EDUCATION 2.17
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Mittelschule/Berufsbildung | Ecoles moyennes/Formation professionnelle<br />
Am Gymnasium Biel-Seeland und am Gymnase<br />
Français de Bienne büffeln die deutsch- und französischsprachigen<br />
Schülerinnen und Schüler für<br />
ihre Fachmaturität Pädagogik. Sie tun dies auf<br />
besondere Weise: mit zwei Unterrichtsfächern in<br />
der jeweils anderen Sprache. Und mit einem innovativen<br />
Lernkonzept, das ihnen viel Eigenverantwortung<br />
abverlangt.<br />
Auf den ersten Blick ist in diesem Klassenzimmer in der<br />
Schulanlage Strandboden nichts anders als in einer anderen<br />
Geschichtsstunde: Der Lehrer führt das Thema Russische<br />
Revolution ein, erklärt Begriffe wie «Klassenkampf», «Kapitalismus»,<br />
«Kommunismus». Er spricht Französisch – die<br />
Schülerinnen und Schüler aber schreiben ihre Notizen auf<br />
Deutsch in ihre Notizblöcke. Einen Stock weiter im Gebäude<br />
das umgekehrte Spiel: Der Lehrer spricht deutsch über das<br />
Mittelalter, das er in den kommenden Geschichtslektionen<br />
behandeln möchte. Es habe aber nichts mit dem romantischen<br />
Mittelalter zu tun, das in Filmen und Legenden kolportiert<br />
werde. Die Schülerinnen und Schüler hören angeregt<br />
zu – und notieren in französischer Sprache: «Haben Sie das<br />
verstanden? Gibt es noch Fragen?», will der Lehrer wissen.<br />
«Gibt es Wörter, die wir übersetzen müssen?» Dies scheint<br />
nicht der Fall zu sein, die Lektion geht weiter. Die Schülerinnen<br />
und Schüler, die hier an der Fachmittelschule Biel-<br />
Seeland den Unterricht besuchen, haben ein klares Berufsziel:<br />
Sie wollen die Fachmaturität Pädagogik (siehe Kasten)<br />
machen und später die Pädagogische Hochschule (PH)<br />
besuchen. «Es ist eine passgenaue Fachmatur, um anschliessend<br />
die Ausbildung am Institut für Vorschule und<br />
Primarstufe der PHBern in Angriff zu nehmen», sagt Marianne<br />
Käser, Leiterin der Fachmittelschule Biel-Seeland.<br />
Sich getrauen, die andere Sprache zu sprechen<br />
Der immersive Unterricht ist eine Besonderheit dieses<br />
Lehrganges. Nebst dem eigentlichen Fremdsprachenfach<br />
erfolgt für die Deutschsprachigen Geschichte und Geografie<br />
konsequent in französischer Sprache, die restlichen<br />
Unterrichtsfächer werden in der Muttersprache unterrichtet.<br />
Für die Frankophonen ist es das gleiche System, nur<br />
umgekehrt. Die angehenden Kindergärtner und Primarlehrerinnen<br />
sollen in diesem Jahr ihre Hemmungen in der<br />
Zweitsprache verlieren und möglichst oft Gelegenheit<br />
haben, die Zweitsprache zu praktizieren. In Sprachtandems<br />
tauschen sich die deutsch- und französischsprachigen<br />
Schülerinnen und Schüler ausserhalb des Unterrichts<br />
einmal pro Woche aus. Das Eintauchen in das Sprachbad<br />
kommt an: «Ich lerne Deutsch, ohne dass ich es merke»,<br />
schilderte eine Schülerin ihre Erfahrung dem Konrektor<br />
Yves Pillard. Die 19-jährige Mayra Faccio aus Köniz sagt<br />
es so: «Früher hab ich mich nicht getraut, Französisch zu<br />
sprechen. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Und in<br />
Tandems merke ich: Jeder macht Fehler.» Dies bestätigen<br />
auch die ausserkantonalen Schülerinnen und Schüler, die<br />
im Rahmen der Kooperation im Raum Bern-Jura-Neuchâtel<br />
die Fachmaturität in Biel besuchen: Megan Gerhard<br />
aus Neuchâtel etwa hatte bis vor ihrem Fachmaturitätsjahr<br />
wenig mit der anderen Sprache zu tun. Zu Beginn sei es<br />
schwierig, dem Unterricht in Geschichte oder Geografie in<br />
einer Fremdsprache zu folgen. «Man gewöhnt sich aber<br />
daran», sagt die 20-Jährige. Und sie stelle fest, dass sie<br />
im Kontext doch recht viel verstehe, ohne jedem einzelnen<br />
Wort zu folgen. Viele der Fachmaturandinnen und -maturanden<br />
machen zudem freiwillig noch ein DELF-Sprachdiplom<br />
1 in der Fremdsprache. «Das zeigt, dass ihnen die<br />
Fremdsprache wirklich ein Anliegen ist», sagt Marianne<br />
Käser. Französisch spiele an der PHBern eine grosse Rolle,<br />
und die Prüfungen zu bestehen sei keine einfache Sache –<br />
Gleiches gilt für die Deutschanforderungen an der HEP<br />
BEJUNE, der französischsprachigen pädagogischen Hochschule.<br />
Die Schülerinnen und Schüler der Fachmaturität<br />
Pädagogik wappnen sich dafür.<br />
Grosse Selbstständigkeit<br />
Der Ausbildungsgang der Fachmaturität Pädagogik zeichnet<br />
sich nebst der Zweisprachigkeit durch ein innovatives<br />
Lernkonzept aus. Grosser Wert wird auf die Selbstständigkeit<br />
der Schülerinnen und Schüler gelegt. Die Hälfte<br />
der Unterrichtszeit ist als Selbstlernzeit im Stundenplan<br />
ausgewiesen. Eine Absenzenkontrolle während dieser<br />
Lektionen gibt es nicht. Die Lehrerinnen und Lehrer sind<br />
während dieser Stunden zwar für die Schülerinnen und<br />
Schüler da, unterrichten sie aber nicht im herkömmlichen<br />
Sinn. «Ich stehe während dieser Zeit nie an der Tafel», erklärt<br />
der deutschsprachige Mathematiklehrer Daniel Diserens.<br />
Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten während diesen<br />
sogenannten AA-Lektionen (die Abkürzung steht für<br />
«Arbeitsauftrag» oder «Apprentissage autonome») selbstständig<br />
ein Thema, jede und jeder dem eigenen Niveau<br />
entsprechend.<br />
1 Diplôme d'Etudes en Langue Française<br />
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<strong>EDUCATION</strong> <strong>2.17</strong> 41