1Individualisierung Spätestens seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist die Individualisierung ein implizites, heimliches Movens des achitektonischen Diskurses. Die Herangehensweise an dieses Phänomen hat sich jedoch im Laufe der Zeit entscheidend verändert. In den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern betrachtete man Individualisierung als ein Ziel, das bewußt angestrebt werden mußte – und viele sehen das auch heute noch so. Die Hauptaufgabe der progressiven Architektur bestand also darin, ästhetische und organisatorische Unterschiede zu finden und zu erzeugen, ja sogar darin, solche Unterschiede bewußt zu provozieren. In Zukunft, und diese Zukunft hat bereits begonnen, wird Individualisierung etwas sein, mit dem man sich auseinandersetzen muß, dem man Rechnung zu tragen hat. Dies ist ein völlig anderes Programm, und wir schlagen uns bereits damit herum. Einige der größten Probleme in der Architektur und im Urbanismus, etwa der städtische Wildwuchs oder die Ungewißheit darüber, was öffentlicher Raum sei, hängen unmittelbar mit der Individualisierung zusammen. Die Individualisierung geht jedoch weit darüber hinaus: Sie bedroht den Wesenskern unseres heutigen Verständnisses von Architektur und Stadtplanung. Dies mag, für sich genommen, kein Problem sein, doch es gibt in der Gesellschaft einige grundlegende Verantwortungen und Aufgaben, die neu gemischt werden müßten, vor allem auf dem Gebiet des Urbanismus und der Stadtplanung. Diese vor uns liegende Aufgabe ist immens, wird aber noch immer nicht richtig ernst genommen, vor allem von Architekten. Es ist heute eine so immense Aufgabe, weil jeder Versuch mit einem neuen Konzept sozialen Zusammenhalt zu erzeugen, von dem Wissen ausgehen muss, dass Individualismus, Vielfalt und Skeptizismus tief in der westlichen Kultur verankert sind’. Was ist Individualisierung? Laut Ulrich Beck zählt das Phänomen der Individualisierung, zusammen mit der Globalisierung, zu den bedeutsamsten Veränderungen, die während der letzten Jahrzehnte in den Gesellschaften der westlichen Welt vonstatten gegangen sind – eine Veränderung, die sich in absehbarer Zukunft noch deutlicher herauskristallisieren dürfte. Globalisierung und Individualisierung sind eng miteinander verwoben. Bis zu einem gewissen Punkt sind sie zwei Seiten derselben Münze. Beide sind sie Prozesse. Pauschal formuliert, bedeutet Individualisierung, daß die Menschen individueller werden – aber das wird man bereits geahnt haben. So verstanden, scheint Individualisierung eine prima Sache zu sein, etwas, das richtig ist, etwas, das mit Freiheit zu tun hat. In der westlichen Welt sind wir alle dazu erzogen worden, die Menschen auf diese Weise zu sehen: als Individuen, mit gleichen Rechten möglicherweise, aber mit ihren jeweiligen persönlichen Besonderheiten. Sie erklärt zum Beispiel die Faszination, die Portraits auf uns ausüben: nicht bloß die Portraits von Kaisern und Königen, von Generälen und Philosophen, sondern auch die Portraits von gewöhnlichen Menschen, die in Ausstellungen wie “The Family of Man" präsentiert werden, die Portraits von Menschen, die wir in der Zeitung sehen, und die Portraits unserer nächsten Angehörigen, die in unseren Wohnzimmern hängen oder auf unseren Schreibtischen stehen. Diese Fotografien scheinen Gefühle zu vermitteln, die wir als äußerst individuell erachten. Gleichzeitig sorgt die Individualisierung jedoch zwangsläufig auch für kleinere oder größere Reibereien, da es sehr schwierig wird, jemandem seine individuelle Freiheit zu garantieren, wenn diese mit der Freiheit eines anderen in Konflikt gerät. Dann kann die Individualität von Menschen aus Sicherheitsgründen oder für Kontrollzwecke urplötzlich instrumentalisiert werden: für Reisepässe, Fahndungsfotos, Fingerabdrücke, Iris-Scanner und dergleichen. (...) In der Architektur und im Urbanismus werden die menschlichen Beziehungen räumlich organisiert. Eins sollte jedoch von vornherein klar sein: Individualisierung bedeutet nicht, daß die Menschen immer autarker werden, obgleich dies manchmal ein Ziel zu sein scheint. Individualisierung bedeutet vielmehr, daß man vielfältigen Netzwerken und komplexen abstrakten Systemen zum Beispiel der sozialen Vorsorge angehört. Aus diesem Grund – weil die Menschen in der Regel nicht auf dieselbe Kombination von Netzwerken zurückgreifen – kommt es zur Individualisierung. Medien und Mobilität spielen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Betrachten wir die Individualisierung auf diese Weise, so gibt es prägnante Veränderungen zwischen der Industriegesellschaft und der Gesellschaft, in der wir heute leben. Bis vor kurzem schien die Individualisierung etwas Abb. 26 zu sein, um das man kämpfen mußte. Im Namen der individuellen Freiheit wurden buchstäblich Kriege geführt. Heute gibt es in diesem Kontext jedoch auch einen Unterschied, denn wir erkennen zunehmend, daß uns die Individualisierung irgendwie aufgezwungen wird – sei es durch die sanften Verführungsstrategien der Medienindustrie und der Politiker oder durch die ökonomischen und politischen Kräfte, die die weltweite Migration hervorrufen. Paradoxerweise basiert die Individualisierung nicht nur auf der ewigen Sehnsucht nach einer Traumwelt der Freiheit, sondern zugleich auch auf der Angst vor Armut, Hunger und Krieg. Sie entsteht nicht nur durch Wohlstand und ein hohes Erziehungsniveau, das die Menschen in die Lage versetzt, Entscheidungen zu treffen und für sich selbst zu sorgen, sondern gleichzeitig auch durch das wirtschaftliche Elend, das die Menschen aus ihren traditionellen Bindungen, Familien und Gemeinschaften herausreißt. Die neoliberale Marktideologie forciert die Atomisierung mitsamt ihrer politischen Konsequenzen. (Bart Lootsma) Betrachtet man nun die Stadt Esch/Alzette und der entstehende Stadtteil von Belval, so lassen sich sehr markante Unterschiede zwischen ihrer früheren Industriegesellschaft und der heutigen Gesellschaft erkennen. 1.Wohnen: Wie in den in späterer Folge gezeigten Grundrissen erkennbar ist, entfernt man sich von den standardisierten Wohnungseinheiten. Jede Wohnung ist individuell nach Geschmack des Mieters oder Käufers frei gestaltbar (siehe Abb.33 aus dem Werbeprospekt von Belval-Plaza). Die Lebensstile verändern sich und bringen eine Diversifizierung der Familientypen mit sich. Wo früher noch die Großfamilien dominierten, gibt es heutzutage vermehrt Familien mit nur einem Kind, Alleinerziehende oder kinderlose Paare. Der Wunsch nach Eigenheim, Privatsphäre und Freiheit hat die Großfamilie abgelöst, 3-Generationen-Familien sind eine Seltenheit geworden. 2.Mobilität: Auch der private und öffentliche Verkehr haben sich seit dem Industriezeitalter stark verändert. Der frühere Massentransport von
Abb. 24 Stahlarbeiter wäre heute nicht mehr denkbar. So zählt jeder Haushalt mindestens ein Auto; Busund Bahnverbindungen wurden ausgeweitet, der Komfort ist gestiegen. Verändertes Freizeitverhalten Abb. 27 Veränderte Berufswelt