COMPACT-Magazin | ERSTAUSGABE | 12-2010
Sog. 'Nullnummer' des erfolgreichen gesellschaftspolitischen Nachrichten-Magazins
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Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
der in die riesigen Weiten des russischen<br />
Ostens einzuwandern, während<br />
die Russen dort wegziehen. Auf lange<br />
Sicht wird Moskau diese Territorien<br />
nicht halten können, in den chine sischen<br />
Grenzprovinzen leben schon<br />
heute <strong>12</strong>0 Millionen Menschen. Doch<br />
Peking ist höflich und verpflichtet seine<br />
ausreisenden Bürger zur regelmäßigen<br />
Rückreise nach ein paar Jahren Aufenthalt.<br />
Jeder Eindruck einer Invasion<br />
soll vermieden werden.<br />
Interessant ist, dass Russland auch<br />
gute Verbin dungen zur Türkei<br />
aufbaut.<br />
Das machen sie sehr klug. Wenn die<br />
Türken nicht durch die USA ent fremdet<br />
werden, sind sie für die Russen<br />
ein wertvoller Partner. Und dass in<br />
Ankara mit der AKP eine religiöse<br />
Partei regiert – damit lässt es sich leben.<br />
Die Türkei war toleranter als Osmanisches<br />
Sultanat als unter dem laizistischen<br />
Atatürk. Die christlichen und die<br />
jüdischen Minderheiten lebten damals<br />
besser, und umgekehrt leiden die von<br />
Atatürk drangsalierten Kurden bis<br />
heute.<br />
Sie fürchten also nicht, dass der mili<br />
tante Islam aus der Türkei nach<br />
Europa übergreifen könnte?<br />
Die Türkei will nicht außerhalb ihrer<br />
Gren zen missionieren. Der militante<br />
Islam droht aus Zentral asien, also aus<br />
Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan,<br />
erst in zweiter Linie aus Afghanistan<br />
und Pakistan, und er bedroht<br />
vor allem Russland. In dem Riesenreich<br />
leben 20 bis 25 Millionen Muslime.<br />
Moskau wird die Kaukasus republiken<br />
nicht auf Dauer in der Föderation<br />
halten können. In Tschetschenien hat<br />
Kadyrow zwar die Seiten gewechselt,<br />
von den Fundamentalistan weg zu den<br />
Moskowitern. Doch als deren Statthalter<br />
in Grosny hat er in der Republik<br />
die Scharia eingeführt. Das blutige Hin<br />
und Her erinnert an Tolstois Novelle<br />
Hadschi Murat, die die kaukasischen<br />
Kämpfe im 19. Jahrhundert beschreibt.<br />
Tschetschenien war für Russland<br />
schon verloren, Putin hat es immerhin<br />
zurückgewonnen. Das Problem<br />
scheint eher, da haben Sie Recht, die<br />
gesamte Südflanke der Föderation.<br />
Zweifellos. Auch im benachbarten<br />
Dagestan steigt der Einfluss der Islamis<br />
ten, in Baschkirien, Tatarstan, im<br />
ganzen Ural. In der tatarischen Hauptstadt<br />
Kasan steht ein riesiges Denkmal<br />
von Ivan dem Schrecklichen, das Zentrum<br />
wurde bei meinem letzten Besuch<br />
1991 von den goldenenen Kuppeln der<br />
orthodoxen Kirche dominiert. Jetzt war<br />
ich wieder da, und über der Kirche erhebt<br />
sich eine riesige Moschee. Das erzürnt<br />
viele Russen.<br />
Kann die Türkei Mitglied der EU<br />
werden?<br />
Ich bin weiter absolut dagegen, dazu<br />
ist die Türkei nicht demokratisch<br />
genug. Ich sage meine Meinung übrigens<br />
offen – und habe trotzdem oder<br />
vielleicht sogar deswegen von der<br />
Islamischen Gemeinschaft in Deutschland<br />
(IGD) eine Auszeichnung bekom men.<br />
Die Türken schätzen nämlich mei ne offenen<br />
Worte, weil sie von ande ren an<br />
der Nase herumgeführt werden. Was<br />
bringt es denn, dass Schäuble als Innenminister<br />
so genann te Fundamentalisten<br />
wie die türkische Milli Görös<br />
aus seiner Islamkonferenz ausschloss?<br />
Gerade mit denen hätte er doch über<br />
die Probleme reden müssen, wenn es<br />
vorwärts gehen soll.<br />
Ich sage den Türken immer: Ihr seid<br />
die Erben eines großen Imperiums, das<br />
bis an die chinesische Grenze ausstrahl -<br />
te. Ihr könnt der stabilisierende Pol im<br />
Nahen Osten sein. Warum wollt ihr<br />
euch in die EU einbinden lassen? Das<br />
wäre für die Türkei selbst gefährlich,<br />
denn die EU würde beispielsweise auf<br />
eine Autonomie für die Kurden drängen.<br />
Das geht nicht gut im Nahen<br />
Osten, das endet im Bürgerkrieg. Stattdessen<br />
sollten die EU und die Türkei<br />
eine Zollunion bilden, das bringt wirtschaftliche<br />
Vorteile für beide.<br />
Sie sind oft in der Türkei. Wie denken<br />
die Menschen dort über die EU-<br />
Mitgliedschaft?<br />
Das ist sehr geteilt. Auf dem Dorf hört<br />
man immer wieder: Früher im Sul tanat<br />
war es besser. Die Leute sind religiös,<br />
sie wollen einen höheren Stellen wert<br />
des Islam in der Gesellschaft als bisher.<br />
Auf dem Land tragen die Mädchen<br />
Kopftuch, in den Großstädten kleiden<br />
sie sich sehr lasziv. Dabei verstehen<br />
sich beide gut. Und das Kopftuch wird<br />
freiwillig getragen, nicht unter Zwang.<br />
Das ist ein Protest gegen die Moden,<br />
die der Westen vorschreibt.<br />
Die Beteili gung Deutschlands am<br />
Anti-Terror-Krieg macht, wie Oskar<br />
Lafon tai ne warnte, unser Land nicht<br />
sicherer, sondern holt uns den Terror<br />
geradewegs vor die Haustür.<br />
Das sagen doch auch die US-Geheim -<br />
dienste in ihren Expertisen. Selbst verständlich<br />
hat der Bundes wehreinsatz<br />
in Afghanistan die Terrorgefahr bei uns<br />
erhöht. Wobei man nicht alles auf<br />
Osama bin Laden schieben sollte. Der<br />
hat die Anschläge des 11. September<br />
bestimmt nicht organisiert. Er hatte<br />
doch in seiner afghanischen Höhle<br />
keine Flugpläne aus den USA, um irgend<br />
etwas zu koordinieren. Und falls<br />
er heute überhaupt noch lebt, kann er<br />
kein Telefon, kein Fax und kein Internet<br />
benutzen, wenn er nicht sofort geortet<br />
werden will. Wie kann er da Terror<br />
in Auftrag geben?<br />
Es muss sich vieles ändern. Womit<br />
beginnen?<br />
Die NATO ist obso let. Damit meine ich<br />
nicht das politische Bündnis mit den<br />
USA. Aber die militärische Einbindung<br />
hat keinen Sinn mehr. Ich erinnere an<br />
Staats prä si dent Charles de Gaulle. Er hat<br />
eine klare Un ter scheidung gemacht: In<br />
der Aus ein andersetzung mit Moskau<br />
war er immer an der Seite der USA, in<br />
der Berlin-Krise etwa stand er für einen<br />
ganz harten Kurs. Aber unter seiner<br />
Führung ist Frankreich 1966/67 aus<br />
der integrierten Militärstruktur des<br />
Bündnisses ausgeschert, ohne die Mitgliedschaft<br />
in der NATO insgesamt<br />
aufzukündigen.<br />
Von Peter Scholl-Latour<br />
erschien zuletzt Die Angst<br />
des weißen Mannes. Ein<br />
Abgesang bei Propyläen<br />
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