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„Ich weiß nur dies, dass ich kein Marxist bin…“ - Michael Schmidt ...

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Dr. M<strong>ich</strong>ael <strong>Schmidt</strong>-Salomon (Trier)<br />

<strong>„Ich</strong> <strong>weiß</strong> <strong>nur</strong> <strong>dies</strong>, <strong>dass</strong> <strong>ich</strong> <strong>kein</strong> <strong>Marxist</strong> <strong>bin…“</strong><br />

Karl Marx und die Marxismen<br />

Als Karl Marx am 14. März 1883 starb,<br />

hinterließ er ein gewaltiges, Tausende von<br />

Seiten umfassendes Werk, das die historische<br />

Entwicklung prägen sollte wie kaum<br />

ein anderes. Und doch war Marxens Lebenswerk<br />

auf merkwürdige Weise unvollendet,<br />

gl<strong>ich</strong> eher einem gigantischen Torso<br />

als einer nach allen Seiten abged<strong>ich</strong>teten,<br />

in s<strong>ich</strong> stimmigen Weltanschauung. Die<br />

offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>en Lücken und Widersprüche<br />

innerhalb der Marxschen Ursprungsphilosophie<br />

standen der Verbreitung des<br />

Marxismus jedoch kaum im Wege. Im<br />

Gegenteil! Sie waren und sind mitverantwortl<strong>ich</strong><br />

dafür, <strong>dass</strong> der Marxismus s<strong>ich</strong><br />

in allen <strong>nur</strong> erdenkl<strong>ich</strong>en Varianten über<br />

den Erdball ausbreiten konnte und <strong>dass</strong><br />

er auch heute noch – viele Jahre nach dem<br />

Zusammenbruch des „real existierthabenden<br />

Sozialismus“ – alles andere als erledigt<br />

ist.<br />

Schon zu Marx’ Lebenszeiten gab es recht<br />

unterschiedl<strong>ich</strong>e Auffassungen darüber,<br />

was man unter Marxismus eigentl<strong>ich</strong> zu<br />

verstehen habe. Es gibt einen häufig zitierten<br />

Ausspruch von Marx, der <strong>dies</strong> andeutet:<br />

„Alles, was <strong>ich</strong> <strong>weiß</strong>, ist, <strong>dass</strong> <strong>ich</strong><br />

<strong>kein</strong> <strong>Marxist</strong> bin“ 1 . Marx bezog s<strong>ich</strong> hier<br />

auf eine Variante des französischen Marxismus,<br />

der zeitweise auch durch seine<br />

beiden Schwiegersöhne Charles Lonquet<br />

und Paul Lafargue repräsentiert wurde. Es<br />

gab Autoren, die aus <strong>dies</strong>em Ausspruch<br />

ableiten wollten, <strong>dass</strong> Marx eine generelle<br />

Abscheu gegen die Dogmatisierung seiner<br />

Lehre hegte. Wahrscheinl<strong>ich</strong> ist <strong>dies</strong><br />

zu weit gegriffen. Marx hatte s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong><br />

<strong>kein</strong>e Probleme mit dem „Ismus“ an s<strong>ich</strong>,<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005<br />

aber er konnte das, was unter seinem Namen<br />

gedacht und entwickelt wurde, n<strong>ich</strong>t<br />

mit seiner eigenen Lehre in Einklang bringen.<br />

Wenn Marx sagte, <strong>„Ich</strong> bin <strong>kein</strong> <strong>Marxist</strong>“,<br />

so sollte <strong>dies</strong> wohl <strong>nur</strong> heißen:<br />

„Wenn das Marxismus ist, dann bin <strong>ich</strong><br />

<strong>kein</strong> <strong>Marxist</strong>!“<br />

Ich werde nachfolgend versuchen zu ergründen,<br />

was denn Marx von all jenen<br />

Marxismen gedacht hätte, die s<strong>ich</strong> erst<br />

nach seinem Tod entwickelten. Kein le<strong>ich</strong>tes<br />

Unterfangen anges<strong>ich</strong>ts der Vielzahl<br />

heterogener Ideen, Strömungen und Bewegungen,<br />

die im Laufe der Gesch<strong>ich</strong>te<br />

mit dem Etikett „Marxismus“ versehen<br />

wurden. Selbstverständl<strong>ich</strong> wird es hier<br />

n<strong>ich</strong>t mögl<strong>ich</strong> sein, die gesamte Bandbreite<br />

des Marxismus abzudecken, und einige<br />

wesentl<strong>ich</strong>e Punkte werden wir auch <strong>nur</strong><br />

sehr oberflächl<strong>ich</strong> streifen können.<br />

Besondere Aufmerksamkeit verdient zweifellos<br />

der Marxismus-Leninismus, den <strong>ich</strong><br />

im ersten Teil meiner Ausführungen darstellen<br />

werde, da <strong>dies</strong>e Variante des Marxismus<br />

in der Gesch<strong>ich</strong>te von größter Bedeutung<br />

war. Der zweite Teil wird Sozialdemokratie<br />

und Spartakusbund zum Thema<br />

haben, der dritte Teil wird s<strong>ich</strong> mit<br />

den Dissidenten des bürokratischen Sozialismus<br />

des Ostblocks beschäftigen, der<br />

vierte Teil mit marxistischen Bewegungen<br />

in China, Kambodscha und Lateinamerika,<br />

der fünfte Teil wird die (frühe) Kritische<br />

Theorie zum Gegenstand haben, der<br />

sechste Teil die sog. „Neue Linke“ und<br />

der siebte Teil den Einfluss des marxistischen<br />

Denkens auf die Kunst sowie auf<br />

die französische Philosophie. Im abschlie-<br />

53


ßenden achten Teil werde <strong>ich</strong> versuchen,<br />

eine Antwort auf die Frage „Was bleibt<br />

vom Marxismus?“ zu geben.<br />

1. Die „Diktatur des Proletariats“ in<br />

Russland (Leninismus, Stalinismus)<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts entstand eine<br />

besondere Spielart des Marxismus, die<br />

von vielen Menschen bis heute mit dem<br />

Marxismus an s<strong>ich</strong> gle<strong>ich</strong>gesetzt wird: der<br />

Marxismus-Leninismus. Bei genauerer Betrachtung<br />

ist <strong>dies</strong>e Zusammensetzung jedoch<br />

höchst problematisch, denn zentrale<br />

Aspekte der marxistischen und der leninistischen<br />

Philosophie sind unvereinbar.<br />

Dies zeigt s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t zuletzt in der Differenz<br />

von Vergesellschaftung und Verstaatl<strong>ich</strong>ung.<br />

2<br />

Vergesellschaftung bedeutet bei Marx freie<br />

Assoziation der Produzenten (n<strong>ich</strong>t Planungsanweisungen<br />

aus der Parteizentrale!),<br />

Aufhebung entfremdeter Produktions-<br />

und Konsumtionsweisen (n<strong>ich</strong>t anonymisierte<br />

Massenproduktion in Fabriken<br />

und Kolchosen!), ihr Ziel ist die Verwirkl<strong>ich</strong>ung<br />

des Selbst als Individuum wie auch<br />

als Gattungswesen (n<strong>ich</strong>t die Unterwerfung<br />

des Individuums unter ein bürokratisch<br />

organisiertes Kollektiv!). Unter n<strong>ich</strong>t<br />

entfremdeten Arbeitsbedingungen, die<br />

durch eine Vergesellschaftung herzustellen<br />

wären, schreibt Marx, wäre die Arbeit<br />

„freie Lebensäußerung, daher Genuss des<br />

Lebens. [...] In der Arbeit wäre [...] die<br />

Eigentüml<strong>ich</strong>keit meiner Individualität, weil<br />

mein individuelles Leben bejaht. Die Arbeit<br />

wäre wahres tätiges Eigentum.“ 3<br />

Mittels Verstaatl<strong>ich</strong>ung, welche notwendigerweise<br />

mit einem weitre<strong>ich</strong>enden System<br />

bürokratischer Herrschaft verbunden ist,<br />

lässt s<strong>ich</strong> eine solche auf individuelle<br />

Selbstentfaltung ausger<strong>ich</strong>tete Produktionsform<br />

kaum erre<strong>ich</strong>en. Im Gegenteil!<br />

54<br />

Marx zufolge befinden s<strong>ich</strong> die Proletarier<br />

prinzipiell „im direkten Gegensatz zu<br />

der Form, in der die Individuen der Gesellschaft<br />

s<strong>ich</strong> bisher einen Gesamtausdruck<br />

gaben, zum Staat, und müssen den<br />

Staat stürzen, um ihre Persönl<strong>ich</strong>keit<br />

durchzusetzen.“ 4<br />

Unumwunden teilt Marx den Hass der<br />

Pariser Kommune auf die – so Marx wörtl<strong>ich</strong><br />

im ersten Entwurf zum „Bürgerkrieg<br />

in Frankre<strong>ich</strong>“ – „zentralisierte Staatsmaschinerie,<br />

die mit ihren allgegenwärtigen<br />

und verwickelten militärischen, bürokratischen,<br />

geistl<strong>ich</strong>en und ger<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>en<br />

Organen die lebenskräftige bürgerl<strong>ich</strong>e Gesellschaft<br />

wie eine Boa constrictor umklammert.“<br />

5<br />

Konsequenterweise wendet s<strong>ich</strong> Marx wenige<br />

Zeilen später der Staatsbesessenheit<br />

vorangegangener Revolutionen zu, und<br />

seine Worte klingen beinahe wie eine böse<br />

Vorahnung des Elends von 1917ff.: „Alle<br />

Revolutionen vervollkommneten [...] <strong>nur</strong><br />

die Staatsmaschinerie, statt <strong>dies</strong>en ertötenden<br />

Alp abzuwerfen. Die Fraktionen<br />

und Parteien der herrschenden Klassen,<br />

die abwechselnd um die Herrschaft kämpften,<br />

sahen die Besitzergreifung (Kontrolle)<br />

(Bemächtigung) und die Leitung <strong>dies</strong>er<br />

ungeheuren Regierungsmaschinerie als<br />

die hauptsächl<strong>ich</strong>e Siegesbeute an. Im Mittelpunkt<br />

ihrer Tätigkeit stand die Schaffung<br />

ungeheurer stehender Armeen, eine<br />

Masse von Staatsparasiten und kolossaler<br />

Staatsschulden.“ 6<br />

Anges<strong>ich</strong>ts <strong>dies</strong>er Verirrungen war für<br />

Marx evident, <strong>dass</strong> eine wirkl<strong>ich</strong>e Revolution<br />

des Volkes großen Wert auf einen<br />

schnellen Abbau des Staatsapparates legen<br />

musste. Auch deshalb pries er die<br />

Pariser Kommune. Die zentrale Devise<br />

formulierte er unmissverständl<strong>ich</strong>: „Beseitigung<br />

der Staatshierarchie überhaupt und<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005


Ersetzung der hochfahrenden Beherrscher<br />

des Volkes durch jederzeit absetzbare Diener,<br />

der Scheinverantwortl<strong>ich</strong>keit durch<br />

wirkl<strong>ich</strong>e Verantwortl<strong>ich</strong>keit, da sie dauernd<br />

unter öffentl<strong>ich</strong>er Kontrolle arbeiten.“<br />

7<br />

Wie anders war Lenins S<strong>ich</strong>t der Dinge.<br />

Wenn Marx die Frage „Staat oder Kommunismus?“<br />

stellte, so entschied s<strong>ich</strong> Lenin<br />

eindeutig für den Staat, gegen die kommunistische<br />

Gesellschaft 8 . Im Gegensatz<br />

zu Marx fußte Lenins Denken n<strong>ich</strong>t in der<br />

Tradition der europäischen Aufklärung.<br />

Sein Revolutionseifer wurzelte n<strong>ich</strong>t im Bewusstsein<br />

einer breiten liberalen und humanistischen<br />

Emanzipationsbewegung,<br />

sondern war vor allem Ausdruck eines<br />

durch die eigene Biographie induzierten<br />

Hasses auf die Obrigkeit. Lange bevor er<br />

s<strong>ich</strong> in die Lektüre von Marx und Engels<br />

begab, war Lenin entschlossen zum gewaltsamen<br />

Umsturz des zaristischen Regimes.<br />

Unter der Anleitung seines Bruders<br />

Alexander hatte er eifrig die Werke der<br />

führenden russischen Revolutionäre gelesen.<br />

Den entscheidenden Anstoß dazu,<br />

selbst Berufsrevolutionär zu werden, erhielt<br />

er durch den Tod des geliebten Bruders,<br />

der wegen der Beteiligung an einem<br />

Attentatsversuch auf den Zaren hinger<strong>ich</strong>tet<br />

wurde.<br />

Der unbändige Revolutionseifer Lenins<br />

wurde später von einer Vielzahl russischer<br />

<strong>Marxist</strong>en scharf kritisiert. Man warf ihm<br />

vor, die Marxschen Werke eindimensional<br />

für seine revolutionären Zwecke zu<br />

missbrauchen. Führende marxistische<br />

Theoretiker wie Rykow und Plechanow<br />

(letzterer prägte den Begriff des „dialektischen<br />

Materialismus“) wiesen darauf hin,<br />

<strong>dass</strong> Marx die sozialistische Revolution<br />

als Endprodukt der kapitalistischen Entwicklung<br />

verstanden habe und <strong>dass</strong> in<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005<br />

Russland die Bedingungen für eine solche<br />

Entwicklung objektiv n<strong>ich</strong>t gegeben<br />

seien. Folger<strong>ich</strong>tig beteiligten s<strong>ich</strong> die russischen<br />

<strong>Marxist</strong>en auch an der provisorischen<br />

Regierung, die nach der Februarrevolution<br />

angetreten war, die Grundsteine<br />

für eine bürgerl<strong>ich</strong>e, parlamentarische<br />

und kapitalistische Entwicklung in Russland<br />

zu legen.<br />

Lenin, dessen Denken n<strong>ich</strong>t unwesentl<strong>ich</strong><br />

von dem Terroristen Netschajew beeinflusst<br />

war, hatte zwar eine Zeitlang mit einem<br />

solchen, im Einklang mit dem dialektischen<br />

Gesch<strong>ich</strong>tsmodell stehenden Marxismus<br />

sympathisiert, später jedoch beze<strong>ich</strong>nete<br />

er <strong>dies</strong>e Position als „unmarxistischen<br />

bürgerl<strong>ich</strong>en Opportunismus“.<br />

Gle<strong>ich</strong> in seiner ersten Rede nach der<br />

Rückkehr aus Deutschland rief er zum<br />

Sturz der provisorischen Regierung auf.<br />

Die Mehrzahl der Mitglieder der Generalkonferenz<br />

reagierte darauf mit wütendem<br />

Protest. Bogdanow schrie: „Das sind die<br />

Wahnvorstellungen eines Irrsinnigen!“ und<br />

Goldenberg, früherer Mitarbeiter Lenins,<br />

kommentierte zornig: „Alles, was wir eben<br />

gehört haben, ist eine völlige Verleugnung<br />

der ganzen sozialdemokratischen Doktrin,<br />

der ganzen Theorie des wissenschaftl<strong>ich</strong>en<br />

Marxismus. Wir haben soeben ein klares<br />

und unmissverständl<strong>ich</strong>es Bekenntnis zum<br />

Anarchismus gehört. Sein Verkünder, der<br />

Erbe Bakunins, ist Lenin. Lenin, der <strong>Marxist</strong>,<br />

Lenin, der Führer unserer militanten<br />

Sozialdemokratischen Partei, ist n<strong>ich</strong>t<br />

mehr. Ein neuer Lenin ist erstanden, Lenin,<br />

der Anarchist.“ 9<br />

Dieser scharfe Angriff auf Lenin durch<br />

seine eigenen Gefolgsleute ist vor dem Hintergrund<br />

des marxistischen Gesch<strong>ich</strong>tsmodells<br />

verständl<strong>ich</strong>. Russland hatte gerade<br />

den Feudalismus überwunden, nach<br />

marxistischer Auffassung hätte nun erst<br />

55


einmal eine kapitalistische Phase erfolgen<br />

müssen, die durch Schaffung entwickelter<br />

Produktivkräfte und einer großen Proletariererklasse<br />

die Voraussetzungen liefern<br />

sollte für einen sozialistischen Umsturz in<br />

ferner Zukunft. Lenin wollte aber gewissermaßen<br />

eine Abkürzung zum Sozialismus<br />

nehmen. Dies gl<strong>ich</strong> nach Einschätzung<br />

der orthodoxen <strong>Marxist</strong>en einem anarchistischen<br />

Akt. Deshalb auch Goldenbergs<br />

Vergle<strong>ich</strong> des Staatssozialisten Lenin<br />

mit dem Anarchisten Bakunin, der im<br />

ersten Moment ein wenig verrückt klingt,<br />

jedoch n<strong>ich</strong>t völlig unbegründet ist. Tatsächl<strong>ich</strong><br />

zählten Bakunin und Netschajew<br />

zu den Inspirationsquellen Lenins. Von<br />

ihnen übernahm er den Typus des Berufsrevolutionärs,<br />

sowie die Bereitschaft zu<br />

Terror und direkter Aktion – unabhängig<br />

davon, ob nach Marxscher Theorie nun<br />

eine revolutionäre Situation vorlag oder<br />

n<strong>ich</strong>t.<br />

Wie wir wissen, konnten s<strong>ich</strong> Bogdanow<br />

und Goldenberg damals n<strong>ich</strong>t durchsetzen.<br />

Als geschickter Taktiker verstand es<br />

Lenin in der Folgezeit, die marxistische<br />

Opposition innerhalb seiner Partei mehr<br />

und mehr auszuschalten und den „schwarzen<br />

Schimmel“ des Marxismus-Leninismus<br />

als einzig wahres Zugpferd des Kommunismus<br />

zu verkaufen.<br />

Auf Marx direkt berufen konnte s<strong>ich</strong> Lenin<br />

dabei <strong>nur</strong> wenig. Anschlussfähig waren<br />

s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> Teile der Marxschen Kapitalismuskritik<br />

sowie das revolutionäre Modell<br />

der proletarischen Machtergreifung.<br />

Der Kern der marxistisch-leninistischen<br />

Doktrin jedoch stammt aus der Feder Lenins,<br />

der die offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>en Lücken der<br />

marxistischen Theorie nach eigenem<br />

Gusto auffüllte. In <strong>dies</strong>em Zusammenhang<br />

sind von besonderer Bedeutung:<br />

56<br />

– die Idee der kommunistischen Kaderpartei,<br />

die die Führung des Proletariats im<br />

Kampf um den Sozialismus übernehmen<br />

sollte – ein Konzept, das Lenin in seiner<br />

berühmten Schrift „Was tun?“ 1902 10 entwickelte<br />

und das bereits 1903 zur Spaltung<br />

der russischen Sozialisten in Menschewiki<br />

und Bolschewiki führte;<br />

– die Entwicklung einer Staatstheorie, die<br />

im ursprüngl<strong>ich</strong>en marxistischen Konzept<br />

n<strong>ich</strong>t enthalten war. Vor allem in „Staat<br />

und Revolution“ von 1917 verdeutl<strong>ich</strong>t<br />

Lenin die Notwendigkeit eines massiven<br />

Staatsapparates, der der Partei der Arbeiterklasse<br />

zur Verfügung stehen müsse, um<br />

die Feinde des Sozialismus zu bekämpfen<br />

und die Masse der Bevölkerung im<br />

sozialistischen Sinne anzuleiten 11<br />

– die Formulierung einer sozialistischen<br />

Imperialismustheorie, die einerseits die<br />

marxistische Theorie vom global expandierenden<br />

Kapital sinnvoll ergänzte, andererseits<br />

aber auch als ideologische Begründung<br />

für den starken sozialistischen Staat<br />

und seine „antiimperialistischen Schutzwälle“<br />

herhalten musste. 12<br />

Da die Imperialismustheorie n<strong>ich</strong>t <strong>nur</strong> für<br />

den Staatssozialismus des Ostblocks,<br />

sondern auch für die militanten Befreiungskämpfe<br />

in China, Afrika und Lateinamerika<br />

sowie für die Entwicklung der außerparlamentarischen<br />

linken Bewegungen bis<br />

heute von großer Bedeutung ist, soll sie<br />

hier kurz beleuchtet werden:<br />

Lenin verstand den Imperialismus als<br />

höchstes – das heißt auch: letztes! – Entwicklungsstadium<br />

des Kapitalismus. Der<br />

Imperialismus ist durch einen aggressiven<br />

Charakter gekennze<strong>ich</strong>net, der s<strong>ich</strong> aus<br />

dem Streben der Monopole sowie der<br />

durch sie gesteuerten politischen Mächte<br />

nach Rohstoffquellen, Absatzmärkten,<br />

Einflusssphären und Militärstützpunkten<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005


ergibt. Die ungle<strong>ich</strong>mäßige ökonomische<br />

Entwicklung der imperialistischen Zentren<br />

führt notwendigerweise zu einem steten<br />

Kampf um Neuverteilung <strong>dies</strong>er Ressourcen<br />

in der Welt, ein Kampf, in dem sowohl<br />

ökonomische, politische und im<br />

Ernstfall auch militärische Mittel eingesetzt<br />

werden. Für die sozialistische Bewegung<br />

stellt der Imperialismus nach Lenin in zweifacher<br />

Hins<strong>ich</strong>t eine Gefahr dar: Zum einen<br />

ist er eine Bedrohung für all jene Staaten,<br />

die s<strong>ich</strong> dem sozialistischen Weg verschrieben<br />

haben (eine Gefahr, die s<strong>ich</strong> mit<br />

dem Zusammenbruch des real existierthabenden<br />

Sozialismus weitgehend erledigt<br />

hat), zum anderen ist der Imperialismus<br />

eine Bedrohung für den Erfolg des Sozialismus<br />

in den kapitalistischen Ländern,<br />

weil er dort das Proletariat und ihre Führer<br />

korrumpiert, da zumindest mittelfristig<br />

die Verelendung der Massen aufgrund der<br />

imperialistisch erschlossenen Gewinne<br />

n<strong>ich</strong>t mehr innerhalb der entwickelten<br />

kapitalistischen Nationen erfolgt, sondern<br />

außerhalb, in der Peripherie, d.h. in den<br />

unterentwickelten Regionen, deren natürl<strong>ich</strong>e<br />

und humane Ressourcen hemmungslos<br />

ausgebeutet werden können. (Diese<br />

Denkfigur hat s<strong>ich</strong> mit dem Zusammenbruch<br />

des Ostblocks freil<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t erledigt.<br />

Wir begegnen ihr weiterhin, sogar in<br />

verstärkter Form in den heftigen Debatten<br />

um die Globalisierung.)<br />

Doch kehren wir zu Lenin zurück: Nach<br />

der Oktoberrevolution brachten die Bolschewiki<br />

ihre politischen Widersacher<br />

rücks<strong>ich</strong>tslos zur Strecke. N<strong>ich</strong>t <strong>nur</strong> in der<br />

Zeit des sog. „Kriegskommunismus“<br />

mussten abertausende Menschen ihr Leben<br />

lassen – darunter n<strong>ich</strong>t <strong>nur</strong> Anhänger<br />

des Zarenregimes, sondern auch zahlre<strong>ich</strong>e<br />

Sozialisten, die mit dem von Lenin<br />

eingeschlagenen Kurs n<strong>ich</strong>t einverstanden<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005<br />

waren (bekanntestes Beispiel: der Kronstadter<br />

Matrosenaufstand). Die ebenso<br />

kompromisslose Verstaatl<strong>ich</strong>ung aller Betriebe<br />

führte zu einer schweren ökonomischen<br />

Krise, die schreckl<strong>ich</strong>e Hungersnöte<br />

zur Folge hatte. Etwa um das Jahr 1922<br />

herum schien Lenin eingesehen zu haben,<br />

<strong>dass</strong> die rigorose Verstaatl<strong>ich</strong>ung ein schwerwiegender<br />

Fehler gewesen war. Plötzl<strong>ich</strong><br />

beze<strong>ich</strong>nete er <strong>dies</strong>e, seine eigene Politik<br />

als „dumm und selbstmörderisch“ und<br />

empfahl seinen verdutzten Anhängern, den<br />

„Handel zu lernen“. 13 Etwas resigniert<br />

stellte er fest: „Bauern sind <strong>kein</strong>e Sozialisten,<br />

und Pläne zu machen, als ob sie<br />

Sozialisten wären, hieße auf Sand bauen,<br />

das hieße unsere Aufgaben verkennen, das<br />

hieße, in drei Jahren n<strong>ich</strong>t gelernt zu haben,<br />

unsere Programme der ärml<strong>ich</strong>en,<br />

mitunter bettelarmen Wirkl<strong>ich</strong>keit, in der<br />

wir stecken, anzupassen…“ 14 In einem<br />

seiner letzten Artikel hieß es gar: „Für den<br />

Anfang könnten wir etwas von der Kultur<br />

der Bourgeoisie gebrauchen.“ 15<br />

Damit war Lenin am Ende wieder bei authentisch<br />

marxistischen Ans<strong>ich</strong>ten angelangt,<br />

Ans<strong>ich</strong>ten, die er selbst beispielsweise<br />

1905 nachdrückl<strong>ich</strong> vertreten hatte:<br />

„In solchen Ländern wie Russland leidet<br />

die Arbeiterklasse n<strong>ich</strong>t so sehr unter dem<br />

Kapitalismus als vielmehr unter der ungenügenden<br />

Entwicklung des Kapitalismus.<br />

[…] Die bürgerl<strong>ich</strong>e Revolution ist im Interesse<br />

des Proletariats unbedingt notwendig.<br />

Je vollständiger und entschiedener, je<br />

konsequenter die bürgerl<strong>ich</strong>e Revolution<br />

sein wird, desto ges<strong>ich</strong>erter wird der<br />

Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie<br />

für den Sozialismus sein. Nur Leuten,<br />

die das Abc des wissenschaftl<strong>ich</strong>en<br />

Sozialismus n<strong>ich</strong>t kennen, kann <strong>dies</strong>e<br />

Schlussfolgerung neu oder seltsam, ja<br />

paradox erscheinen.“ 16<br />

57


Als Lenin im Jahr 1922 an seine alten<br />

Überzeugungen wieder anknüpfte, war<br />

sein Gesundheitszustand so miserabel,<br />

<strong>dass</strong> er n<strong>ich</strong>t mehr in der Lage war, die<br />

zuvor begonnene „Neue Ökonomische<br />

Politik“ auf längere Zeit abzus<strong>ich</strong>ern. Er<br />

scheiterte auch mit seinem Vorhaben, den<br />

Genossen Stalin, den Lenin als „zu grob“<br />

einschätzte, aus der gehobenen Stellung<br />

als Generalsekretär der Partei zu entfernen.<br />

Als seinen Nachfolger hatte Lenin<br />

Trotzki vorgesehen, aber nach seinem Tod<br />

dauerte es n<strong>ich</strong>t lange, bis Stalin alle Macht<br />

im Sowjetre<strong>ich</strong> erobert hatte. Unter seiner<br />

Herrschaft wurde das System des Terrors<br />

perfektionalisiert. „Säuberungswellen“ erschütterten<br />

das Land und kosteten unzählige<br />

Opfer. In der Gestalt des Stalinismus<br />

verkam der Marxismus-Leninismus vollends<br />

zur fundamentalistischen Politreligion.<br />

Während Lenin noch mit Unbehagen<br />

auf den Kult um seine Person reagiert<br />

hatte, genoss es Stalin s<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>, s<strong>ich</strong> als<br />

übermenschl<strong>ich</strong>en Propheten der bolschewistischen<br />

Säkularreligion zu stilisieren, als<br />

vom Histomat bestimmten Führer der auserwählten<br />

Volksgruppe „Arbeiterklasse“<br />

und unfehlbaren Papst des kommunistischen<br />

Parteipriestertums.<br />

Nach Stalins Tod versuchte Chruschtschow<br />

die Zügel der totalen Staatsmacht<br />

zu lockern, er wurde aber auf halbem Wege<br />

zurückgepfiffen. Breschnew und seine<br />

<strong>nur</strong> kurz im Amt verweilenden Nachfolger<br />

Andropow und Tschernenko versuchten<br />

den Ostblock-Sozialismus mithilfe einer<br />

zentralistisch gesteuerten Bürokratie zu<br />

erhalten, gerieten aber im ökonomischen<br />

wie militärischen Wettlauf mit dem Westen<br />

zunehmend auf die Verliererstraße.<br />

Erst mit Gorbatschow änderte s<strong>ich</strong> der<br />

Kurs dramatisch, er wollte mit seiner<br />

Perestroika- und Glasnost-Politik an die<br />

58<br />

alten Ideale des demokratischen Marxismus<br />

anknüpfen, die Öffnung des zuvor<br />

hermetisch abgeriegelten Gesellschaftsund<br />

Wirtschaftssystems führte jedoch<br />

zum Kollaps. Am Ende zeigte s<strong>ich</strong> deutl<strong>ich</strong>,<br />

wie Recht Marx hatte, als er vor den<br />

Folgen einer staatsfixierten Revolution<br />

warnte. In der Tat lässt s<strong>ich</strong> das Wirken<br />

von Lenin, Stalin und Genossen kaum<br />

besser beschreiben als mit den bereits zitierten<br />

Worten von Marx: „Im Mittelpunkt<br />

ihrer Tätigkeit stand die Schaffung ungeheurer<br />

stehender Armeen, eine Masse von<br />

Staatsparasiten und kolossaler Staatsschulden.“<br />

Bewertung: Ich bin überzeugt, <strong>dass</strong> Marx<br />

auf den Leninismus weit gereizter reagiert<br />

hätte als auf den französischen Marxismus<br />

seiner Zeit. Mit Lenins Imperialismustheorie<br />

hätte er s<strong>ich</strong> wohl anfreunden können,<br />

n<strong>ich</strong>t aber mit dessen Staats-, Wirtschafts-<br />

und Gesellschaftstheorie. Meine<br />

Vermutung: Hätte Marx zur Zeit der russischen<br />

Revolution gelebt, wäre er wahrscheinl<strong>ich</strong><br />

als Menschewik inhaftiert worden<br />

und einer stalinistischen Säuberungsaktion<br />

zum Opfer gefallen.<br />

2. Sozialdemokratie und Spartakusbund<br />

Der Begriff Sozialdemokratie taucht in<br />

Deutschland das erstmals 1848 auf und<br />

wurde kurze Zeit später zum zentralen<br />

Leitbegriff der politischen Arbeiterbewegung.<br />

Ziel der Sozialdemokratie war (und<br />

ist es mit Abstr<strong>ich</strong>en mögl<strong>ich</strong>erweise auch<br />

heute noch?) die Verwirkl<strong>ich</strong>ung einer solidarischen<br />

Gesellschaft auf der Basis einer<br />

Demokratisierung aller gesellschaftl<strong>ich</strong>en<br />

Teilbere<strong>ich</strong>e, insbesondere der Wirtschaft.<br />

Während in der Frühphase der Bewegung<br />

(insbesondere zur Zeit des Allge-<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005


meinen Deutschen Arbeitervereins) vor<br />

allem die Gedankenwelt Lassalles prägend<br />

war, gewannen unter dem Einfluss des<br />

Bismarckschen Sozialistengesetzes mehr<br />

und mehr die Konzepte von Marx und<br />

Engels an Bedeutung und sie blieben in<br />

der 1890 gegründeten Sozialdemokratischen<br />

Partei Deutschlands offiziell tonangebend<br />

bis zum Godesberger Grundsatzprogramm<br />

von 1959. Heutzutage scheint<br />

es Teilen der SPD eher peinl<strong>ich</strong> zu sein,<br />

<strong>dass</strong> die Partei eine ihre Wurzeln im Werk<br />

von Karl Marx hat. Daher verwundert es<br />

auch n<strong>ich</strong>t, <strong>dass</strong> s<strong>ich</strong> innerhalb der Sozialdemokratie<br />

– vielle<strong>ich</strong>t einmal abgesehen<br />

von akademischen Arbeitskreisen innerhalb<br />

der Friedr<strong>ich</strong> Ebert Stiftung –<br />

kaum noch jemand großartig mit dem Werk<br />

von Karl Marx beschäftigt.<br />

Dies war jedoch – wie gesagt – früher völlig<br />

anders. Und so erschütterten die Widersprüche<br />

des Marxschen Werkes 17 auch<br />

die Arbeiterbewegung nachhaltig. Von Anfang<br />

an herrschte in der Sozialdemokratie<br />

ein scharfer R<strong>ich</strong>tungsstreit vor. Während<br />

die einen für die proletarische Revolution<br />

votierten, traten die anderen für Reformen<br />

ein, präferierten die einen die Räte-Republik<br />

im Sinne der Pariser Kommune, sahen<br />

die anderen ihr Heil in der parlamentarischen<br />

Demokratie. Eben <strong>dies</strong>er R<strong>ich</strong>tungsstreit<br />

war mitverantwortl<strong>ich</strong> für die<br />

wohl schwerste innerparteil<strong>ich</strong>e Krise der<br />

SPD in den Jahren 1916-1918, die die<br />

Spaltung der Partei in M- und USPD, die<br />

Entstehung der Spartakusgruppe und die<br />

Gründung der KPD zur Folge hatte.<br />

Unzufrieden mit der reformorientierten,<br />

überopportunistisch erscheinenden Politik<br />

der Mehrheits-SPD im Allgemeinen und<br />

ihrer Unterstützung des im Sinne der Imperialismustheorie<br />

gedeuteten Krieges im<br />

Besonderen, versuchten damals Rosa Lu-<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005<br />

xemburg und Karl Liebknecht, die führenden<br />

Köpfe des Spartakusbundes, eine<br />

revolutionär sozialistische Alternative zu<br />

entwickeln. Obwohl ihr Konzept tragisch<br />

scheiterte, gelten Luxemburg und Liebknecht<br />

bis heute innerhalb der außerparlamentarischen<br />

Linken als große Vorbilder.<br />

18 Dies ist n<strong>ich</strong>t zuletzt darauf zurückzuführen,<br />

<strong>dass</strong> sie bei aller Sympathie für<br />

die (damals noch junge) russische Revolution<br />

s<strong>ich</strong> doch deutl<strong>ich</strong> von dem autoritären<br />

Partei- und Staatskonzept Lenins abgrenzten<br />

und stattdessen einen basisdemokratischen<br />

Rätekommunismus vorschlugen.<br />

Außerdem vermag ihre beißende<br />

Kritik am zähen, organisationsfanatischen<br />

Parlamentarismus und ihre Bereitschaft<br />

zu spontaner Aktion all diejenigen<br />

zu begeistern, die glauben, <strong>dass</strong> Parlamente<br />

n<strong>ich</strong>ts wirkl<strong>ich</strong> bewegen können. Letztl<strong>ich</strong><br />

dürfte auch ihr Märtyrer-Status (beide bezahlten<br />

bekanntl<strong>ich</strong> ihr Ideale mit dem Leben)<br />

n<strong>ich</strong>t unwesentl<strong>ich</strong> zu ihrer anhaltenden<br />

Popularität beigetragen haben.<br />

Bewertung: Wäre Marx heute Sozialdemokrat?<br />

Das ist schwierig zu entscheiden,<br />

da wir n<strong>ich</strong>t wissen, wie Marx unter den<br />

heutigen gewandelten sozioökonomischen<br />

Bedingungen denken würde. Etwas klarer<br />

scheint zu sein, wie er in den Jahren 1916-<br />

18 entschieden hätte. Wahrscheinl<strong>ich</strong> wäre<br />

er wohl an der Seite von Liebknecht und<br />

Luxemburg aufgetaucht. Aber auch <strong>dies</strong><br />

ist natürl<strong>ich</strong> reine Spekulation. Zumindest<br />

gibt es zwischen Liebknecht/Luxemburg<br />

und Marx weniger theoretische Inkongruenzen<br />

als zwischen Marx und Lenin.<br />

59


3, „Die Partei hat immer Recht?“: Der<br />

bürokratische Staatssozialismus des<br />

Ostblocks und die marxistischen Dissidenten<br />

Im festen Griff der Breschnew-Doktrin<br />

brachten die Ostblockstaaten <strong>nur</strong> wenige<br />

<strong>Marxist</strong>en hervor, die Liebknecht oder<br />

Luxemburg hätten das Wasser re<strong>ich</strong>en<br />

können. Die wenigen Ausnahmemarxisten,<br />

die es gab, wurden in der Regel inhaftiert,<br />

zensiert oder ausgewiesen, weil sie n<strong>ich</strong>t<br />

in das bürokratische Herrschaftssystem<br />

passten, das (durchaus typisch für bürokratische<br />

Herrschaft) eine erschreckende<br />

Normierung in R<strong>ich</strong>tung Mittelmäßigkeit<br />

zur Folge hatte.<br />

Nach dem Tode Stalins wurde zwar das<br />

Instrument der physischen Eliminierung<br />

des Regimekritikers weit seltener angewandt<br />

als zuvor, dennoch war es n<strong>ich</strong>t<br />

ungefährl<strong>ich</strong>, auf die vielfältigen Widersprüche<br />

zwischen dem Marxschem Werk<br />

und der real sozialistischen Wirkl<strong>ich</strong>keit<br />

hinzuweisen. Nur die bekanntesten Fälle,<br />

in denen marxistisches, aber bolschewismuskritisches<br />

Denken mit Verhaftung, politischer<br />

Isolation oder Ausweisung geahndet<br />

wurde, seien hier genannt: in der Sowjetunion<br />

Sacharow und Kopelew, in<br />

der CSSR die Agitatoren des „Prager<br />

Frühlings“, in der DDR Ernst Bloch, Robert<br />

Havemann, Wolf Biermann und Rudolf<br />

Bahro.<br />

Mit dem Schlagwort des „bürgerl<strong>ich</strong>en<br />

Revisionismus“ versuchten die kommunistischen<br />

Herrschaftseliten die Vertreter<br />

eines humanistischen, den Frühschriften<br />

von Marx verpfl<strong>ich</strong>teten Marxismus zu<br />

diffamieren. Der jugoslawische <strong>Marxist</strong><br />

Petrovic, in dessen Zeitschrift „Praxis“ ein<br />

Großteil der führenden „marxistischen Revisionisten“<br />

publizierte, fasste den Grund-<br />

60<br />

konsens der marxistischen Dissidenten in<br />

zwei Punkten zusammen:<br />

1. „Der Sozialismus, wie ihn Marx begriffen<br />

hat, ist <strong>kein</strong>e bürokratische Diktatur,<br />

sondern eine humane Gemeinschaft der<br />

befreiten Menschen. Deshalb kann er weder<br />

durch staatl<strong>ich</strong>e Reglementierung des<br />

gesellschaftl<strong>ich</strong>en Lebens noch durch repressive<br />

Maßnahmen herbeigeführt werden,<br />

sondern <strong>nur</strong> durch die Entwicklung<br />

der Demokratie, das Absterben des Staates<br />

und der Einführung der Arbeiterselbstverwaltung<br />

in der Produktion.<br />

2. Der Stalinismus ist <strong>kein</strong>e neue Stufe in<br />

der Entwicklung des Marxismus, sondern<br />

eher eine Negation seines Wesens. [...]<br />

Marxismus ist eine humanistische Philosophie<br />

der Freiheit, Stalinismus eine pseudophilosophische<br />

Rechtfertigung der<br />

Sklaverei.“ 19<br />

Was Ernst Bloch vom Christentum sagte,<br />

lässt s<strong>ich</strong> le<strong>ich</strong>t auf den staatsbürokratischen<br />

Marxismus-Leninismus übertragen:<br />

Das Beste, was er hervorgebracht<br />

hat, sind seine Ketzer. Und so verwundert<br />

es n<strong>ich</strong>t, <strong>dass</strong> <strong>dies</strong>e Ketzer, die einen<br />

„Kommunismus mit menschl<strong>ich</strong>em Antlitz“<br />

erschaffen wollten, auch heute noch<br />

in der linken Kultur eine gewisse Bedeutung<br />

haben, während die bürokratiefahlen<br />

Konzepte der Genossen Ulbr<strong>ich</strong>t, Honegger<br />

& Co. mit dem Untergang des real<br />

existiert habenden Sozialismus weitgehend<br />

in der Versenkung verschwunden sind.<br />

Bewertung: Hier bin <strong>ich</strong> mir relativ s<strong>ich</strong>er:<br />

Marx hätte kaum auf der Seite der Sozialismusbürokraten<br />

gestanden, die <strong>nur</strong> den<br />

Mangel verwalteten, sondern auf der Seite<br />

der Dissidenten. Insbesondere Rudolf<br />

Bahros marxistische Widerlegung der<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005


DDR-Gesellschaft („Die Alternative“) 20<br />

hätte er wohl mit großem Genuss gelesen.<br />

4. „Von der Waffe der Kritik zur Kritik<br />

der Waffen“: China, Kambodscha,<br />

Lateinamerika<br />

In welch unterschiedl<strong>ich</strong>en Gewändern der<br />

Marxismus auftreten konnte, erkennt man,<br />

wenn man über West- und Osteuropa hinausblickt<br />

21 . Werfen wir zunächst einen<br />

Blick in den asiatischen Kulturkreis.<br />

In China, wo die KP in den Zeiten des<br />

verheerenden Bürgerkrieges zwischen<br />

1946 und 1949 die Macht eroberte, versuchte<br />

Mao Zedong eine chinesische Variante<br />

des Kommunismus zu etablieren. In<br />

der Zeit des „Großen Sprungs“ (1958-60)<br />

beabs<strong>ich</strong>tigte er eine rasche Industrialisierung<br />

des Landes verbunden mit einer Dezentralisierung<br />

und Entbürokratisierung der<br />

Machtzirkel. Doch das Experiment scheiterte<br />

klägl<strong>ich</strong> und löste eine der schwersten<br />

Hungersnöte in der chinesischen Gesch<strong>ich</strong>te<br />

aus, die mehr als zehn Millionen<br />

Menschen das Leben kostete. Während<br />

der darauf folgenden Konsolidierungsphase<br />

wuchs die Macht der Parteikader immer<br />

weiter an, was eine erneute Entbürokratisierungs-Initiative<br />

des weitgehend entmachteten<br />

Mao zur Folge hatte: die sog.<br />

„Kulturrevolution“, die ab 1966 in China<br />

wütete. Maos Hauptverbündete in <strong>dies</strong>em<br />

Kampf war die junge Generation in den<br />

Städten, die mit Gewalt gegen den alten<br />

Machtapparat und ihr kulturelles Umfeld<br />

vorging. Letztl<strong>ich</strong> war aber auch die Kulturrevolution<br />

ein Desaster, das unzähligen<br />

Menschen das Leben kostete und am Ende<br />

doch <strong>nur</strong> zu einer Stärkung der alten<br />

Machteliten führte, die das kommunistische<br />

China mehr oder weniger streng nach<br />

sowjetischem Vorbild gestalteten.<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005<br />

Im Westen wurde der „große Vorsitzende“<br />

Mao in den 1968er Jahren dennoch<br />

als Politidol verehrt. Die Gründe hierfür<br />

liegen n<strong>ich</strong>t in einer besonderen theoretischen<br />

Erneuerung, die der Maoismus gegenüber<br />

dem Marxismus erbracht hätte,<br />

sondern vielmehr in dem fehlenden Wissen<br />

der rebellierenden Studenten über die<br />

realen Verhältnisse in China. Zudem ließen<br />

s<strong>ich</strong> das Bündnis des großen Vorsitzenden<br />

Mao mit der jungen Intelligenz in<br />

China sowie seine Bürokratie- und Parteikritik<br />

romantisierend auf die eigene Situation<br />

übertragen. Die in den 70er-Jahren<br />

erfolgte Aufklärung über Maos brutalen<br />

Autoritarismus sorgte dann jedoch für einen<br />

raschen Niedergang seines Ansehens<br />

innerhalb der linken Subkultur. Die einst<br />

so virulente Gattung der deutschen Maoisten<br />

ist heute ausgestorben.<br />

Kommen wir zu einer anderen, noch bedrohl<strong>ich</strong>eren<br />

Variante des asiatischen Kommunismus:<br />

Das Regime der Roten Khmer<br />

in Kambodscha. Auf Kambodscha soll<br />

hier <strong>nur</strong> deshalb kurz eingegangen werden,<br />

weil in dem kleinen Land die wohl<br />

ungeheuerl<strong>ich</strong>sten Verbrechen erfolgten,<br />

die je unter der Flagge des Marxismus-<br />

Leninismus begangen wurden. Unter Pol<br />

Pot und den Roten Khmer wurde Mord<br />

zur gängigen Herrschaftsmethode. Ein<br />

Viertel der Gesamtbevölkerung sollen in<br />

den rund dreieinhalb Jahren ihrer Terrorherrschaft<br />

gewaltsam ums Leben gekommen<br />

sein. „Lieber zehn Freunde schlachten,<br />

als einen Feind am Leben lassen!“<br />

lautete die Maxime der roten Khmer. Mit<br />

dem Tode bestraft wurde n<strong>ich</strong>t <strong>nur</strong> jede<br />

Kritik an der politischen Führung, sondern<br />

auch das Praktizieren religiöser Riten, ein<br />

ungenehmigter Familienbesuch oder ein<br />

Sexualkontakt außerhalb der Ehe. Pol Pot<br />

hatte das Bestreben, alle Revolutionen der<br />

61


Vergangenheit zu übertrumpfen: Er schaffte<br />

die Geldwirtschaft ab und führte innerhalb<br />

von weniger als zwei Jahren eine vollständige<br />

Kollektivierung durch. Er versuchte<br />

den Jahrtausende alten Gegensatz<br />

zwischen Stadt und Land aufzulösen, indem<br />

er die Städter zu Bauern machte, und<br />

die gesellschaftl<strong>ich</strong>en Unterschiede aufzugeben,<br />

indem er die besitzenden, intellektuellen<br />

und Handel treibenden Sch<strong>ich</strong>ten<br />

liquidierte.<br />

Die Forschung fahndet bis heute nach den<br />

genauen Ursachen für die ungeheure Grausamkeit<br />

<strong>dies</strong>es Terrorregimes. Der marxistisch-leninistischen<br />

Doktrin ist eine Mitverantwortung<br />

hierfür kaum abzusprechen,<br />

auch wenn man natürl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t übersehen<br />

darf, <strong>dass</strong> der grausame Gle<strong>ich</strong>heitswahn<br />

der Roten Khmer auch andere<br />

Wurzeln hatte, beispielsweise die Individualismusfeindl<strong>ich</strong>keit<br />

und Sittenstrenge<br />

des Buddhismus, der die Kultur Kambodschas<br />

maßgebl<strong>ich</strong> bestimmte.<br />

Wahrscheinl<strong>ich</strong> sind es auch <strong>dies</strong>e uns<br />

fremden kulturellen Hintergründe (Konfuzianismus<br />

in China, Buddhismus in Kambodscha),<br />

die es der westl<strong>ich</strong>en Linken<br />

schwer machten, an den asiatischen Kommunismus<br />

theoretisch anzuknüpfen. Zwar<br />

wurden Mao und Ho Chi Minh (Vietnam)<br />

als Aushängeschilder für den antiimperialistischen<br />

Kampf in der 68er-Zeit positiv<br />

bewertet, eine wirkl<strong>ich</strong> Auseinandersetzung<br />

mit ihnen fand aber n<strong>ich</strong>t statt.<br />

Anders verhält es s<strong>ich</strong> im Falle der marxistischen<br />

Bewegungen in Lateinamerika, die<br />

von ihrem kulturellen Hintergrund für die<br />

westeuropäische Linke weit eher nachvollziehbar<br />

war. Von besonderer Bedeutung<br />

waren dabei die Entwicklungen in Kuba,<br />

Chile und Nicaragua.<br />

Die Kubanische Revolution wurde von<br />

vielen zunächst als Musterbeispiel einer<br />

62<br />

gelungenen sozialistischen Machtübernahme<br />

gefeiert. Dabei war Fidel Castro – im<br />

Unterschied zu Ernesto Che Guevara –<br />

ursprüngl<strong>ich</strong> alles andere als ein <strong>Marxist</strong><br />

oder Sozialist. Als Machtpolitiker erkannte<br />

er aber schnell, <strong>dass</strong> er seiner Revolution<br />

einen marxistisch-sozialistischen Anstr<strong>ich</strong><br />

geben musste, wenn er in der Konfrontation<br />

mit dem übermächtigen Amerika auf<br />

die Hilfe der Sowjetunion zählen wollte.<br />

Che Guevara hingegen war ein marxistischutopistischer<br />

Überzeugungstäter. Dem<br />

bürokratisch verwalteten Sowjetregime<br />

brachte er allerdings wenig Sympathie entgegen.<br />

Sein Ziel war eine marxistisch-kommunitäre<br />

Gesellschaft, die von der Idee<br />

der Selbstverwaltung bestimmt war und<br />

den „neuen Menschen auf Kuba“ hervorbringen<br />

sollte. Realpolitisch konnte s<strong>ich</strong><br />

Guevara jedoch kaum durchsetzen und so<br />

suchte er sein Glück im revolutionären<br />

Abenteuertum, das am Ende zu seinem<br />

gewaltsamen Tod in Bolivien führte. Als<br />

Identifikationsfigur bot s<strong>ich</strong> Guevara in<br />

vielfacher Hins<strong>ich</strong>t an, erstens als Vertreter<br />

eines alternativen, bürokratiekritischen<br />

Sozialismus, zweitens als Mann der Praxis,<br />

der die Welt n<strong>ich</strong>t <strong>nur</strong> neu interpretieren,<br />

sondern auch verändern wollte, drittens<br />

als Märtyrer der Revolution, der n<strong>ich</strong>t<br />

<strong>nur</strong> für seine Überzeugungen gelebt hatte,<br />

sondern auch für sie gestorben war. Last<br />

but not least sah der revolutionäre Che<br />

auch noch blendend aus, so konnte man<br />

ihn auch aus rein ästhetischer Perspektive<br />

wunderbar als Aushängeschild der Revolution<br />

vermarkten, was s<strong>ich</strong> bis heute n<strong>ich</strong>t<br />

groß verändert hat. Allerdings wirbt der<br />

tote Che heute weniger für den Sozialismus<br />

als für als revolutionär angepriesene<br />

Produkte der Wintersport- oder Telekommunikationsbranche.<br />

Selbst innerhalb der<br />

Linken hat Che heute <strong>nur</strong> noch ästheti-<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005


sche Bedeutung. Eine ernsthafte Auseinandersetzung<br />

mit seinen (bei genauerer<br />

Betrachtung re<strong>ich</strong>l<strong>ich</strong> unausgegorenen)<br />

Konzepten findet im Gegensatz zu den<br />

1960er und 1970er Jahren kaum noch statt.<br />

Mehr oder weniger in Vergessenheit geraten<br />

ist auch ein Ereignis, das die europäische<br />

Linke in den siebziger Jahren in kollektive<br />

Erregung versetzte: Der Sturz und<br />

die Ermordung des demokratisch gewählten<br />

<strong>Marxist</strong>en Allende durch den von den<br />

USA gestützten General Pinochet. Dass<br />

die Vereinigten Staaten einem Diktator zur<br />

Macht verhalfen, um einen demokratischen<br />

Sozialismus zu vermeiden, festigte<br />

das durch die Kubablockade und den Vietnamkrieg<br />

bestens vorbereitete Bild Amerikas<br />

als imperialistisch agierenden Weltpolizisten.<br />

Als Jahre später die Regierung<br />

Reagan den sog. Contras in Nicaragua<br />

unter die Arme griff, um die in Managua<br />

herrschenden Sandinisten zu stürzen, führte<br />

<strong>dies</strong> hierzulande zu mitunter bizarr anmutenden<br />

Solidaritätsaktionen.<br />

Die Abscheu vor Amerikas Politik war so<br />

groß, <strong>dass</strong> selbst eingefleischte Pazifisten<br />

Geld für die Aktion „Waffen für Nicaragua“<br />

spendeten. Dass das Schicksal Nicaraguas<br />

in unseren Breitengraden eine so<br />

starke Resonanz fand, war n<strong>ich</strong>t allein der<br />

Ablehnung gegenüber dem amerikanischen<br />

Imperialismus zu verdanken, sondern<br />

auch der Tatsache, <strong>dass</strong> s<strong>ich</strong> in Nicaragua<br />

wie in vielen anderen lateinamerikanischen<br />

Ländern zwei Bewegungen verbündeten,<br />

die von ihrer ideologischen<br />

Ausr<strong>ich</strong>tung eigentl<strong>ich</strong> grundverschieden<br />

waren, näml<strong>ich</strong> der atheistisch s<strong>ich</strong> verstehende<br />

Marxismus mit einem sozial engagierten,<br />

meist katholisch geprägten Christentum.<br />

Auch wenn Papst Johannes Paul<br />

II. die Vertreter der marxistisch inspirierten<br />

Befreiungstheologie innerkirchl<strong>ich</strong> bald<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005<br />

schachmatt setzte, so zeigte die lateinamerikanische<br />

Synthese von Marxismus und<br />

Christentum auch in Westeuropa nachhaltige<br />

Wirkungen. Das Arbeitsbündnis von<br />

progressiven Christen und konfessionslosen<br />

Linken hat s<strong>ich</strong> bis heute gehalten.<br />

Insofern kann man sagen, <strong>dass</strong> die heutigen<br />

„Eine-Welt-Gruppen“ und Antiglobalisierungsinitiativen<br />

vom lateinamerikanischen<br />

Modell der Befreiungstheologie<br />

profitiert haben.<br />

Bewertung: Mit dem kollektivistischen<br />

Marxismus des asiatischen Typus hätte<br />

Marx, der – wie insbesondere seine Entfremdungstheorie<br />

zeigt – von der Freiheit<br />

des Individuums aus dachte, s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong><br />

wenig anfangen können. Anders sieht es<br />

in Lateinamerika aus: Ein Marx an der Seite<br />

von Allende ist durchaus vorstellbar,<br />

inwieweit er auch an der Seite Castros und<br />

Che Guevaras gestanden hätte, ist schwerer<br />

einzuschätzen, mögl<strong>ich</strong>erweise hätte er<br />

die Machtübernahme der Guerilleros als<br />

einen blinden, „anarchistisch-aktionistischen<br />

Akt“ interpretiert.<br />

5. Die (frühe) „Kritische Theorie“ (Horkheimer,<br />

Adorno, Fromm, Marcuse)<br />

Von großer Bedeutung für die politische<br />

Kultur der Linken in Deutschland war eine<br />

kleine Gruppe jüdischer Intellektueller, die<br />

in den 1920er Jahren begannen, die marxistische<br />

Theorie weiterzuentwickeln –<br />

bzw. (aus leninistischer S<strong>ich</strong>t) den Marxismus<br />

im kleinbürgerl<strong>ich</strong>en Sinne zu entstellen.<br />

Max Horkheimer, der Leiter des<br />

damals frisch gegründeten Frankfurter Instituts<br />

für Sozialforschung, versammelte<br />

um s<strong>ich</strong> herum junge Gelehrte, die Jahrzehnte<br />

später zu den w<strong>ich</strong>tigsten Theoretikern<br />

der Studentenbewegung werden<br />

sollten, darunter u.a. Herbert Marcuse,<br />

63


Er<strong>ich</strong> Fromm und Theodor Adorno. Die<br />

Kernfragen, die die Frankfurter anfangs<br />

klären wollten, waren:<br />

– Warum kam es in Deutschland n<strong>ich</strong>t zur<br />

sozialistischen Revolution, obwohl doch<br />

anscheinend alle objektiven Voraussetzungen<br />

dafür gegeben waren?<br />

– Warum führte die leninistische Revolution<br />

zu einem totalitären Regime?<br />

In ihren theoretischen Auseinandersetzungen,<br />

die gle<strong>ich</strong>ermaßen vom Marxismus<br />

wie von der Psychoanalyse Freuds geprägt<br />

waren, gewann ein Konzept von Anfang<br />

an höchste Bedeutung: das Konzept<br />

der Autorität. 22 Solange autoritäre Charakterzüge<br />

die Gesellschaft dominierten, stellten<br />

die kritischen Theoretiker fest, standen<br />

die Chancen für eine freiheitl<strong>ich</strong>e, sozialistische<br />

Revolution denkbar schlecht.<br />

Das Proletariat, auf dem seit jeher die<br />

Hoffnungen der Sozialisten ruhten, taugte<br />

n<strong>ich</strong>t als revolutionäres Subjekt, da die<br />

Proletarier selbst mehrheitl<strong>ich</strong> eher autoritäre<br />

als antiautoritäre Charakterzüge aufwiesen.<br />

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten,<br />

die eine Emigration der Institutsmitglieder<br />

zur Folge hatte, schien <strong>dies</strong>e<br />

Analyse <strong>nur</strong> zu bestätigen. Während Er<strong>ich</strong><br />

Fromm im amerikanischen Exil mit dem<br />

Bestseller „Die Furcht vor der Freiheit“<br />

eine viel beachtete freudomarxistische<br />

Analyse des Nationalsozialismus vorlegte<br />

23 , arbeiteten Horkheimer und Adorno<br />

an ihrem berühmten Buch über die „Dialektik<br />

der Aufklärung“ 24 . Dort erklärten sie,<br />

warum s<strong>ich</strong> die aufklärerische und damit<br />

auch die marxistische Fortschrittsverheißung<br />

in der Wirkl<strong>ich</strong>keit n<strong>ich</strong>t einlösen ließ.<br />

Die Weiterentwicklung der instrumentellen<br />

Intelligenz war eben n<strong>ich</strong>t unmittelbar<br />

mit einer Weiterentwicklung der morali-<br />

64<br />

schen Intelligenz verbunden, die Vernunft<br />

entzauberte n<strong>ich</strong>t <strong>nur</strong> die Welt, sondern<br />

auch s<strong>ich</strong> selbst, und deshalb führte die<br />

zivilisatorische Überwindung der Barbarei<br />

n<strong>ich</strong>t – wie von Marx versprochen –<br />

zum erhofften Re<strong>ich</strong> der Freiheit, sondern<br />

bloß zu einer neuen Barbarei auf technisch<br />

höherem Niveau.<br />

Mit der „Dialektik der Aufklärung“ erschütterten<br />

Horkheimer und Adorno das marxistische<br />

Gesch<strong>ich</strong>tsmodell bis ins Mark.<br />

An die Stelle des revolutionären Fortschrittsoptimismus<br />

trat nun beißender Kulturpessimismus<br />

und wenn es eine praktische<br />

Konsequenz ihrer Analysen gab, so<br />

war es der Rückzug ins Re<strong>ich</strong> der Theorie.<br />

Damit wollten s<strong>ich</strong> Fromm und Marcuse<br />

jedoch n<strong>ich</strong>t zufrieden geben. Während<br />

Fromm sein Konzept des „Radikalen Humanismus“<br />

ausformulierte, die antiautoritäre<br />

Erziehung förderte und politische Reformvorschläge<br />

machte, die später Einzug<br />

ins Grundsatzprogramm der Grünen<br />

fanden, entpuppte s<strong>ich</strong> Marcuse mehr und<br />

mehr als zentraler St<strong>ich</strong>wortgeber der militanten<br />

Linken. 25 Auch wenn er es vielle<strong>ich</strong>t<br />

n<strong>ich</strong>t in <strong>dies</strong>er Form beabs<strong>ich</strong>tigte,<br />

trugen seine Auslassungen über die sog.<br />

repressive Toleranz 26 sowie seine Legitimation<br />

der revolutionären Gegengewalt<br />

dazu bei, <strong>dass</strong> ein Teil der Linken zum<br />

Schluss kam, auch in der BRD die Waffe<br />

der Kritik durch die Kritik der Waffen ergänzen<br />

zu müssen.<br />

Bewertung: Vorausgesetzt Marx hätte die<br />

Zivilisationseinbrüche des Nationalsozialismus<br />

sowie des Sowjetkommunismus erlebt,<br />

wäre er ein Vertreter der Kritischen<br />

Theorie geworden? Mir scheint <strong>dies</strong>er<br />

spekulative Gedanke n<strong>ich</strong>t abwegig zu<br />

sein, denn Fromms Analytische Sozial-<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005


psychologie oder auch Adornos Kritik der<br />

Kulturindustrie lassen s<strong>ich</strong> auf hervorragende<br />

Weise in das Marxsche Denksystem<br />

einpassen. Schwer zu entscheiden ist die<br />

Frage, ob Marx eher dem pessimistischen<br />

(Horkheimer, Adorno) oder dem optimistischen<br />

Flügel (Fromm, Marcuse) angehört<br />

hätte: Für den Adornoschen Kulturpessimismus<br />

war er zu sehr auf eine Veränderung<br />

der Verhältnisse ausger<strong>ich</strong>tet, zur<br />

Frommschen „Revolution der Hoffnung“<br />

fehlte ihm aber wohl die notwendige Dosis<br />

politischer Naivität.<br />

6. Von der antiautoritären „Neuen Linken“<br />

zur RAF<br />

Die Ursachen, die zur Entstehung der antiautoritären<br />

„Neuen Linken“ und der damit<br />

verbundenen Studentenbewegung<br />

führten, sind vielfältig und mittlerweile<br />

auch gut dokumentiert. Anzuführen sind<br />

in <strong>dies</strong>em Zusammenhang u.a.:<br />

– die unzure<strong>ich</strong>ende Verarbeitung des Nationalsozialismus<br />

verbunden mit der Erkenntnis,<br />

<strong>dass</strong> ehemalige Nationalsozialisten<br />

im politischen und gesellschaftl<strong>ich</strong>en<br />

Establishment der BRD Führungspositionen<br />

innehatten;<br />

– die Empörung über den Vietnamkrieg,<br />

der als Akt des Imperialismus gedeutet<br />

wurde;<br />

– die überenthusiastisch aufgenommenen<br />

Ber<strong>ich</strong>te über Befreiungskämpfe in Asien,<br />

Afrika und Lateinamerika;<br />

– die veränderte Bildungspolitik, die aus<br />

den Eliteuniversitäten Massenuniversitäten<br />

machten;<br />

– die sexuelle Revolution, die althergebrachte<br />

Beziehungsmodelle radikal in Frage<br />

stellte;<br />

– die Pop- und Rockmusik, die als Sprachrohr<br />

der rebellierenden Jugend in ihrem<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005<br />

vorwärts treibenden Beat die allgemeine<br />

Aufbruchstimmung transportierte.<br />

In dem aufgeladenen kulturellen Klima <strong>dies</strong>er<br />

Tage entfalteten die Schriften der zuvor<br />

<strong>nur</strong> wenigen Intellektuellen vorbehaltenen<br />

Schriften marxistischer Theoretiker<br />

eine zuvor kaum für mögl<strong>ich</strong> gehaltene<br />

Breitenwirkung. Längst verschollen geglaubte<br />

Bücher wurden neu aufgelegt und<br />

zu vieldiskutierten Bestsellern. Wer <strong>nur</strong> irgendwie<br />

mitreden wollte, musste Marx &<br />

Co. gelesen haben und einigermaßen marxistisch<br />

phraseologisieren können. So entstand<br />

eine seltsame Melange aus Offenheit<br />

und Experimentierfreudigkeit auf der<br />

einen Seite und naiv sozialistischem Dogmatismus<br />

auf der anderen.<br />

Dass die Bewegung der „neuen Linken“,<br />

die die Gesellschaft zweifellos in vielerlei<br />

Hins<strong>ich</strong>t kulturell befruchtete, zunehmend<br />

entgleiste und dabei in Teilen auch ihren<br />

ursprüngl<strong>ich</strong> antiautoritären Charakter aufgab,<br />

ist n<strong>ich</strong>t <strong>nur</strong> auf die schon mehrfach<br />

angedeutete innere Widersprüchl<strong>ich</strong>keit<br />

des Marxismus zurückzuführen. Von Bedeutung<br />

sind hier vor allem:<br />

– die Frustration, die mit der Enttäuschung<br />

der naiven Revolutionserwartung der Agitatoren<br />

einherging (im Unterschied zu<br />

Frankre<strong>ich</strong> solidarisierten s<strong>ich</strong> die deutschen<br />

Arbeiter n<strong>ich</strong>t einmal kurzfristig mit<br />

den rebellierenden Studenten, deren merkwürdige<br />

Sprache sie n<strong>ich</strong>t einmal verstanden),<br />

– die Fehlinterpretation der gesellschaftl<strong>ich</strong>en<br />

Situation (die späteren Terroristen<br />

glaubten, mit ihren Aktionen den angebl<strong>ich</strong><br />

„faschistoiden Charakter des Systems“<br />

entlarven und dadurch „die Massen“ mobilisieren<br />

zu können),<br />

65


– die unangemessen harten Reaktionen<br />

des Staates und der Medien auf die Provokationen<br />

der rebellierenden Studenten<br />

(Tod Benno Ohnesorgs, BILD-Hetze gegen<br />

Dutschke etc.). (Diese verheerende<br />

Eskalationsspirale lässt s<strong>ich</strong> besonders gut<br />

demonstrieren am Beispiel der einstigen<br />

Journalistin und späteren Terroristin Ulrike<br />

Meinhof. Eine historische Parallele finden<br />

wir bei Karl Liebknecht, der s<strong>ich</strong> unter<br />

dem Druck des Systems vom evolutionär<br />

denkenden Sozialdemokraten zum<br />

militanten Agitator wandelte.)<br />

Fanden die erste Generation der RAF sowie<br />

die Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“<br />

noch eine durchaus beachtl<strong>ich</strong>e Unterstützung<br />

vonseiten der Linken, konnten die<br />

Terroristen späterer Generationen kaum<br />

noch auf Solidarität innerhalb der Szene<br />

hoffen. Wenn es zu Solidaritätsbekundungen<br />

kam, so hauptsächl<strong>ich</strong> aufgrund der<br />

dramatisch klingenden Ber<strong>ich</strong>te über die<br />

Haftbedingungen der Gefangenen, eine tiefer<br />

gehende politische Analyse war damit<br />

kaum noch verbunden. Das Unverständnis<br />

gegenüber den Aktionen, die der letzten<br />

Generation der RAF zugeschrieben<br />

wurden, ging so weit, <strong>dass</strong> n<strong>ich</strong>t wenige<br />

Linke zur Überzeugung gelangten, <strong>dass</strong><br />

die letzte Generation der RAF eine Erfindung<br />

staatl<strong>ich</strong>er und wirtschaftl<strong>ich</strong>er Kräfte<br />

sei, um die Aufrechterhaltung des „politischen<br />

Repressionsapparates“ zu legitimieren<br />

bzw. unliebsame ökonomische Entwicklungen<br />

zu verhindern. In <strong>dies</strong>em Zusammenhang<br />

erlangte das im Knaur-Verlag<br />

erschienene Buch „Das RAF-Phantom“<br />

27 Kultstatus innerhalb der linken<br />

Szene. Losgelöst von der Frage, ob und<br />

wenn ja: inwieweit die gewagte Theorie des<br />

RAF-Phantoms stimmig ist, die Tatsache,<br />

<strong>dass</strong> viele Linke im Rückblick die RAF<br />

66<br />

als ein Herrschaftsinstrument konservativer<br />

Kräfte einschätzen, zeigt an, <strong>dass</strong> der<br />

von der RAF eingeschlagene Weg des militanten<br />

Widerstandes <strong>nur</strong> wenig Rückhalt<br />

in der linken Szene fand.<br />

Bewertung: Kann man s<strong>ich</strong> Marx als Mitglied<br />

oder Unterstützer der Rote Armee<br />

Fraktion vorstellen? Wohl kaum. Er hielt<br />

terroristische Aktionen in n<strong>ich</strong>t revolutionären<br />

Situationen für blinden Aktionismus,<br />

den er scharf verurteilte (das ist der<br />

rationale Anteil der überzogenen Marxschen<br />

Bakunin-Kritik, der oftmals übersehen<br />

wird!). Hätte Marx denn wenigstens<br />

Sympathien für die antiautoritäre Bewegung<br />

gehabt? Ich denke, <strong>dies</strong>e Frage kann<br />

man (trotz des autoritären Habitus, mit dem<br />

Marx oftmals auftrat) mit „Ja“ beantworten.<br />

Schon 1842 wendete s<strong>ich</strong> Marx gegen<br />

alle „Erziehungs- und Bevormundungstheorie“<br />

und setzte <strong>dies</strong> allem Anschein<br />

auch in die Praxis um, wie die Journalistin<br />

Betty Lucas nach einem Londonbesuch<br />

bei der Familie Marx ber<strong>ich</strong>tete:<br />

„Marx’ Kinder sind in jeder Beziehung frei<br />

erzogen… Einige Äußerungen beleidigten<br />

mein christl<strong>ich</strong>es Herz.“ 28<br />

7. Der Einfluss des Marxismus auf die<br />

Künste und die französische Philosophie<br />

(Existentialismus, Poststrukturalismus<br />

und Postmodernismus)<br />

Es fällt relativ schwer, bedeutende Künstler<br />

des 20. Jahrhunderts zu benennen, die<br />

n<strong>ich</strong>t vom Marxismus in irgendeiner Weise<br />

beeinflusst wurden. Das Spektrum der<br />

Künstler, die marxistische Gedankengänge<br />

verarbeitet haben, re<strong>ich</strong>t von Pablo Picasso<br />

und Frida Kahlo über Bertolt Brecht<br />

und Thomas Mann bis hin zu Charlie<br />

Chaplin. In den Werken <strong>dies</strong>er Künstler<br />

wurde die Aufforderung, alle knechtenden<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005


Verhältnisse umzuwerfen, und die Utopie<br />

einer gerechten Weltordnung, in der jeder<br />

nach seinen Bedürfnissen leben kann, in<br />

prägnante Formen gegossen. Diese Werke<br />

haben n<strong>ich</strong>t <strong>nur</strong> den Zusammenbruch<br />

des real existiert habenden Sozialismus<br />

schadlos überstanden, sie werden auch<br />

noch in Zukunft das Denken und Empfinden<br />

von Menschen mitprägen – und damit<br />

zumindest den ethisch-politischen<br />

Impuls des Marxismus am Leben erhalten.<br />

In <strong>dies</strong>em Zusammenhang darf auch der<br />

marxistische Einfluss auf die französische<br />

Philosophie, vor allem auf die Schriftstellerphilosophen<br />

Jean-Paul Sartre und<br />

Albert Camus, n<strong>ich</strong>t vergessen werden.<br />

Beide verliehen dem Marxismus durch die<br />

Einbeziehung existentialistischer Positionen<br />

neue Schattierungen. Politisch gesehen<br />

war vor allem Camus’ heftig umstrittenes<br />

Werk „Der Mensch in der Revolte“<br />

von großer Bedeutung. 29 Camus kritisierte<br />

dort n<strong>ich</strong>t <strong>nur</strong> den sowjetischen Totalitarismus<br />

in schärfster Form (was zum Bruch<br />

mit Sartre und seiner Verbannung aus orthodox<br />

sozialistischen Kreisen zur Folge<br />

hatte), er arbeitete auch zwei Punkte heraus,<br />

die für die spätere französische (poststrukturalistische<br />

und postmoderne) Philosophie<br />

zentral sind, näml<strong>ich</strong><br />

– das Problem der Macht (das weder<br />

Marx noch seine Nachfolger in befriedigender<br />

Weise lösen konnten), sowie<br />

– die theoretische Unhaltbarkeit und praktische<br />

Inhumanität aller universalistischen<br />

Heilserzählungen (Camus zeigte auf, <strong>dass</strong><br />

n<strong>ich</strong>t <strong>nur</strong> der Fortschrittsautomatismus<br />

des Marxismus empirisch widerlegt war<br />

und es <strong>kein</strong>en Sinn machte, ihm weitere<br />

Generationen von Menschen zu opfern,<br />

sondern auch, <strong>dass</strong> jede umfassende<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005<br />

Theorie in ihrer praktischen Anwendung<br />

inhumane Konsequenzen heraufbeschwören<br />

musste.)<br />

Auf <strong>dies</strong>e Weise leitete Camus schon Anfang<br />

der 1950er Jahre die Postmodernisierung<br />

des Marxismus ein. Ein Projekt,<br />

das wenig später von Foucault, Derrida,<br />

Lyotard, Baudrillard u.a. weiter verfolgt<br />

wurde und das vor allem nach dem Zusammenbruch<br />

des real existiert habenden<br />

Sozialismus den linken Diskurs bis in die<br />

Gegenwart hinein entscheidend prägte.<br />

Bewertung: Marx hätte s<strong>ich</strong> über seinen<br />

Einfluss auf die Künste s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> gefreut.<br />

Er litt sehr darunter, <strong>dass</strong> er s<strong>ich</strong> mit den<br />

Künsten n<strong>ich</strong>t in der Weise beschäftigen<br />

konnte, wie er es gern getan hätte. Ob er<br />

s<strong>ich</strong> für die französische Philosophie des<br />

20. Jahrhunderts stärker hätte begeistern<br />

können als für die Philosophie des 19.<br />

Jahrhunderts? Ich halte es zumindest n<strong>ich</strong>t<br />

für ausgeschlossen, <strong>dass</strong> ein Marx des 20.<br />

Jahrhunderts Camus’ „Mensch in der Revolte“<br />

positiv rezipiert hätte…<br />

8. Was bleibt vom Marxismus?<br />

Seit Marx die Grundlagen seiner Philosophie<br />

formuliert hat, sind mehr als anderthalb<br />

Jahrhunderte vergangen. Seitdem<br />

sind unzählige Ansätze entwickelt worden,<br />

die s<strong>ich</strong> in der einen oder anderen Weise<br />

auf Marx bezogen haben. Was davon hat<br />

noch Bestand und wird auch noch Zukunft<br />

Bestand haben?<br />

Der real existiert habende Sozialismus, der<br />

ausgehend von Lenins Oktoberrevolution<br />

über die Diktatur Stalins hin zur Breschnew-Doktrin,<br />

die Weltpolitik maßgebl<strong>ich</strong><br />

mitbestimmte, trat Ende der 1980er Jahre<br />

unbeklatscht von der Bühne der Weltgesch<strong>ich</strong>te.<br />

Soweit <strong>ich</strong> <strong>dies</strong> einschätzen<br />

67


kann, ist kaum ein westl<strong>ich</strong>er Linker an<br />

der Wiederaufnahme <strong>dies</strong>es staatsbürokratischen<br />

Trauerspiels interessiert.<br />

Die wenigen, noch existierenden Länder,<br />

die am Projekt einer staatl<strong>ich</strong> sanktionierten<br />

Diktatur des Proletariats festhalten,<br />

genießen wenig Sympathie. Was China betrifft,<br />

so sehen und sahen s<strong>ich</strong> die Linken<br />

hierzulande weit mehr auf der Seite der<br />

protestierenden Studenten, die auf dem<br />

Platz des Himmlischen Friedens von Panzern<br />

überrollt wurden, als auf der Seite<br />

der chinesischen KP. Nordkoreas Regime<br />

brauchte innerhalb der Linken <strong>kein</strong> Ansehen<br />

verlieren, da es <strong>dies</strong>es ohnehin n<strong>ich</strong>t<br />

genoss. Fidel Castros Kuba profitierte<br />

zwar eine Zeitlang von einem gewissen<br />

Sympathie-Bonus (hervorgerufen durch<br />

eine geschickt vermarktete Che Guevara-<br />

Romantik sowie einiger Fortschritte im<br />

sozialen Bere<strong>ich</strong>), die rücks<strong>ich</strong>tslose Verfolgung<br />

von Kritikern sorgte aber dafür,<br />

<strong>dass</strong> s<strong>ich</strong> in jüngster Zeit selbst hartnäkkige<br />

Sympathisanten von Castro distanzierten.<br />

Insofern besitzen heutige <strong>Marxist</strong>en – jenseits<br />

der Sozialdemokratie – wenige realpolitische<br />

Vorbilder, auf die sie s<strong>ich</strong> positiv<br />

beziehen können. (Eine löbl<strong>ich</strong>e Ausnahme<br />

bildet hier vielle<strong>ich</strong>t die kommunistische<br />

Partei Keralas. Kerala, ein bevölkerungsre<strong>ich</strong>er<br />

Bundesstaat im Süden Indiens,<br />

war der erste Ort, an dem auf demokratischem<br />

Weg eine kommunistische<br />

Regierung gewählt, ihres Amtes enthoben<br />

und wieder gewählt wurde. Die Erfolge<br />

der indischen <strong>Marxist</strong>en, die auf Demokratisierung,<br />

Dezentralisierung und Landreform<br />

setzten, waren und sind beachtl<strong>ich</strong>:<br />

Der Alphabetisierungsgrad im armen<br />

Kerala entspr<strong>ich</strong>t in etwa dem der re<strong>ich</strong>en<br />

USA, das gle<strong>ich</strong>e gilt für die durchschnittl<strong>ich</strong>e<br />

Lebenserwartung. Die Vermögens-<br />

68<br />

unterschiede in Kerala sind minimal, 90<br />

Prozent der Bauern Grundbesitzer, Männer<br />

und Frauen gle<strong>ich</strong>berechtigt. Religiöse<br />

Konflikte spielen kaum eine Rolle und<br />

die Bevölkerungsentwicklung ist stabil –<br />

eine ungewöhnl<strong>ich</strong>e, ja man muss sagen:<br />

vorbildl<strong>ich</strong>e Bilanz für ein Entwicklungsland<br />

im Allgemeinen und Indien im Speziellen.<br />

30 Allerdings: Auch wenn man aus<br />

der klugen Politik Keralas viel über nachhaltige<br />

Politik in Entwicklungsländern lernen<br />

kann, als Vorbild für eine linke Realpolitik<br />

im Westen taugt der indische Bundesstaat<br />

kaum. Die sozioökonomischen<br />

und ökologischen Voraussetzungen sind<br />

schl<strong>ich</strong>t und ergreifend zu unterschiedl<strong>ich</strong>.)<br />

Was also bleibt vom Marxismus – außer<br />

einigen großen Kunstwerken und der Erinnerung<br />

an die Verbrechen, die im Namen<br />

des Marxismus begangen wurden?<br />

Ich bin überzeugt, <strong>dass</strong> gewisse Elemente<br />

der marxistischen Theorie auch in Zukunft<br />

noch Bestand haben werden. Bleiben<br />

wird der für Humanisten unaufkündbare<br />

Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen,<br />

in denen der Mensch ein erniedrigtes,<br />

ein geknechtetes, ein verlassenes,<br />

ein verächtl<strong>ich</strong>es Wesen ist…“. Bleiben<br />

wird auch die Marxsche Entfremdungstheorie<br />

und die dahinter stehende Vorstellung,<br />

<strong>dass</strong> der Mensch s<strong>ich</strong> in seinem Leben<br />

als Produzent, Konsument, als Mensch<br />

unter Menschen verwirkl<strong>ich</strong>en können<br />

sollte. Bleiben wird ebenfalls die Eins<strong>ich</strong>t,<br />

wie stark unser individuelles wie gesellschaftl<strong>ich</strong>es<br />

Bewusstsein von historisch<br />

gewachsenen und ökonomisch bestimmten<br />

Kräften geprägt wird.<br />

Auch Teile der marxistischen Religions-,<br />

Ideologie- und Kapitalismuskritik dürften<br />

nachhaltige Wirkungen zeigen. Beispielsweise<br />

die Warnung vor den Folgen, die<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005


mit einer ungebremsten Akkumulation des<br />

Kapitals verbunden sein können. In der<br />

Tat darf man neben den Erfolgen der kapitalistischen<br />

Marktwirtschaft ihre soziale,<br />

kulturelle wie ökologische Zerstörungskraft<br />

n<strong>ich</strong>t übersehen. Anges<strong>ich</strong>ts des sowohl<br />

im globalen wie im nationalen Maßstab<br />

voranschreitenden Prozesses des<br />

Auseinanderklaffens von arm und re<strong>ich</strong>,<br />

der verheerenden Umweltschäden und<br />

knapper werdender Energieressourcen<br />

sind durchaus Zweifel daran angebracht,<br />

ob die viel gepriesene „uns<strong>ich</strong>tbare Hand<br />

des Marktes“ (ohne klar definierte Rahmensetzungen!)<br />

die Verhältnisse tatsächl<strong>ich</strong><br />

zum Besseren wird ordnen können.<br />

Viel eher scheint sie zum Instrument eines<br />

„perfekten Verbrechens“ zu werden – mit<br />

Millionen von Opfern, erdrosselt von der<br />

uns<strong>ich</strong>tbaren Hand des Marktes. Insofern<br />

ist es durchaus verständl<strong>ich</strong>, <strong>dass</strong> in<br />

den Reihen der Globalisierungskritiker<br />

Versatzstücke der <strong>Marxist</strong>ischen Theorie<br />

reißenden Absatz finden.<br />

Fazit: Als das Ostblocksystem zugrunde<br />

ging, stimmten einige, die s<strong>ich</strong> als Sieger<br />

im Wettstreit der Systeme empfanden, triumphal<br />

das Totenlied auf den Marxismus<br />

an. Doch <strong>dies</strong>er Abgesang war verfrüht.<br />

Der Marxismus wird, so meine Einschätzung,<br />

solange virulent bleiben, solange es<br />

dem kapitalistischem System n<strong>ich</strong>t gelingt,<br />

seine internen Widersprüche aufzuheben<br />

– ein Unterfangen, das schwerl<strong>ich</strong> mögl<strong>ich</strong><br />

sein wird aus Gründen, die im 19. Jahrhundert<br />

wohl niemand besser formuliert<br />

hat als Karl Marx<br />

Das sage <strong>ich</strong>, obgle<strong>ich</strong> <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> selbst<br />

<strong>kein</strong>eswegs als „<strong>Marxist</strong>“ beze<strong>ich</strong>nen würde.<br />

Ich halte es für hochgradig unsinnig<br />

und gefährl<strong>ich</strong>, s<strong>ich</strong> derart in seinem Denken<br />

und Handeln auf eine Person zu kon-<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005<br />

zentrieren, <strong>dass</strong> man ihre Lehre zum<br />

„Ismus“ erheben kann. Allerdings wäre es<br />

ebenso unsinnig und gefährl<strong>ich</strong>, s<strong>ich</strong> vor<br />

Erkenntnissen <strong>nur</strong> deshalb zu verschließen,<br />

weil sie in irgendeinem „Ismus“ begründet<br />

sind<br />

Hilfre<strong>ich</strong> wäre eine vorurteilsfreie Herangehensweise<br />

an das Werk von Karl Marx.<br />

Denn in dessen Werk steckt vieles, was<br />

auch gegenwärtig noch von Belang ist.<br />

Ignorieren wir <strong>dies</strong>e Erkenntnisse, so erhöhen<br />

wir das Risiko, <strong>dass</strong> die totalitären<br />

Varianten des Marxismus (aber auch des<br />

Nationalismus und religiösen Fundamentalismus)<br />

wieder attraktiv werden. (Und<br />

wenn die Schere zwischen arm und re<strong>ich</strong><br />

noch weiter aufgeht, wird das viel früher<br />

geschehen, als wir uns das heute vorstellen<br />

können!)<br />

Werden hingegen die Erkenntnisse von<br />

Marx sowie die Erkenntnisse derer, die den<br />

marxistischen Ansatz weiterentwickelt haben<br />

(in jüngster Zeit beispielsweise Robert<br />

Kurz) politisch ernster genommen, so<br />

könnten wir mit ihrer Hilfe durchaus in der<br />

Lage sein, größere Spielräume für das Projekt<br />

der offenen Gesellschaft zu schaffen,<br />

ein Projekt, das heute selbstverständl<strong>ich</strong><br />

n<strong>ich</strong>t mehr in bloß nationalen Kategorien<br />

gedacht werden kann<br />

Als Leitmaxime mag dabei ein Satz gelten,<br />

den Marx mehr als 100 Jahre vor dem<br />

Erdgipfel in Rio schrieb und mit dem er<br />

das heute so gerne zitierte „Prinzip der<br />

nachhaltigen Entwicklung“ vorwegnahm:<br />

„Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation,<br />

ja alle Gesellschaften zusammengenommen,<br />

sind n<strong>ich</strong>t Eigentümer der Erde.<br />

Sie sind <strong>nur</strong> ihre Besitzer, ihre Nutznießer,<br />

und haben sie als boni patres familias den<br />

nachfolgenden Generationen verbessert zu<br />

hinterlassen.“ 31<br />

69


Anmerkungen:<br />

1 MEW Bd.37, S.450<br />

2 Ich greife hier teilweise zurück auf meine Ausführungen<br />

in <strong>Schmidt</strong>-Salomon, M<strong>ich</strong>ael (1999): Proletarier<br />

aller Länder verzeiht mir?“ Plädoyer für einen<br />

zu Unrecht angeklagten Philosophen. In: Aufklärung<br />

und Kritik 2/1999<br />

3 MEW, Bd.40, S.463<br />

4 MEW Bd.3, S.77<br />

5 MEW Bd.17, S.538<br />

6 a.a.O., S.539<br />

7 a.a.O., S.544<br />

8 vgl. hierzu Wagenlehner, Günther (1971): Staat<br />

oder Kommunismus. Lenins Entscheidung gegen die<br />

kommunistische Gesellschaft. Stuttgart.<br />

9 zitiert nach Shub, David (1976): Lenin. Geburt<br />

des Bolschewismus. München, S. S.222f.<br />

10 Lenin W.I.(1983): Ausgewählte Werke, Bd.6,<br />

Berlin, S.333-541<br />

11 Lenin 1983 Bd.3, S.461-584<br />

12 vgl. insbesondere Lenin 1983, Dd.2, S.643-770<br />

13 Shub 1976, S. 439, siehe auch Lenin 1983, Bd.<br />

6, S. 616<br />

14 Lenin 1983, Bd.6, S.25<br />

15 zitiert nach Shub 1976, S.440<br />

16 Lenin 1983, Bd.2, S.55f.<br />

17 siehe <strong>Schmidt</strong>-Salomon, M<strong>ich</strong>ael (2005): „Mythos<br />

Marx“? Grundrisse des Lebens und Werks des<br />

Philosophen, Ökonomen und Politikers Karl Marx.<br />

In: Aufklärung und Kritik Sonderheft Karl Marx.<br />

18 Vgl. u.a. Jestrabek, Heiner (2003) (Hrsg.): Rosa<br />

Luxemburg. Freidenkerin des Sozialismus.<br />

Aschaffenburg; sowie Trotnow, Helmut (1980): Karl<br />

Liebknecht. Eine politische Biographie. Köln.<br />

19 Petrovic, Gajo (1980): Die Revolution denken.<br />

In: Raddatz, Fritz (Hrsg.): Warum <strong>ich</strong> <strong>Marxist</strong> bin.<br />

Frankfurt/M, S.180<br />

20 Bahro, Rudolf (1990): Die Alternative. Zur Kritik<br />

des real existierenden Sozialismus. Berlin.<br />

21 Vgl. zum, Folgenden: Courtois, Stéphane et al<br />

(1998) (Hg): Schwarzbuch des Kommunismus.<br />

Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München.<br />

Kritische Einwände gegen <strong>dies</strong>e Form der „Generalabrechnung“<br />

mit dem Kommunismus finden s<strong>ich</strong> in:<br />

70<br />

Mecklenburg, Jens/Wippermann, Wolfgang (1998)<br />

(Hg): „Roter Holocaust“? Kritik des Schwarzbuch<br />

des Kommunismus. Hamburg.<br />

22 Siehe vor allem: Horkheimer, Max/Fromm, Er<strong>ich</strong>/<br />

Marcuse, Herbert et al (1936/1987): Studien über<br />

Autorität und Familie. Forschungsber<strong>ich</strong>te aus dem<br />

Institut für Sozialforschung. Lüneburg.<br />

23 Fromm, Er<strong>ich</strong> (1989): Gesamtausgabe, Bd. 1.<br />

München<br />

24 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1969):<br />

Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M.<br />

25 Von besonderer Bedeutung war dabei vor allem:<br />

Marcuse, Herbert (1994): Der eindimensionale<br />

Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen<br />

Industriegesellschaft. München.<br />

26 Marcuse, Herbert (1966): Repressive Toleranz.<br />

In: Wolff, R.P./Moore, B./Marcuse, H.: Kritik der<br />

reinen Toleranz. Frankfurt/M.<br />

27 Wisnewski, Gerhard et al (1993): Das RAF-<br />

Phantom. Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen<br />

brauchen. München.<br />

28 Zitiert nach vgl. Weissweiler, Eva (2002): Tussy<br />

Marx. Das Drama der Vatertochter. Köln, S.51<br />

29 Camus, Albert (2001): Der Mensch in der Revolte.<br />

Reinbek<br />

30 Auch in Bezug auf das subjektive Wohlempfinden<br />

der Einwohner schneidet Kerala überraschend gut<br />

ab, vgl. hierzu Klein, Stefan (2002): Die Glücksformel.<br />

Reinbek; S.262f.<br />

31 MEW Bd.25, S.784<br />

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 10/2005

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