung» genannt. Sarrazin<br />

selbst wird nicht zufällig zur Ikone<br />

in einem bekannten deutschen Leitmedium,<br />

das sich aus Verkaufsgründen<br />

neben Politik in aller Kürze und<br />

(dem natürlich besten) Sportteil eben<br />

auch alltäglich der «Ausbildung», also<br />

Verblödung und Verrohung einer ganzen<br />

Unterschicht, widmet.<br />

Damit Sarrazin die unsinnige<br />

These von der kulturellen Unvereinbar<br />

keit des Islams mit dem «Westen»<br />

grundsätzlich durchhalten kann, muss<br />

er, wie viele Autoren vor ihm, die euro -<br />

päisch-bosnischen Muslime (die friedfertigen<br />

Opfer des letzten Religionskrieges<br />

Europas) genauso ver schweigen<br />

wie die neuen Generationen deutscher<br />

Muslime (die er polemisch nur als<br />

potenzielle Gewalttäter fassen kann).<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Titelthema<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Hier herrscht die Art von Ignoranz, die<br />

Sarrazin auch behaupten lässt, kora nische<br />

Suren rechtfertigten den Terrorismus<br />

– natürlich in völliger Unkennt -<br />

nis tausender Schriften muslimischer<br />

Juristen aller Epochen zu diesem<br />

Thema.<br />

Intellektuell schwach aufgestellt<br />

ist das Buch insbesondere bei der Analy<br />

se der größten muslimischen Min -<br />

der heit in Deutschland, den Türken.<br />

Dies mag auch daran liegen, dass der<br />

Autor beinahe ausschließlich eine<br />

einzige Autorin als Quelle für seine<br />

Türkei expertise heranzieht. So unterschlägt<br />

Sarrazin, dass der Vorwurf der<br />

Bildungsferne vieler Türken natürlich<br />

auch für ihre islamische Bildung gilt!<br />

Das ist kein großes Wunder, ist doch<br />

der größte Teil des geistig-muslimischen<br />

Erbes der Türkei, in Form hunderttausender<br />

Bücher, in einer Sprache<br />

– der osmanischen – geschrieben, welche<br />

die Türken heute gar nicht mehr<br />

beherrschen. Die Türkei ist in den letzten<br />

Jahrzehnten geistig nicht nur durch<br />

den Islam, sondern auch durch einen<br />

bürgerlichen Säkularismus in der Tra -<br />

dition Atatürks, der übrigens auch ide -<br />

ologische und militante Formen an -<br />

nimmt, durch Nationalismus und<br />

Ka pi talismus geprägt worden.<br />

Eine große Zahl türkischer Immigranten<br />

und auch türkischer Verbände<br />

spiegeln heute diese Mischformen wieder.<br />

Wie kommt Sarrazin nur darauf,<br />

dass einzig und per se der Islam an<br />

allen nega tiven Phänomenen muslimischer<br />

Einwanderung schuld sein<br />

soll? Eine inte ressante Nebenfrage<br />

wäre in diesem Zusammenhang, warum<br />

eigentlich unser Wertebündnis<br />

NATO mit einer Mitgliedschaft der<br />

Türkei nie das geringste Problem hatte.<br />

Wie konnte das sein, wenn die Werte<br />

in jenem Land so unver einbar mit<br />

denen des Westens sind, wie Sarrazin<br />

behauptet?<br />

Große Debatten und Ereignisse<br />

sollte man auch unter dem Blickwinkel<br />

der Bedeutung und einer nötigen<br />

Selbstkritik sehen. Natürlich haben<br />

Mus lime – und damit sind nicht nur<br />

die orientierungslosen Ghettokinder<br />

Neu köllns gemeint – selbst auch beige<br />

tragen zu der heute so verbreiteten<br />

mangelnden Unterscheidung zwischen<br />

der Alltagsrealität der Muslime und<br />

dem Islam. Die türkischen Verbände,<br />

nicht wirklich multikulturell verfasst,<br />

hin- und hergerissen zwischen Beflaggung,<br />

ethnischen Trennlinien und re -<br />

li giöser Verantwortung, müssen sich<br />

zum Beispiel schon innerislamisch un -<br />

be queme Fragen gefallen lassen.<br />

Warum verweigern sie selbst den<br />

«Will kommensgruß», den sie von der<br />

Mehrheitsgesellschaft fordern, den<br />

nicht- türkischen Muslimen? Welcher<br />

türkische Verband hat – wie es der Islam<br />

eigentlich fordert – aktiv andere Ethni<br />

en im Lande zur Mitgliedschaft ein -<br />

ge laden? Will man an diesen Trenn linien<br />

allen Ernstes dauerhaft fest halten?<br />

Fürchtet man ohne die ethnische Differenzierung,<br />

vielleicht auch mangels<br />

eines gemeinnützigen, offenen Pro -<br />

gramms, eine Identitätskrise?<br />

Es hilft kein Schwarz-Weiß<br />

bei der Integrationspolitik. Wir stimmen,<br />

schon als Macher einer deutschsprachigen<br />

Zeitung, Sarrazin zu, dass<br />

in muslimischen Kreisen, um mal das<br />

Klavier anders anzufassen, tatsächlich<br />

zu wenig gelesen und zu viel fern gesehen<br />

wird. Wir finden auch, dass man<br />

an dem Ort, an dem man ehrlich lebt,<br />

auch kulturell ankommen muss. Wir<br />

denken nicht, dass eine einheimische<br />

muslimische Identität in abgeschot teten<br />

Gewerbegebieten angesiedelt werden<br />

kann.<br />

Irrationale Finanzmärkte: Hier erwiesen sich Deutschlands Eliten als bildungsfern<br />

Wir würden auch gerne sehen,<br />

dass mehr Deutsche den Islam als<br />

alter native Inspiration zu dem ökonomisch-technischen<br />

Weltbild Herrn<br />

Sarrazins und seinem Ideal, bis hin zur<br />

Züchtung ökonomisch nutzbaren<br />

Lebens, begrei fen würden. Bekennen,<br />

Fasten, Pilgern, Beten und die Zakat –<br />

die religiös verpflichtende Reichensteuer<br />

für die Bedürftigen – sind faszi<br />

nierende Stolpersteine jenseits einer<br />

allein öko nomisch durchplanten Zukunft.<br />

Die Zweifel an diesem ökonomischen<br />

Modell wachsen ohnehin bei<br />

allen denkenden Menschen. Warum<br />

nicht zu hören, was der Islam dazu zu<br />

sagen hat?<br />

Andreas Rieger ist Herausgeber, Sulaiman Wilms<br />

Chefredakteur der Islamischen Zeitung.<br />

18<br />

19


<strong>COMPACT</strong><br />

Titelthema<br />

«Thilo Sarrazin ist ein Rassist» (Dagmar Enkelmann, Linkspartei, über<br />

die parteiübergreifende Position von Rot-Rot-Grün). Doch es gibt auch<br />

Linke, die die Hexenjagd nicht mitmachen. Drei Beispiele.<br />

Die Sarrazin-Linke<br />

EIN LEIDENSCHAFTLICHER<br />

SOZIALDEMOKRAT<br />

Von Hans Ulrich Wehler<br />

Zweifellos finden sich in Thilo Sarrazins<br />

Buch nicht gerade wenige strittige The -<br />

sen oder steile Interpretationsver suche,<br />

die Widerspruch und Auseinandersetzung<br />

verlangen. Da ich von Genetik<br />

überhaupt keine ernsthaft belastbaren<br />

Kenntnisse besitze, würde ich<br />

mich nie auf Befunde verlassen, die<br />

man sich als Laie aus dieser Wissenschaft<br />

borgen kann, ohne sie selbstständig<br />

kontrollieren zu können. Das<br />

wird auf die allermeisten Leser ebenfalls<br />

zutreffen. Für eine stringente Argumentation,<br />

wie sie auch Sarrazin<br />

verlangt, reicht es meines Erachtens<br />

völlig aus, sich auf den Einfluss soziokultureller<br />

und politischer Faktoren<br />

zu stützen.<br />

Gerade die deutschen Reform -<br />

universitäten mit ihrer unabweisbaren<br />

regionalen Anziehungskraft haben<br />

doch seit den siebziger Jahren bewiesen,<br />

dass zahlreiche Talente aus dem<br />

riesigen Pool großer Familien, in denen<br />

bisher nicht studiert worden war,<br />

herausgezogen und an die Spitze befördert<br />

werden konnten.<br />

Kein Mensch weiß, welche Rolle vererbte<br />

Intelligenz dabei gespielt hat, das<br />

neue bildungspolitische Förderungsangebot<br />

gab offenbar den Ausschlag.<br />

Hätte Sarrazin, anfangs ein vielversprechender<br />

Wirtschaftshistoriker, solche<br />

Erfahrungen an Universitäten selber<br />

machen können, anstatt in seinem<br />

Berufsleben als hochkarätiger Verwaltungsfachmann<br />

in der abgeschotteten<br />

Welt der hohen Bürokratie zu verbrin -<br />

gen, hätte er das Intelligenz- und Aufstiegsproblem<br />

vermutlich elastischer<br />

beurteilt.<br />

Und dennoch: Allein mit der<br />

Kritik an echten und vermeintlichen<br />

Schwach punkten von Sarrazins Buch<br />

ist es offensichtlich nicht getan. Die intensive<br />

Massenresonanz verdankt sich<br />

nämlich nicht an erster Stelle der Faszination<br />

für Erbbiologie und Intelligenzforschung,<br />

auch wenn Sarrazins<br />

Zuneigung deren angeblich ehernen<br />

Daten gehört.<br />

Vielmehr speichert das Buch mehrere<br />

wichtige Probleme. Eine unbefan -<br />

gene, wohl beratene, kluge Diskus sion<br />

hätte sich längst auf solche lohnenden<br />

Kritikpunkte konzentriert. Warum<br />

wird das Kapitel über soziale Ungleich -<br />

heit (47 Seiten) nicht von allen Parteien<br />

endlich freimütig diskutiert? Warum<br />

wird das Kapitel über Bildungspolitik<br />

(67 Seiten) nicht erörtert? Warum<br />

wird das Kapitel über die demografische<br />

Entwicklung (60 Seiten), über die<br />

sich Biedenkopf, Miegel, Birg und andere<br />

Bevölkerungswissenschaft ler seit Jahrzehnten<br />

die Finger vergeblich wund<br />

schreiben, nicht endlich auf die Diskussionsagenda<br />

gesetzt? Provozierend<br />

genug sind Sarrazins Befunde doch allemal<br />

formuliert. Das Zuwanderungskapitel<br />

(75 Seiten), in dem intellektuell<br />

und emotional die schärfste Kritik,<br />

der brisanteste Sprengstoff stecken,<br />

braucht sich nicht um mehr Aufmerksamkeit<br />

zu bemühen.<br />

Offenbar hat Sarrazin insofern ins<br />

Schwarze getroffen, als er weit verbreitete<br />

Befürchtungen zugespitzt artikuliert<br />

und damit einen verblüffenden<br />

Widerhall ausgelöst hat. Auch hier<br />

gilt, dass nicht wenige Argumente<br />

hieb- und stichfest formuliert und die<br />

statistischen Befunde schwer zu widerlegen<br />

sind. Jahrzehntelang hat die<br />

deutsche Einwanderungspolitik nicht<br />

auf Qualifikation, Sprachkenntnisse,<br />

Integrationswilligkeit geachtet, ganz<br />

im Gegensatz zu klassischen Einwanderungsländern<br />

wie den Vereinigten<br />

Staaten, Kanada, Australien. Millionen<br />

wurden ohne Abwägung der sozialen<br />

Kosten gemäß der Maxime «Privatisierung<br />

der Gewinne» importiert.<br />

Jetzt steht unabweisbar die<br />

«Sozialisierung der Verluste» an, die<br />

nur in Milliardenhöhe kalkuliert werden<br />

können. Anstatt die Zuwanderungsprobleme<br />

endlich ohne Scheu zu<br />

diskutieren, verstecken sich bisher die<br />

meisten Kritiker hinter der hohen<br />

Mauer ihrer Einwände gegen Sarrazins<br />

Rückgriff auf die Erbbiologie. Wer hat<br />

schon seine Sorgen im Hinblick auf die<br />

Zukunft der deutschen Gesellschaft bereitwillig<br />

anerkannt, wer für Sarrazins<br />

Kritik an schwerwiegenden Versäumnissen<br />

Verständnis geäußert, wer die<br />

Lesefreudigkeit eines Bildungsbürgers<br />

geschätzt, wer das Reformplädoyer eines<br />

geradezu leidenschaftlichen Sozialdemokraten<br />

gewürdigt?<br />

Hans Ulrich Wehler (geb. 1931) gehört zu den<br />

führenden deutschen Geschichtswissenschaftlern.<br />

Im «Historikerstreit» Mitte der achtziger Jahre wies<br />

er zusammen mit Jürgen Habermas die NS-relativierenden<br />

Thesen von Ernst Nolte zurück. Wehler<br />

hat zum Thema Sarrazin einen längeren Beitrag in<br />

der Wochenzeitung Die Zeit vom 7. Oktober <strong>2010</strong><br />

veröffentlicht.<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Titelthema<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

CHANCE DER LINKEN<br />

Von Rolf Stolz<br />

Nur Tote machen keine Fehler. Der<br />

Satz gilt auch für Sozialdemokraten<br />

und für Thilo Sarrazin. Im übrigen ändern<br />

einzelne inhaltliche Fragwürdigkeiten<br />

und dankbar ausgenutzte<br />

taktische Fehler (das «Juden-Gen»)<br />

nichts am Kern der Dinge: Hier sollen,<br />

indem ein unbequemer Denker<br />

und Mahner mundtot gemacht wird,<br />

alle überhaupt und ähnlich Denkenden<br />

auf Dauer zum Schweigen gebracht<br />

werden.<br />

Eine Große Koalition – vom kleinbis<br />

großbourgeoisen Medienmob bis<br />

zu von den Profiteuren des Arbeiterimports<br />

und der nach Steuergeld gierenden<br />

Sozial- und Konsumindustrie<br />

ruft in einer nun wahrhaft faschistoiden<br />

Weise zu Niederbrüllen und<br />

Boykott auf, verweigert freie und faire<br />

Diskussion. Die Anti-Sarrazin-Fronde<br />

weiß, wie sehr er recht hat und wie<br />

sehr sie vom Leben widerlegt wird.<br />

Eine Kanzlerin, die das üble<br />

neoliberale Multi-Kulti-Spiel mitgespielt<br />

hat (unter dem Motto «Deutschland<br />

muss sterben, und wenn wir<br />

selbst mit untergehen») erklärt nun<br />

Multi-Kulti für tot und damit ihre zielund<br />

aussichtslose Zuwanderungs politik<br />

für gescheitert.<br />

Die Linke hat eine Chance (vielleicht<br />

ihre letzte), ihre Irrwege und ihre triste<br />

Gegenwart zu überwinden: Im Zusammengehen<br />

aller, die den Sieg eines<br />

basisdemokratischen Volkswiderstands<br />

auf allen Ebenen und eine<br />

allseitige Erneuerung von Politik und<br />

Kultur wollen – und ein einiges neues<br />

Deutschland der alten und neuen<br />

Deutschen, der Ureinwohner und der<br />

Assimilierten.<br />

Rolf Stolz – Buchautor und Publizist – war 1980<br />

Mitbegründer der Grünen und kurzzeitig in deren<br />

Bundesvorstand. Bis heute ist er Mitglied im<br />

Kreisverband Köln.<br />

SOZIALISTISCHER<br />

DISKURS<br />

Von Stephan Steins<br />

Foto: Harry Walter/FES<br />

Krieg ist Frieden, Totalüberwachung<br />

ist Freiheit, Hartz IV ist Menschenwürde.<br />

Zu diesem Muster kapitalistischer<br />

Propaganda und Desinformation<br />

hat sich eine weitere begriffliche Perversion<br />

gesellt: Imperiale Diktatur ist<br />

proletarischer Internationalismus.<br />

Was aus sozialistischer Perspektive<br />

an der so genannten Sarrazin-Debatte<br />

auffällt, ist die neue Einheitsfront aus<br />

bürgerlichen Systemparteien und vermeintlichen<br />

«Linken».<br />

Die der stalinistischen und «realsozialistischen»<br />

Tradition entstammende<br />

SED/PDS/Linke steht einmal mehr<br />

fest an der Seite des Mainstream, wenn<br />

es darum geht von einem sachlichen<br />

Diskurs in der Sache selbst abzulenken<br />

und Zusammenhänge in der imperialen,<br />

auch als «Globalisierung» bekannten,<br />

internationalen Entwicklung<br />

zu verschleiern.<br />

Die Migrationsströme nach<br />

Deutschland und Europa bilden für die<br />

transnational strukturierte herrschende<br />

Klasse einen Hebel (nicht den einzigen)<br />

im Bestreben der Desintegration<br />

der republikanischen Nationalstaaten<br />

und Kulturnationen.<br />

Dies wird zunehmend als reale<br />

Bedrohung wahr genommen. Doch<br />

richtet sich der wachsende Widerstand<br />

gegen diese Entwicklung nicht GEGEN<br />

Menschen aus anderen Kulturkreisen<br />

oder fremder Religionen, sondern vielmehr<br />

artikuliert sich ein erwachendes<br />

Selbstbewusstsein FÜR ein kulturelles<br />

Selbstbestimmungsrecht und nationale<br />

Souveränität.<br />

Als die SPD noch mit<br />

nationalen Themen<br />

warb: Wahlplakat<br />

aus dem Bundestagswahlkampf<br />

1972<br />

Der sozialistische Diskurs<br />

hat die Aufgabe, eine umfassende wie<br />

fundierte Kritik zu formulieren und in<br />

rationale Bahnen zu lenken. Denkverbote<br />

und soziale Repression im Dienste<br />

der imperialen Oligarchie ist unsere<br />

Sache nicht.<br />

Stephan Steins ist Philosoph, Publizist und<br />

Herausgeber der Roten Fahne.<br />

20<br />

21


<strong>COMPACT</strong><br />

Titelthema<br />

Von Christentum, Abendland und anderen konservativen Werten<br />

hält er nichts: Geert Wilders ist der starke Mann hinter der<br />

niederländischen Regierung und will nun auch Deutschland erobern.<br />

Israels Mann in Europa<br />

Von Andrea Ricci<br />

Zickenkrieg in Europa: Die deutsche<br />

Bun deskanzlerin Angela Merkel (CDU)<br />

ist sauer. Und zwar auf den nieder ländischen<br />

Politrambo und so genannten<br />

Rechtspopulisten Geert Wilders – derzeit<br />

das Schmuddelkind Nr. 1 auf der<br />

europäischen Politbühne. Wilders hat<br />

Merkel gelobt, da sie öffentlich Multikulti<br />

als gescheitert bezeichnet hatte.<br />

Nun verwahrt sich die Kanzlerin<br />

gegen das Lob aus «dieser Ecke» und<br />

lässt ihren Regierungssprecher Steffen<br />

Seibert erklären: «Man wird die Kanzlerin<br />

nicht als Islamkritikerin interpretieren<br />

können, weil sie natürlich<br />

vor einer wichtigen Weltreligion Respekt<br />

hat.»<br />

Wilders sorgt für Furore –<br />

wenn er in Amsterdam bellt, wackeln<br />

in Berlin offensichtlich die Wände. Er<br />

steht für einen schier beispiellosen Erfolg<br />

rechtspopulistischer Bewegungen<br />

in Europa. Die Massenmedien geißeln<br />

die «einfachen Botschaften», mit denen<br />

die Populisten «komplexe Fragen»<br />

beantworteten. Gemeint sind Parteien<br />

wie die österreichische FPÖ, der flä mische<br />

Vlaams Belang oder eben die nieder<br />

ländische Wilders-Partei PVV. Während<br />

diese von Erfolg zu Erfolg eilen,<br />

Für Schwulenrechte<br />

und Feminismus –<br />

Wilders steht exemplarisch<br />

für eine<br />

Transformation der<br />

Rechten in Europa<br />

scheint in Deutschland in diesem<br />

Bereich noch gähnende Lehre zu<br />

herrschen. Das würden die Rechtspopulisten<br />

aus den Nachbarländern<br />

gerne ändern: FPÖ und Vlaams Belang<br />

unter stützen massiv die «Pro-Bewegung»,<br />

Wilders dagegen die Freiheits-<br />

Partei des Berliner CDU-Renegaten<br />

René Stadtkewitz.<br />

Vor allem linksgestrickte Analysten<br />

sehen in Wilders und in seiner Unterstützungsarbeit<br />

für Stadtkewitz eine<br />

neue rechte Gefahr aufdämmern. Wilders<br />

scharf formulierte antiislamische<br />

Thesen, sein Hang zum Polarisieren,<br />

seine Gestik – ein «Führertypus», bei<br />

dem vor allem linksintellektuellen<br />

Bedenkenträgern die Knie schlottern.<br />

Silvion Duve, Schreiber bei heise-online,<br />

erkennt bei Wilders den «altbekannten<br />

Nationalismus, der in eine neue Form<br />

gegossen, für weite Bevölkerungsschichten<br />

leichter konsumierbar ist als<br />

der abgestumpfte Nationalismus aus<br />

der Schmuddelecke». Der Grund: Wilders<br />

hat die Deutschen aufgefordert,<br />

nicht «Fremde im eigenen Land» zu<br />

werden, ihre nationale Identität zu<br />

wertschätzen und zu bewahren. Mit<br />

solchen Einschätzungen wie der Duves<br />

erntet man zwar Applaus bei besorgten<br />

linken Lesern – doch stimmt das<br />

wirklich? Ist Wilders ein gefährlicher<br />

Alles andere als nur ein enfant terrible: Der Niederländer Geert Wilders lässt sich europaweit feiern<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Titelthema<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Rechter, ein Nationalist? Bereitet er den<br />

Boden für einen ultrarechten Rollback<br />

in Europa vor?<br />

Eines scheint klar: Geert Wilders<br />

steht exemplarisch für eine Trans formation<br />

der Rechten in Europa – auch<br />

in der Bundesrepublik. Das, was man<br />

frü her in jenen Kreisen solide als<br />

«Überfremdung» bezeichnet hat, trägt<br />

heute den flotteren Namen «Isla misierung».<br />

Man übt keine Kritik mehr an<br />

der massenhaften Einwanderung, son -<br />

dern gibt sich – ganz aufgeklärt – als<br />

besorgte Religionskritiker. Dieser<br />

Trend reicht bis weit in die Mitte.<br />

Das führt zu geradezu bizarren poli<br />

tischen Aussagen: Etwa dann, wenn<br />

sich CSU-Stammtische über die Homo -<br />

sexuellenverfolgung in islamischen<br />

Ländern Sorgen machen oder christso<br />

ziale Politiker plötzlich den Feminis -<br />

mus für sich entdeckt haben, wenn es<br />

gegen das islamische Kopftuch geht.<br />

Schwulenrechte und Feminismus sind<br />

moderne liberale Stecken pferde, für<br />

die sich normalerweise katholische<br />

Bischöfe genauso wenig begeistern<br />

können wie muslimische Imame.<br />

Auch Wilders spielt massiv auf dieser<br />

postmodernen Klaviatur, wenn es gegen<br />

den Islam geht. Gegen den Islam<br />

– wie er selbst stets betont, nicht gegen<br />

die Einwanderer. Er verteidigt das, was<br />

er «christlich-jüdisches Erbe» nennt –<br />

eine Formulierung, die längst auch in<br />

den bundesrepublikanischen Alltag<br />

eingezogen ist. Inwiefern der Chris topher<br />

Street Day und Frauenqoute sich<br />

aus dem christlich-jüdischen Erbe ablei<br />

ten lassen, sei einmal dahingestellt.<br />

Wilders’ Freunde in England? Der Mob bekundet sein Verständnis von Israelsolidarität<br />

Dieser pro-zionistische<br />

Kurs des<br />

Niederländers wirkt<br />

auch auf viele<br />

deutsche Rechte<br />

sexy.<br />

mist würde sich gegen eine solche<br />

Gleichsetzung verwahren.<br />

Es sind nicht selten Ansichten,<br />

die aus Wilders Mund kommen, die<br />

man früher – in den 1990er Jahren – bei<br />

den so genannten «Antideutschen»<br />

fand: Bedingungslose Unterstützung<br />

für die USA bei ihren Raubzügen in<br />

der islamischen Welt, beim Irakkrieg,<br />

beim NATO-Krieg gegen Serbien.<br />

Auch die Parteinahme für Israel gehört<br />

zu diesem Repertoire: Der zionistische<br />

Staat gilt als Bollwerk der Moderne,<br />

der Demokratie in einem Meer von<br />

«Islamofaschisten». Und auch der Iran<br />

steht auf der Abschussliste jener Fortschrittsfalken,<br />

da er Israel bedrohe und<br />

von einer «faschistoiden Mullahdikta-<br />

Wilders politische Inhalte<br />

haben allesamt sehr wenig mit dem zu<br />

tun, was man gemeinhin als «rechts»<br />

bezeichnet. Die meisten inhaltlichen<br />

Schnittmengen dürfte der Holländer<br />

wohl eher mit den so genannten<br />

«linken Falken» der USA haben – also<br />

mit jenen Linksintellektuellen Washingtons,<br />

die US-Militäreinsätze vor<br />

allem gegen islamische Länder deshalb<br />

unterstützen, weil sie sich dadurch eine<br />

rasche Verbreitung postmoderner<br />

Demo kratievorstellungen erhoffen. Zu<br />

nennen wäre hier beispielsweise der<br />

US-Schriftsteller Paul Berman, der in<br />

seinem Buch Terror und Liberalismus<br />

tatsächlich meint, die US-Truppen in<br />

Afghanistan würden für die Frauenrechte<br />

kämpfen. Auch der von der<br />

Bush-Administration erfundene T ermi<br />

nus «Islamofaschismus» – also die<br />

Herstellung einer reichlich schrägen<br />

Verknüpfung aus Faschismus und<br />

Islam – dient dieser Sache.<br />

Kein Wunder, dass auch ein Geert<br />

Wilders be haup tet hat, der Koran sei<br />

mit Hitlers Mein Kampf wesens verwandt<br />

und müsse ebenso verboten<br />

werden. Ein überzeugter Rechtsextretur»<br />

beherrscht werde.<br />

Da mag es kaum verwundern, dass<br />

Wilders nicht nur bei den deutschen<br />

Rechten Fans hat, sondern auch in<br />

Tel Aviv und Jerusalem. Die Jerusalem<br />

Post (JP) lässt kaum eine Gelegenheit<br />

aus, den Israel-Parteigänger im fernen<br />

Amsterdam zu loben. So berichtet JP-<br />

Autor David Horowitz verzückt über<br />

Wilders verbale Unterstützung für<br />

Israels Kampf gegen die Palästinenser.<br />

«Ihr kämpft unseren Kampf!», hatte<br />

Wilders in Richtung Tel Aviv gerufen<br />

und gleichzeitig noch ein paar wertvolle<br />

Tipps und Ratschläge gegeben:<br />

So werde es keinen Frieden geben,<br />

wenn sich Israel und die Palästinenser<br />

auf eine Zwei-Staaten-Lösung einigten,<br />

glaubt Wilders zu wissen. Zudem<br />

gebe es ja bereits einen palästinen sischen<br />

Staat – Jordanien. Seinen anti -<br />

islamischen Hetzfilm Fitna, der vor<br />

zwei Jahren in ganz Europa für Furore<br />

sorgte, durfte Wilders gar in Jerusalem<br />

zeigen.<br />

Dieser pro-zionistische Kurs<br />

des Niederländers wirkt auch auf viele<br />

deutsche Rechte sexy – und lässt sie<br />

in das antideutsche Fahrwasser schlittern,<br />

ohne dass sie es selbst bemerken.<br />

Selbst die aus der deutschen Hardcore-<br />

Rechten kommende, nun auf schnittigbürgerlich<br />

gebügelte Bürgerbewegung<br />

Pro Köln schwenkt auf ihren Veranstaltung<br />

Israel-Fahnen, der Terminus<br />

«Islamofaschismus» gehört zu ihrem<br />

festen Wortschatz. Und im islamfeind -<br />

lichen Internetforum Politically Incorrect<br />

scheint kein Tag zu vergehen, an<br />

dem nicht irgendein Kommentator auf<br />

die Kooperation zwischen Adolf Hitler<br />

und dem Großmufti von Jerusalem<br />

22<br />

23


<strong>COMPACT</strong><br />

Titelthema<br />

Moham med Amin Al-Husseini hinweist.<br />

Paul Berman hätte an dieser anti faschistisch-antiislamischen<br />

Schlaumeierei<br />

sicherlich seine helle Freude.<br />

Bei Pro Köln geht man sogar so<br />

weit, das deutsche Kaiserreich für die<br />

freund liche Politik gegenüber dem<br />

Osmanischen Reich zu verurteilen – in<br />

einer Zeit, lange vor dem Holocaust,<br />

als Juden im gesamten arabischen<br />

Raum im Gegen satz zu den meisten<br />

europäischen Ländern sicher leben<br />

konnten. De Rede ist sogar von einer<br />

«gespenstischen Komp lizenschaft zwischen<br />

der deutschen Reichs regierung<br />

mit dem Weltbeherrschungs anspruch<br />

des Islam» – schöner hätte es auch die<br />

antideutsche Linkspos tille Bahamas<br />

nicht sagen können.<br />

Wilders Draht ins Heilige Land ist<br />

aber keineswegs neu. Bereits als junger<br />

Student war er in Israel, wo er in<br />

einem Moschaw – also einem zionistischen<br />

Sied lungsprojekt – mitarbeitete.<br />

Diese Sied lungen sind den Kibbuzim-<br />

Siedlungen nicht unähnlich. Beide<br />

stehen exemplarisch für die völkerrechtswidri<br />

ge Landnahme des zionistischen<br />

Staa tes in Palästina.<br />

Geert Wilders ist jedenfalls in<br />

den Niederlanden auf Erfolgskurs.<br />

Wenn sich ausländische Beobachter<br />

heute fragen, wie das «Land der To leranz»<br />

denn einen solchen «Rechtsruck»<br />

nur aushalte, dann schauen sie nicht<br />

genau hin. Denn Wilders will keineswegs<br />

«zurück» in eine traditionelle,<br />

vul go «rechte» Gesellschaft. Im Ge -<br />

genteil, er steht für einen Abwehrkampf<br />

der postmodernen<br />

Blüten Hollands –<br />

eines Hollands, in<br />

dem Pros titution<br />

und Homosexualität<br />

als eine Art landestypische<br />

Liberalität<br />

b e t r a c h t e t<br />

werden. Und damit<br />

ist Wilders nicht der<br />

Erste. Auch der im<br />

Jahr 2002 ermordete<br />

Populist Pim<br />

Fortuyn, der sich gegen eine angebliche<br />

«Islamisierung» stark machte und<br />

Erfolge bei Wahlen feierte, war alles<br />

andere als ein Rechter. Er besuche lieber<br />

den Darkroom als eine Kirche, bemerkte<br />

der bekennende homosexuelle<br />

Paradiesvogel einmal. Er war zudem<br />

erklärter Re publikaner und Mitglied<br />

der Republikeins Genootschap, eines Vereins<br />

zur Abschaf fung der Monarchie<br />

in den Niederlanden.<br />

Wilders steht für<br />

ein Holland, in dem<br />

Prostitution und<br />

Homosexualität als<br />

eine Art landestypischer<br />

Liberalität<br />

betrachtet werden<br />

Zwei muslimische Passantinnen in Amsterdam<br />

«islamofaschistischen» Großangriff<br />

verteidigen.<br />

Werden nun alle Neocons und linke<br />

Falken, wie Wilders? Ein René Stadtkewitz<br />

wird sich überlegen müssen, ob er<br />

mit pro-israelischen Positionen wie<br />

denen von Wilders an den Start gehen<br />

möchte. Denn er wird nur reale Chancen<br />

haben, wenn er die Sorgen und<br />

Nöte der Bürger in Berlin offensiv<br />

angeht. Und diese<br />

drehen sich nun<br />

einmal um Dinge<br />

wie Einwan derung<br />

ins Sozialsystem,<br />

Gewalt und Verwahr<br />

losung in Bezirken<br />

wie Berlin-<br />

Neukölln und um<br />

das Gefühl der<br />

Fremdheit im eigenen<br />

Land. Mit<br />

einer Solida ri täts -<br />

botschaft in Richtung Tel Aviv wird er<br />

keinen Blumentopf gewinnen können.<br />

Dafür dürfte allerdings Angela Merkel<br />

vielleicht bald bemerken, dass Wilders<br />

doch nicht der schlimme rechte «Badboy»<br />

ist – immerhin liegen sie außenpolitisch<br />

auf einer Linie. Vielleicht darf<br />

er sich bei seinem nächsten Berlin besuch<br />

in das Goldene Buch der Stadt<br />

eintragen.<br />

Was geschieht also mit der deut -<br />

schen Rechten in Wilders Windschatten?<br />

Schwer zu sagen. Doch längst ha -<br />

ben die hemmungslosen Bekenntnisse<br />

zu Israel, zu einem Angriffs krieg auf<br />

den Iran, zum gemeinsamen «chris t -<br />

lich-jüdischen» Erbe und zu allerhand<br />

postmodernem Firlefanz nichts mehr<br />

mit purer Taktiererei zu tun.<br />

Mitt lerweile glauben selbst frühere<br />

NPD- Kader, man müsse die «libe ralen<br />

Werte der Aufklärung» gegen einen<br />

Andrea Ricci ist Buch autor<br />

und lebt in Beirut. Zuletzt<br />

erschien sein Buch GAZA<br />

– Die Kriegsverbrechen<br />

Israels in der <strong>COMPACT</strong>-<br />

Buchreihe (vgl. Heftinnenteil<br />

S. A4)<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Titelthema<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

«Warum keine<br />

Extratouren mit China?»<br />

Die eurasische Perspektive, die Rolle des Islam, das Verhältnis<br />

EU-Türkei – geopolitischer Parforceritt mit Peter Scholl- Latour,<br />

einem deutschen Gaullisten und Kriegsreporter aus Passion.<br />

Interview: Jürgen Elsässer<br />

Im europäischen Einigungsprozess<br />

knirscht es, viele fürchten eine Blockade.<br />

Woran liegt es?<br />

Die EU ist mit 27 Mitgliedstaaten zu<br />

groß geworden. Auch 17 Mitglieder in<br />

der Euro-Zone sind zu viel. Es war ein<br />

Wahnsinn, so schnell so viele Länder<br />

in die Währungsgemeinschaft aufzunehmen.<br />

Und das geht ja weiter, kaum<br />

war Griechenland im Juni <strong>2010</strong> einiger<br />

maßen gerettet, wurde gleich Estland<br />

aufgenommen.<br />

Dabei ist es kein Trost, dass die USA<br />

ökonomisch noch viel schlechter daste -<br />

hen als Europa, die haben allein zwei<br />

Billionen US-Dollar Schulden bei Chi -<br />

na!, und dass die roten Zahlen von<br />

Großbritannien nicht besser sind als<br />

die von Griechenland. Und natürlich<br />

spekuliert die Wallstreet gegen den<br />

Euro, und das wird weitergehen. Was<br />

ich bei den Deutschen nicht verstehe:<br />

Warum versuchen sie nicht, sich stär -<br />

ker mit den Chinesen abzustimmen?<br />

Eine gemeinsame Währungspolitik zu<br />

machen? Die Volksrepublik hat einen<br />

riesigen Binnenmarkt, der nicht gesättigt<br />

ist, der nur auf unsere Exporte<br />

wartet. Anstatt dass wir uns total auf<br />

die USA ausrichten, könnten wir auch<br />

eine Extratour mit den Chinesen<br />

wagen.<br />

Sozusagen eine eurasische Perspektive<br />

statt der euroatlantischen?<br />

Jedenfalls ist die Polarisierung gegen<br />

China, wie sie teilweise deutsche<br />

Medien betreiben, total blödsinnig. In<br />

manchen Zeitungen herrscht ja geradezu<br />

ein wilhelminischer Ton vor. So<br />

wie Kaiser Wilhelm II. den deutschen<br />

Truppeneinsatz im Reich der Mitte zu<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts mit den<br />

Worten kommentierte: «Wir werden<br />

bei Euch wüten wie die Hunnen!» Das<br />

Hochspielen der Tibet-Frage im Jahr<br />

2008 etwa – das war doch eine provozier<br />

te Sache, um die Olympischen<br />

Spiele in Peking kaputt zu machen.<br />

Dann die Unruhen in der mehrheitlich<br />

moslemischen Provinz Xingjiang im<br />

Jahr 2009. Dabei starben 149 Menschen<br />

– aber das waren ethnische Chinesen,<br />

keine Uiguren.<br />

Hintergrund ist die demografische<br />

Entwicklung in Xingjiang, dass die zuwandernden<br />

Han-Chinesen perspektivisch<br />

in der Mehrheit sein werden,<br />

dagegen wehrt sich die angestammte<br />

Bevölkerung.<br />

Wenn so etwas in Deutschland oder<br />

Europa passiert, sprechen die Medien<br />

oft von «rassistischen Pogromen». In<br />

diesem Fall wurde aber, genau umgekehrt,<br />

der uigurische Widerstand von<br />

unseren Medien gelobt und die Chinesen,<br />

die Opfer der Unruhen waren,<br />

als Täter dargestellt.<br />

24<br />

25


<strong>COMPACT</strong><br />

Titelthema<br />

Hinzu kommt, dass die Sache wenig<br />

Echo in der islamischen Welt fand. Nur<br />

im Westen wurde das hochgespielt, aus<br />

den genannten Gründen.<br />

Foto: Propyläen Verlag<br />

Kommen wir zurück zur eura si schen<br />

Perspektive.<br />

Dafür ist Russland der Schlüssel, das<br />

deutsch-russische Verhältnis. Aber<br />

nicht im Sinne von Rapallo und Tauroggen<br />

…<br />

… den deutsch-russischen beziehungs<br />

weise preussisch-russischen<br />

Verträgen von 1923 und 1806 …<br />

Das waren Son der bündnisse, gegen<br />

den Westen gerichtet, das geht heute<br />

nicht. Aber wirtschaftlich ist Russland<br />

unsere Chance. Russland hat die<br />

Rohstoffe, die wir brauchen. Jetzt<br />

muss nur noch mehr darauf geachtet<br />

werden, dass das Geld für Investi tionen<br />

nicht versickert. Ich bin zuversichtlich:<br />

Putin und Medwedew haben<br />

die notwendige Autorität. Mit an deren<br />

Worten: Der Geheim dienst FSB<br />

regiert.<br />

In unseren Medien wird genau das<br />

als Horror dargestellt: Ein autokratisches<br />

Land mit einer mächtigen Geheimpolizei,<br />

wie früher.<br />

Russland muss in gewissem Maße<br />

autokratisch regiert werden, anders<br />

geht das gar nicht. Ohne starke Zentralgewalt<br />

bilden sich an den Rändern<br />

des Riesenreiches lauter Ganoven republiken,<br />

die auf eigene Rechnung<br />

wirtschaften.<br />

Aber so undemokratisch, wie es viele<br />

westlichen Medien dargestellt werden,<br />

geht es auch nicht zu. Die europäischen<br />

Zeitungen werden von den Desin formationszentralen<br />

der USA mit Geschichten<br />

über Russland gefüttert, und<br />

da sie ihre eigenen Auslands korrespondenten<br />

eingespart haben, können<br />

sie den Wahrheitsgehalt dieser Geschichten<br />

nicht mehr überprüfen.<br />

Auch die deutsche Presse steht unter<br />

Druck. So hat etwa die Frankfurter<br />

Allgemeine Zeitung seinerzeit sehr verdienstvoll<br />

aufgelistet, welche US-Ins -<br />

ti tu tionen im einzelnen die orange Revolution<br />

in der Ukraine im Jahr 2004<br />

finanziert haben. Der Artikel erschien<br />

aber unter einer Überschrift, die diese<br />

Gerne zitiert der<br />

bald 84-jährige<br />

Scholl- Latour den<br />

Schriftsteller Bernhard<br />

Shaw: «Beware<br />

of old men, they<br />

have nothing to lose<br />

– Nehmt euch vor<br />

alten Männern in<br />

Acht, sie haben<br />

nichts zu verlieren.»<br />

Aussage ins Gegenteil verkehrte: Warum<br />

die US-Finan zierung unbedeutend<br />

gewesen sei.<br />

Berlin-Peking hat Perspektive, Berlin-<br />

Moskau auch – wie steht es mit<br />

Moskau-Peking?<br />

Das wird nicht ganz einfach, wenn<br />

man die russische Geschichte bedenkt,<br />

die jahrhundertelange Unterjochung<br />

durch Invasoren aus dem Osten. Seit<br />

einigen Jahren beginnen Chinesen wie-<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Titelthema<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

der in die riesigen Weiten des russischen<br />

Ostens einzuwandern, während<br />

die Russen dort wegziehen. Auf lange<br />

Sicht wird Moskau diese Territorien<br />

nicht halten können, in den chine sischen<br />

Grenzprovinzen leben schon<br />

heute <strong>12</strong>0 Millionen Menschen. Doch<br />

Peking ist höflich und verpflichtet seine<br />

ausreisenden Bürger zur regelmäßigen<br />

Rückreise nach ein paar Jahren Aufenthalt.<br />

Jeder Eindruck einer Invasion<br />

soll vermieden werden.<br />

Interessant ist, dass Russland auch<br />

gute Verbin dungen zur Türkei<br />

aufbaut.<br />

Das machen sie sehr klug. Wenn die<br />

Türken nicht durch die USA ent fremdet<br />

werden, sind sie für die Russen<br />

ein wertvoller Partner. Und dass in<br />

Ankara mit der AKP eine religiöse<br />

Partei regiert – damit lässt es sich leben.<br />

Die Türkei war toleranter als Osmanisches<br />

Sultanat als unter dem laizistischen<br />

Atatürk. Die christlichen und die<br />

jüdischen Minderheiten lebten damals<br />

besser, und umgekehrt leiden die von<br />

Atatürk drangsalierten Kurden bis<br />

heute.<br />

Sie fürchten also nicht, dass der mili<br />

tante Islam aus der Türkei nach<br />

Europa übergreifen könnte?<br />

Die Türkei will nicht außerhalb ihrer<br />

Gren zen missionieren. Der militante<br />

Islam droht aus Zentral asien, also aus<br />

Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan,<br />

erst in zweiter Linie aus Afghanistan<br />

und Pakistan, und er bedroht<br />

vor allem Russland. In dem Riesenreich<br />

leben 20 bis 25 Millionen Muslime.<br />

Moskau wird die Kaukasus republiken<br />

nicht auf Dauer in der Föderation<br />

halten können. In Tschetschenien hat<br />

Kadyrow zwar die Seiten gewechselt,<br />

von den Fundamentalistan weg zu den<br />

Moskowitern. Doch als deren Statthalter<br />

in Grosny hat er in der Republik<br />

die Scharia eingeführt. Das blutige Hin<br />

und Her erinnert an Tolstois Novelle<br />

Hadschi Murat, die die kaukasischen<br />

Kämpfe im 19. Jahrhundert beschreibt.<br />

Tschetschenien war für Russland<br />

schon verloren, Putin hat es immerhin<br />

zurückgewonnen. Das Problem<br />

scheint eher, da haben Sie Recht, die<br />

gesamte Südflanke der Föderation.<br />

Zweifellos. Auch im benachbarten<br />

Dagestan steigt der Einfluss der Islamis<br />

ten, in Baschkirien, Tatarstan, im<br />

ganzen Ural. In der tatarischen Hauptstadt<br />

Kasan steht ein riesiges Denkmal<br />

von Ivan dem Schrecklichen, das Zentrum<br />

wurde bei meinem letzten Besuch<br />

1991 von den goldenenen Kuppeln der<br />

orthodoxen Kirche dominiert. Jetzt war<br />

ich wieder da, und über der Kirche erhebt<br />

sich eine riesige Moschee. Das erzürnt<br />

viele Russen.<br />

Kann die Türkei Mitglied der EU<br />

werden?<br />

Ich bin weiter absolut dagegen, dazu<br />

ist die Türkei nicht demokratisch<br />

genug. Ich sage meine Meinung übrigens<br />

offen – und habe trotzdem oder<br />

vielleicht sogar deswegen von der<br />

Islamischen Gemeinschaft in Deutschland<br />

(IGD) eine Auszeichnung bekom men.<br />

Die Türken schätzen nämlich mei ne offenen<br />

Worte, weil sie von ande ren an<br />

der Nase herumgeführt werden. Was<br />

bringt es denn, dass Schäuble als Innenminister<br />

so genann te Fundamentalisten<br />

wie die türkische Milli Görös<br />

aus seiner Islamkonferenz ausschloss?<br />

Gerade mit denen hätte er doch über<br />

die Probleme reden müssen, wenn es<br />

vorwärts gehen soll.<br />

Ich sage den Türken immer: Ihr seid<br />

die Erben eines großen Imperiums, das<br />

bis an die chinesische Grenze ausstrahl -<br />

te. Ihr könnt der stabilisierende Pol im<br />

Nahen Osten sein. Warum wollt ihr<br />

euch in die EU einbinden lassen? Das<br />

wäre für die Türkei selbst gefährlich,<br />

denn die EU würde beispielsweise auf<br />

eine Autonomie für die Kurden drängen.<br />

Das geht nicht gut im Nahen<br />

Osten, das endet im Bürgerkrieg. Stattdessen<br />

sollten die EU und die Türkei<br />

eine Zollunion bilden, das bringt wirtschaftliche<br />

Vorteile für beide.<br />

Sie sind oft in der Türkei. Wie denken<br />

die Menschen dort über die EU-<br />

Mitgliedschaft?<br />

Das ist sehr geteilt. Auf dem Dorf hört<br />

man immer wieder: Früher im Sul tanat<br />

war es besser. Die Leute sind religiös,<br />

sie wollen einen höheren Stellen wert<br />

des Islam in der Gesellschaft als bisher.<br />

Auf dem Land tragen die Mädchen<br />

Kopftuch, in den Großstädten kleiden<br />

sie sich sehr lasziv. Dabei verstehen<br />

sich beide gut. Und das Kopftuch wird<br />

freiwillig getragen, nicht unter Zwang.<br />

Das ist ein Protest gegen die Moden,<br />

die der Westen vorschreibt.<br />

Die Beteili gung Deutschlands am<br />

Anti-Terror-Krieg macht, wie Oskar<br />

Lafon tai ne warnte, unser Land nicht<br />

sicherer, sondern holt uns den Terror<br />

geradewegs vor die Haustür.<br />

Das sagen doch auch die US-Geheim -<br />

dienste in ihren Expertisen. Selbst verständlich<br />

hat der Bundes wehreinsatz<br />

in Afghanistan die Terrorgefahr bei uns<br />

erhöht. Wobei man nicht alles auf<br />

Osama bin Laden schieben sollte. Der<br />

hat die Anschläge des 11. September<br />

bestimmt nicht organisiert. Er hatte<br />

doch in seiner afghanischen Höhle<br />

keine Flugpläne aus den USA, um irgend<br />

etwas zu koordinieren. Und falls<br />

er heute überhaupt noch lebt, kann er<br />

kein Telefon, kein Fax und kein Internet<br />

benutzen, wenn er nicht sofort geortet<br />

werden will. Wie kann er da Terror<br />

in Auftrag geben?<br />

Es muss sich vieles ändern. Womit<br />

beginnen?<br />

Die NATO ist obso let. Damit meine ich<br />

nicht das politische Bündnis mit den<br />

USA. Aber die militärische Einbindung<br />

hat keinen Sinn mehr. Ich erinnere an<br />

Staats prä si dent Charles de Gaulle. Er hat<br />

eine klare Un ter scheidung gemacht: In<br />

der Aus ein andersetzung mit Moskau<br />

war er immer an der Seite der USA, in<br />

der Berlin-Krise etwa stand er für einen<br />

ganz harten Kurs. Aber unter seiner<br />

Führung ist Frankreich 1966/67 aus<br />

der integrierten Militärstruktur des<br />

Bündnisses ausgeschert, ohne die Mitgliedschaft<br />

in der NATO insgesamt<br />

aufzukündigen.<br />

Von Peter Scholl-Latour<br />

erschien zuletzt Die Angst<br />

des weißen Mannes. Ein<br />

Abgesang bei Propyläen<br />

26<br />

27


<strong>COMPACT</strong><br />

Titelthema<br />

Das Ende der Geduld: Kirsten Heisig war ein Störfaktor für das<br />

Polit-Establishment – und mögliche Spitzenkandidatin einer neuen<br />

Protestpartei. Musste sie deswegen sterben?<br />

Die Richterin und ihre Henker<br />

Von Josephine Barthel<br />

Geduld scheint eine Eigenschaft zu<br />

sein, die in Deutschland besonders aus -<br />

ge prägt ist. In kaum einem anderen<br />

Land der Welt ist die politische Leidens -<br />

fähigkeit wohl so hoch, wie zwischen<br />

Oder und Rhein. Was wir zur Zeit in<br />

der Berliner Republik erleben, ist eine<br />

Art postmoderner Biedermeier, wo die<br />

neuen Metternichs und ihre Anhänger<br />

ihre politisch-korrekten Uto pien mit<br />

Sprech verboten schützen. Statt kon kre -<br />

ter Maßnahmen, die für die Rege lung<br />

der Zustände um die Ecke sorgen,<br />

philosophieren bundesdeutsche Gutmen<br />

schen lieber über globa le Gesellschafts<br />

entwürfe oder das Zu sam menleben<br />

von Menschen in anderen<br />

Brei tengraden – während es im eigenen<br />

Stadtteil bereits lichterloh brennt.<br />

Heisig wäre nach<br />

der Veröffentlichung<br />

des Buches zum Medien<br />

star geworden.<br />

Insofern war bereits der Titel eines Bu -<br />

ches eine Kampfansage gegen die allumfassende<br />

Lethargie, die für alle Befürworter<br />

des Status quo lebenswichtig<br />

ist: Das Ende der Geduld. Was die Amt s-<br />

richterin Kirsten Heisig in diesem Manuskript<br />

zusammengetragen und zu<br />

Papier gebracht hatte, dürfte nicht wenigen<br />

Gesellschaftsgruppen nicht in<br />

den Kram gepasst haben. Weder die<br />

Einwanderungslobby des Groß ka pitals,<br />

das auch ganz aktuell wieder<br />

billige Fachkräfte rekrutieren möchte,<br />

noch die etablierten Parteien, die über<br />

Jahrzehnte eine völlig reflexionslose<br />

Einwanderungspolitik betrieben haben.<br />

Und schließlich sind auch die<br />

Wahrheiten Kirsten Heisigs für manche<br />

Immigranten-Communities und die<br />

angeschlossenenen Sozialstaatsapparate<br />

wenig erfreulich gewesen.<br />

Dass die Autorin des brisanten<br />

Buches den Erscheinungstag nicht<br />

mehr erleben durfte, wunderte die veröffentlichte<br />

Meinung in Deutschland<br />

kaum. Heisig verschwand noch an dem<br />

Tag, als sie die letzten Korrekturen an<br />

das Lektorat geschickt hatte. Für Polizei<br />

und Presse stand gleich fest, dass<br />

die lebenslustige Mutter zweier Kinder<br />

Selbstmord begangen haben soll. Man<br />

stellte sich nicht die Frage, unter welchem<br />

Gefahrenpotential Menschen<br />

leben, die solch unbequeme Wahrheiten<br />

aussprechen. Eine SMS an die<br />

Kinder, die auf psychische Probleme<br />

hingedeutet habe, sollte ein Beweis für<br />

die Selbstmordthese sein.<br />

Dass Kirsten Heisig noch am Tage ihres<br />

Verschwindens einem Talkshowter<br />

min in Stern TV zugesagt und danach<br />

einen Urlaub mit ihren Kindern<br />

gebucht hatte, ist nur eines der mehr<br />

als sonderbaren Indizien, die besonders<br />

im Internet für kontroverse Diskus<br />

sionen sorgen sollten. Die so genann<br />

te seriöse Presse hielt sich an das,<br />

was viele als «Sprachregelung» em p-<br />

fanden – jedenfalls in Deutschland.<br />

Anders in der Schweiz. Das wichtigste<br />

Blatt der Alpenrepublik, die Neue<br />

Züricher Zeitung, notierte verwundert<br />

am 15. September <strong>2010</strong>: «Von Oberstaatsanwalt<br />

Andreas Brehm hätten wir<br />

(…) gern Näheres über Kirsten Heisigs<br />

Selbstmord im Tegeler Forst erfahren,<br />

dessen Umstände so fragwürdig sind,<br />

dass sich der Verdacht eines vertuschten<br />

Mordes nicht aus der Öffentlichkeit<br />

entfernen lässt.» Auf Anfrage, ob<br />

die nichtöffentlichen Ermittlungsakten<br />

auf Antrag einsehbar seien, habe Brehm<br />

mit den Worten geantwortet: «In diesem<br />

Fall gewiss nicht.»<br />

Hierzulande beschäftigte sich ausschließlich<br />

das Netzforum Kopp-Online<br />

umfassend mit dem mysteriösen Tod<br />

der Richterin. Der investigative Journalist<br />

Gerhard Wisneswki stellte in einer<br />

acht Folgen umfassenden Beitrags -<br />

reihe zahlreiche Fragen, die bis heute<br />

nicht ausreichend beantwortet wurden.<br />

Von Anfang an, so Wisnewski, habe<br />

die Polizei nach aussen hin einseitig<br />

ermittelt. Bereits am 2. Juli, also kurz<br />

nach dem Verschwinden Heisigs, habe<br />

man apodiktisch verkündet: «Eine<br />

Entführung, überhaupt eine Straftat<br />

schließt die Polizei aus.» Es sei, so der<br />

Autor, nicht mitgeteilt worden, wo und<br />

wie die Frau genau gefunden worden<br />

oder wie sie tatsächlich zu Tode gekommen<br />

sei. Auch warum bei heißem<br />

Wetter und daraus folgender schneller<br />

Verwesung einer Leiche diese in einem<br />

stark frequentierten Waldstück nicht<br />

schneller gefunden worden ist, bleibt<br />

eine offene Frage. Die schon bald<br />

eingesetzten Suchhunde jedenfalls<br />

hätten den Verwesungsgeruch bemerken<br />

müssen.<br />

In der Kriminalistik wird bereits<br />

jedem Erstsemester eingepaukt, dass<br />

man bei einer Straftat immer nach dem<br />

Motiv zu fragen habe. Für die These<br />

des Selbstmordes spricht laut überzeu -<br />

gender Aussagen von Wegge fährten<br />

Heisigs überhaupt nichts. Für Mord dagegen<br />

viel. Man darf davon ausgehen,<br />

dass Heisig nach der Veröffent lichung<br />

des Buches, ähnlich wie später Thilo<br />

Sarrazin, zum Medienstar geworden<br />

wäre. Nicht umsonst nannte man sie<br />

in Anlehnung an den Hamburger Ex-<br />

Senator und Richterkollegen, Ronald<br />

Schill, eine «Richterin gnadenlos».<br />

«Verdacht eines<br />

vertuschten Mordes»<br />

(Neue Zürcher<br />

Zeitung)<br />

Während Schill zum kurz auf flackernden<br />

politischen «Ecce Homo» wurde,<br />

die Politikszene durchmischte und<br />

dann plötzlich und unerwartet abstürz -<br />

te, fand Kirsten Heisig noch vor dem<br />

medialen Durchbruch den Tod. Bei<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Titelthema<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Die Drogenclans:<br />

Kirsten Heisigs Warnung<br />

Nach meiner Einschätzung wird momentan<br />

zugesehen, wie die «arabische»<br />

Drogenmafia, die den Erkennt nissen der<br />

Polizei zufolge speziell den Handel mit<br />

harten Drogen (wie zum Beispiel Heroin)<br />

fest in der Hand hat, aus palästinensischen<br />

Flüchtlingslagern Kinder und Jugendliche<br />

nach Deutschland schleust.<br />

Diese sollen dann den Straßenverkauf<br />

der Drogen übernehmen. Die «unbeglei -<br />

tet reisen den asylsuchenden Jugendlichen»,<br />

die häufig deutlich älter sind, als<br />

sie angeben, werden dann einem entsprechenden<br />

Heim zugewiesen, in dem<br />

sie sich dem ausländerrechtlichen Status<br />

der Duldung entsprechend eigentlich<br />

ständig aufhalten müssen.<br />

Machen sie aber nicht. Stattdessen tauchen<br />

sie rasch bei Landsleuten in Berlin<br />

unter. Diese machen sie dann vermutlich<br />

auch mit den Regeln des jeweiligen Marktes<br />

vertraut: wer wo was und für wie viel<br />

verkaufen darf, wo man die Ware erhält,<br />

wer den Erlös bekommt. Selbst davon<br />

profitieren können die Straßenhändler<br />

nicht. Sie müssen ganz im Gegenteil für<br />

die Schleusung noch bezahlen. Ich habe<br />

kürzlich in Heimen der Jugendhilfe in<br />

anderen Bundesländern angerufen, weil<br />

mir auffiel, dass ich mehrmals Jugendliche<br />

wegen Heroinhandels verurteilt hat -<br />

te, die sich eigentlich in diesen Einrichtungen<br />

weitab von Berlin aufhalten<br />

sollten. Die Mitarbeiter er klär ten mir,<br />

dass man die Jugendlichen, die sich entfernen,<br />

als vermisst meldet und das war<br />

es dann.<br />

Das System: Ein typischerweise zunächst<br />

aus Mutter, Vater und zehn bis fünfzehn,<br />

in Einzelfällen bis zu neunzehn Kindern<br />

bestehender Clan wandert aus dem Libanon<br />

zu. Nach den mir vorliegenden Erkenntnissen<br />

gibt es in Deutschland zehn<br />

bis zwölf dieser Clans, die einige Tausend<br />

Menschen umfassen. Sie agieren sowohl<br />

im Innen- wie im Aussenverhältnis kriminell.<br />

Von Drogen- und Eigentumsdelikten<br />

über Beleidigung, Be drohung,<br />

Raub, Erpressung, gefährliche Körperverletzung,<br />

Sexual straftat und Zuhälterei<br />

bis zum Mord ist alles vertreten.<br />

(aus: Kirsten Heisig, Das Ende der Geduld. Konse<br />

quent gegen jugendliche Gewalttäter. Herder-<br />

Verlag, 14.95 Euro)<br />

28<br />

29


<strong>COMPACT</strong><br />

Titelthema<br />

Ronald Schill konnten Beobachter<br />

kaum fassen, dass der prinzipientreue,<br />

gradlinige Richter «plötzlich» zum<br />

Dro genfall wurde und heute nur noch<br />

dadurch Schlagzeilen macht, dass er<br />

womöglich im Dschungelcamp unter<br />

dem letzten Wegfall persönlicher<br />

Würde Würmer und Maden fressen<br />

muss. Dass Schill regelrecht «platt<br />

gemacht» wur de, bis er als menschliches<br />

Wrack ungefährlich für das Establishment<br />

sein würde, wird hinter vorgehaltener<br />

Hand längst zugegeben.<br />

Schill war nahe daran, zum politischen<br />

Faktor zu werden. Wenn bereits er als<br />

manchmal allzu schneidiger Hardliner<br />

Wahlergebnisse von über 20 Prozent in<br />

Hamburg erzie len konnte – welche<br />

Wirkung hätte da erst eine grundsolide<br />

und sympa thische Frau wie Kirsten<br />

Heisig erzielen können?<br />

Diese Frage ist keineswegs<br />

abstrakt. Nach Berichten von Weggefährten<br />

des Berliner CDU-Dissidenten<br />

René Stadtkewitz war Heisig im Sommer<br />

<strong>2010</strong> an den Gesprächen über eine<br />

Partei bildung beteiligt und sogar als<br />

Spitzenkandidatin im Gespräch. Als<br />

unta deli ge Richterin mit der Fähigkeit,<br />

ta bu isierte Probleme anzusprechen<br />

und konkrete Lösungen aufzuzeigen,<br />

hätte sie bei den Landtagswahlen in<br />

Berlin im Herbst 2011 eingeschlagen<br />

wie eine Bombe.<br />

Nicht auszuschließen, dass sie mit<br />

ihrem sachbezogenen Ansatz, der nicht<br />

gegen den Islam, sondern gegen das<br />

kri minelle Potential genau definierbarer<br />

Ausländergruppen zielte, Brücken<br />

hätte bauen können zur Mehrheit der<br />

vernünftigen Moslems. In Neukölln<br />

und Wedding sind es nämlich oft genug<br />

die fleißigen Türken der ersten<br />

Einwanderergeneration, die unter der<br />

Gewalt und Asozialität der später<br />

Zugezogenen, vor allem krimineller<br />

arabischer Gangs, zu leiden haben.<br />

Dass sie den jugendlichen Delin quenten<br />

nicht nur mit der Strenge des Gesetzes<br />

kam, sondern ihnen bisweilen<br />

auch als Frau und Mutter ihr Herz<br />

öffnete, muss allen verhasst gewesen<br />

sein, die den «Kampf der Kulturen»<br />

von der einen, wie von der anderen<br />

Seite befeu ern wollen.<br />

Wer profitierte von Kirsten Heisigs<br />

Tod und wer musste vor der leben digen<br />

Kirsten Heisig Angst haben? Diese<br />

Fragen zu stellen, hat nichts mit «Verschwörungstheorie»<br />

zu tun. Dieser<br />

Begriff wird immer gern benutzt, wenn<br />

man sich der Diskussion entziehen<br />

will. Unliebsame Annahmen und Thesen<br />

werden rasch und wirkungsvoll<br />

zur Verschwörungstheorie gestempelt,<br />

damit man sich nicht mit ihnen beschäftigen<br />

muss.<br />

Von den Deutschen wird gesagt, sie<br />

lebten in historischen Pendelschlägen.<br />

Nach Zeiten der absoluten Ruhe und<br />

Agonie kamen oft übersteigerte Gegenbewegungen.<br />

Man hat bei Lektüre<br />

des Buches den Eindruck: Kirsten Heisig<br />

war es ein Anliegen, dass es bald<br />

zu konstruktivem Handeln kommen<br />

müsse. Bevor die Probleme unüberschaubar<br />

werden – und damit auch die<br />

Reaktionen.<br />

Josephine Barthel hat in München und Köln Vorund<br />

Frühgeschichte sowie Mediävistik und Rechtswissenschaft<br />

studiert. Sie lebt heute als freie Autorin<br />

in Limoges.


Politik<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Jemen als neuer Schurkenstaat? Tatsächlich ist Al Qaida dort sehr<br />

aktiv – mit Unterstützung des US-Alliierten Saudi-Arabien. <strong>COMPACT</strong><br />

sprach mit einem jemenitischen Oppositionellen.<br />

Luftpostterror aus Sanaa?<br />

Interview: Utz Anhalt<br />

Zu Jahresanfang <strong>2010</strong> der «Unterhosen<br />

bomber» in einer Passierflugzeug<br />

über Detroit, im November <strong>2010</strong> die<br />

Sprengstoffpakete in Frachtmaschinen<br />

auf westeuropäischen Flughäfen – der<br />

Ursprung der Bedrohung soll in beiden<br />

Fällen im Jemen gelegen haben. Dass<br />

der Hinweis im letzten Fall vom sau -<br />

dischen Geheimdienst kam, war allerdings<br />

kein Zufall, wenn man unseren<br />

Gesprächspartnern glauben darf: Sau -<br />

di- Arabien selbst hat nämlich, mit<br />

freund licher Duldung der USA, den<br />

Aufbau von Al Qaida in Jemen dirigiert.<br />

Washington, Riad und die Bin Laden-<br />

Jünger unterstützten 1994 den jemenitischen<br />

Präsidenten Ali Abdullah Saleh<br />

im Bürgerkrieg gegen die pro-kommunistischen<br />

Sezessionisten im Süden<br />

des Landes. Schon zu Jahresanfang<br />

<strong>2010</strong> hat schleichend eine US-amerikanische<br />

Intervention begon nen – nicht<br />

um Al Qaida anzugreifen, sondern die<br />

schiitischen Huthi-Rebellen im Norden,<br />

die als Vorposten des ebenfalls<br />

schiitischen Iran gelten. (Red.)<br />

Fahmi al Qadi ist Mitglied der demokratischen<br />

Opposition des Jemen und<br />

lebt als anerkannter Asylbewerber in<br />

Hannover. Sein Vater Hussein wurde<br />

am 1. November 2009 vom jemenitischen<br />

Geheimdienst ermordet.<br />

Der Jemen kam zu Jahresanfang <strong>2010</strong><br />

in die Schlagzeilen, weil kurz zuvor<br />

ein Nigerianer angeblich über Detroit<br />

eine Passagiermaschi ne hatte sprengen<br />

wollen und dieser Mann Kontakte<br />

in den Jemen hatte. Daher auch<br />

die Kriegs drohun gen der USA und<br />

das Versprechen von Präsident Saleh,<br />

den dschi hadistischen Terror zu bekämpfen.<br />

Was haben die Huthis mit<br />

den Dschihadisten, mit Al Qaida zu<br />

tun?<br />

Die haben damit nichts zu tun; die<br />

Huthis sind Schiiten, Al Qaida Sunniten.<br />

Die Huthis wollen Autonomie von<br />

Salehs Militärdiktatur und freie Wahlen;<br />

natürlich sind sie Muslime – das<br />

sind im Jemen die meisten. Der Kampf<br />

gegen die Saudis und gegen ihre Mari<br />

o nette, Präsident Saleh, hat aber keinen<br />

religiösen Grund. Die Huthis sind<br />

keine Dschihadisten. Mit den Amerikanern<br />

hat das nur insofern etwas zu<br />

tun, als dass amerikanische Piloten im<br />

Gebiet der Huthis Dörfer, das heißt,<br />

Frauen und Kinder bombardieren – für<br />

Saudi-Arabien.<br />

Und Al Qaida? Hier in Deutschland<br />

gibt es die These, dass die Stammeskonflikte<br />

und die Unregierbarkeit des<br />

Jemens das Land zum Nährboden von<br />

Al Qaida machen.<br />

Bei Al Qaida gibt es keine Mitgliedsausweise.<br />

Al Qaida ist keine politische<br />

Die jemenitische Gesellschaft befindet sich im Visier der Gewalt<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong><br />

30<br />

31


<strong>COMPACT</strong><br />

Politik<br />

Partei, sondern ein Sammelbecken. Es<br />

gibt im Jemen Abertausende von Al<br />

Qai da-Leuten, die in der Hauptstadt<br />

Sanaa-Stadt herumfahren und ihre<br />

unerschöpfliche Reserve bilden. Präsi -<br />

dent Saleh macht die Geschäfte, und<br />

wenn die Al Qaida Leute zu ihren Stämmen<br />

gehen, sind sie unantastbar. Aber<br />

nicht jeder Stamm bietet Al Qaida eine<br />

Basis.<br />

Was meinen Sie mit unerschöpflicher<br />

Reserve?<br />

Der Jemen ist heute nur an zwei<br />

Dingen reich, an jungen Männern ohne<br />

Bildung und an Waffen. Das eine<br />

kommt zum anderen; und dann kämpfen<br />

die Jungs für Al Qaida. Al Qaida ist<br />

Hartz IV im Jemen, gibt den Analphabeten<br />

Geld plus Gebete. Saleh hat keine<br />

Lösung für die Arbeitslosigkeit; das<br />

Geld geht in seine Tasche. Al Qaida bietet<br />

eine Pers pektive, den Terrorismus.<br />

Das Geld von Al Qaida kommt aus<br />

Saudi-Arabien, von den Verbündeten<br />

der Amerikaner, die Männer und die<br />

Waffen kommen aus dem Jemen.<br />

Richtet sich Al Qaida gegen die<br />

Regierung, oder wie ist das zu<br />

verstehen?<br />

Al Qaida hat 1994 mit Präsident Saleh<br />

und seinen Truppen gegen den Süd jemen<br />

gekämpft, gegen die Kommunisten.<br />

Saleh hat mit Al Qaida zusammen<br />

gearbeitet, mit Wissen und Wollen der<br />

damaligen US-Regierung. Jetzt kämpft<br />

Saleh angeblich gegen Al Qaida.<br />

Warum angeblich? Sein Militär geht<br />

doch in Sanaa-Stadt gegen Al Qaida<br />

vor.<br />

Bin Laden ist in unserem Land geboren,<br />

in Hadra maut; er hat hier seine<br />

Homebase, seine Netzwerke, alles.<br />

Seinen Familienkonflikt trägt er auch<br />

aus, aber die Familie Bin Laden führt<br />

ein Firmenimperium in Saudi-Arabien.<br />

Es ist ein Konflikt untereinander.<br />

Die Familie Bin Laden macht heute<br />

noch blühende Geschäfte mit den<br />

USA. Natürlich hat Präsident Saleh<br />

Probleme mit der Macht lokaler<br />

«Al Qaida ist Hartz<br />

IV im Jemen.»<br />

Scheichs, die für Al Qaida arbeiten.<br />

Und wenn ihm deren Macht zu groß<br />

wird, lässt er auch mal einige von<br />

seiner Armee umbringen. Wenn die<br />

Dschihadisten ihn unterstützen, ar -<br />

beitet er aber mit ihnen zusammen.<br />

Immerhin sind sie seine Verwandten.<br />

Tariq al Fadlli, der zweite Mann von Al<br />

Qaida, hat Salehs Schwester geheiratet.<br />

Al Qaida ist also auch leiblich die<br />

Familie des Präsidenten. Saleh sucht<br />

Al Qaida? Wenn ich weiß, wo jemand<br />

wohnt und ihm die Hände schüttle,<br />

muss ich den nicht suchen.<br />

Al Qaida, oder zumindest dschihadistische<br />

Gruppen, die ihnen nahe<br />

stehen, haben in den letzten Jahren<br />

Anschläge in Saudi-Arabien verübt,<br />

auch direkt gegen die saudische Königsfamilie.<br />

Mehr als hundert Al<br />

Qaida-Mitglieder wurden in Saudi-<br />

Arabien festgenommen.<br />

Natürlich funktionieren die nicht alle<br />

so, wie die saudische Königsfamilie<br />

es möchte, das ist ja das Problem bei<br />

dieser Politik mit Zuckerbrot und Peit -<br />

sche. Und natürlich richtet sich ihr Hass<br />

auch gegen die korrupte eigene Re gierung.<br />

Aber der saudische Geheim dienst<br />

steckt mittendrin im Terror. Dass dann<br />

ein paar ihrer Kinder etwas auf eigene<br />

Faust machen, ist klar.<br />

Wissen die Amerikaner das nicht? Immerhin<br />

steckt Al Qaida doch hinter<br />

Stellen Sie sich das so vor. Al Qaida<br />

sagt Saleh: Kämpfe ruhig gegen uns,<br />

aber unterstütze uns auch. So läuft das<br />

Geschäft. Saleh lässt dann ein paar Al<br />

Qaida-Leute festnehmen und lässt sie<br />

im Dunklen wieder frei. Die Spitzen<br />

von Al Qaida sind im Jemen unantast -<br />

bar. Abdullah al Ahmar, der ehemalige<br />

Parlamentschef, hat Bin Laden in seiner<br />

Wohnung beherbergt; die zweite<br />

Hand von Al Qaida, Tariq al Fadlli, lebt<br />

im Jemen, jeder sieht ihn, jeder kennt<br />

ihn. Führende Leute von Al Qaida waren<br />

in Afghanistan, dann wieder im<br />

Jemen, dann wieder in Afghanistan.<br />

Sind die Zeiten vorbei, in denen der Jemen durch seine Architektur bekannt war?<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Politik<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Jemen: Sicherheitskräfte in erhöhtem Alarmzustand<br />

dem Anschlag auf das World Trade<br />

Center. Immerhin gilt der Krieg gegen<br />

den Terror Al Qaida.<br />

Natürlich wissen die Amerikaner von<br />

der Verbindung zwischen den Saudis<br />

und Al Qaida. Sie brauchen das Öl der<br />

Saudis, sie wollen an das Rote Meer,<br />

sie wollen den Golf von Aden kontrollieren.<br />

Und sie können den Saudis<br />

nicht einfach sagen: «Seid endlich loyal<br />

im Kampf gegen Al Qaida.» Al Qaida<br />

ist im Jemen und in Saudi-Arabien, die<br />

Scheichs haben Einfluss auf Scheichs,<br />

nicht die Amerikaner. Al Qaida ist<br />

Fleisch von ihrem Fleisch, Blut von ihrem<br />

Blut. Die CIA war an der Gründung<br />

von Al Qaida beteiligt, aber auch<br />

die CIA besteht nicht aus Arabern und<br />

hat nicht auf alles Einfluss, was «die<br />

Jungs» machen. Wie sollen denn die<br />

Amerikaner daran kommen? Sie könnten<br />

Sanaa-Stadt bombardieren. Und<br />

dann? Saleh macht ja nicht nur Deals<br />

mit Al Qaida, sondern auch mit den<br />

USA. Jemand anders ist derzeit nicht<br />

da; vielleicht bereiten sie schon den<br />

nächsten Diktator vor, der ihnen besser<br />

zuarbeitet, und nicht mit allen an deren<br />

auch noch Geschäfte macht. Alle Al<br />

Qaida-Leute der Welt wissen, dass der<br />

Jemen für sie sicheres Gebiet ist – die<br />

Al Qaida-Leute aus dem Jemen bekom -<br />

men Schutz vom jemenitischen Geheimdienst<br />

und von ihrem Stamm. Al<br />

Qaida sind Sunniten. Vielleicht braucht<br />

man sie noch.<br />

«Die CIA war an der<br />

Gründung von Al<br />

Qaida beteiligt.»<br />

Wie meinen Sie das?<br />

Ahmadinedschad, das Staatsoberhaupt<br />

des Iran, die Mullahs im Iran, sind<br />

Schiiten. Die Amerikaner haben im Irak<br />

verloren; die Amerikaner haben in<br />

Afghanistan verloren. Im Irak hat der<br />

Widerstand gegen die Amerikaner den<br />

Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten,<br />

zwischen Arabern und Persern<br />

verwischt. Der Gewinner des Irak-<br />

Kriegs ist der Iran. Und das ist Amerikas<br />

Hauptfeind. Und um den Iran<br />

geht es eigentlich. Die Bombardierung<br />

der Huthi-Schiiten im Jemen ist nur ein<br />

Vorspiel dazu. Wenn die Saudis oder<br />

Amerikaner Krieg gegen den Iran führen,<br />

dann ist es besser, Al Qaida im<br />

Jemen in Ruhe zu lassen: Al Qaida sind<br />

Sunniten – Schlächter, die im Sudan,<br />

in Somalia, in Afghanistan und im Irak<br />

waren und die die Schiiten hassen. Die<br />

ersten, die mit Feuereifer in den Krieg<br />

gegen den Iran ziehen würden, wären<br />

die Al Qaida-Leute aus dem Jemen. Die<br />

Mullahs sind zwar ebenfalls Fun damentalisten,<br />

aber eben Schiiten und<br />

keine Wahhabiten. Und die Saudis<br />

wür den das wiederholen, was ihre Vor -<br />

väter in Kerbala getan hatten: Die kulturellen<br />

Heiligtümer der Muslime zerstö<br />

ren, die die wahhabitische Lehre<br />

nicht teilen, und alle massakrieren, die<br />

ihnen im Weg stehen. (…) Es gibt vor<br />

allem zwei Stämme im Nordjemen, aus<br />

denen sich Al Qaida rekrutiert. Das sind<br />

Haschut und Bakil. Sie leben im Grenzge<br />

biet zu Saudi-Arabien. Die Stammesführer<br />

bekommen Geld von Saudi-Arabien,<br />

um Ärger im Jemen zu ma chen<br />

und Al Qaida zu spielen. Wenn sie die<br />

jungen Männer in die Schlacht schicken,<br />

müssen die funktionieren. Das<br />

ist das Stammesgesetz, und aus diesem<br />

heraus zu kommen, haben diese Jungen<br />

nie geschafft. Die jungen Männer<br />

bekommen Waffen, Geld und eine<br />

Men ge Privilegien. Aber, wenn der<br />

Stamm sagt, du musst dich in die Luft<br />

sprengen, gibt es kein Nein. In Aden<br />

war es früher egal, ob du Christ, Jude<br />

oder Muslim warst. Wir hatten wunder<br />

schöne Moscheen, Kirchen und Syna<br />

gogen. Heute wird dir im Jemen der<br />

Schädel eingeschlagen, weil du kein<br />

«richtiger» Moslem bist, von dummen<br />

Jungs, die den Koran niemals gelesen<br />

haben, weil sie nicht lesen können.<br />

Manchmal schäme ich mich dafür, was<br />

aus meinem Land geworden ist.<br />

Von Utz Anhalt erschien<br />

bereits zuvor der Titel<br />

WÜSTENKRIEG. Jemen,<br />

Sudan, Somalia und die<br />

Geostrategie der USA in<br />

der <strong>COMPACT</strong> Reihe. (Vgl.<br />

Heftinnenteil S. A4)<br />

32<br />

33


<strong>COMPACT</strong><br />

Politik<br />

Hunderttausende Tote vor allem im Irak: Die Massenmedien<br />

schweigen über die Folgen des Einsatzes von Waffen aus<br />

«abgereichertem Uran» und mobben unbequeme Mitarbeiter raus.<br />

Uncle Sams schmutzige A-Bombe<br />

Von Frieder Wagner<br />

Stellen Sie sich vor, jemand käme auf<br />

die Idee, hunderte Tonnen des atoma -<br />

ren Abfallprodukts «ab gereichertes<br />

Uran» (Uran 238) zu Fein staub zu zermahlen<br />

und würde dann diesen Uranstaub<br />

aus einem Flugzeug über<br />

Deutsch land ver tei len. Das wäre eine<br />

entsetzliche Katas trophe. Es dürften<br />

keine Fuss ball spiele mehr stattfinden,<br />

alle Sta dien und Spielplätze wür den<br />

ge schlos sen und alle sportli chen Outdoor-<br />

Veran staltungen müss ten ver boten<br />

werden. Niemand dürf te mehr<br />

ohne Schutz anzüge und Gas masken<br />

auf die Straße gehen – auch nicht zum<br />

Einkaufen. Nach wenigen Wochen<br />

würden Tau sen de von Klein kindern<br />

an aggressiven Leu kämien erkranken.<br />

Monate spä ter würden Zehn tausende<br />

von gera de noch ge sunden Erwachsenen<br />

an Krebs erkran ken, später dann<br />

Hun dert tausende, noch später Millionen.<br />

Wenn Sie jetzt sagen, dass das<br />

ja zum Glück nur ein Gedankenspiel<br />

ist, dann muss ich Ihnen leider sagen:<br />

Will kom men im Irak, im Kosovo, in<br />

Af gha nistan, willkommen in Serbien<br />

und in Somalia. Denn die Alliierten haben<br />

in allen ihren vergangenen Kriegen<br />

in diesen Ländern diese Waffen<br />

aus abgereichertem Uran angewendet.<br />

Mit dem Ergebnis, dass in diesen Ländern<br />

jetzt Erwachsene an Mehrfachkrebs<br />

erkran ken und Babys ohne Augen,<br />

ohne Bei ne und Arme, Babys, die<br />

ihre inneren Organe in einem Hautsack<br />

aussen am Körper tragen, geboren werden<br />

und unter furchtbaren Schmerzen<br />

irgendwann sterben.<br />

Uranmunition und Uranbomben<br />

sind die wohl furchtbarsten Waffen,<br />

die heutzutage in Kriegen eingesetzt<br />

werden, weil sie die Menschheit unweigerlich<br />

in den Abgrund führen.<br />

Denn eine der Folgen der Anwendung<br />

von Uranwaffen ist, dass es bei Mensch<br />

und Tier zu Chromosomenbrüchen<br />

kommt und so der genetische Code<br />

verändert wird. Das ist seit Jahrzehnten<br />

eine wissen schaftliche Tatsache<br />

und der amerikanische Arzt Dr. Karl<br />

Muller hat dafür schon 1946 den Nobelpreis<br />

erhalten. Trotzdem haben die<br />

alliierten Streitkräfte unter Führung<br />

der USA in den vergangenen Kriegen<br />

so getan, als würde es diese Tatsache<br />

nicht geben.<br />

Aus einer vertraulichen Mitteilung<br />

des britischen Verteidigungsminis te riums<br />

wissen wir inzwischen, dass schon<br />

die Anwendung von 40 Tonnen dieser<br />

Uran munition im Irak zu 500.000<br />

Nachfol ge to ten führen könnte und<br />

zwar durch so entstehende hoch aggres<br />

sive Krebs tumore und Leukämien.<br />

Bis zum Januar<br />

2001 haben die<br />

meis ten großen<br />

deutschen Tages zeitungen<br />

über mög liche<br />

Gefahren durch<br />

die uran haltige<br />

Munition berichtet.<br />

Durch die Anwendung dieser Uranmu<br />

nition sind im Irak, in Serbien einschließlich<br />

Kosovo und natürlich auch<br />

in Afghanistan inzwischen ganze Regi<br />

o nen wegen der radioaktiven und<br />

hoch giftigen Kontamination durch die<br />

Uran waffen nicht mehr bewohnbar.<br />

Dies wurde durch eine Veröf fent lichung<br />

der irakischen Presseagentur<br />

bestätigt, in der stand, dass nach Unter<br />

suchungen von unabhängigen iraki<br />

schen Wissenschaftlern festgestellt<br />

wurde, dass durch die Bombardierung<br />

der Alliierten mit Uranbomben im<br />

Krieg 1991 und 2003 im Irak heute 18<br />

Regionen nicht mehr bewohnbar sind<br />

und dass deshalb die Bevölkerung dort<br />

evavkuiert werden müsste.<br />

Und das liest man hier in keiner<br />

Zei tung und man erfährt es auch nicht<br />

aus den TV-Medien, weil das Thema<br />

«Uran munition und die Folgen» ein<br />

Tabu thema geworden ist. Denn nicht<br />

die viel beschworene Klimakatstrophe<br />

ist die unbequemste Wahrheit, nein<br />

die unbequemste Wahrheit sind die<br />

furchtbaren Folgen der Uranmunition.<br />

Ich pro gnostiziere hier an dieser Stelle<br />

und bin mir da einig mit vielen unabhängi<br />

gen Wissenschaftlern weltweit,<br />

dass von unseren Tausenden eingesetzten<br />

Soldaten im Kosovo und in<br />

Af gha nis tan womöglich bis zu 30 Prozent<br />

durch Uran munition kontaminiert<br />

nach Hau se kommen werden.<br />

Und diese jungen Soldaten werden<br />

alle mit ihren Ehe frau en und zukünftigen<br />

Ehefrauen Kin der zeugen und<br />

werden ohne es zu wissen ihre Kontamination<br />

an ihre Kinder und Kindes<br />

kinder weitergeben, mit allen<br />

furchtbaren Folgen von Miss bildungen,<br />

Immunschwäche, Leukä mien<br />

und Krebstumoren.<br />

Das Schweigen der Lämmer. Und<br />

was sagen unsere Mainstream-Medien<br />

zu dieser Problematik? Sie schweigen<br />

– sie müssen inzwischen schweigen.<br />

Doch das war nicht immer so, und da<br />

können wir eine erschreckende Ent -<br />

wick lung erkennen. Bis zum Januar<br />

2001 haben die meisten großen deutschen<br />

Tageszeitungen und entsprechen<br />

de politische Fernsehmagazine<br />

immer wieder über mögliche Gefahren<br />

und sogar Missbildungen bei Neuge<br />

bo renen, hervorgerufen durch die<br />

uran haltige Munition der Alliierten,<br />

berichtet. <strong>Magazin</strong>e wie Monitor und<br />

Panorama hatten Beiträge über die Folgen<br />

dieser Munition gebracht. Monitor<br />

sprach Ende 1999 sogar einmal von<br />

«ganzen Landstrichen im Kosovo», die<br />

womöglich verseucht seien.<br />

Der Spiegel-Redakteur Siegesmund von<br />

Ilsemann konnte in der Spiegel-Ausgabe<br />

3 und 4 im Januar 2001 unter dem Titel<br />

Tödlicher Staub noch auf fast <strong>12</strong> Seiten<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Politik<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Fliegende Festung mit tödlicher Fracht – die AC-130H der US-Airforce<br />

über die Gefahren, die von den Urangeschossen<br />

für Mensch und Natur ausgehen,<br />

berichten.<br />

Dann starben die ersten portugiesischen<br />

Soldaten der internationalen Kosovo-Schutztruppe<br />

KFOR an höchst<br />

aggres siven Krebstumoren und Leukämien.<br />

Und in der Bundes re publik<br />

Deutschland geriet Verteidi gungs minister<br />

Rudolf Scharping durch diese Meldungen<br />

in der Presse zum Neujahr<br />

2001 heftig unter Druck, weil viele<br />

Ehefrauen von unseren Soldaten im<br />

Ko so vo fragten: Welche Gefahren bestehen<br />

für unsere Soldaten? Deshalb<br />

war man sich im Pentagon und in der<br />

NATO schnell einig: Das Thema Uranmunition<br />

musste raus aus den Medien!<br />

Und dazu hat man sich in Deutschland<br />

der Wochenzeitung Die Zeit bedient:<br />

Diese Zeitung hat Mitte Januar 2001<br />

durch ihren Wissenschaftsjournalisten<br />

Gero von Randow unter dem Titel Das<br />

Golfkriegssyndrom die Wende einge läutet.<br />

Auf einer ganzen Seite durfte von<br />

Randow seine Sicht der Dinge und was<br />

er von den Berichten der Konkur renz<br />

zu diesem Thema hielt, darlegen.<br />

Schon im Unter titel konnte man lesen,<br />

wohin das führen würde. Er schrieb<br />

dort: «Die Medien schüren Angst und<br />

Fakten spielen keine Rolle.»<br />

Wenn nun jemand auf die Idee<br />

gekommen wäre, zu fragen: Wie kann<br />

es sein, dass ein Redakteur der Zeit sich<br />

mit den Kollegen großer Zeitungen<br />

anlegen kann? Nun, da müssen wir die<br />

damaligen Zeitumstände recher chie -<br />

ren: Ende 1999 wurde ein gewisser Dr.<br />

Theo Sommer von Ver tei di gungsminister<br />

Rudolf Scharping als Sonder be auftragter<br />

zur Untersuchung über Urangeschosse<br />

und deren Folgen in eine<br />

entsprechende Kommission berufen.<br />

Laut Im pres sum der Zeit war Sommer<br />

damals im Beirat dieser Zeitung<br />

und Chef re dak teur, Gero von Randow<br />

einfacher Redakteur. Zählt man nun<br />

eins und eins zusammen, so erfährt<br />

man, dass von Randows Beitrag in der<br />

Zeit in Abstim mung mit den Ergeb nissen<br />

der Sommer-Kommission und nicht<br />

zu fällig erfolg te.<br />

Konnten doch so zwei Dinge gleichzeitig<br />

gelöst werden: Som mer erwies<br />

sich als höchst zuverlässig im Sinne seines<br />

Auftrag gebers Schar ping, und Die<br />

Zeit outete sich als Re gie rungs sprach -<br />

rohr in dem der Re dak t eur Gero von<br />

Randow Journa listenschelte gegen über<br />

der Konkur renz betreiben konnte.<br />

Stützen konnte er sich vorab auf die<br />

Ergebnisse der Sommer-Studie.<br />

Das Er gebnis der Studie war<br />

knapp zusammengefasst: Die im Kosovo<br />

ein gesetzte Uranmunition ist für<br />

unsere dort stationierten Sol daten vollkommen<br />

ungefährlich. Dabei stützte<br />

sie sich auf Unter suchun gen der UN-<br />

Umweltbehörde UNEP und der Weltgesundheitsor<br />

ganisation WHO und<br />

auf eine Studie, die das Institut für<br />

Strah lenschutz Neuherberg bei München<br />

im Auftrag des Verteidi gungs minis teriums<br />

unter Scharping veranlasst hatte.<br />

All diese Studien gelten heute bei neutralen<br />

Wissenachaftlern als höchst umstritten<br />

oder völlig überholt.<br />

Nach Aussage des früheren WHO -<br />

Wis senschaftlers Dr. Keith Baverstock<br />

im Hörfunk von Bayern 2 am 4.<strong>12</strong>.2008<br />

liegen allein im «Giftschrank» der<br />

WHO 16 Studien beziehungsweise<br />

Faktensammlungen zu dem Thema<br />

«Uranmunition und ge sund heitliche<br />

Folgen», die alle be wei sen, dass gerade<br />

die beiden Kom po nenten: hohe Giftigkeit<br />

und Ra dio aktivität dieser Waffe<br />

sich gegenseitig verstärken und so die<br />

hoch aggressiven Krebserkran kungen<br />

hervorrufen. 16 Studien, die nicht veröffentlicht<br />

wurden – das ist unfassbar!<br />

Und warum werden diese nicht ver öffentlicht?<br />

Die Erklärung lieferte schon<br />

am 16. Februar 2001 der Journalist Robert<br />

James Parsons in Le Monde Diplo matique.<br />

Parsons hatte herausgefunden<br />

und lieferte das Do ku ment gleich mit,<br />

dass die WHO schon 1959 mit der Inter<br />

nationalen Atomenergieorganisation<br />

(IAEO) einen Vertrag geschlossen<br />

34<br />

35


<strong>COMPACT</strong><br />

Politik<br />

Foto: AP Images/Enric Marti<br />

Strahlendes Erbe: Auch Iraks Kinder sind Opfer der eingesetzten Uranmunition<br />

hat, in dem sich die WHO verpflichtet,<br />

niemals Erkennt nisse über Radioaktivität<br />

und gesundheitliche Folgen zu<br />

veröffentlichen, wenn die IAEO dem<br />

nicht zu ge stimmt hat. Und weil die<br />

IAEO bis heute solchen kritischen Veröffen<br />

t lichungen nicht zugestimmt hat,<br />

bleiben solche Studien im «Giftschrank»<br />

der WHO.<br />

Den Verantwortlichen im Penta -<br />

gon ist also klar geworden, dass es hier<br />

nicht, wie bei der Klimakatastrophe,<br />

um ein Problem geht, das alle Industrieländer<br />

der Erde verursacht haben,<br />

sondern dass für die Folgen, die der<br />

Welt und den Menschen durch die<br />

Anwendung der Uranwaffen drohen,<br />

nur sie mit ihrem Verbündeten Großbritannien<br />

verantwortlich sind. Also<br />

muss te das Thema Uranwaffen aus den<br />

Medien verschwinden. Dass sich auch<br />

unsere Presse dem so beugt, weil Die<br />

Zeit angebliche Gegenbeweise vorgelegt<br />

hat, hätte ich noch vor zehn Jahren<br />

nicht für möglich gehalten.<br />

Inzwischen ist es so, dass missliebige<br />

Journalisten und Filmemacher von ihren<br />

Arbeitgebern keine Aufträge mehr<br />

erhalten. Drei mir namentlich bekannte<br />

Kollegen haben inzwischen quasi<br />

Haus verbot bei öffentlich-rechtlichen<br />

Sendern. Darunter sind Leute, die 30<br />

Jahre für diese Sender gearbeitet haben.<br />

Das heißt, man drängt solche Journalisten<br />

ins Abseits und versucht sie<br />

mundtot zu machen um so ein kritisches<br />

Thema aus der Öffentlichkeit verschwinden<br />

zu lassen. Und wie macht<br />

man das? Man wirft diesen Leuten vor,<br />

sie hätten in ihren Beiträgen einseitig<br />

tendenziös gearbeitet und deshalb sei<br />

ihre Arbeit nicht sendefähig beziehungsweise<br />

nicht zu veröffentlichen.<br />

Da muss ich fragen: Stempelt die Wahrheitstendenz<br />

eines Beitrages diesen<br />

tatsächlich als tendenziös ab – und ist<br />

das Bestreben, einen solchen Beitrag<br />

zu deformieren und kaputt zu reden,<br />

nicht erst recht tendenziös?<br />

Das Recht steht doch über der Macht.<br />

Das Recht der Haager und Genfer<br />

Konvention, der Nürnberger Dekrete<br />

und die UN-Charta müssen der Macht<br />

den Weg weisen und ihr den Respekt<br />

vor den Grundwerten lehren. Auf<br />

Armut und Unterdrückung, Krieg<br />

und Bomben, verstümmelten, missgebildeten<br />

und getöteten Frauen und<br />

Kindern lässt sich kein Frieden bauen<br />

– nicht im Irak, nicht in Afghanistan,<br />

nirgendwo.<br />

«Der Westen versinkt täglich immer<br />

tiefer im Sumpf der eigenen Politik.<br />

Nicht ein einziges Mal in den letzten<br />

200 Jahren hat ein muslimisches Land<br />

den Westen angegriffen. Die europä i-<br />

schen Großmächte und die USA waren<br />

immer die Aggressoren. Nicht die<br />

Gewalt tätigkeit der Muslime, sondern<br />

die Gewalttätigkeit des Westens ist das<br />

Problem unserer Zeit», sagt Jürgen<br />

Todenhöfer, der 18 Jahre lang Bun destags<br />

abgeordneter der CDU war, in seinem<br />

Buch Warum tötest Du, Zaid?<br />

In dieser Hinsicht hat sich auch unter<br />

dem neuen US-Präsidenten Barack<br />

Obama leider nichts geändert. Denn der<br />

hat ja offensichtlich gelogen, als er bei<br />

der Nobelpreisverleihung im November<br />

2009 sagte, dass er Amerikas Ver -<br />

pflichtung bestätigt, sich an die Genfer<br />

Konventionen zu halten. Die USA<br />

haben allein in den letzten sechs Jahrzehnten<br />

die Genfer Konventionen<br />

immer wieder und immer wieder<br />

gebrochen und mit Füßen getreten –<br />

be sonders in den letzten Jahren in<br />

Sachen Uranmunition.<br />

Darum müssen wir in Deutschland<br />

un seren Abgeordneten durch entsprechende<br />

Ansprache, Briefe, Emails und<br />

persönliche An sprache klar machen,<br />

welche Verantwortung sie tragen,<br />

wenn sie jetzt weitere deutsche Soldaten<br />

nach Afghanistan schicken. Wir<br />

müssen ihnen klar machen, dass sie die<br />

Verantwortung tragen, wenn diese Soldaten<br />

tot, verletzt, traumatisiert oder<br />

durch Uranwaffen kontaminiert nach<br />

Hause kommen.<br />

Wir müssen ihnen klar machen, dass<br />

wir solche Politiker zur Verantwortung<br />

ziehen werden, wenn diese Soldaten<br />

ei nes Tages wegen dieser Muni tion<br />

krank oder durch sie missgebildete<br />

Kin der geboren werden. Wir müssen<br />

ihnen klar machen, dass es um die Zu -<br />

kunft unserer Kinder und dieser Erde<br />

geht.<br />

Weiterlesen: Von Frieder Wagner<br />

ist im Mai in der Reihe<br />

<strong>COMPACT</strong> das Buch URAN-<br />

BOMBEN – Die verheim lichte<br />

Massenvernich tungswaffe<br />

erschienen. (s. Heft innenteil<br />

S. A4)<br />

Der Journalist und Filmemacher<br />

Frieder Wagner ist<br />

Jahrgang 1942. Seine Fernseharbeiten<br />

als freier Kameramann<br />

wurden schon<br />

früh mit dem Adolf-Grim me-<br />

Preis in Silber und Gold geehrt. Seit 1982 stellte er in Personalunion<br />

als Autor, Kameramann und Regisseur eigene, oft<br />

investigative Fernsehdo kumentationen für die ARD und das<br />

ZDF her.<br />

Sein für die WDR-Reihe Die Story gedrehte Dokumentation<br />

Der Arzt und die verstrahlten Kinder von Basra über die Folgen<br />

des Einsatzes der Uranmunition, erhielt 2004 auf der<br />

ÖKOMEDIA den Europäischen Fernsehpreis. Auf bau end auf<br />

diesem Film stellte er 2007 den frei produzierten Kino dokumentarfilm<br />

Deadly Dust – Todesstaub her. Dieser Film ist<br />

die wohl umfangreichste Dokumentation über das Kriegsverbrechen<br />

Uran munition.<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Politik<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Love Parade<br />

Death Parade<br />

Der Tod feierte eine Party – und niemand will Schuld haben. Dabei<br />

hatte es im Vorfeld Warnungen aus dem Polizeiapparat gegeben,<br />

aber das Spektakel musste stattfinden – um jeden Preis.<br />

Von Johannes Heckmann<br />

Die große Party führte zu einer großen<br />

Tragödie. Auf der diesjährigen Love<br />

Parade sind 21 Menschen getötet und<br />

hunderte verletzt worden. Nie zuvor<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg kamen<br />

bei einer Katastrophe im Land Nordrhein-Westfalen<br />

so viele Menschen ums<br />

Leben wie an diesem 24. Juli in Duisburg.<br />

Bis heute will sich keiner schuldig<br />

fühlen: der Oberbürgermeister<br />

nicht, der als Stadtoberhaupt Planung<br />

und Genehmigung abnickte; der Veranstalter<br />

nicht, der hinterher nahezu<br />

vollständig abtauchte; die Polizei nicht,<br />

deren oberster Dienstherr, der Innenminister,<br />

alle Vorwürfe bis dato weit<br />

von sich weist. Dabei hatte es im Vorfeld<br />

an Warnungen nicht gefehlt.<br />

Größte Bedenken hatte etwa<br />

ein Gruppenführer der Kölner Polizei,<br />

der an den Vorbereitungen in Duisburg<br />

beteiligt war: «Es gab zwölf bis<br />

13 Ortstermine in Duisburg. Auch andere<br />

Einsatzführer der Polizei aus<br />

Wuppertal oder Aachen waren dabei.<br />

Und jedes Mal waren wir uns einig,<br />

dass das geplante Konzept im Chaos<br />

enden wird, dass es Verletzte und Tote<br />

geben wird.»<br />

Im Express erhebt der Polizist schwere<br />

Vorwürfe: «Man hat unsere Bedenken<br />

ignoriert. Uns wurde immer wieder<br />

mitgeteilt, es werde nicht diskutiert.<br />

Im Rathaus stehe man auf dem Standpunkt:<br />

Die Love Parade muss funktionieren.<br />

Dabei haben wir ausge rechnet,<br />

dass sich bei einer Million Be su chern<br />

acht Menschen auf einen Quadratmeter<br />

zwängen.»<br />

Auch Wilfried Albishausen, Landesvorsitzender<br />

des Bundes deutscher Kriminalbeamter,<br />

wusste von Bedenken<br />

«wegen des kleinen Geländes und der<br />

engen Zu- und Abgänge (…). Darüber<br />

ist intern auch gesprochen worden. Die<br />

Bedenken wurden aber regelrecht<br />

weich gespült.» Im Vorfeld der Love<br />

Parade tagte insgesamt 16-mal die<br />

Arbeits gemeinschaft Sicherheit, an der<br />

auch die Bundespolizei und das Polizeipräsidium<br />

beteiligt waren. Die Polizei<br />

erklärte sich schließlich mit dem<br />

Sicherheitskonzept des Veranstalters<br />

einverstanden.<br />

Die Verantwortlichen bei der<br />

Polizei wussten offenbar, worauf sie<br />

sich einließen. So war Polizeidirektor<br />

Jörg Schalk klar, dass die «eigentliche<br />

Veranstaltungsfläche ab einer gewissen<br />

Besucherzahl überfüllt sein» und<br />

es «zu Rückstauungen auf den Wegführungen»<br />

kommen wird, was wiederum<br />

«zu einem nicht mehr funk tionierenden<br />

Wegekonzept» führe. Ge nau<br />

dieses Szenario trat später ein. Stau war<br />

offenbar genauso Teil des Konzepts wie<br />

die Schließung des Geländes bei<br />

Überfüllung.<br />

36<br />

37


<strong>COMPACT</strong><br />

Politik<br />

Das Sicherheitskonzept des Love<br />

Parade-Veranstalters Lopavent GmbH<br />

ging von insgesamt 485.000 Besuchern<br />

aus. Eine behördliche Geneh migung<br />

hatte sie für 250.000. Der im<br />

Sicherheits konzept enthaltenen Zuund<br />

Abstromanalyse zufolge wird die<br />

maximale Anzahl der Besucher nie<br />

über schritten. Für 17 Uhr wird darin<br />

mit Spitzenwerten von 90.000 Besuchern<br />

pro Stunde gerechnet, die durch<br />

die Tunnel auf das Gelände zugehen,<br />

und gleichzeitig mit 55.000 Personen,<br />

die den Festplatz verlassen.<br />

Ob dies gut gehen konnte, ist eine<br />

abstrakt-theoretische Frage. Die<br />

Meinun gen der Experten weichen weichen<br />

voneinander ab. Nach der Katastrophe<br />

steht Aussage gegen Aussage.<br />

Während «Panik forscher»<br />

Michael Schreckenberg das von ihm erstellte<br />

Sicherheitskonzept und damit<br />

sich selbst ve hement verteidigt, wird<br />

ein «Katas trophenforscher» namens<br />

Dirk Ober ha gemann zum öffentlichen<br />

Vertreter der Anklage. Es ist kein The -<br />

ma, dass er von einem Bundesministerium<br />

bezahlt wird und im Dienste<br />

der Politik stehen könnte. Laut Oberhagemann<br />

war der Tunnel als einziger<br />

Zu- und Ausgang für so einen Massenandrang<br />

«zweifelsohne absolut<br />

ungeeignet».<br />

Eine Veranstaltung dieser Größenordnung<br />

dürfe man nur mit einem Einbahnstraßensystem<br />

zulassen. Zu- und<br />

Abgang müssten auf jeden Fall von ein<br />

ander getrennt werden. «Ein Eingang<br />

und ein separater Ausgang – so und<br />

nicht anders.» Ein kurzer Blick auf das<br />

Duisburger Veranstaltungsgelände genügt<br />

dem Wissenschaftler, um festzustellen:<br />

«Der Tunnelbereich ist ein ganz<br />

sensibler Punkt. Mir war schnell klar,<br />

dass da was passieren wird.» Oberhagemann<br />

kennt kein Pardon: «Nur völlig<br />

Realitätsferne können ernsthaft gedacht<br />

haben, dass an dieser Stelle<br />

nichts passieren wird.» Deshalb kommt<br />

er zu dem eindeutigen Schluss: «Diese<br />

Veranstaltung hätte so nie und nimmer<br />

stattfinden dürfen.» Man habe sich<br />

«über sämtliche Sicherheitsbedenken<br />

hinweggesetzt.» Seine Bedenken waren<br />

freilich erst hinterher zu vernehmen.<br />

Der Einzige, der auch im Vorfeld<br />

seine Bedenken offensiv geäussert<br />

hatte, war der frühere Duisburger<br />

Polizeipräsident Rolf Cebin. Cebin hatte<br />

sich bereits 2009 we gen Sicherheitsbedenken<br />

heftig gegen die Austragung<br />

der Love Parade gewandt. Der Kreisvorsitzende<br />

der Duisburger CDU und<br />

Bun destagsabgeordnete Thomas Mahlberg<br />

hatte daraufhin in einem Schreiben<br />

an den damaligen NRW-Innenminister<br />

Ingo Wolf die Absetzung Cebins<br />

gefordert.<br />

Im Mai <strong>2010</strong> wurde Cebin in den Ruhe<br />

stand befördert, Detlef von Schmeling<br />

übernahm daraufhin den vakanten<br />

Posten des Polizeipräsidenten kommissarisch.<br />

Noch unter Cebins Führung<br />

ließ die Duisburger Polizei erklären,<br />

dass der Durchführung der Love Para -<br />

de «eklatante Sicherheitsmängel» entgegen<br />

stünden. Im Schreiben Mahlbergs<br />

Duisburg: Partystimmung vor der Katastrophe<br />

heißt es dazu: «Eine Negativ berichterstattung<br />

in der gesamten Re publik<br />

ist die Folge», deshalb solle In nenminister<br />

Wolf nun einen «personellen<br />

Neuanfang im Polizeipräsidium Duisburg»<br />

wagen.<br />

In Bochum war im Vorjahr die Love<br />

Parade auf Drängen des dortigen<br />

Polizeipräsidenten Thomas Wenner abgesagt<br />

worden, das sollte in Duisburg<br />

nicht passieren. Hat der örtliche CDU-<br />

Chef Mahlberg als Parteifreund von<br />

Oberbürgermeister Adolf Sauerland die<br />

Strippen gezogen, um einen mäch tigen<br />

Widersacher und potenziellen Spielverderber<br />

des Love Parade-Spektakels<br />

rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen?<br />

Foto: Florian Peters<br />

Von Johannes Heckmann<br />

erscheint im Dezember<br />

<strong>2010</strong> in der<br />

Buchreihe <strong>COMPACT</strong> der<br />

Titel LOVE PARADE –<br />

DEATH PARADE. Ursachen<br />

und Verantwortliche<br />

eines töd lichen<br />

Kesseltreibens. (115<br />

Seiten, 8.80 Euro)<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Politik<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Freie Wahl zwischen Gold und Papiergeld: Ein malaysisches<br />

Bundesland sucht kleine Fluchten aus der weltweiten Krise<br />

des Finanzsystems.<br />

Die Dinar-Revolution von Kelantan<br />

Von Stefan Breuer<br />

Es erinnert ein bisschen an die alten<br />

Asterixhefte… ganz Gallien ist besetzt,<br />

aber ein kleines Dorf leistet noch Wider<br />

stand. So oder so ähnlich fühlt sich<br />

wohl zur Zeit die politische Lage in<br />

dem kleinen malaysischen Bundesland<br />

Kelantan an. Seit einigen Monaten<br />

sorgt die mutige Währungspolitik der<br />

dortigen Regierung für einiges Aufsehen.<br />

Der mutmaßliche Siegeszug des<br />

Kapitalismus in Asien könnte unter<br />

den Palmbäumen Malaysias empfindlich<br />

gestört werden.<br />

Im Hinterland des ehemaligen<br />

«Tiger staates» hat die erste Regierung<br />

der Welt genug vom Papiergeld-<br />

Tsunami. Die Ankündigung, eine Gold -<br />

währung, den so genannten Dinar und<br />

Dirham, als neue Barter-Währung<br />

(Tausch währung) des Landes einzuführen,<br />

hat schnell für weltweites Aufsehen<br />

ge sorgt. Sogar die ehrwürdige<br />

Financial Times bespricht staunend das<br />

verwegene Projekt. Während Europa<br />

noch einigermaßen gelähmt nach<br />

einem Ausweg aus dem irratio nalen<br />

Finanzdilemma dieser Tage sucht, de<br />

facto aber nur immer mehr Geld<br />

druckt, handeln die Bürger und Bürgerinnen<br />

Kelantans bereits mit einer<br />

echten Alternative.<br />

Die Sensationen sind schnell erzählt:<br />

Inmitten der historischen Finanzkrise<br />

und der größten Papiergeldschwemme<br />

der Menschheitsgeschichte besinnt sich<br />

das muslimische Land mit seinen<br />

knapp zwei Millionen Einwohnern auf<br />

ein altes, anti-inflationäres Gegenmittel.<br />

Die Regierung hat erstmals offiziell<br />

wieder eine Reihe unterschiedlicher<br />

Gewichte von Silber und Gold in Münzen<br />

prägen lassen.<br />

«Land des Dinar und Dirham»,<br />

heißt es nun auf großen Tafeln zur Be -<br />

grüßung der staunenden Gäste am<br />

Flug hafen der Hauptstadt Kota Bharu.<br />

Die neue Währung ist keine Kopfgeburt,<br />

sondern hat eine lange Tradition<br />

in der islamischen Lebens- und Wirtschaftsweise<br />

und könnte auf Dauer in<br />

der Region ein finanzpoli tisches Erdbeben<br />

auslösen. Auf dem «mul tikul -<br />

turellen» Marktplatz der Stadt wird<br />

bereits grenzenlos gehandelt, egal ob<br />

Chinese, Malaie oder sonst wer, das<br />

neue Geld kommt bei allen gut an. Die<br />

staatliche Kelantan Golden Trade Agency<br />

konnte nach nur zwei Wochen vermel -<br />

den, dass ihre Bestände an dem neuen<br />

Tauschmittel bereits verkauft sind.<br />

Die Politiker selbst sehen im Gold-<br />

Dinar nicht nur eine Rückbindung an<br />

die islamischen, in Europa kaum bekann -<br />

ten Grundüberzeugungen der Öko nomie,<br />

sondern auch ein taug liches Mittel<br />

für die Gestaltung der wirtschaftlichen<br />

Zukunft des Landes. Ihr Vorhaben ist<br />

bei ihren Wählern natürlich ziemlich<br />

populär, hat die Maßnahme doch das<br />

erkennbar ehrliche Ziel, die eigene<br />

Bevölkerung in Zeiten der Finanzkrise<br />

Die neuen Dinare sind da: Feierliche Zeremonie in Kota Bharu<br />

besser zu schützen. Die Argumente für<br />

einen Einstieg in die Goldwirtschaft<br />

sprechen für sich – jeder, der eine Goldmünze<br />

besitzt, kann dies an der stetig<br />

positiven Wertentwicklung der letzten<br />

Jahre ablesen.<br />

Es ist die absehbare Entwertung aller<br />

Papiergeldwährungen der Welt, die<br />

nun die lokalen Politiker zu noch<br />

schnellerem Handeln drängt. Schaut<br />

man genauer hin, wird man feststellen,<br />

dass es bei der Finanzstrategie der<br />

Regierung weiß Gott nicht nur um<br />

rück wärts gewandte Romantik geht.<br />

Auch aus der Moderne will keiner<br />

flüchten. Im Gegenteil, endlich zeigen<br />

Muslime auch einmal ihre innovative<br />

Seite. Die Grundidee dabei ist nichts<br />

Anderes als ökonomische Freiheit. Die<br />

Strategie setzt auf die zeitlose Wirksamkeit<br />

des originär islamischen Finanzmodells:<br />

freier Markt und freies<br />

Geld.<br />

38<br />

39


<strong>COMPACT</strong><br />

Politik<br />

Auch die politischen Ansprüche<br />

sind nicht gerade bescheiden. Die<br />

Befreiung der Marktkräfte soll sich am<br />

Ende gegen Monopole und Zwangsgeld<br />

gleichermaßen richten. Die Umsetzung<br />

des Finanzplanes ist dabei so<br />

revolutionär wie einfach. Ab sofort<br />

kön nen Staatsbedienstete, wenn sie<br />

denn wollen, ein Viertel ihres Lohnes<br />

in Gold und Silber, also in Dinar und<br />

Dirham, empfangen und auch ihre<br />

monatlichen Wasser- und Stromrechnungen<br />

damit bezahlen.<br />

Aber auch die Zakat, eine für Musli<br />

me verbindliche Abgabe auf das in<br />

einem Jahr angesammelte Vermögen,<br />

wird nun in Gold bezahlt. Der Grund<br />

ist ziemlich einfach: Diese Abgabe kann<br />

man nach islamischem Recht nur in<br />

realen Werten und nicht etwa mit wertlosem<br />

Papiergeld entrichten. Auch die -<br />

se religiöse Pflicht birgt nebenbei ein<br />

enormes Potenzial für die wiederbelebte<br />

Gold-Silber-Ökonomie.<br />

Der erste Geschäftsmann hat bereits<br />

auf der offiziellen Vorstellung des Kelantan-Dinars<br />

damit seine Verpflichtung<br />

erfüllt. Man muss das diesbezügliche<br />

Potenzial nur grob überschla -<br />

gen, um zu ahnen, was es heißt, wenn<br />

Millionen Muslime in Asien ihre Zakat<br />

künftig wieder mit Gold und Silber<br />

bezah len werden.<br />

Der wohl wichtigste Schauplatz für<br />

das Tauschmittel ist aber, so der spanische<br />

Muslim und Finanzberater der<br />

Regierung, Umar Vadillo, schlicht der<br />

Marktplatz der Stadt. Ab sofort werden<br />

dort die Umrechnungskurse auf<br />

digitalen Tafeln öffentlich angezeigt.<br />

Die Begeisterung auf dem Markt von<br />

Kota Bharu ist riesig – beinahe 1.000<br />

Shops haben bereits die Annahme des<br />

Dinars angekündigt. «Es geht uns in<br />

Kelantan nicht etwa um das Horten<br />

von Gold, sondern um die aktive Zirkulation»,<br />

erklärt Vadillo das Prinzip.<br />

Mit moderner Technik steht man dabei<br />

nicht auf Kriegsfuß. Die Dinar-Ökonomie<br />

operiert bereits mit ausgeklügelten<br />

technischen Hilfsmitteln wie<br />

Debit-Karten, SMS-Funktionen oder e-<br />

payment-Systemen und ist so absolut<br />

zeitgemäß.<br />

In Malaysia hat jedenfalls ein wei -<br />

teres, spannendes Kapitel der Währungsdebatte<br />

begonnen. Das Thema<br />

wird hier nicht zufällig heiß debattiert.<br />

Seit der ehemalige Premier des Landes,<br />

Dr. Mahathir, nach den aggres siven<br />

Währungs spekulationen der 90er Jahre<br />

als eine Konsequenz den «Gold-Dinar»<br />

forderte, ist in Kuala Lumpur das The -<br />

ma «Gold» fester Bestandteil der innenpolitischen<br />

Debatten.<br />

Mahathirs Plan war zunächst nur<br />

die Einführung des Gold-Dinars für<br />

den Aussenhandel des Landes ge wesen.<br />

Bereits diese geplante Maßnahme<br />

der Politik hatte aber die malaysische<br />

Nationalbank alarmiert. Es folgte, bis<br />

heute, ein jahrelanger Machtkampf um<br />

die Einführung. Die Nationalbank<br />

fürch tete schon damals, dass schon die<br />

«theoretische» Einführung des Dinars<br />

auf Dauer die Nationalwährung aushebeln<br />

könnte.<br />

Mahathir musste später kleinlaut eingestehen,<br />

dass er in seiner Amtszeit<br />

gegen die Nationalbank nichts ausrichten<br />

konnte.<br />

Politik, Banken und Parteien mögen<br />

sich nun weiter echauffieren, aber am


Politik<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Frauen als vorrangige Zielgruppe: Verbraucher werden ihr Papiergeld los<br />

Ende werden es wohl die Konsumenten<br />

selbst sein, die mit ihrer Marktmacht<br />

den Streit ums richtige Geld<br />

entscheiden werden. Viele Malaien<br />

sehen längst in der freien Wahl des<br />

Geldes ein entscheidendes Freiheitsrecht,<br />

genauso wichtig wie beispielsweise<br />

die Meinungsfreiheit. In zahlreichen<br />

Inter netforen und Zeitungen<br />

wird bereits munter diskutiert und erstaunlich<br />

sachlich die verschiedenen<br />

Glaubensüberzeugungen zum Thema<br />

Dinar präsentiert.<br />

Der Tenor der Pro-Dinar Fraktion,<br />

natürlich in Anspielung auf die wachsende<br />

Inflation, ist dabei so basisdemokratisch<br />

wie entwaffnend einfach<br />

gehalten: «Behaltet ihr doch einfach<br />

das Papiergeld, wir behalten unser<br />

Gold!»<br />

Darf man aber eigentlich<br />

einfach Münzen prägen? Offiziell dreht<br />

sich die Debatte in Malaysia auch um<br />

die Frage, ob das Bundesland – so argu<br />

mentiert zumindest die Nationalbank<br />

– seine rechtlichen Kompetenzen<br />

überschritten hat. Die Debatte ist juris -<br />

tisch durchaus komplex, denn Kelantan<br />

hatte ja gar nie behauptet, dass der<br />

Dinar eine offizielle Währung («Legal<br />

Tender») Malaysias sei.<br />

Es handelt sich auch um kein staatliches<br />

Zwangsgeld, ist die Nutzung des<br />

Dinars doch grundsätzlich freiwillig.<br />

Im Gegensatz zum südafrikanischen<br />

Krüger-Rand muss man auch des wegen<br />

für den Kelantan-Dinar in weiten<br />

Teilen der Welt Mehrwertsteuer bezahlen.<br />

Es ist aber wohl nur eine Frage der<br />

Zeit, bis ein islamisches Land endlich<br />

den Di nar als «Legal Tender» akzeptiert.<br />

Dann könnte die Goldwährung<br />

auch in anderen Ländern einziehen<br />

und das liberale Wirtschaftsrecht des<br />

Islam noch bekannter machen.<br />

Islamische Geldpolitik ist<br />

noch immer erstaunlich zeitgemäß,<br />

definiert aber auch «Geld» anders, als<br />

wir es heute in Europa gewohnt sind.<br />

Der schon im Koran erwähnte «Dinar»<br />

ist wegen seiner eigenen Geschichte,<br />

die bis zu Beginn des Islam zurückreicht,<br />

für Muslime keine bloße Alter -<br />

nativwährung oder überhaupt eine<br />

Währung im modernen Sinne.<br />

Der Dinar entzieht sich so ein Stück<br />

weit der gewohnten westlichen Ter mi -<br />

nologie. Geld wird bei den frommen<br />

Muslimen natürlich weder angebetet,<br />

noch sonst wie überhöht und ist damit<br />

eine betont rationale und nüchterne<br />

Sache. Die Münzen sind nach islamischem<br />

Recht nur ein Gewicht und<br />

mit anderen Gütern wie Reis vergleichbar.<br />

Im Gegensatz zu modernen<br />

Monopol-Währungen besteht übrigens<br />

auf dem islamischen Markt niemals<br />

ein Zwang, «nur» den Dinar zu<br />

benutzen.<br />

In Kelantan zeigt man sich von der<br />

Kritik an der alternativen Ökonomie<br />

unbeeindruckt. Datuk Husam Musa,<br />

Vorsitzender des staatlichen Planungskom<br />

mitees für Finanzen und Wirtschaft,<br />

bleibt angesichts der anschwellenden<br />

Debatte betont gelassen: «Ver schiedene<br />

Berichte, wonach der Dinar zum zweiten<br />

Zahlungsmittel Kelan tans werden<br />

soll, sind inkorrekt und haben Verwirrung<br />

gestiftet. Ich kann nicht erken -<br />

nen, warum diese Frage aufgeblasen<br />

wird, nachdem Kelantan den Gebrauch<br />

des Dinars eingeführt hatte. Es gibt den<br />

Dinar ja im Islam von Beginn an», sagte<br />

er gegenüber Medienvertretern. «Warum»<br />

so fragt Husam Musa lächelnd,<br />

«sollte das nun gerade heute in einem<br />

islamischen Land nicht mehr möglich<br />

sein?»<br />

Stefan Breuer lebt als Finanzberater in Djakarta<br />

und Frankfurt/Main.<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong><br />

40<br />

41


<strong>COMPACT</strong><br />

Politik<br />

D E R A N L A G E T I P P D E S E X P E R T E N<br />

Gold und Silber bieten Schutz<br />

Von Walter K. Eichelburg<br />

Wie die Leser sicher bereits gemerkt<br />

haben, wäre der Euro im Mai <strong>2010</strong><br />

wegen der Griechenland-Pleite fast<br />

untergegangen und konnte nur durch<br />

ein Riesen-«Rettungspaket», zu dem<br />

man Deutschland brutal gepresst hat,<br />

noch für einige Zeit gerettet werden.<br />

Im September 2008 haben überall die<br />

Bank-Runs eingesetzt, was von der<br />

Politik mit der «Garantie aller Sparein<br />

lagen» noch einmal abgewendet<br />

werden konnte.<br />

Zitat vom ehemaligen Deutschland-<br />

Chef von Mc Kinsey, Jürgen Kluge: «Die<br />

letzte Krise konnte gerade noch beherrscht<br />

werden. Die nächste wird<br />

nicht mehr beherrscht werden kön -<br />

nen!» In den USA sieht es nicht besser<br />

aus, dort versucht man über massives<br />

Gelddrucken, die Wirtschaft an zukurbeln.<br />

Das führt unweigerlich in die<br />

Hyperinflation, die es nach dem Ers -<br />

ten Weltkrieg in Deutschland und<br />

Österreich bereits gegeben hat. Die<br />

Sparer verloren alles.<br />

Die Wertsteigerung von Gold und Silber<br />

über die letzten <strong>12</strong> Monate ist beträchtlich.<br />

Gold gewann gegenüber<br />

dem Dollar 29,43 Prozent, gegenüber<br />

dem Euro 37,82 Prozent. Silber legte<br />

noch mehr zu: gegenüber dem Dollar<br />

46,72 Prozent, gegenüber dem Euro<br />

55,97 Prozent.<br />

Dagegen bieten Spareinlagen derzeit<br />

nur ein Prozent und deutsche Staatsanleihen<br />

2,5 Prozent im Jahr!!! Kein<br />

Wunder, dass das «Smart Money»<br />

bereits aus Geld und Wertpapieren<br />

flüchtet, und in Gold, Agrarland, Wald<br />

geht. Wenn es die Masse auch versucht,<br />

ist es zu spät. Das wird bald<br />

kommen: mit Crash und Währungsreform<br />

wie 1948 – und dem Verlust<br />

der Geldanlagen für viele.<br />

2008 konnte man einen richtigen<br />

Crash noch verhindern, jetzt nicht<br />

mehr. Also sorgen Sie vor.<br />

Walter K. Eichelburg betreibt die Gold- und Krisen website<br />

www.hartgeld.com, mit über drei Millio nen Besuchern pro<br />

Monat die meistgelesene im deutschsprachigen Raum.


Politik<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Das Zentralbankmonster frisst Staat und Bürger pleite: Mit der<br />

Reform der EU-Verträge hat die Bundeskanzlerin die letzten<br />

Sicherungen unserer Euro-Währung herausgeschraubt.<br />

Hayek contra Merkel<br />

Von Oliver Janich<br />

Noch <strong>2010</strong> wird die vorerst letzte Währungsreform<br />

dieses Jahres stattfinden.<br />

Eine nahezu unglaubliche Folge an of -<br />

enen Rechtsbrüchen wird ihren vorläufigen<br />

Höhepunkt finden. Weil An -<br />

ge la Merkel befürchtet, im Frühjahr 2011<br />

das im Mai <strong>2010</strong> beschlossene Euro-<br />

Rettungspaket juristisch um die Ohren<br />

gehauen zu bekommen, setzte sie Ende<br />

Ok tober in Brüssel eine nachträgliche<br />

Än derung des Lissabon-Vertrags durch.<br />

Die ande ren EU-Länder wollten das bis<br />

2013 begrenzte Rettungspaket lediglich<br />

verlängern. Aus Angst vor dem eigent -<br />

lich regierungstreuen Verfassungs gericht<br />

soll zur Sicherheit jetzt Artikel <strong>12</strong>2<br />

geändert werden. Dieser Artikel verspricht<br />

EU-Ländern finanziellen Beistand<br />

bei Naturkatastrophen und au -<br />

ßer gewöhnlichen Ereignissen. Dieser<br />

Beistand soll künftig auch möglich<br />

sein, wenn die «Stabilität der Währungs<br />

union als Ganzes» bedroht ist.<br />

Damit wird das Rettungspaket ins Unendliche<br />

verlängert. Deutschland, das<br />

für alle Länder einstehen muss, ist damit<br />

de facto pleite und seine derzeitige<br />

Währung nichts mehr wert.<br />

Das sollten Sie sich einmal auf der<br />

Zun ge zergehen lassen: Die EU betrach<br />

tet jetzt die Bedrohung der Währungs<br />

union als Naturkatastrophe, also<br />

ein unvorhersehbares Ereignis! Ein<br />

Gutes hat die Sache aber doch. Endlich<br />

finden die Mahner Gehör, die sowohl<br />

die jetzi ge als auch die 1929er Finanzkrise<br />

vor ausgesagt haben: Die Vertreter<br />

der Ös terreichischen Schule.<br />

«Kennen Sie Hayek? Dann<br />

wissen Sie doch, dass die wahre Ur sache<br />

der Finanzkrise das planwirtschaft -<br />

liche Geldmonopol der Zentralbanken<br />

und die Geldschöpfung aus dem<br />

Nichts ist, oder?» Mit dieser Frage brin -<br />

ge ich landauf, landab, Ökonomen,<br />

Politiker und Vertreter von Großbanken<br />

in Verlegenheit. Auf einer Podiumsdiskussion<br />

der Bertelsmann-Stiftung<br />

Ende Okto ber in Berlin nickte mir<br />

auf diese Frage hin plötzlich eine britische<br />

Abgeordnete zu und bestätigte<br />

später im kleinen Kreis meine Ansicht.<br />

And guess what: Es handelte sich um<br />

Gisela Stuart, Redakteurin des Parlamentsmagazins<br />

und Labour-Abgeordnete!<br />

Ähnliche Erfahrungen gab es bei<br />

der European Business School und der<br />

London School of Economics: Erst verschäm<br />

tes Schweigen, im kleinem Kreis<br />

dann Zustimmung.<br />

Friedrich August von Hayek ist der promi<br />

nenteste Vertreter der so genannten<br />

Österreichischen Schule der Ökonomie.<br />

Bereits 19<strong>12</strong>, ein Jahr vor der<br />

verhängnisvollen Gründung der US-<br />

Notenbank FED, verfasste Ludwig von<br />

Mises die Theorie des Geldes und der Umlaufmittel.<br />

Sie enthält bereits alles, was<br />

unsere heutige Finanzkrise erklärt:<br />

Der ständige Versuch einer zentralen<br />

Planstelle, den richtigen Zins und die<br />

korrekte Geldmenge herauszufinden,<br />

muss scheitern, weil die Planungs behörde<br />

nicht genügend Informationen<br />

über die vielen Millionen Markt -<br />

teilnehmer hat. An diesem simplen<br />

Prob lem ist schon der Kommunismus<br />

gescheitert.<br />

Ironischerweise wird die Finanzkrise<br />

jetzt dem Kapitalismus angelastet, ob -<br />

wohl der Geldmarkt durch ein staat liches<br />

Monopol sozialistisch gesteuert<br />

wird. Dabei spielt es keine Rolle, wie<br />

von manch Linken angenom men, ob<br />

die Zentralbank in privatem Besitz ist<br />

wie in den USA oder in öffent licher<br />

Hand wie in Europa. Entscheidend ist,<br />

dass der Staat einer einzigen Institution<br />

das Monopol zur Geldproduktion<br />

überlässt.<br />

Hinzu kommt, dass der Staat und<br />

die Zentralbank es den Geschäftsbanken<br />

ermöglichen, Geld aus dem Nichts<br />

zu erschaffen. Wenn ein Kunde 100<br />

Euro zur Bank bringt, muss das Institut<br />

nur zehn Euro bei der Zentralbank<br />

hinterlegen und kann 90 Euro weiter<br />

verleihen. Ein Unternehmer bekommt<br />

dann beispielsweise diese 90 Euro und<br />

kauft damit Waren, beispielsweise<br />

Stahl, beim Vorlieferanten ein. Kann<br />

der Unternehmer die Autos, die er damit<br />

baut, nicht verkaufen, bekommt<br />

die Bank ihr Geld nicht zurück. Aber<br />

sowohl der Anleger hat noch Anspruch<br />

auf 100 Euro bei seiner Bank, wie auch<br />

der Liefe rant berechtigt ist, 90 Euro<br />

abzu heben. Die Geldmenge hat sich<br />

knapp verdoppelt, obwohl dem keine<br />

realen Ersparnisse oder die Produktion<br />

von Waren zugrunde liegen.<br />

Dieser Mechanismus führt zur<br />

Inflation und zur Verarmung gerade<br />

der Schwächsten in einer Gesellschaft.<br />

Es findet eine Umverteilung von Unten<br />

nach Oben statt. Die Erstempfänger des<br />

neu geschöpften Geldes, der Staat und<br />

die Banken, können noch zu alten Preisen<br />

einkaufen. Deshalb ist das Mietund<br />

Gehaltsniveau in Bankenzentren<br />

wie New York, London oder Frankfurt<br />

höher. Große Konzerne mit Marktmacht<br />

profitieren auch.<br />

Sie erhöhen erst die Preise und dann<br />

die Gehälter. Superreiche erkennen den<br />

Mechanismus und kaufen Sachwerte<br />

wie Aktien, Rohstoffe und Immobilien.<br />

Nur der kleine Mann schaut in die<br />

Röhre. Ohne die staatlich gewollte Vermeh<br />

rung des Papiergeldes würden<br />

alle, vor allem Bezieher fester Einkom -<br />

men wie Arbeitnehmer und Transferempfänger,<br />

vom technischen Fortschritt<br />

profitieren.<br />

Oliver Janich machte<br />

durch seine 9/11-Dossiers<br />

in der Zeitschrift<br />

Focus Money Furore –<br />

bis seine Mitarbeit im<br />

Oktober storniert wurde.<br />

Er gründete 2009 die<br />

Partei der Vernunft und<br />

hat vor kurzem das Buch<br />

Das Kapitalismus-Komplott.<br />

Die geheimen Zirkel<br />

der Macht und ihre<br />

Methoden veröffentlicht.<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong><br />

42<br />

43


<strong>COMPACT</strong><br />

Politik<br />

Eine Expertise der Schweizer Großbank UBS über das mögliche<br />

Auseinanderbrechen der Euro-Zone. Die Rückkehr zur D-Mark könnte<br />

demnach Vorteile haben – nicht nur für die Deutschen.<br />

O-Ton:«Das Undenkbare denken»<br />

«Ein Auseinanderbrechen der<br />

Euro päischen Währungsunion<br />

(EWU) wäre zweifellos ein großer<br />

Rückschlag. Kanz lerin Angela Merkel<br />

sagte vor dem Bundestag: «Es ist<br />

eine Frage des Überlebens. Der Euro<br />

ist in Gefahr. Scheitert der Euro, dann<br />

scheitert Europa. Wenn wir Erfolg haben,<br />

wird Europa stärker als zuvor<br />

sein.» Wir stimmen dieser Einschätzung<br />

nicht zu. Die Europäische Union<br />

bestand lange vor dem Euro, und der<br />

Euro ist für den Erfolg der EU nicht<br />

ausschlaggebend.<br />

Es ist grundsätzlich noch zu früh, um<br />

ein solches Urteil abzugeben, aber es<br />

wäre gut möglich, dass sich der Euro<br />

kens werte an dieser Stellungnahme ist<br />

nicht nur, dass die deutsche Regierung<br />

darin einen geordneten Austritt aus der<br />

Union befürwortet, sondern auch, dass<br />

sie andeutet, dass ein solcher Austritt<br />

auch unfreiwillig zustande kommen<br />

könnte, wenn ein Land bestimmte Bedingungen<br />

nicht erfülen kann. (…)<br />

Es wäre vorstellbar, dass ein oder<br />

mehrere hoch verschuldete Peri pherieländer<br />

aus der EWU ausscheiden. Die<br />

Beweggründe hinter einem solchen<br />

Schritt könnten unserer Meinung nach<br />

darin bestehen, dem Zwang zur Wiederherstellung<br />

der Wettbewerbs fä higkeit<br />

– durch den schmerzhaften Prozess<br />

Darüber hinaus würde die Einführung<br />

einer neuen deutschen Währung die<br />

Staatsverschuldung reduzieren (…).<br />

in seiner derzeitigen Zusammen setzung<br />

als Hindernis für die Integration<br />

erweist. Wie eingangs festgestellt,<br />

wurde der Euro aus politischen Grün -<br />

den und mit einer fragwürdigen wirtschaftlichen<br />

Begründung eingefuḧrt.<br />

Wenn sich herausstellt, dass er nicht<br />

funktioniert, sollte die EWU keine<br />

Skrupel haben, die Mitgliedschaft neu<br />

zu gestalten, um sie besser an die wirtschaftliche<br />

Realität anzupassen. (…)<br />

Deutschland steht im Zentrum des<br />

Euroraumes, und wenn die deutschen<br />

Regierungsvertreter die Zukunft des<br />

Euro offen diskutieren, so markiert dies<br />

eine bedeutende Wende. Der Finanzminister<br />

erläuterte vor kurzem klar die<br />

Haltung der deutschen Regierung bezüglich<br />

eines Austritts aus der EWU:<br />

«… sollte ein Mitglied der Eurozone<br />

letztlich feststellen, dass es nicht in der<br />

Lage ist, seinen Haushalt zu konso lidieren<br />

oder seine Wettbewerbsfä higkeit<br />

wiederherzustellen, könnte dieses<br />

Land im schlimmsten Fall aus der<br />

Währungsunion ausscheiden, aber<br />

Mitglied der EU bleiben». Das Bemereiner<br />

fortgesetzten realen Abwer tung<br />

durch höhere Steuern, Kürzungen der<br />

Staatsausgaben und niedrigere Löhne<br />

– zu entgehen. Stattdessen würden<br />

diese Länder danach streben, die Euro -<br />

zone zu verlassen, um ihren Wechselkurs<br />

abzuwerten und dadurch die<br />

Wett bewerbsfähigkeit auf rasche und<br />

relativ schmerzlose Weise wiederherzustellen.<br />

(…)<br />

Eine zweite Option wäre ein Auseinanderbrechen<br />

der EWU infolge des<br />

Ausscheidens eines oder mehrerer der<br />

finanzstärkeren Länder aus der Union.<br />

Wenn der gewählte Kurs «Sparmaßnahmen<br />

und reale Abwertung» (…)<br />

keinen Erfolg zeitigt, könnte dies die<br />

fiskalische Koordinierung oder Födera<br />

tion wieder auf die Tagesordnung<br />

bringen und ganz allgemein die Verpflichtung<br />

der Kernländer zur Finanzie<br />

rung der Peripherieländer erhöhen.<br />

Aus diesem Grund könnten sich ein<br />

oder mehrere Kernländer für einen<br />

Aus tritt aus der Eurozone entscheiden.<br />

Das Land, das möglicherweise unter<br />

solchen Umständen aus der EWU aus-<br />

scheiden würde, wäre Deutschland.<br />

Eine neue deutsche Währung würde<br />

gegenüber dem verbleibenden Euro<br />

deutlich aufwerten. Das heißt, dass die<br />

Preiswettbewerbsfähigkeit der deutschen<br />

Exporteure stark zurückgehen<br />

wür de. Daher würde die deutsche<br />

Wirt schaft zunächst unter einem solchen<br />

Schritt vermutlich stark leiden.<br />

Längerfristig würde dies jedoch zu einer<br />

begrüßenswerten Umorientierung<br />

der deutschen Wirtschaft vom bisherigen<br />

Exportfokus auf die Binnensektoren<br />

fuḧren. Damit könnten die Deutschen,<br />

die bisher nur wenig von der<br />

Exportstärke ihres Landes profitiert haben,<br />

einen höheren Anteil dessen genießen,<br />

was sie produzieren. Darüber<br />

hinaus würde die Einfuḧrung einer<br />

neuen deutschen Währung die Staatsverschuldung<br />

reduzieren, wenn alte<br />

Verträge weiterhin auf den wohl möglich<br />

schwächeren, aber vermutlich sta -<br />

bileren Euro lauten würden.<br />

Ein Ausstieg Deutschlands hätte auch<br />

für die anderen Länder der Eurozone<br />

Vorteile. (…) Die Bestrebungen Deutschlands<br />

zur Verbesserung seiner externen<br />

Preiswettbewerbsfähigkeit zwingt den<br />

übrigen EWU-Mitgliedsländern eine<br />

deflationäre Tendenz auf. Sie können<br />

entweder versuchen, das deutsche Modell<br />

nachzuahmen oder laufen<br />

»<br />

Gefahr, grosse Defizite in ihren<br />

Leistungsbilanzen anzuhäufen.<br />

Quelle: UBS Research focus,<br />

Die Zukunft des Euro, August<br />

<strong>2010</strong><br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Leben<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Wie das Ausatmen der Zeit zwischen zwei Kriegen<br />

Unterwegs im afghanischen Oxanien. Die Sonne hat jetzt am Horizont nur noch<br />

einen orangegrauen Schimmer hinter lassen. Die Kamele traben in den nachtschwarzen<br />

Winkel des Himmels, der Hirte hält sich an die lichteren Zonen.<br />

Von Roger Willemsen<br />

Der Autor mit Kindern in Afghanistan<br />

Jetzt kommt die Nacht mit einem Schweigen nieder, das<br />

auch die Hunde dämpft und das Blöken der Kamele wattiert,<br />

deren Hufe auf dem federnden Boden keinen Abdruck<br />

und keinen Laut hinterlassen. Der Neumond kommt<br />

heraus, und Nadia sagt:<br />

«Am ersten Tag des Neumonds in der Steppe, da küsst<br />

man sich die Fingerspitzen und wünscht sich was.»<br />

Wir tun es.<br />

Am nächsten Tag erreichen wir nicht weit vor<br />

dem Ende der Straße einen heruntergekommenen Posten,<br />

wo ein Grenzsoldat bei einer Hütte wartet. Es ist ein Lädchen<br />

dabei, am Geländer lehnt ein langbärtiger Verwahrloster,<br />

vielleicht ein hängengebliebener Hippie, vielleicht<br />

ein Sufi, oder ein Gestörter. Ringsum Kriegsschrott zwischen<br />

den Hütten, rostiges Gerät auf den Feldern, ein blinder,<br />

perspektivloser Flecken rund um einen Schlagbaum<br />

mit ein paar Gestrandeten, Vergessenen.<br />

Die Straße endet vor einem Gatter, das wir<br />

passieren dürfen, um die Hafenanlage zu betreten, besser,<br />

den Schrottfriedhof, der sich da ausdehnt, wo ehemals<br />

ein aktiver Hafen gewesen sein muss. Was die Zerstörungen<br />

des Krieges zurückgelassen haben, was aus der Gegend<br />

an rostigem Metall eingesammelt wurde, türmt sich zwischen<br />

Lagerhäusern, Laderampen und einer monströsen<br />

Kran-Anlage. Über dem Brackwasser des trägen Flusses<br />

erhebt sie sich mit der opernhaften Dramatik, die frühere<br />

Zeiten in den ersten großen Maschinen der Industriellen<br />

Revolution erkannten. Wie ein Bühnenbild von Visconti,<br />

übertragen in die Welt der Maschinenpoesie, wirkt das,<br />

wie ein erhaben seinem Verfall entgegenrostendes Sinnbild<br />

hundertjähriger Technik. Und der Arm dieses Krans<br />

gestikuliert so blind über den Fluss, hinüber nach Tad schikistan,<br />

als sei er in dieser Pose erstarrt.<br />

Der Amu-Darja ist grau von der Tonerde,<br />

die er mitschwemmt. Er scheint sich seiner Umgebung angepasst<br />

zu haben. Versandet sind seine Ufer, das Wasser<br />

kommt oberflächlich behäbig, aber mit reißender Unterströmung<br />

daher, die sich nur manchmal durch Schlieren<br />

verrät. Vor nicht langer Zeit wollte ein Reiter auf seinem<br />

Pferd das rettende Ufer von Tadschikistan erreichen. Sie<br />

kämpften heroisch, sagen die Einheimischen, und ertranken<br />

beide.<br />

Breite Schlickstreifen bleiben liegen, wo<br />

sich das Wasser zurückgezogen hat, durchschossen von<br />

Prielen und brüchigen Gräben. Stromaufwärts liegt die<br />

kleine Behelfs fähre, die nach Bedarf die Ufer wechselt.<br />

Drüben in Transoxanien, so die Reisenden, beginne eine<br />

andere Welt, erkennbar am Grün der Landschaft, an den<br />

aufragenden Schornsteinen. Von russischer Seite betrieb<br />

man hier sogar einen Raddampfer, während die Afgha-<br />

44<br />

45


<strong>COMPACT</strong><br />

Leben<br />

nen Segelboote nutzten, mit denen sie selbst den Aralsee<br />

erreichen konnten.<br />

Als wir eintreffen, hat die Fähre gerade in Tadschi -<br />

kistan festgemacht, zwischen ein paar glanzlosen Industriehallen<br />

und Containern, in denen sich der Geist der<br />

afghanischen Seite fortsetzt: posthume Landschaft, Landschaft<br />

nach dem Abzug allen Geschehens, zurückgeblieben<br />

als Statthalter einer abwesenden Geschichte. Doch<br />

kaum schwenkt der Blick ostwärts, ist die Steppe wieder<br />

da, die gelbgrüne, sich in schmuckloser Weite verlaufende<br />

Steppe.<br />

Es bräuchte nichts, um diesen Wirrwarr aus<br />

Dreck, Ruinen und Kriegsschrott zu beleben. Als wüsste<br />

er das, kommt plötzlich ein Alter auf Krücken über die Hafenmauer.<br />

Sein Kartoffelgesicht blökt witternd in den staubgrauen<br />

Himmel. Sofort fliegen Vögel schreiend auf, schreien<br />

Kinder gleichzeitig in der Ferne. Dann ist nichts: Nur das<br />

Klappern eines Metallteils im Wind. Ein Luftzug trägt Stimmen<br />

herüber, auch die Vögel, die im Kran nisten, geben<br />

ein paar lustlose Geräusche von sich, so kratzig, dass sie<br />

kaum mehr nach Vögeln klingen. Schritte entfernen sich<br />

im Kies. Einer unserer Begleiter hat auf dem Schlick seinen<br />

Gebetsteppich ausgebreitet und absolviert seine Andacht<br />

mit nach innen gewandten Augen. Eine Feiertagsstille liegt<br />

plötzlich über dem Ort, unwirklich, wie das Ausatmen der<br />

Zeit zwischen zwei Kriegen.<br />

Jetzt wandert unsere kleine Gruppe vorsich -<br />

tig zum Wasser. Der Platz ist so verlassen und ohne Spuren,<br />

als habe das seit Jahren niemand mehr getan. Nichts ist<br />

schön hier, aber alles so verdichtet, als seien Steinplatten<br />

und rostiges Gerät, Büsche und Wildkräuter, Abfall und<br />

Hinterlassenschaften in diese ausgetüftelte Konstellation<br />

getreten, um so vollendet fahl zu wirken.<br />

Unter den anziehenden Unorten, die ich gese<br />

hen habe, besitzt dieser besondere Wirkung. Geh weg,<br />

sagt er, hier ist nichts, kehr um, sieh mich nicht, halte nichts<br />

fest, sei nicht hier, löse dich auf. Ich tauche meine Hände<br />

in das gelbgrau und milchig schimmernde Wasser des Flusses.<br />

Sie greifen wie in kalt fließendes Opal, und einer wird<br />

mir erklären, dass auf dem Grund des Flusses hellenische<br />

und buddhistische Skulpturen liegen, die von Taliban dort<br />

versenkt wurden, und dass Leichen hier schwammen, weshalb<br />

das Wasser noch heute Infektionskrankheiten auslösen<br />

könne.<br />

Die Kaimauer ist von gelben Flechten üppig bewachsen.<br />

Ein Ponton liegt im Wasser, aber angesteuert wurde er vielleicht<br />

seit Jahren nicht. Nur ein blauer Plastikstuhl ist stehen<br />

geblieben, mit Blickrichtung zur jenseitigen Steppe.<br />

Man dreht sich um, und gleich darauf will man schon sagen:<br />

Ich habe mir diesen Ort nur eingebildet.<br />

Eine spitzwinklige Formation Zugvögel wechselt in<br />

diesem Augenblick ihre Ordnung über dem Fluss. Demnächst<br />

soll hier eine Brücke gebaut werden. Nur afgha nische<br />

und russische Soldaten haben sich vehement<br />

dagegen aufgelehnt, der alten Feindschaft wegen, aber<br />

auch weil sie so gut wie die Ordnungskräfte wissen, dass<br />

diese Brücke niemandem so gelegen kommt wie den<br />

Drogenschmugglern.<br />

Und wer blickt nicht nach dort, wo flussabwärts<br />

noch karge Goldvorkommen die Wäscher anziehen<br />

oder wo das Rohopium verarbeitet wird, das allein durch<br />

die Überquerung des Flusses ein Mehrfaches seines Wertes<br />

gewinnt? Dreitausend Dollar kostet ein Kilo auf dieser, der<br />

afghanischen Seite des Amu-Darja, zehntausend auf der<br />

dort drüben, die kaum fünfhundert Meter entfernt liegt,<br />

und niemand soll glauben, Tadschiken und Afghanen<br />

machten diesen Handel unter sich aus.<br />

Einer der Einflussreichsten hier ist amerikanischer Staatsbürger.<br />

Genaueres will keiner wissen oder sagen. Nur seinen<br />

Spitznamen geben zwei Einheimische preis: «der weiße<br />

Ibrahim». Einer der Afghanen, die sich uns angeschlossen<br />

haben, erzählt mir von einem deutschen Diplomaten, der<br />

in seinem Gepäck unentdeckt siebzehn Kilogramm Opium<br />

schmuggelte, besprüht mit einem bestimmten, den Drogenhunden<br />

unerträglichen Parfüm.<br />

«Woher wissen Sie das?»<br />

«Weil ich der Verkäufer war.»<br />

Auf der Rückseite der Landschaft angekommen,<br />

folgen wir ihrem Imperativ und wenden uns ab,<br />

drehen uns um, machen kehrt. Es ist ein vielfaches Wegwenden<br />

von einer Landschaft, die endet, die einen Strich<br />

zieht mit dem Namen Amu-Darja. Es empfängt uns die<br />

Steppe in all ihrer Pracht der Verödung.<br />

Die Nacht macht sich breit. Ist das jetzt die stillste Stille?<br />

Sie wirkt, als habe jemand eine Glasglocke von der Steppe<br />

genommen und eine Sphäre eingelassen, die von oben<br />

kommt und noch viel weiträumiger und feierlicher still ist.<br />

Reine Atmosphäre mischt sich in das Schweigen. Etwas<br />

schwingt hinein wie atemlose Erwartung. In den nach oben<br />

geöffneten Schweigeraum dringt nun von unten ein einzelnes,<br />

sehr fernes Hundebellen, das nur angestimmt wird,<br />

um das Schweigen fühlbarer zu machen.<br />

Das Schweigen der Steppe: Wenn man in der<br />

Ferne ein Geräusch hört, ist man bei diesem Geräusch, also<br />

in der Ferne. Steht die Steppe aber still, ist man nur noch<br />

beim eigenen Atem, bei den eigenen Schritten. Also ist man<br />

ganz bei sich. Dort ist man selten.<br />

aus: Die Enden der Welt, Der Amu-Darja. An der<br />

Grenze zu Transoxanien, Fischer Verlag,<br />

gebundene Ausgabe und Hörbuch<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Leben<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Gefährliche 8<br />

Motorisierte Geheimgesellschaften: Unterwegs in märkisch Sibirien,<br />

wo Antifanten immer noch Jagd auf braune Yetis machen.<br />

Von Gerd Schulze-Meyer<br />

Autofahrer sind ein gesellschaftlicher Problemfall. Nach Erkenntnissen<br />

von Soziologen, Politologen und anderen Studienabbrechern<br />

gibt es unter ihnen ein klandestines Netz<br />

von Wiedergängern eines Postkartenmalers aus Braunau,<br />

der später als Diktator und Massenmörder berühmt wurde.<br />

Demnach grüßen sich Autofahrer untereinan -<br />

der mit «Heil Hitler» oder «Adolf Hitler», ohne dass andere<br />

davon Kenntnis erlangen. In der kleinen Welt der Antifanten<br />

stehen dabei die 1 für den ersten Buchstaben des<br />

Alphabets, also A, und die 8 für den achten, also H. In<br />

Brandenburg sind daher bereits unter der früheren Großen<br />

Koalition Autokennzeichen mit den Buchstaben- und Zahlenkombinationen<br />

AH 18 und HH 88 verboten worden.<br />

Nachdem aber vor einem Jahr eine rot-rote Koalition ans<br />

Ruder gekommen war, musste beim antifaschistischen<br />

Kampf auf den Kfz-Zulassungsstellen noch ein Zacken zugelegt<br />

werden.<br />

Eine Herausforderung für Brandenburgs Verkehrs -<br />

minister Jörg Vogelsänger (SPD) – aber er löste die Aufgabe<br />

brillant: Nun sind auch die Zahlenkombinationen 8888,<br />

1888, 8818, 888 und 188 für Nummernschilder gesperrt.<br />

Aber wird das ausreichend sein, um dem Glatzenun wesen<br />

in den Neuen Bundesländern beizukommen?<br />

Was ist mit dem Buchstaben G (Göring, Göbbels) und<br />

der Zahl 7?<br />

Und wird den Brandenburgern aus dem übrigen<br />

Bundesgebiet nun endlich Unterstützung zuteil? Die<br />

Augsburger (A), die Hannoveraner (H), die Hamburger<br />

(HH) und Hagener (HA) können jetzt nicht mehr wegschauen!<br />

Auch die Mathematiklehrer stehen in der Verantwortung:<br />

Können wir es uns leisten mit solch problematischen<br />

Zahlen wie 1 und 8 zu rechnen? Was wird das Ausland<br />

sagen, wenn wir nicht schnell handeln?<br />

46<br />

47


<strong>COMPACT</strong><br />

Leben<br />

Über die zweitälteste<br />

Form der menschlichen<br />

Kommunikation und<br />

ihre Feinde.<br />

Lungenküsse<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Leben<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Von Walter Wippersberg (Text) und<br />

Simone von Maiwald (Fotos)<br />

Was wäre der Welt alles erspart geblieben, hätte<br />

Adolf Hitler das Rauchen nicht aufgegeben! In seiner<br />

Jugend hat er 40 Zigaretten am Tag geraucht,<br />

dann aber, im Jahr 1919, machte er Schluss damit und warf<br />

sein letztes Packl Zigaretten in die Donau. Nur so, schwadronierte<br />

er später in einem seiner «Tisch gespräche», habe<br />

er zum Reichskanzler aufsteigen und die «Wiedergeburt<br />

Deutschlands» einleiten können. Im Rauchen sah er nun<br />

ein Laster der «minderen Rassen» – und die Rache des roten<br />

Mannes dafür, dass ihm der weiße Mann den Schnaps<br />

gebracht und ihn damit zugrunde gerichtet hätte. Am liebs<br />

ten hätte er allen deutschen Volksgenossen das Rauchen<br />

verboten, auch den deutschen Soldaten. Diese aber wollte<br />

er dann lieber doch bei Laune halten, sollten sie halt bis<br />

zum «Endsieg» weiter rauchen, danach aber musste Schluss<br />

sein damit. Spät erkannte er, dass diese Nachgiebigkeit ein<br />

großer Fehler gewesen war. Denn Studien belegten, wie<br />

sehr Tabak die Kampfkraft der deutschen Soldaten<br />

schwäch te, ihr Durchhaltevermögen beim Marschieren und<br />

sogar ihre Fähigkeit, geradeaus zu schießen.<br />

Dass Hitler mit dem Rauchen aufgehört hat, war also<br />

ganz schlecht für die Welt, dass er aber seinen Kampf gegen<br />

die Raucher nicht konsequent genug geführt hat, das war<br />

gut für die Welt, denn sonst wären wohl die deutschen<br />

Soldaten noch ausdauernder marschiert und hätten noch<br />

treffsicherer geschossen und so vermutlich dem Führer die<br />

Weltherrschaft erobert.<br />

Der Krieg gegen die Raucher, so wie er jetzt geführt wird,<br />

hat in Amerika begonnen, und ebendort sind auch sonst<br />

allerhand Wahnideen beheimatet: Man könne sich ohne<br />

einen Dollar eigenes Geld ein Haus kaufen; das Tragen von<br />

Schusswaffen mache eigentlich erst den rechten Mann aus;<br />

auch im 21. Jahrhundert können Recht und Ordnung ohne<br />

Todesstrafe nicht durchgesetzt werden und dies sei mit<br />

den Menschenrechten vereinbar. Solchen Gedanken will<br />

kaum ein europäischer Politiker nahe treten, in den Kampf<br />

gegen die Raucher aber lassen sich fast alle einspannen.<br />

Warum eigentlich?<br />

Da ist ein regelrechter kultureller Paradigmenwechsel<br />

zu beobachten. Rauchen war einmal ganz selbstverständlicher<br />

Teil unserer Alltagskultur, Rauchen galt zeitweise<br />

sogar als mondän. Fotos rauchender Frauen wurden zu<br />

Symbolbildern der beginnenden Emanzipation. Abbildungen<br />

rauchender Menschen wurden zu Ikonen. Glamour<br />

des Rauchens: Humphrey Bogart und Lauren Bacall.<br />

Jean-Paul Belmondo in Ausser Atem: Der rauchende Rebell.<br />

Jean-Paul Sartre: Der kettenrauchende Intellektuelle … Von<br />

ihm gibt es übrigens offenbar kein brauchbares Foto ohne<br />

Zigarette oder Pfeife. Als vor einigen Jahren in der Pariser<br />

Nationalbibliothek eine große Ausstellung zu seinem<br />

hundertsten Geburtstag ausgerichtet wurde, da hat man<br />

– political correctness bis hin zur Fälschung – aus einem<br />

berühmten Sartre-Foto von Boris Lipnitzki die Zigarette einfach<br />

wegretuschiert.<br />

Ausgerechnet in den Wirtshäusern, die, seit in Europa<br />

geraucht wird, eng mit dem Tabakkonsum verbunden sind,<br />

soll nicht mehr geraucht werden dürfen! Seit im späten 16.<br />

48<br />

49


<strong>COMPACT</strong><br />

Leben<br />

Jahrhundert in England das Rauchen durch Sir Walter<br />

Raleigh zuerst in adeligen Kreisen und durch Heimkehrer<br />

aus der Kolonie Virginia auch in bürgerlichen Schichten<br />

populär wurde, traf man sich zum Tabakgenuss vor allen<br />

in Wein- und Bierhäusern. Mit gutem Grund: Die Wirtshäuser<br />

dienen der Geselligkeit, und Raucher waren und<br />

sind gesellige Menschen. Wo man sich vorher schon getroffen<br />

hat, um gemeinsam zu trinken, dort hat man nun<br />

auch gemeinsam geraucht. Das ist kein Zufall. Die Genuss -<br />

mittel Alkohol und Tabak passen nämlich gut zusammen<br />

und ergänzen eins das andere auf eine für viele recht<br />

genuss reiche Art; das gleiche gilt für die Genussmittel<br />

Kaffee und Tabak. Natürlich könnte man sagen, jeder soll,<br />

was er genießen will, für sich allein genießen, zu Hause im<br />

sprichwörtlichen Kämmerlein, aber warum eigentlich?<br />

Auß erdem ist das asozial gedacht.<br />

Es gibt (auch wenn sich das etymologisch vielleicht gar<br />

nicht beweisen lässt) eine enge Verbindung zwischen «genie<br />

ßen» und «Genossenschaft». Nicht alle, aber bestimmte<br />

Dinge genießt man am liebsten in Gesellschaft. Deshalb<br />

gehören in unserer Kultur das Wirts- und das Kaffeehaus<br />

und das Rauchen untrennbar zusammen. Und das versteht<br />

nur der nicht, dem Genuss und Lebenslust grundsätzlich<br />

suspekt sind, der bei Alkohol nur an Leberzirrhose und<br />

Delirium tremens zu denken vermag, bei Tabak nur an<br />

Lungenkrebs und Herzinfarkt, bei Kaffee nur an hohen<br />

Blutdruck und Herzflattern.<br />

Manche Völker haben sich, erstaunlich genug, das Rauchen<br />

in den Lokalen einfach verbieten lassen. Bei den Iren<br />

und bei den Italienern hat mich das sehr gewundert. Die<br />

Iren haben in ihrer Geschichte aus geringfügigeren Gründen<br />

Volksaufstände angezettelt, und die Italiener haben,<br />

als man es ihnen noch erlaubt hatte, buchstäblich überall<br />

geraucht, sogar im Kino. Und so ungeniert wie nirgends<br />

sonst. Als ich vor Jahrzehnten einmal in einer italienischen<br />

Bar nach einem Aschenbecher gefragt habe, da hat man<br />

mir mit einer weit ausholenden Geste geantwortet, die<br />

bedeuten mochte: Ist auf dem Fussboden nicht Platz genug?<br />

Den Nichtraucher-Aktivisten ist es gelungen, dass man<br />

das Phänomen des Tabakkonsums heute – was für eine<br />

barbarische Sichtweise! – fast nur noch vom gesundheit lichen<br />

Standpunkt aus beurteilt. Das ist so kulturlos, als inter -<br />

essierte beim Essen nur der Fettgehalt der verzehrten<br />

Speisen und bei Wein oder anderen «geistigen» Getränken<br />

nur deren Alkoholgehalt. Tabak (von seinen Gegnern als<br />

schweres Nervengift denunziert) stimuliert, regt das Denken<br />

und die Phantasie an. Viele Künstler und Wissenschaftler<br />

haben von diesem Angebot (wie von anderen<br />

Stimulanzien auch) Gebrauch gemacht und tun es noch.<br />

Sieht man genauer hin, dann verdanken wir – wenigstens<br />

indirekt – einen gar nicht so kleinen Teil unserer Kultur<br />

dem Rauchen und den Rauchern.<br />

Walter Wippersberg (1945) ist Schriftsteller,<br />

Regisseur und Universitätsprofessor an der<br />

Wiener Filmakademie. Der Text ist seinem neuen<br />

Buch Der Krieg gegen die Raucher. Zur Kuturgeschichte<br />

der Rauchverbote (Promedia Verlag,<br />

Wien) entlehnt. Simone von Maiwald (1984) ist<br />

Bildbearbeiterin und lebt, fotografiert und<br />

raucht in Leipzig.<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Leben<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Der Klassiker auf dem Divan<br />

Gibt es besondere Stätten, auf die sich ein Volk<br />

in einer Identitätskrise rückbesinnen kann? Wenn ja, dann drängt sich<br />

Weimar auch heute als die Kulturwerkstatt der Nation auf.<br />

Von Andreas Rieger<br />

Noch immer zieht die Stadt hunderttausende Besucher<br />

aus Ost und West und aus aller Welt in ihren<br />

Bann. Aber auch viele junge Studenten, die die<br />

Bauhaus-Universität oder die Hochschule für Musik Franz<br />

Liszt besuchen, prägen das Stadtbild. Auf nur weni gen<br />

Quadratkilometern finden sich Bibliothek, National theater,<br />

Schloss, Museen und die Privathäuser der wichtigsten<br />

Repräsentanten der deutschen Klassik.<br />

In Thüringen, zwischen dem Wissenschaftsstandort<br />

Jena und der thüringischen Hauptstadt Erfurt gelegen, hat<br />

die schöne, aber arme Kulturmetropole wenig zum Brutto<br />

sozialprodukt beizutragen, fasziniert aber bis heute als<br />

Schicksalsort deutscher Geschichte. Obwohl im Krieg stark<br />

zerstört, sind spätestens seit der Ernennung zur Kulturhauptstadt<br />

Europas beinahe alle wichtigen Baudenkmäler<br />

renoviert. Goethe- und Schillerhaus sind aufwendig neu<br />

gestaltet und der berühmte Ilmpark scheint sich jeder<br />

Jahreszeit immer wieder neu anzupassen.<br />

Auch wenn das Städtchen heute ein wenig den Charme<br />

eines Freiluftmuseums verströmt, ist es noch immer der<br />

faszinierende Anknüpfungspunkt an das Auf und Ab deutscher<br />

Geschichte.<br />

Hier am Flüßchen Ilm herrschte die deutsche Klassik und<br />

wurde die Weimarer Republik tituliert. Ideologen und Ideologien<br />

hielten in der Stadt Einzug und – auf einer Anhöhe<br />

über dem scheinbaren Idyll gelegen – erinnert das ehemalige<br />

Konzentrationslager Buchenwald an die Schrekkenszeit<br />

des Nationalsozialismus. An gleichem Ort, wo<br />

später das furchtbare Lager entstand, hatte 1827 Goethe<br />

noch nichts ahnend Eckermann auf einem Ausflug «hier<br />

fühlt man sich groß und frei« zugerufen.<br />

Natürlich ist es aber das «goldene Zeitalter», das nachhal<br />

tig das Bild der Weimarer Klassik bestimmt. Die seltene<br />

Symbiose von Geist und Macht bestimmt den Mythos<br />

dieser Zeit. Während der Regentschaft der Herzogin Anna<br />

Amalia und unter ihrem Sohn Carl August, am Ende des 18.<br />

und Beginn des 19. Jahrhunderts, waren geistige Größen<br />

wie Wieland, Goethe, Herder und Schiller in dem kleinen<br />

Städtchen mit weniger als zehntausend Einwohnern anwesend.<br />

Vor allem das Universalgenie Goethe mischte sich<br />

auch als Minister kräftig in die Tagespolitik des kleinen<br />

Fürstentums ein. Die politischen Nachbeben der Französischen<br />

Revolution beschäftigte auch am Fürs tensitz Vereh<br />

rer und Gegner gleichermaßen. Carl August selbst galt<br />

allerdings als tolerant und aufgeklärt und gab dem Kleinstaat<br />

als erster deutscher Monarch 1817 eine Verfassung.<br />

Es sind die Jahrhundertgestalten, Goethe und<br />

Schiller, die das Bild Weimars in der Welt bis heute entscheidend<br />

ausmachen. Hier entstand die berühmte Freundschaft<br />

der beiden Genies, in der Nachbarschaft von Dichten<br />

und Denken. In Weimar pflegten die Größen ihrer Zeit ihre<br />

«Debatte» über die anstehenden Jahrhundertfragen, und<br />

ihre hintergründigen Theaterstücke konnten jederzeit<br />

Revolten und Aufruhr auslösen. Beeindruckend ist das<br />

überlieferte Niveau des Gesprächs bis hin zur sensiblen<br />

Ausgestaltung strittiger Fragen. In ihren Werken und Gesprä<br />

chen spiegeln sich die Fragen nach der Bedeutsamkeit<br />

der nationalen Zugehörigkeit, nach dem Weg des Säku la-<br />

50<br />

51


<strong>COMPACT</strong><br />

Leben<br />

rismus oder nach der Bewahrung der persönlichen Freiheit<br />

des Individuums.<br />

Kurios mutet dagegen der brachiale Versuch der moder -<br />

nen Ideologen an, die beiden deutschen Vorzeigedichter<br />

für sich zu vereinnahmen. Insbesondere die National sozialisten<br />

pflegten einen schäbigen Kult um die Dichterstadt,<br />

oft genug im eklatanten Widerspruch mit den<br />

eigentlichen Überzeugungen der «Klassik». Im Jahre 1932<br />

hielt Thomas Mann in Weimar einen Vortrag, der anschließend<br />

im Völkischen Beobachter verrissen wurde. Mann lobte<br />

ausdrücklich den deutschen Weltbürger Goethe, der sich<br />

gegenüber jedem Nationalismus, so Mann, «kalt bis zur<br />

Verachtung verhalten habe».<br />

Einige Jahre später wurden Goethe und Schiller dennoch<br />

von den Nazis skrupellos als «geistige Führer» vereinnahmt<br />

und reduziert.<br />

Die Narben dieser Zeit sind bis heute sichtbar.<br />

Bei einem Rundgang durch die Stadt ist es das so genannte<br />

Gauforum, zwischen Bahnhof und Innenstadt gelegen, das<br />

«Als der berühmte Schriftsteller und Naturforscher<br />

Johann Wolfgang von Goethe am 22.<br />

März 1832 im Sterben lag, malte er ‘mit dem<br />

Zeigefinger Zeichen in die Luft’, wie ein Biograf<br />

festhält. Die Umstehenden deuteten sie als ein<br />

‘W’, den Anfangsbuchstaben seines zweiten<br />

Vornamens. Doch manche Muslime glauben,<br />

dass Goethe – dahindämmernd und zu schwach<br />

zum Sprechen – das arabische Zeichen für<br />

Allah schrieb. Die Wahrheit ist wohl nicht mehr<br />

zu ermitteln. Aber 175 Jahre nach Goethes<br />

Tod wird allmählich klar, wie eng sich Deutschlands<br />

größter Dichter dem Orient und dem<br />

Islam verbunden fühlte.»<br />

(von der Webseite des<br />

deutschen Außenministeriums)<br />

wie ein unheimlicher Fremdkörper das eigentliche Maß<br />

der Stadt zerstört und neben dem Hotel Elephant am Marktplatz,<br />

in dem Hitler ein und aus ging, das zweite Symbol<br />

des politischen Einflusses der Nazi-Schergen in Weimar<br />

ist. Im Angesicht der Machenschaften im Weimar jener Tage<br />

liest sich Goethes geschichtliche Einsicht vielsagend, dass<br />

«alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen<br />

Epochen subjektiv sind, dagegen alle fortschreitenden<br />

Epochen eine objektive Richtung haben».<br />

Eignet sich aber das Weimar Goethes und Schillers, neben<br />

der Tatsache, ein beliebtes und klassisches Ausflugsziel für<br />

Schulklassen zu sein, auch heute noch als Bezugspunkt<br />

unserer aktuellen Debatten? Zweifellos finden sich in<br />

Weimar für jeden nachdenklichen Menschen zahllose<br />

Anknüpfungspunkte. Denkt man an die zwei großen<br />

Diskus sionen dieses Jahres, den Streit um die Ursachen der<br />

Finanzkrise und die Mängel der Integration im Lande, dann<br />

stiften die Weimarer Dichter durchaus noch «heißen»<br />

Gesprächsstoff.<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Leben<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Goethe, beispielsweise, der nach eigenen Worten<br />

immerhin den Verdacht nicht ablehnte, «selbst ein Muselmann<br />

zu sein», hatte trotz des extrem negativen Islambilds<br />

zu seiner Zeit seine Seelenverwandtschaft zum Islam und<br />

seinem Propheten entdeckt. Der aus seiner Sympathie<br />

resultierende gesellschaftliche Skandal bekümmerte den<br />

Dichterfürsten wenig. Amüsiert beobachtete Goethe das<br />

Getu schel am Hofe, wenn er versuchte, den Koran zu entziffern.<br />

Auch in Sachen Islam blieb der Dichter letztlich<br />

seiner wissenschaftlichen Maxime treu, dass man eine Sache<br />

lieben muss, um sie ganz zu verstehen. Goethe verfügte<br />

übri gens schon zu Lebzeiten – in seinen Verfügungen be -<br />

züg lich seiner Grabstätte – die Verbannung aller christlichen<br />

Symbolik. Die christliche Trinitätslehre vertrug sich<br />

nicht mit dem ganzheitlichen Denkansatz des Meisters<br />

.<br />

Zu den Kennern dieser spannenden Ost-West<br />

Materie gehört neben der Autorin des bekannten Buches<br />

Goethe und der Islam, Katharina Mommsen, auch Manfred<br />

Weimar: Blick auf das so genannte Gauforum<br />

Osten, ehemaliger Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung.<br />

Osten referiert im mer wieder über Goethes<br />

West-Östlicher Divan und sein ungewöhnlich offenes<br />

Islambild.<br />

Osten bedauert dabei den vergeblichen Ver such Goethes,<br />

«die euro zentristische Beleh rungsgesellschaft wieder in<br />

Rich tung der Lerngesellschaft zu transformieren». Diese<br />

Lern gesellschaft habe es, so Osten, leider nur um das <strong>12</strong>.<br />

Jahrhundert in Europa gegeben, als viele Grundlagen der<br />

Wissenschaft und Philo sophie aus der islamischen Welt<br />

nach Europa gelangten und muslimische Gelehrsamkeit<br />

als Quelle der Inspiration galt.<br />

Der West-Östliche Divan ist im Grunde eine<br />

fesselnde Dialog strategie, um auch künftig zwischen Ost<br />

und West auf dem eurasischen Kontinent zu vermitteln.<br />

Osten wies darauf hin, dass das persische Wort Divan eine<br />

«Versamm lung weiser Männer» bezeichne und für Menschen<br />

in der islamischen Welt positiver besetzt sei als der<br />

als «Streit ge spräch» verstandene Begriff «Dialog». Die kalte<br />

Aus übung von Toleranz war für Goethe sowieso nicht gut<br />

genug. Den Toleranzbegriff habe er vielmehr mit den Worten<br />

«dul den heißt beleidigen» kritisiert, da echte Toleranz<br />

in Aner kennung und Respekt übergehen müsse. Im Divan<br />

habe Goethe jedenfalls, so Osten resümierend, die Summe<br />

seiner tiefen Beschäftigung mit dem Islam gezogen.<br />

In Goethes Konservativismus<br />

wird heute eine Art<br />

visionäre Zeitkritik gesehen,<br />

die durchaus bis in das<br />

heutige Internetzeitalter<br />

nachklingt. Goethe hatte<br />

sich, angesichts der neuen<br />

bahnbrechenden Tech nologien,<br />

für eine Entschleunigung<br />

interessiert, die im<br />

Gegensatz zur «ve lo zife ri -<br />

schen Kultur» des Wes tens<br />

stehen könne, in der Goethe<br />

eine «Geschwin dig keit, die<br />

des Teufels ist» sieht. Goethe<br />

fürchtete an der sich im<br />

rastlosen Aufbruch befindenden<br />

west lichen Welt, sie könnte eine «gedächtnislose<br />

Gesellschaft» werden, die durch Aufklärung, Reformation<br />

und französische Revolution ihre Wurzeln vergisst und am<br />

Ende sogar zerstört.<br />

Im zweiten Teil des Faust verknüpft der<br />

Wirtschaftsminister Goethe bekanntermaßen seine Zweifel<br />

an den Möglichkeiten ewigen Fortschritts mit einer harschen,<br />

ökonomischen Kritik an der illusionären Natur des<br />

Papier geldes. Hier eröffnet sich der zweite große Beitrag<br />

Goethes für die aktuelle Debatte, den das deutsche Bil dungsbürgertum<br />

im Grunde jahrzehntelang übersehen hat. In<br />

seinem Hauptwerk geht es um nichts Anderes, als das<br />

Dogma der Moderne – das ökonomische Wachstum als<br />

Maßstab für die dauerhafte Entwicklung der Menschheit –<br />

zu entschlüsseln.<br />

Die Loslösung des Geldes von eigentlichen<br />

Werten eröffnet eine atemberaubende Dynamik, die schon<br />

den alten Goethe tief beunruhigt. Der St. Galler Ökonom<br />

Hans Christoph Binswanger widmet diesem Thema ein<br />

brillantes Buch mit dem bezeichnenden Titel Geld und Magie.<br />

Für den Wirtschaftsphilosophen Binswanger ist der Faust<br />

mit seinen Beschreibungen über die Erfindungen der Notenbankpresse<br />

sogar ein Lehrbuch der Volkswirtschaft und<br />

«von einer kaum fassbaren» Aktualität. Spätestens bei diesen<br />

Fragen blitzt das Genie Goethes wieder auf und damit<br />

die alte Faszination Weimars.<br />

Andreas Rieger ist Rechtsanwalt, Publizist und<br />

Herausgeber der monatlich erscheinenden<br />

Islamischen Zeitung. Er ist Autor des im Spohr<br />

Verlag erschienenden Buches Islam in Deutschland<br />

– Politische Notizen. Ein Tagebuch.<br />

52<br />

53


<strong>COMPACT</strong><br />

Leben<br />

Von der Lust, katholisch zu sein<br />

Meine Lust, mitten in dieser Welt und mitten in dieser Kirche katholisch zu sein,<br />

steigt fast täglich. Als aufgeklärter Mensch? Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts?<br />

Bei diesem Papst? Mit dieser Sexualmoral? Vielleicht bin ich ja verrückt.<br />

Von Martin Lohmann<br />

«Bist Du wirklich immer noch gerne katholisch? Gilt das<br />

nach all den Skandalen auch heute – dass es eine Lust ist,<br />

katholisch zu sein?» Man kennt diesen von sorgenvollem<br />

Mitleid getragenen Ton. Geht das überhaupt?<br />

Es geht! Und wie! Gut, ich habe Jesus Christus gewiss<br />

nicht immer maßstabsgerecht verstanden, fühlte mich auch<br />

schon von ihm verlassen oder habe mit ihm gehadert. Aber<br />

irgend wann habe ich dann doch wieder begriffen – und<br />

im Glauben «gesehen», dass er treu ist, dass er gut ist und<br />

dass er immer zuverlässig ist. Er ist Gottes Sohn, der der<br />

beste Grund ist und bleibt, in dieser auf ihn gegründeten<br />

Heilsgemeinschaft zu sein. Gottes Sohn und Gott. Gott aber<br />

macht keine Fehler. Fehler machen wir. Nicht aber Gott.<br />

Seit meinem Bekenntnis in dem Buch Von der Lust,<br />

katholisch zu sein vor Jahrzehnten habe ich zwar viel erlebt,<br />

hat sich auch viel getan in unserer Kirche. Und, ehrlich<br />

gesagt, auch ich kenne tatsächlich viele Enttäuschungen<br />

innerhalb der Kirche, bin selbst schon enttäuscht worden<br />

und habe wohl auch schon andere enttäuscht. Als Christ.<br />

Als Katholik. Aber ich weiß, dass Menschen nicht unfehlbar<br />

sind. Sie sündigen. Und leben von der Vergebung. Die<br />

brauche auch ich, und die muss auch ich immer wieder<br />

gewähren.<br />

Um es ganz deutlich zu sagen: Die so genannte «political<br />

correctness» ist nicht meine Richtschnur. Mich interessiert<br />

viel mehr, was wahr und richtig ist. Denn pc ist nicht<br />

selten eine reichlich hirnlose Ergebenheit in einen Mainstream,<br />

der nicht unbedingt richtig ist. Und das geht ohne<br />

hin immer mehr Leuten tierisch auf den Zeiger. Gut so.<br />

Hinzu kommt, dass wohl etwas dran ist an der Warnung,<br />

die ein gewisser Joseph Kardinal Ratzinger in seiner letzten<br />

Predigt als Kardinal, bevor er vom Purpurrot zum Papstweiß<br />

wechselte, ausgesprochen hat. Ich war damals im<br />

Petersdom dabei und werde nicht vergessen, wie er vor<br />

einer Diktatur der Relativismus warnte und das süße Gift<br />

der Verführung beschrieb, mit dem diese – ich ergänze –<br />

sexualisierte Diktatur des Relativismus anscheinend so<br />

wohlschmeckend ist.<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Leben<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Es mag also für manche pc sein, der Kirche ihre Fehler<br />

vorzuhalten und gerade nach den vielen schrecklichen und<br />

wahrlich widerlichen Missbrauchsfällen am so genannten<br />

System Kirche insgesamt Zweifel anzubringen. Die<br />

Sexualmoral sei schuld, oder gar der Zölibat. Das mag passen<br />

und bestimmte Klischees bestätigen, ist und bleibt aber<br />

falsch. Schuld sind und bleiben diejenigen, die etwa eindeutig<br />

gegen die Sexuallehre der Kirche, die von Respekt<br />

und Kostbarkeit ausgeht, verstoßen haben. Die, die schwer<br />

gesündigt haben, bestätigen ihre eigene Sündhaftigkeit,<br />

nicht aber, dass die Lehre der Kirche falsch sei oder gar der<br />

Zölibat, den man ohnehin missversteht, wenn man ihn ausschließlich<br />

auf eine Frage der gelebten Sexualität reduziert.<br />

Und überhaupt: Es besteht kein Grund, wegen einzelner<br />

Typen aus der Kirche auszutreten. In der bin ich vor allem<br />

wegen Jesus Christus, weil es Seine Kirche ist. Dieser aber,<br />

das kann ich nach mehr als einem halben Jahrhundert Erdenleben<br />

sagen, hat mich noch nie enttäuscht, hat mich<br />

noch nie belogen oder war noch nie unglaubwürdig.<br />

Mutter Teresa, eine von mir sehr verehrte Heilige, soll einmal<br />

auf die Frage, was sich in der Kirche ändern müsse,<br />

geantwortet haben: Sie und ich. Und so will auch ich meinen<br />

bescheidenen Teil zur ecclesia semper reformanda beitragen.<br />

Wohl wissend, dass ich hinter meinen eigenen<br />

Ansprüchen immer wieder zurückbleibe. Aber deswegen<br />

resignieren? Niemals. Doch in den – nach einer kurzen<br />

Phase des Wir-sind-Papst wiedererwachten – Chor der<br />

deutschen Weltmeister im Selbstmitleid will ich mich nicht<br />

einreihen. Die Mentalität der ständigen Exkulpation, nach<br />

dem Motto: «Ja, ja, verzeihen Sie mir, ich bin tatsächlich<br />

katholisch, aber es soll nicht wieder vorkommen», liegt mir<br />

nicht. Ich will anstecken, will meine Freude am Glauben<br />

teilen, ohne die Sorgen und Nöte, die auch ich hatte und<br />

habe, zu verschweigen.<br />

Mir ist unbegreiflich, warum sich so viele Katholiken<br />

duc ken, wenn in unserer Gesellschaft unter dem Deckmantel<br />

der Kritik gegen die Kirche geschossen wird. Mit<br />

Freude ist festzustellen, dass vor allem junge Christen dieses<br />

Spiel nicht mehr mitspielen wollen. Immerhin scheinen<br />

sie wieder oder noch zu ahnen, dass die römische<br />

Weltkirche die einzige greifbare Einrichtung ist, die sich<br />

zu einer langen Geschichte bekennt und ihre Tradition<br />

durch die Jahrhunderte hindurch bis zum heutigen Tag in<br />

die moderne Welt trägt – und eine wunderbare menschengerechte<br />

Botschaft treuhänderisch weiterzugeben hat.<br />

Die Kirche ist also hierzulande die einzige Institution, die<br />

ununterbrochen seit 2.000 Jahren das Leben der Menschen<br />

entscheidend geprägt hat und auch heute noch beansprucht,<br />

dieses Leben mit gestalten zu wollen.<br />

Von der Lust, katholisch zu sein, sollte ich<br />

damals auf Bitten von Michael Müller, dem Herausgeber,<br />

etwas schreiben. Lust? Im Lexikon finde ich die verwandten<br />

Begriffe: Freude, Vergnügen, Entzücken, Seligkeit, Wollust.<br />

Genuss. Lust wird vielfach – so verklemmt ist halt unsere<br />

Gesellschaft heute – nur noch auf den Bereich des Sexuellen<br />

bezogen. Dabei bedeutet Lust sinnliches Erleben insgesamt,<br />

also auch des Geistes und der Seele. Man kann also<br />

auch Lust an der Transzendenz empfinden, Lust an der<br />

Erkenntnis, in einer von Gott gestifteten Gemeinschaft<br />

54<br />

55


<strong>COMPACT</strong><br />

Leben<br />

Der Autor in der Begegnung mit Papst Benedikt XVI.<br />

Heimat zu haben. Das klingt fast schon esoterisch. Ist es<br />

aber nicht. Was ich mit dieser Lust, oder sagen wir besser:<br />

Freude am Katholischsein verbinde, lässt sich gar nicht so<br />

einfach in Worte fassen. Vielleicht helfen Begebenheiten.<br />

Zum gelebten Glauben gehört für mich das Verwurzeltsein<br />

in einer Pfarrei, die Treue zur sonntäglichen<br />

Messfeier, das selbstverständliche Tischgebet und das regelmäßige<br />

persönliche Gebet. Aufgesetztes Verhalten mag<br />

ich nicht. Selbstverständliches Zeugnis dafür umso mehr.<br />

Ich leugne nicht, dass es mir auch schon einmal schwer<br />

gefallen ist, in einer öffentlichen Gaststätte vor dem Essen<br />

ein Kreuzzeichen zu machen. Aber bereut habe ich dieses<br />

Minimalbekenntnis noch nicht. Und ich freue mich auch,<br />

dass das gemeinsame Tischgebet bei uns seinen Platz hat<br />

und nicht von Grundsatzdiskussionen bedroht ist. Ich weiß<br />

mich glücklich mit einer Frau, mit der ich den Glauben zu<br />

Hause und in der Kirche ganz natürlich praktizieren kann.<br />

Und wir beide sind froh, gute Freunde zu haben, denen<br />

die Liebe zu Gott in seiner Kirche ebenfalls etwas wert ist.<br />

Überhaupt lieben wir eine großzügige Kultur des<br />

Feierns. Auch, weil Großzügigkeit das Herz weitet und<br />

nichts mit Verschwendung gemein hat. Auch hat Großzü -<br />

gigkeit, wenn ich es recht überlege, viel mit meinem katho<br />

lischen Glauben zu tun. Nicht nur Geburtstage sind<br />

Festtage, sondern auch Namenstage, also die Gedenktage<br />

unserer Namenspatrone. Vom Hochzeitstag und von unse<br />

rer Verlobung ganz zu schweigen. Der Bezug zu einem<br />

Heiligen ist mir wichtig. Auf meinen Namenspatron, den<br />

heiligen Martin von Tours, bin ich stolz. Er muss sich hin<br />

und wieder gefallen lassen, von mir um Fürsprache gebe<br />

ten zu werden. Aber nicht nur er, sondern auch andere<br />

Wahlheilige: Caterina von Siena, Johannes, Petrus, Maria,<br />

Philipp Neri, Ignatius von Loyola, Thomas Morus – und den<br />

zu Lebzeiten begegneten Heiligen Johannes Paul II. Und<br />

Mutter Teresa. Und viele andere.<br />

Vielleicht gehört für mich deshalb die Bitte um den<br />

Heiligen Geist zu den wertvollsten Gebetsformen, die ich<br />

von meiner Kirche gelernt habe. Mir scheint, dass diese<br />

häufig vernachlässigte dritte Person Gottes uns viel von<br />

dem geben könnte, was ich einmal mit «heiliger Unruhe»<br />

bezeichnen möchte. Und wenn wir mehr auf Ihn, der der<br />

ganzen Kirche ja zugesichert ist, vertrauten, würden<br />

manche Relationen in unseren Debatten wieder stimmen.<br />

Komm Heiliger Geist, erfülle die Herzen deiner Gläubigen<br />

und entzünde in ihnen das Feuer deiner Liebe – das ist<br />

doch kein hohles Gerede!<br />

Warum bin ich heute gerne katholisch? Bringt mir das<br />

etwas? Ich bin katholisch, weil ich glaube, dass Jesus Chris -<br />

tus diese seine Kirche gestiftet hat und – trotz allem – in<br />

ihr lebt. Ich bin katholisch, weil ich in der Kirche mehr sehe<br />

als nur eine Institution oder einen Verein. Würde ich nur<br />

diese Seite meiner Kirche sehen, und wäre ich auf mich<br />

allein und die anderen angewiesen, müsste ich verzweifeln.<br />

Denn die anderen scheinen dem Anspruch häufig<br />

ebenso wenig gerecht zu werden wie ich selber. Aber zum<br />

Glück hat Gott seine Kirche so konstruiert, dass sie nicht<br />

nur auf Menschen angewiesen ist, auch wenn das bis weilen<br />

so scheint und viele Christen heute vergessen haben, dass<br />

es auch eine himmlische Seite derselben Kirche gibt. Und<br />

da kommt es nicht nur auf menschliches Machen an – was<br />

übrigens auch für die «irdische Seite» unserer Kirche gilt.<br />

Warum verdrängen wir so schnell, dass uns der Beistand<br />

des Heiligen Geistes zugesichert ist? Auch bin ich katholisch,<br />

weil ich den geistigen Reichtum, die Gebete und<br />

Gebetsformen, die mir meine Kirche aus 20 Jahrhunderten<br />

anbietet, schätze. Und ich bin katholisch, weil ich in dieser<br />

Kirche erfahre, aus welcher Quelle sich der Lebenssinn<br />

speist.<br />

«Gott lieben heißt, sich zu Gott auf die Reise machen.<br />

Und diese Reise ist schön.» (Johannes Paul I.). Warum bin<br />

ich katholisch? Sicher auch, weil mir meine Kirche auf<br />

dieser Reise eine unterhaltsame und faszinierende Reisegesellschaft<br />

bietet. Auf jeden Fall wird es mit ihr nie langweilig,<br />

weil vieles so menschlich zugeht.<br />

Prüfungen gibt es im Leben immer wieder. Ich weiß es.<br />

Ob ich die bisherigen einigermaßen ordentlich bestanden<br />

habe, mag ein anderer beurteilen. Wann die letzte Prüfung<br />

kommt, weiß ich nicht. Aber ich habe einen Wunsch für<br />

diese endgültige Seelenkontrolle: dass ich sie mit Treue<br />

überstehe. Wenn es mir gelingt, einmal so zu sterben, wie<br />

ich es für gut halte, dann, so hoffe ich, wird sich meine Lust,<br />

katholisch zu sein, erfüllt haben. Auf die Frage, wie ich<br />

sterben möchte, würde ich antworten: Im Frieden mit Gott.<br />

Darauf kommt es an. Und dabei wünsche ich mir viel Hilfe<br />

von meiner Kirche.<br />

Martin Lohmann war Chefredakteur der Rhein-Zeitung und stellv. Chefredakteur<br />

des Rheinischen Merkur. Seit 2009 ist er Vorsitzender des Bundesverbandes<br />

Lebensrecht (BVL) und hat im selben Jahr den Arbeitskreis Engagierter<br />

Katholiken (AEK) in der CDU gegründet. Lohmann ist Verlagsleiter der J.P.<br />

Bachem Medien GmbH in Köln. Der vorliegende Beitrag greift auf einen Text<br />

aus dem Buch Von der Lust, katholisch zu sein (MM-Verlag Aachen, 1993)<br />

zurück. Eine Übersicht über die zahlreichen Bücher des katholischen Publizis<br />

ten findet sich auf www.lohmannmedia.de/martin-lohmann<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Leben<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Für die Statistik<br />

Dieses Mal ging es gleich ins Gesicht. Eine Faust-Nase-, Faust-Kinn-, Faust-Auge-<br />

Kombination, drei beeindruckende oberkörperorientierte Kickboxmoves, zwei Knie<br />

im Bauch, dann das Signal. Oder darf es noch ein bisschen mehr sein?<br />

Von Christian von Aster<br />

Die Jugendgewalt ist heutzutage ja ein Thema. Das<br />

erfuhr ich jedenfalls, als ich im Berliner Institut für<br />

Gewaltprä-, -inter- und -subvention an einer gesellschaftlich<br />

relevanten statistischen Erhebung zum Thema<br />

Gewalt mitwirken durfte.<br />

Für meine Teilnahme wurde mir eine Vergütung von<br />

30,00 Euro in Aussicht gestellt, und man versicherte mir,<br />

dass besagter Test in keinem Fall länger als eine halb Stunde<br />

dauern würde.<br />

Ich füllte zunächst einen anonymen Fragebo<br />

gen aus, dann folgte ein kurzes Aufklärungsgespräch<br />

über Sinn und Zweck des Testes: Da nämlich Gewalt heutzutage<br />

viele Gesichter hätte, wäre es schwer, sie zu kategorisieren<br />

und wissenschaftlich auszuwerten. Da das jedoch<br />

vonnöten wäre, hätte man also diesen Test entworfen, der<br />

weltweit von zertifizierten Instituten durchgeführt wurde.<br />

Die ersten zehn Minuten meiner halben Stunde verbrachte<br />

ich also damit, dieser Rede zu lauschen und Formulare<br />

auszufüllen. Blutgruppe, Allergien, ethnische Abstammung.<br />

Das Übliche. Darüber hinaus Fragen nach Unfallversicherung,<br />

Krankenkasse und Sportverletzungen.<br />

Ich habe das Kleindgedruckte überflogen, dann meine<br />

Un terschrift druntergesetzt (für Geld muss man immer irgendwo<br />

unterschreiben), und zuletzt folgte eine kurze ärztliche<br />

Untersuchung, die ebenfalls fünf Minuten in Anspruch<br />

nahm, womit die ersten 15 Euro schon verdient waren.<br />

Der untersuchende Arzt führte mich in einen weißgekachelten<br />

Raum, fixierte mich, verband mir die Augen<br />

und verließ den Raum.Ich fühlte mich nicht wirklich wohl,<br />

aber lange konnte der Spaß ja nicht mehr dauern. Schließlich<br />

war die Hälfte der Zeit schon vorüber.<br />

Plötzlich ertönte ein Geräusch ähnlich dem Schließsignal<br />

einer U-Bahn, und dann begann die schlimmste Viertelstunde<br />

meines Lebens: Der erste Schlag traf mich in der<br />

Lendengegend, gefolgt von einem beherzten Schienbeintritt,<br />

der in ein mittelschweres Faustschlagstakkato in<br />

Magengrubenregion überging.<br />

Das Ganze dauerte etwa zwei Minuten.<br />

Dann erklang ein zweites Signal und die Schläge verstummten.<br />

Ich vernahm ein leises knisterndes Rauschen<br />

und aus einem Lautsprecher drang die Stimme des Arztes,<br />

der mich bat, meine Eindrücke bezüglich der Qualität<br />

gerade der empfundenen Gewalt zu schildern und auf einer<br />

Skala zwischen 1 und 10 einordnen. Ich antwortete ihm,<br />

er bedankte sich und dann ertönte ein weiteres Signal.<br />

56<br />

57


<strong>COMPACT</strong><br />

Leben<br />

Drei Ohrfeigen in schneller Folge, ein Tritt zwischen die<br />

Beine, dazwischen angespuckt, ausserdem gebissen und<br />

gekratzt. Das nächste Signal. Frage nach meinen Eindrükken,<br />

Antwort meinerseits.<br />

In Gedanken stellte ich mir die Frage, was<br />

ich eigentlich gerade unterschrieben hatte. Ich kam jedoch<br />

nicht dazu, meine Phantasie spielen zu lassen, da<br />

schon das nächste Signal ertönte. Dieses Mal ging es gleich<br />

ins Gesicht. Eine Faust-Nase-, Faust-Kinn-, Faust-Auge-<br />

Kombination, drei beeindruckende oberkörperorientierte<br />

Kickboxmoves, zwei Knie im Bauch, dann das Signal.<br />

Die übliche Frage, meine wahrheitsgemäße Antwort.<br />

Danach folgte die Baseballschlägerrunde. Gleich darauf<br />

noch eine schlägerlose mit mehreren Teilnehmern und<br />

zuletzt eine Stockattacke mit weniger harten Schlägen.<br />

Dazwischen wurden immer wieder meine persönlichen<br />

Eindrücke abgefragt, und dann war der Test endlich vorüber.<br />

Mit allem drum und dran hatte er exakt eine halbe Stunde<br />

gedauert.<br />

Der Arzt nahm mir die Augenbinde ab, ich<br />

wurde losgeschnallt und in einem Nebenraum drei Stunden<br />

lang medizinisch versorgt. Ich bekam eine provisorische<br />

Schiene für mein geprelltes Bein, eine Kompresse für<br />

linkes geschwollenes Auge und ein paar Heftpflaster für<br />

verschiedene Platz- und Schürfwunden.<br />

Am Ende trat der Arzt an mein Bett, um mit mir über die<br />

Ergebnisse meines Tests zu sprechen: Innerhalb des Gewaltschlüssel<br />

aus randalierenden Grundschülern (3.Klasse),<br />

einer ethnisch durchmischten Mädchengang (14-17 Jahre),<br />

betrunkenen Ausländern (2,3 Promille), Skinheads (ebenfalls<br />

2,3 Promille), einer Gruppe Hooligans (Lok Leipzig und<br />

BFC Dynamo) und zwei wütenden Rentnern (76 und 83<br />

Jahre), hätte ich erwartungsgemäß Skinheads und Auslän -<br />

der mit 9 von 10 Punkten auf den ersten Platz gewählt und<br />

die aggressiven Rentner mit 2 Punkten am angenehms ten<br />

gefunden.<br />

Damit entspräche mein Ergebnis dem üblichen internationalen<br />

Standard.<br />

Er bedankte sich, drückte mir einen Umschlag mit 30<br />

Euro in die Hand und fragte dann noch, ob ich vielleicht<br />

an der erweiterten Testvariante mitwirken wollte. Springmesser<br />

bei den Grundschülern und Gaspistolen bei den<br />

Hooligans, aber dafür gäbe es dann auch 50 Euro.<br />

Ich lehnte dankend ab.<br />

Wenig später verließ ich humpelnd das Kranken<br />

zimmer, und wollte mir, bevor ich ging, noch einen<br />

Kaffee gönnen. Die Cafeteria war schnell gefunden. Und<br />

dort saß ein halbes Dutzend Grundschüler, die ihre Kinderriegel<br />

aßen, sieben halbwüchsige Mädchen, die sich ihre<br />

Nägel feilten und zwanzig Hooligans, die selbst am Tisch<br />

noch rauften. Ausserdem zwei ältere Herrschaften, die ihre<br />

Gehstöcke polierten, und zuletzt je ein Dutzend Skinheads<br />

und Türken, die bemüht waren, ihren Promillepegel zu<br />

halten.<br />

Ich unterhielt mich noch ein bisschen und erfuhr ganz<br />

nebenbei das einzige, das mich an dieser Sache wirklich<br />

sauer machte: Die bekamen für den Tag jeder 150 Euro!<br />

Kurz darauf ertönte zwei Räume weiter ein Signal, die<br />

Grundschüler sprangen auf um ihrer Arbeit nachzugehen<br />

und ich humpelte heim, um meine sauer verdienten 30<br />

Euro zu verprassen …<br />

Wenn sie also das Bedürfnis haben, sich mal<br />

für die Statistik vermöbeln zu lassen, empfehle ich ihnen<br />

das deutsche Institut für Gewaltprä-, -inter- und -sub vention.<br />

Sollten sie Grundschüler, Rentner, Gangmitglied, Skinhead,<br />

Hooligan oder ein gewaltbereiter Ausländer sein, dann<br />

könnte sich das sogar lohnen…<br />

Christian von Aster ist nach Selbstauskunft<br />

«Genregrenzsaboteur und Cascadeur du Mot»<br />

und übt derzeit das ehrenvolle Amt des<br />

Burgschreibers zu Querfurt aus. Seine Bücher<br />

und DVDs samt Bestellmöglichkeiten finden<br />

sich auf www.vonaster.de. Zuletzt erschien:<br />

Apocalypse au chocolat. Periplaneta, Mai <strong>2010</strong>,<br />

Buch und CD.<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>


Leben<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Affe mit Waffe<br />

Von animue<br />

+ + + D a s n ä c h s t e <strong>COMPACT</strong> e r s c h e i n t a m 1 . M ä r z 2 0 1 1 . + + +<br />

+ + + A b J u n i 2 0 1 1 s t e l l e n w i r a u f m o n a t l i c h e s E r s c h e i n e n u m . + + +<br />

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