zds#49
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DIE ZEITSCHRIFT<br />
DER STRASSE<br />
Das Bremer Straßenmagazin<br />
Ausgabe 49<br />
www.zeitschrift-der-strasse.de<br />
2,50 EURO<br />
1,30 € für den Verkäufer<br />
REMBERTI<br />
RING<br />
DIE MAUERN DES<br />
HERRN MEYER<br />
LANGE GESCHICHTE,<br />
KLEINES GLÜCK<br />
STAUB IM<br />
SCHLUMPF<br />
RAUS AUS<br />
DER SPIRALE<br />
Der Mann, der bald<br />
ein Jahr in der<br />
Notunterkunft wohnt<br />
Im Rembertistift<br />
kann auch wohnen,<br />
wer wenig Rente hat<br />
Eine Kirche und ihr<br />
Umgang mit Steiners<br />
rassistischem Erbe<br />
20 Exhäftlinge unter<br />
einem Dach. Ein<br />
Neuanfang
Ganz hartes<br />
EDITORIAL | 3<br />
Pflaster<br />
Liebe Leserinnen<br />
und Leser,<br />
ertappen Sie sich auch manchmal dabei, dass Sie denken: Früher war vieles<br />
besser? Wem solche Gedanken, wie uns, nicht fremd, aber etwas peinlich sind,<br />
dem sei ein Spaziergang am Rembertiring empfohlen. Sofort wird man wieder<br />
klar im Kopf. Hätten sich die Stadt- und Verkehrsplaner von früher durchgesetzt,<br />
sähe es heute in halb Bremen aus wie hier: Schneisen automobiler<br />
Verwüstung, vom Viertel über die Werderinsel bis in die Neustadt. Ein unwirtlicher<br />
Ort, dieser Rembertiring, da helfen auch der Rasen und die paar Bäume<br />
nichts, die man in den Kreisel gepflanzt hat.<br />
Einige Menschen aber, die vor dem Nichts stehen, finden gerade hier<br />
Unterschlupf: In der Notunterkunft der Inneren Mission beispielsweise, wo<br />
wohnungslose Männer ein Zimmer beziehen und so in Ruhe und Würde<br />
leben zu können. Für gewisse Zeit nur, aber immerhin (Seite 8). Oder im Haus<br />
Fedelhören, wo 20 aus der Haft entlassene Männer in Wohngemeinschaften<br />
leben und einen neuen Start ins Leben versuchen (Seite 24). Wer mit diesen<br />
Menschen spricht, erfährt viel über die dunklen Seiten des Lebens.<br />
Wobei es am Rembertiring, wenn man ganz genau guckt, auch Schönes<br />
zu entdecken gibt: Unsere Fotostrecke eröffnet neue Perspektiven (Seite 16),<br />
und wem das noch nicht reicht, kann ja mal eben durch die schmucken Torbögen<br />
in den Garten des Rembertistifts spazieren. Die plötzliche Ruhe ist<br />
faszinierend! Hier, in Bremens ältester sozialer Siedlung, wohnt eine bunte Mischung<br />
älterer und jung gebliebener Frauen und Männer, in wunderschönen<br />
Wohnungen zu erstaunlich günstigen Mieten. Da möchte man später glatt mal<br />
einziehen (Seite 12).<br />
Ach ja: Dass die Mozarttrasse bis auf den kleinen Teil Rembertiring<br />
damals doch nicht gebaut wurde, lag am Protest der Wutbürger. Zumindest<br />
diese waren früher besser als heute (Seite 7).<br />
Viel Vergnügen beim Lesen wünschen<br />
Philipp Jarke, Jan Zier<br />
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße<br />
Die Zeitschrift der Straße<br />
Foto Titelseite: Benjamin Eichler<br />
Seite 2: Jan Zier<br />
ist das Bremer Straßenmagazin – ein gemeinsames Projekt von<br />
Studierenden, JournalistInnen, sozial Engagierten, StreetworkerInnen,<br />
HochschullehrerInnen und von Menschen,<br />
die von Wohnungslosigkeit und Armut bedroht oder betroffen<br />
sind. Herausgegeben wird sie vom Verein für Innere Mission in<br />
Bremen. Die Zeitschrift der Straße Wird auf der Straße verkauft,<br />
die Hälfte des Verkaufserlöses geht an die VerkäuferInnen.<br />
Jede Ausgabe widmet sich einem anderen Ort in Bremen und<br />
erzählt Geschichten von der Straße.
Inhalt<br />
12 Lange Geschichte,<br />
kleines Glück<br />
Im Rembertistift kann auch<br />
wohnen, wer nur wenig Rente<br />
bekommt<br />
16 Die Schönheit des<br />
Rembertirings<br />
Fotostrecke<br />
08 Die Mauern des Herrn Meyer<br />
In der Notunterkunft können Bedürftige<br />
zeitweise wohnen. Günter Meyer wohnt<br />
nun bald ein Jahr hier<br />
28<br />
22 Staub im Schlumpf<br />
In der Michaelkirche pflegt<br />
man einen naiven Umgang mit<br />
Steiners rassistischem Erbe<br />
BUCHSTABEN b e a r b e i t e n<br />
08<br />
12<br />
BILDER p l a t z i e r e n<br />
PAPIER v e r e d e l n<br />
WERTIGKEIT v e r m i t t e l n<br />
22<br />
16<br />
24<br />
ACHTSAMKEIT e r z e u g e n<br />
EXCELLENT d r u c k e n<br />
www.berlindruck.de<br />
24 Raus aus der Spirale<br />
20 Exhäftlinge unter einem<br />
Dach. Der Versuch eines<br />
Neuanfangs<br />
28 „Eine coole Challenge“<br />
Das Café Papagei hat einen<br />
neuen Chefkoch<br />
30 Termine<br />
31 Impressum & Vorschau<br />
Illustration:<br />
Anna-Lena Klütz ist freie Künstlerin und freut<br />
sich, wenn aus einer scheinbar nichtssagenden<br />
Straße ein Bild voller spannender Einblicke wird.
6 | zahlEN & Fakten<br />
1946<br />
REMBERTI<br />
RING<br />
2017<br />
700 Meter lange Hauptverkehrsstraße in Bremen-Mitte zwischen<br />
Bahnhofsplatz und der Eduard-Grunow-Straße<br />
Recherche & Text: Jan Zier, Philipp Jarke<br />
Fotos: Staatsarchiv Bremen (1946) und Jan Zier (2017)<br />
Geburtsjahr von Bischof Rimbert,<br />
Namenspatron des St.-Remberti-Stifts: 830<br />
Sterbejahr von Bischof Rimbert: 888<br />
Zahl der Übernachtungsplätze in der<br />
Notunterkunft für Männer: 40<br />
Preis für eine Übernachtung in der Notunterkunft<br />
für Männer, für Berufstätige in Euro: 2<br />
Preis für eine Übernachtung im Ibis-Hotel,<br />
in Euro: 62<br />
Name des Wandbildes am Haus Auf den Häfen<br />
30–32: Blick aus dem Fenster<br />
Name im Volksmund: Oma-und-Opa-Bild<br />
Größe des Wandbildes, in Metern: 18 mal 10,5<br />
Zweck des Bildes: Kritik am Kahlschlag im<br />
Ostertorviertel<br />
Preis für ein Frühstück in der Teestube des<br />
Vereins Hoppenbank, in Euro: 1,50<br />
Preis für ein Mittagessen in der Teestube des<br />
Vereins Hoppenbank, in Euro: 2,50<br />
Preis für ein Abendessen in der Teestube des<br />
Vereins Hoppenbank, in Euro: 2<br />
Maximaler Betrag, für den Besucher in der Teestube<br />
der Hoppenbank auf Kredit essen können,<br />
in Euro: 6<br />
Zahl der Teilnehmer an der Schachliga in der<br />
Teestube: 40<br />
Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen, die 2015 in der<br />
Teestube abgearbeitet wurden: 31<br />
Zahl der dabei geleisteten Stunden<br />
gemeinnütziger Arbeit: 5.683<br />
Zahl der dadurch eingesparten Hafttage: 1.593<br />
Kosten pro Hafttag in einem Bremer Gefängnis,<br />
in Euro: 110<br />
Verkaufspreis für Otto Modersohns Gemälde<br />
„Überschwemmung“ im Auktionshaus Bolland &<br />
Marotz, in Euro: 22.000<br />
Zahl der Stunden, die das Fitnessstudio am<br />
Kreisel täglich geöffnet hat: 24<br />
Zahl der Fahrzeuge auf und unter der Hochstraße<br />
Breitenweg, pro Tag: 50.000<br />
Einführung des Glasflaschenverbots auf der Discomeile:<br />
4. Juli 2014<br />
Kippen des Glasflaschenverbots durch das Oberverwaltungsgericht:<br />
11. November 2017<br />
Begründung des Urteils: Gläser und Flaschen<br />
stellen keine abstrakte Gefahr dar.<br />
Erläuterung des Gerichts: „Ist es, wenn sich einer<br />
mit einer Bierflasche auf der Diskomeile bewegt,<br />
vergleichbar mit jemandem, der einen Baseballschläger<br />
oder einer Axt dabei hat?“ – „Nein.“<br />
Gleich hinter dem Theater am Goetheplatz sollten<br />
sie aufragen, Wohnsilos, wie wir sie heute aus Tenever<br />
kennen. Darunter, im Boden versenkt, eine<br />
vierspurige Hauptverkehrsstraße, die gleich hinter<br />
dem Rembertikreisel abtaucht, den Osterdeich<br />
kreuzungsfrei überbrückt, anschließend die Weser<br />
und den Stadtwerder, bevor sie in das Buntentorviertel<br />
eindringt. Der Straßentunnel wird von<br />
Tiefgaragen und Hochhaussiedlungen mit bis zu<br />
28 Stockwerken gerahmt.<br />
Das war die Vision, die 1972 der Bremer Öffentlichkeit<br />
präsentiert wurde. Ein Traum in Beton,<br />
der seinerzeit nicht ungewöhnlich war: Die Idee<br />
der „autogerechten Stadt“, sie beherrschte damals<br />
die Köpfe der allermeisten Stadtplaner. Die Hochstraße<br />
am Bahnhof war Anfang der Sechzigerjahre<br />
nur der erste Schritt einer Stadtautobahn, die in<br />
eine Zukunft mit 800.000 EinwohnerInnen führen<br />
sollte. Der Rembertikreisel ist ein Relikt dieser<br />
Planung. Damit sollte die bremische Innenstadt<br />
weitgehend von Verkehr freigehalten und gleichzeitig<br />
dem steigendem Autoverkehr Tribut gezollt<br />
werden. Im Planerdeutsch sprach man von einem<br />
„Tangentenviereck“, dessen östlicher Teil eine<br />
etwa 120 Meter breite Schneise entlang der Mozartstraße<br />
mit Anschlüssen zum Rembertikreisel<br />
und einer neuen Brücke in die Neustadt werden<br />
sollte – die „Mozarttrasse“.<br />
Der Kampf der ViertelbewohnerInnen gegen<br />
diese Stadtplanung dauerte mehrere Jahre. Für<br />
die Trasse stritt der sozialdemokratische Senat<br />
mit Unterstützung der SPD-Fraktion und der<br />
gewerkschaftseigenen „Neuen Heimat“ als Bauträger.<br />
Gegen die Trasse stritten der SPD-Ortsverein<br />
Altstadt und Bürgerinitiativen. Nach Jahren<br />
der Diskussion kam es am 4. November 1973 zu<br />
einer SPD-Fraktionssondersitzung, die fast den<br />
gesamten Tag dauerte und in der eine Mehrheit von<br />
26 zu 24 Stimmen für die Mozarttrasse stimmten.<br />
Die Mehrheit, sie war zu knapp. Und dann sickerte<br />
auch noch durch, dass die Baukosten offenbar,<br />
politisch motiviert, schöngerechnet worden waren.<br />
Der Beschluss wurde also schon am nächsten Tag<br />
zurückgenommen. Bei elf Enthaltungen stimmte<br />
dieselbe SPD-Fraktion nun einstimmig gegen die<br />
Mozartrasse. Das Viertel, es war gerettet.<br />
Und der von den Trassenbefürwortern prophezeite<br />
Verkehrskollaps? Den gab es nie.
8 | Reportage<br />
Die Mauern<br />
des Herrn<br />
Meyer<br />
In der Notunterkunft am Rembertiring<br />
können wohnungslose Männer zeitweise<br />
wohnen. Günter Meyer lebt nun bald ein<br />
Jahr hier<br />
Text: Mareike Harms<br />
Fotos: Benjamin Eichler<br />
1965 war am Wartumer Platz schon ein dörfliches Idyll entstanden.<br />
Den Ring seiner toten Frau will Günter Meyer*<br />
tragen, bis die letzte Zigarette geraucht ist.<br />
Mittwoch, 21:30 Uhr. In der Notunterkunft am<br />
Rembertiring sitzt ein Mitarbeiter der Inneren<br />
Mission am Schreibtisch, hinter einer großen<br />
Glasscheibe. Sein Zimmer wirkt wie eine kleine<br />
Wache.<br />
Es klingelt. Ein etwas zerzauster Mann mit<br />
blonden Haaren wird reingelassen. Er möchte<br />
gerne die Nacht hier verbringen. Einst studierte<br />
er, sagt er, wurde Maschinenbauingenieur. Seine<br />
Arbeit war auf den Mikrometer genau programmiert,<br />
also auf ein Millionstel Meter exakt. Bis er<br />
sich vertat. Und die Rakete in die Luft flog. Jetzt ist<br />
er obdachlos.<br />
Und Rückenschmerzen hat er auch, darum<br />
würde er die Nacht gerne in einem richtigen Bett<br />
schlafen. Plüschhausschuhe hat er auch dabei.<br />
„Alleine schlafen wollen Sie nicht?“, fragt der Mitarbeiter,<br />
während er am Telefon mit einem Kollegen<br />
spricht. Der Mann schüttelt aufgeregt und<br />
doch bestimmt den Kopf.<br />
Nicht alle Obdachlosen, die schon länger „Platte“<br />
machen, kommen in die Notunterkunft am<br />
Rembertiring, erzählt Michael Lienesch, der Leiter<br />
der Einrichtung. Aufgenommen wird jeder, der<br />
glaubhaft wohnungslos ist. In Bremen ist die Unterbringung<br />
in der Regel an einen Anspruch auf<br />
Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch gekoppelt.<br />
Problematisch sei dies insbesondere für Unionsbürger<br />
aus Osteuropa, die keinen Arbeitnehmerstatus<br />
in Deutschland hätten, sagt Lienesch. Diese<br />
Menschen würden offiziell als „Touristen“ gelten<br />
und blieben daher ohne Anspruch auf Unterbringung.<br />
Länger als drei Tage könnten diese normalerweise<br />
nicht aufgenommen werden. Und gerade<br />
in den Wintermonaten sei das „sehr tragisch“. Die<br />
Notunterkunft versuche aber, während der Kälteperiode<br />
Sonderregelungen zu treffen, um den<br />
„Kältetod“ zu verhindern, sagt Lienesch. Und im<br />
vergangenen Winter sei dies gelungen.<br />
40 Übernachtungsplätze für wohnungslose<br />
Männer stehen in dem Haus am Rembertiring zur<br />
Verfügung, zur Not kommen aber auch mal mehr<br />
unter. 500 Meter weiter, Auf der Brake, können<br />
noch mal 16 Männer nächtigen, bei Bedarf noch<br />
ein paar weitere. Zurzeit sind beide Gebäude fast<br />
vollständig ausgelastet. Für wohnungslose Frauen<br />
gibt es mindestens 14 Schlafplätze in der Abbentorstraße.<br />
Jeder soll hier Sicherheit und Schutz finden,<br />
um zur Ruhe zu kommen. Es sind vor allem Menschen,<br />
„die finanziell unter die Räder gekommen<br />
sind“, sagt Lienesch, oftmals erlitten sie in der<br />
Vergangenheit gravierende Schicksalsschläge. Genau<br />
deshalb fühle sich hier auch keiner „der Wohnungslosen-Partei“<br />
angehörig, wie Lienesch sie<br />
nennt. „Die Leute sind dummerweise wohnungslos<br />
und werden’s ungern.“<br />
Günter Meyer* ist so einer. Er ist 61 und<br />
stammt aus Berlin-Pankow. An seinen Händen<br />
trägt er mehrere Ringe, darunter einen goldenen<br />
am kleinen Finger. Es ist ein Ring seiner Frau.<br />
Und schon „eingewachsen“, wie er sagt. 1983 wurde<br />
sie, nachts, auf dem Nachhauseweg, von einem<br />
besoffenen Familienvater missbraucht. Und anschließend<br />
ermordet. Diesen Ring seiner Frau, mit<br />
der er zwei Kinder hat, will er tragen bis er seine<br />
letzte Zigarette geraucht hat. Im Sterben liegend.<br />
Nach dem Tod seiner Frau konnte Meyer nicht länger<br />
in Berlin bleiben. Er hatte „Hass im Körper“,<br />
sagt er. So zog er nach Bremen. Seine zwei Kinder<br />
blieben in Berlin, bei den Großeltern. Warum? Sie<br />
hätten sich in deren großem Haus mit dem Pool<br />
im Garten so wohlgefühlt, sagt er, und lacht dabei,<br />
auch die schulische Perspektive habe dort besser<br />
ausgesehen.<br />
Günter Meyer aber musste weg. Er wollte sich<br />
nach dem Tod seiner Frau ja nicht aufgeben. „Man<br />
muss immer vorwärts schauen“, sagt er. „Soll man<br />
den Kopf in den Sand stecken, sich den Kopf zuschütten?<br />
Bringt ja nichts!“ Zeitweise hat er es<br />
trotzdem so versucht. In den zwei Monaten nach<br />
ihrem Tod, da war er jeden Tag in der Kneipe. Und<br />
trank. Bis ihm ein „kleines Männeken im Kopf“<br />
gesagt habe: „Was machst du hier? Du hast zwei<br />
Kinder.“<br />
Günter Meyer ist gelernter Tischler, in diesem<br />
Beruf fand er 45 Jahre lang immer wieder eine<br />
Anstellung. Er scheute sich nicht, an sieben
10 | Reportage<br />
REPORTAGE | 11<br />
Günter Meyer* ist einer, der seinen Freunden nicht zur Last fallen will.<br />
Tagen in der Woche 15 Stunden oder mehr zu arbeiten,<br />
sagt er. Dafür hat er viel von der Welt gesehen,<br />
war in Luxemburg, Belgien, Österreich oder<br />
Frankreich. Dort, „wo andere Urlaub machen“,<br />
da habe er gearbeitet. Und wenn er Freizeit hatte,<br />
dann fuhr er hoch zu seinen Kindern.<br />
„Und so wird man ausgebremst“, sagt er leicht<br />
schnaubend, während er seinen Blick durch das<br />
Foyer der Notunterkunft schweifen lässt. Meist<br />
guckt er ernst. Oft sagt er „Naja“ und atmet dabei<br />
tief ein. Als müsse er sich immer wieder sagen,<br />
dass es eben genau so und nicht anders ist. „Es<br />
kommen auch immer wieder bessere Zeiten“, sagt<br />
er dann. In zwei Jahren wollte er in Rente gehen,<br />
das Leben noch einmal genießen, ins Theater gehen,<br />
Musicals besuchen. Meyer ist einer, der seinen<br />
Bekannten und Freunden nicht zur Last fallen<br />
will. „Die haben ja alle selber Kinder oder so“,<br />
sagt er, gerade in seinem Alter. Dort habe er nichts<br />
verloren. Viele wandten sich aber auch von ihm ab<br />
– „hast du was, bist du was, hast du nichts, bist du<br />
nichts“.<br />
Was er nicht versteht: Warum er in seiner Notunterkunft<br />
auch auf Jugendliche trifft. „Die sind<br />
gerade 20, was machen die denn hier? Haben die<br />
denn keine Eltern?“ Tatsächlich sinkt das Durchschnittsalter<br />
in den Notunterkünften. Mittlerweile<br />
liegt es bei 35 Jahren.<br />
Kevin Schulze* lebt auch in der Notunterkunft<br />
am Rembertiring. Er ist 20. Eltern habe er zwar,<br />
erzählt er, „aus guten Gründen“ aber keinen Kontakt<br />
mehr zu ihnen. Sechs Jahre lebte er im Heim,<br />
machte in dieser Zeit eine Ausbildung zum Pflegeassistenten.<br />
Nun will er noch mal eine Ausbildung<br />
machen, in der Gastronomie, und arbeitet an<br />
der Schlachte. Aktuell wohnt er in der Notunterkunft,<br />
weil ihn seine Freundin aus der Wohnung<br />
geworfen hat. Als Berufstätiger muss er hier bezahlen,<br />
pro Nacht „zwei Euro und ein paar Zerquetschte“,<br />
sagt er, bar auf die Hand. Mittlerweile<br />
hat er eine Wohnung in Aussicht. Einen Monat<br />
verbrachte er hier, viel länger will er nicht bleiben.<br />
Seine letzte Wohnung<br />
wurde zwangsgeräumt<br />
Günter Meyer hat noch keine eigene Wohnung<br />
in Aussicht. Seine letzte, eine Firmenwohnung,<br />
wurde zwangsgeräumt. Er hatte nur einen mündlicher<br />
Vertrag – und da sei nichts zu machen gewesen.<br />
Gerade als er sich auf dem Wege der Genesung<br />
befand, stellte ihm sein Chef die Kündigung aus.<br />
Ein Jahr war er krankgeschrieben. Die „Schaufensterkrankheit“<br />
hatte ihn erwischt, eine Durchblutungsstörung.<br />
Das Cholesterin war schuld, sagt<br />
er – er esse gerne fett. Sei halt so. Irgendwann<br />
musste ein Kollege ihn direkt von der Arbeit ins<br />
Krankenhaus fahren. Zwei Stunden später und er<br />
wäre tot gewesen, sagte ihm der Arzt damals. Fünf<br />
Minuten sei er weggewesen, sie mussten ihn zurückholen.<br />
„Ob das stimmt, weiß ich nicht, ich lebe<br />
noch“, sagt Meyer. Und lacht. Nach der Räumung<br />
seiner Wohnung lebte er 14 Tage auf der Straße,<br />
ehe er, dank seines Anwaltes, in die Notunterkunft<br />
kam. Seine Ruhe hat er noch. Auf der Fensterbank<br />
seiner Einzimmerwohnung hier in der Notunterkunft<br />
stehen kleine Gewächshäuser, dort hat<br />
er Alpen-Edelweiß eingepflanzt, unter anderem.<br />
Morgens steht er schon um fünf Uhr auf, trinkt<br />
erst einmal eine Kanne Kaffee – um dann „seine<br />
Hütte“ aufzuräumen, wie er sagt. Zwischendurch<br />
stickt er. Das habe er von seiner Mutter gelernt, die<br />
Schneiderin war. Für Buddha-Figuren, die er mal<br />
geschenkt bekommen hatte, bastelte er aus Pappe<br />
einen kleinen Schrein.<br />
Auch in der Unterkunft versuche er sich erkenntlich<br />
zu zeigen, wo er könne. Er darf seine<br />
Sachen im Waschraum selber waschen. Das würden<br />
nicht alle Bewohner machen, sagt er. Ein Jahr<br />
wohnt er nun schon hier. Er honoriert, was hier geleistet<br />
wird, schätzt das kleine Apartment, das ihm<br />
neben Pantryküche auch ein eigenes Bad bietet.<br />
Solche Annehmlichkeiten bietet jedes der auf vier<br />
Stockwerken verteilten 24 Zimmer. Die Räumlichkeiten<br />
sollen den Bewohnern das Gefühl vermitteln,<br />
etwas wert zu sein. So sollen sie Antrieb finden.<br />
Antrieb, um ihre Baustellen anzupacken, sagt<br />
Michael Lienesch.<br />
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Telefon 0421 - 79 27 00<br />
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Einer wie Günter Meyer wird schnell abgestempelt,<br />
viele halten ihn für einen Alkoholiker.<br />
Aber Herr Meyer ist kein Alkoholiker. Und auf<br />
dem Wohnungsmarkt hat er durchaus Chancen.<br />
Er sucht weiter, hofft aber auch, hier noch bleiben<br />
zu können. „Es hätte noch schlechter laufen können“,<br />
sagt er. „Wenn es das hier nicht gäbe – keine<br />
Ahnung, wo ich dann wäre“. Aber im Heute spiele<br />
das Gestern keine Rolle. Von seiner Großmutter<br />
habe er gelernt, dass man es immer wieder versuchen<br />
müsse. Und irgendwann, da reiße die Mauer<br />
dann auch ein: „Und wenn du noch so viele Knüppel<br />
die Beine geschmissen kriegst.“<br />
*Namen von der Redaktion geändert.<br />
Benjamin Eichler ist freier Fotograf und<br />
war von der Offenheit Herrn Meyers erstaunt.<br />
Mareike Harms studiert Kulturwissenschaft<br />
und Philosophie an der Uni<br />
Bremen und will sich nun auch mal an<br />
Gewächsen versuchen.
12 | Ortstermin<br />
Die lange<br />
Geschichte des<br />
kleinen Glücks<br />
Das Rembertistift ist Bremens älteste<br />
soziale Siedlung. Hier kann auch wohnen,<br />
wer im Alter nur wenig Rente bekommt.<br />
Ein Ortsbesuch<br />
Für Silvia Meissner ist diese kleine Wohnung ein „Paradies“.<br />
Text: Jan Zier<br />
Fotos: Lena Möhler und Norbert Schmacke<br />
Silvia Meissner ist eine arme Frau. Also: rein statistisch<br />
betrachtet. Aber sie fühlt sich nicht so.<br />
„Und meine Wohnung sieht aus, als ob ich Millionärin<br />
wäre“, sagt sie, „für mich jedenfalls“. Ihr<br />
volles, leuchtend rotes Bücherregal reicht fast bis<br />
unter die Decke, dazu hier ein alter Sekretär, dort<br />
ein antiker Schrank, da ein passende Vitrine, an<br />
der Wand etwas Kunst, und das alles im denkmalgeschützten<br />
Altbau, in zentraler, bevorzugter<br />
Wohnlage, mit einem kleinen Garten vorne dran.<br />
In wenigen Minuten kann sie von hier zu Fuß zum<br />
Bahnhof oder in die Altstadt gehen. „Eine prächtige<br />
Umgebung“, sagt Silvia Meissner.<br />
Wo dieses „Paradies“ ist, wie sie es nennt? Im<br />
Rembertistift, der ältesten sozialen Einrichtung<br />
der Stadt, einer der ältesten ihrer Art im ganzen<br />
Land. Als es 1305 gegründet wurde, lag es noch<br />
ein gutes Stück außerhalb der Stadt. Leprakranke<br />
lebten hier, in einfachen Hütten, die sich um eine<br />
Kapelle rankten. Ihr Geld bekam die Einrichtung<br />
geschenkt – von wohlhabenden Bürgern, die etwas<br />
für ihr Seelenheil tun wollten, und dem Stift deshalb<br />
Ländereien und Zinsen, aber auch Kleidung,<br />
Essen, Wein oder Bier überließen. Im Gegenzug<br />
wurde in der St.-Remberti-Kirche für die Spender<br />
gebetet oder gar eine Seelenmesse abgehalten.<br />
Doch mit der Reformation endete dieser Ablasshandel,<br />
nur der Glaube allein sollte nun zur Seligkeit<br />
führen. Fortan musste sich deshalb einkaufen,<br />
wer „Pröven“ werden wollte, Bewohner also. Für<br />
das lebenslange Wohnrecht mussten Ende des<br />
16. Jahrhunderts 200 Mark gezahlt werden, 1952<br />
kostete das noch 2.700 D-Mark. Mit diesem Kapital<br />
und calvinistischer Arbeitsethik wurde das Stift<br />
mit der Zeit vermögend, Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
entstanden so nach und nach große Neubauten im<br />
klassizistischen Stil, dazu zwei Torhäuser.<br />
Sie werden zwar fast alle von den Bombenangriffen<br />
des Zweiten Weltkriegs zerstört, aber schon<br />
Ende der Vierzigerjahre ist das meiste davon wieder<br />
aufgebaut. Nur die 1942 zerstörte neugotische<br />
Kirche wird nicht wieder errichtet – stattdessen<br />
entsteht ein Neubau in Schwachhausen. Heute gibt<br />
es in der Anlage an der Rembertistraße insgesamt<br />
100 Wohnungen, die zwischen eineinhalb und vier<br />
Zimmern haben und 35 bis 80 Quadratmeter groß<br />
sind. Der offizielle Preis dafür: 4,50 Euro pro Quadratmeter,<br />
Kaltmiete, wenn die Wohnung nicht<br />
renoviert ist. Wer eine neue Küche und ein saniertes<br />
Bad hat, zahlt 5,15 Euro pro Quadratmeter,<br />
plus Nebenkosten. Zum Vergleich: Wer sich heute<br />
ein Wohnung in dieser Lage mieten will, zahlt im<br />
Schnitt deutlich mehr als acht Euro.<br />
Entsprechend groß ist hier die Nachfrage nach<br />
einer Wohnung, die Warteliste schon ein paar Jahre<br />
lang geschlossen, sagt der Stiftsvogt Uwe Spillner.<br />
Vielleicht wird sie im Herbst wieder geöffnet,<br />
sicher ist das aber noch nicht. „Alle, die hier wohnen,<br />
sind glücklich und zufrieden, dass sie hier<br />
wohnen können“, sagt Meissner. Aber ehe eine<br />
Wohnung frei wird, nun, „da muss erst jemand ins<br />
Gras beißen“: Wer einmal hier wohnt, zieht in der<br />
Regel nicht mehr aus. 110 Menschen wohnen hier,<br />
darunter zehn Männer. Wer einziehen will, muss<br />
in aller Regel mindestens 60 sein. Silvia Meissner<br />
ist 73.<br />
„Von außen denkt man, man wohnt hier im Altenheim“,<br />
sagt sie. „Dem ist aber nicht so. Das<br />
hier unterscheidet sich hier in gar nichts von einer<br />
normalen Wohnung. Außer im Preis.“ Dafür<br />
gibt es im Rembertistift kein betreutes Wohnen<br />
und keine Pflege, und barrierefrei sind die alten<br />
Wohnungen auch nicht. Für all das gibt es das<br />
„Stadtteilhaus St. Remberti“ gleich nebenan – aber<br />
das gehört nicht zum Stift, sondern wird von der<br />
Bremer Heimstiftung betrieben. Dafür gibt es eine<br />
Initiative, die früher „Lebensabend-Bewegung“<br />
hieß, sich heute aber „Lange Aktiv Bleiben“ nennt.<br />
Sie bietet Yogakurse und einen Computerclub für<br />
Senioren, man kann Billard spielen und Tischtennis<br />
oder tanzen gehen. Außerdem müssen die<br />
Bewohner ihre kleinen Gärten vor den Häusern<br />
selbst pflegen – um Geld zu sparen. Nur ein kleiner<br />
Notfallknopf in der Ecke einer jeden Wohnung des<br />
Stifts erinnert doch an ein Heim. Wird er gedrückt,<br />
kommt jemand, der einen Generalschlüssel hat.<br />
Silvia Meissner ist ein „begeisterter Fan“ des Rembertistifts:<br />
„Das ist das Konzept der Zukunft“,
19. Jahrhundert mal jemand gesagt. „Das ist die<br />
Spezialität dieses Stifts“, sagt Silvia Meissner, die<br />
selbst von der Grundsicherung lebt. Trotzdem sagt<br />
sie: „Ich bin reich hier!“ Eigentlich wollte sie mit<br />
65 nach Indien ziehen, ihre Tochter wurde einst<br />
da am Strand geboren. „Wenn ich dort sage, ich bin<br />
arm, dann lachen die mich aus!“<br />
Silvia Meissner war in ihren Leben oft in Indien,<br />
das erste Mal vor 45 Jahren. „Ich bin ein alter<br />
Hippie“, sagt sie, und noch immer „eine linke Socke“.<br />
Nur eben keine, die früher in Ashrams und<br />
Geld habe noch keinen<br />
glücklich gemacht, sagt<br />
Silvia Meissner<br />
Kommunen lebte, der Erleuchtung oder des Bhagwans<br />
wegen. „Sondern wegen der fantastischen<br />
Menschen!“ In den Siebzigern war sie mit 4.000<br />
Mark drei Jahre lang unterwegs, lebte in Afghanistan,<br />
bis sie in Kabul zusehen musste, wie die<br />
Sowjets mit Kalaschnikows in eine Frauen-Demo<br />
schossen – da ging sie nach Indien. „Wir werden<br />
dazu erzogen, Reichtum überzubewerten. Aber<br />
in Wirklichkeit ist es völliger Schwachsinn: Geld<br />
hat noch keinen glücklich gemacht“, sagt Silvia<br />
Meissner, und dass sie sowieso für das bedingungslose<br />
Grundeinkommen sei. Am Ende hielt ihre<br />
Tochter sie übrigens davon ab, auszuwandern – der<br />
Enkelkinder wegen. Heute ist Meissner oft auf<br />
Flohmärkten, drei Frauen, die sie von dort kennt,<br />
sie wohnen jetzt auch hier im Stift.<br />
Tretschoks wiederum sind viel unterwegs,<br />
gerade sind sie drei Wochen zusammen durch<br />
Deutschland gefahren, und auf vielen Demos ist<br />
Mary Tretschok auch: Sie protestiert gegen die<br />
Freihandelsabkommen TTIP und CETA, gegen<br />
den G20-Gipfel oder Abschiebungen nach Afghanistan,<br />
engagiert sich für Geflüchtete. Außerdem<br />
sind die beiden oft in der Oper, dahin können<br />
sie nun zu Fuß gehen, einige ihrer Freunde sind<br />
Opernsänger, viele Fotos in der Wohnküche zeugen<br />
davon – manchmal kommen sie auch zu Besuch,<br />
und es kommt auch mal vor, dass sie dann<br />
singen. Das Problem, sagt Mary Tretschok: „Das<br />
Haus ist hellhörig.“<br />
Noch dazu steht es seit 1973 unter Denkmalschutz.<br />
Deshalb gibt es zu den Tretschocks hinauf<br />
in den zweiten Stock auch keinen Fahrstuhl, dafür<br />
aber gleich 48 Stufen. „Aber ganz egal, was der<br />
Denkmalschutz sagt: Ich will einen Fahrstuhl“,<br />
schimpft Mary Tretschok. Und eine Solaranlage<br />
auf dem Dach, die will sie auch. Der Denkmalschützer<br />
nicht.<br />
Der Fahrstuhl kommt trotzdem – aber nur<br />
an einen Neubau, den das Rembertistift gerade<br />
plant. Von ihrem kleinen Balkon aus kann Mary<br />
Tretschok schon sehen, wo im kommenden Jahr<br />
ein großes Haus stehen soll. Jetzt ist da ein Rosengarten.<br />
Noch.<br />
Jan Zier könnte sich auch vorstellen, später<br />
einmal im Rembertistift zu leben.<br />
Lena Möhler fand es spannend, wie Silvia<br />
Meissner ihre kleine Wohnung praktisch<br />
und schön eingerichtet und jede Ecke bis<br />
zum Äußersten ausgenutzt hat.<br />
Norbert Schmacke erlebte das Rembertistift<br />
wie eine Oase in der staubigen Bahnhofsvorstadt.<br />
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Mary und Dietz Tretschok sind „ein bisschen früh“ hier eingezogen.<br />
findet sie. Aber hier ist es eben schon jahrhundertelang<br />
gewachsen. Und jeder kennt seine Nachbarn,<br />
vielleicht nicht alle mit Namen, aber eben<br />
doch irgendwie vom Sehen, sagt Meissner. „Ich<br />
würde hier niemals drei Tage halbtot in der Wohnung<br />
liegen.“<br />
Mary Tretschok nennt das „soziale Kontrolle<br />
mit der Zeitung“: Liegt der Weser-Kurier mal einen<br />
halben Tag unberührt auf der Treppe herum,<br />
dann klingelt jemand an der Tür und fragt, ob alles<br />
in Ordnung sei. Zusammen mit ihrem Mann<br />
Dietz ist sie 2011 ins Rembertistift gezogen, aus einem<br />
Reihenhaus in Hastedt, in dem sie doppelt so<br />
viel Platz hatten. Ihre Biedermeier-Stühle musste<br />
sie verkaufen, erzählt Mary Tretschok, sie haben<br />
auf den nunmehr 80 Quadratmetern keinen Platz<br />
mehr. „Sehr schwer“ sei ihr das gefallen, sagt sie.<br />
Doch, ja, „ein bisschen früh“ seien sie schon hier<br />
eingezogen, sagt die 70-Jährige, ihr Mann, Sozialarbeiter<br />
und Jurist, war damals sogar noch berufstätig.<br />
Aber sie hatten sich eben angemeldet und<br />
mussten sich irgendwann entscheiden. Innerhalb<br />
weniger Tage. Wer da Nein sagt, muss womöglich<br />
lange warten, bis wieder was Passendes frei wird.<br />
Ein Risiko.<br />
„Ich hätte zu jeder Wohnung hier Ja gesagt“,<br />
sagt Silvia Meissner, die damals schon ein paar<br />
Wochen nach ihrer Anmeldung hier einziehen<br />
durfte: „Ich hab Schwein gehabt“. Fast acht Jahre<br />
ist das mittlerweile her. Und ins Rembertistift zu<br />
ziehen, nun, das sei eine der klügeren Entscheidungen<br />
ihres Lebens gewesen.<br />
„Nirgends erscheint der kränkende Anblick,<br />
weder der Armut noch des Reichtums“, hat im<br />
Hochschule Bremerhaven<br />
15. Juli 2017<br />
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und am Meer studieren.<br />
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Hochschule Bremerhaven • An der Karlstadt 8 • 27568 Bremerhaven
Die Schönheit des<br />
Rembertirings<br />
Fotos & Text: Ann-Kathrin Just
18 | Fotostrecke
Fotostrecke | 21<br />
Nehmen Sie sich einen<br />
Moment Zeit und gucken Sie<br />
sich den Rembertiring mal an.<br />
Versuchen Sie, jedenfalls einmal,<br />
nicht nur durchzuhetzen.<br />
Fahren Sie mit dem Auto mal<br />
nur 30 Stundenkilometer oder<br />
schieben Sie Ihr Rad einfach.<br />
Bleiben Sie stehen, sehen Sie<br />
sich um. Und Sie denken dann<br />
doch: Bremen hat echt deutlich<br />
schönere Straßen.<br />
Ann-Kathrin Just ist Fotografin und lernt<br />
Bremen immer wieder neu kennen.
22 | Bericht<br />
Text: Frauke Kuffel<br />
Fotos: Wolfgang Everding<br />
Staub im<br />
Schlumpf<br />
Zeitgemäß soll es zugehen in der Michaelkirche, mit<br />
Religion auf Augenhöhe. Altmodisch und naiv aber ist<br />
der Umgang mit Rudolf Steiners rassistischem Erbe<br />
In seiner Jugend, sagt Dirk-Joachim Paulus, sei<br />
er gar nicht fromm gewesen. Wenige Jahre später,<br />
mit nur 25 Jahren, wurde er Pfarrer. Er habe „ein<br />
Zeichen bekommen“, sagt er und blickt nach oben.<br />
Paulus studierte zunächst ganz klassisch Theologie.<br />
Anschließend setzte er seine Studien in der<br />
Christengemeinschaft fort, einer anthroposophisch<br />
geprägten, christlichen Glaubensgemeinschaft. Das<br />
sei nicht ganz einfach gewesen, sagt Paulus, denn<br />
es gebe hier keine einheitliche Theologie. „Es gibt<br />
viel mehr Lehrfreiheit als in der evangelischen Kir-<br />
che“, sagt der hagere Mann und unterstreicht seine<br />
Sätze mit lebhaften Gesten. Es gebe unterschiedliche<br />
Strömungen in der Christengemeinschaft,<br />
und manches, was seine Kollegen vermittelten, sei<br />
ihm zu brav: „Der Disput ist das Fruchtbarste – auf<br />
der gedanklichen Ebene.“<br />
Die Michaelkirche nahe dem Rembertiring<br />
wurde 1992 gebaut, mit 12 Edelsteinen im Grundstein<br />
und mit geschwungener Kuppel, wegen der<br />
sie auch Schlumpf genannt wird. So modern wie<br />
ihr Äußeres soll auch der Glaube sein, der hier<br />
gelebt wird: Die Christengemeinschaft, die sich<br />
ausschließlich durch Spenden finanziert, will das<br />
christliche Leben erneuern. Es geht um Religion<br />
und Glauben auf Augenhöhe, sagt Pfarrer Paulus:<br />
„Der Klerus hat keine Macht, sondern eine Aufgabe.“<br />
Die Kirche habe ihren Mitgliedern zu dienen,<br />
durch Seelsorge und Predigten. Mittwochs<br />
bis sonntags trifft sich die Gemeinde zum Gottesdienst,<br />
der hier Menschenweihehandlung heißt.<br />
Damit soll zum Ausdruck kommen, dass es ein<br />
Dienst für die Menschen ist – und nicht für Gott.<br />
Kultische Formen, Rituale und wiederkehrende<br />
Abläufe sind dabei zentral, und man trägt Gewänder,<br />
wodurch Christus die Möglichkeit bekommen<br />
soll, gegenwärtig zu sein.<br />
Zeitgemäß also wollen sie sein in der Michaelkirche.<br />
Bei der Interpretation der Lehre Rudolf<br />
Steiners sind sie es nicht. Steiner – Philosoph,<br />
Esoteriker und Begründer der Anthroposophie<br />
– gilt vielen als Rassist, der in etlichen Schriften<br />
und Vorträgen über die Entwicklung menschlicher<br />
Rassen mutmaßte: 1996 werden in seinen<br />
Die Michaelkirche ist unverkennbar nach den Grundsätzen anthroposophischer Architektur gebaut (oben).<br />
Pfarrer Dirk-Joachim Paulus im Gespräch mit unserer Autorin (links).<br />
Schriften 67 diskriminierende Textstellen gefunden.<br />
Steiner entwickelte mehrere Rassenmodelle,<br />
er sprach dabei von drei, vier, sogar fünf Rassen.<br />
Er sagte beispielsweise: „Wir können das ganz gut<br />
begreifen, wenn wir von den Farben ausgehen. Da<br />
erklärt sich die ganze Geschichte.“ Bewohnern des<br />
südlichen Afrikas attestierte er Triebhaftigkeit,<br />
Asiaten Verträumtheit: „Erfindungen selber, …<br />
das, was durch die Erfahrung mit der Außenwelt<br />
entspringt, das können die Asiaten nicht machen.“<br />
Und über hellhäutige Europäer sagte er: „Die Menschen<br />
würden ja, wenn die Blauäugigen und Blondhaarigen<br />
aussterben, immer dümmer werden,<br />
wenn sie nicht zu einer Art Gescheitheit kommen<br />
würden, die unabhängig ist von der Blondheit. Die<br />
blonden Haare geben eigentlich Gescheitheit.“<br />
Heute sind solche Aussagen eindeutig als rassistisch<br />
einzuordnen. Nur sehen das nicht alle so.<br />
„Wer Steiner Rassismus unterstellt, ist einfach<br />
ungebildet“, sagt Pfarrer Paulus. Laut Paulus kam<br />
es Steiner vor allem auf den einzelnen Menschen<br />
an, unabhängig von Sprache, Religion oder Herkunft.<br />
Steiner habe den Begriff der Rasse nur anders<br />
benutzt, als es heute üblich sei. Dabei wäre<br />
es ein Leichtes, sich von Steiners Auslassungen<br />
über menschliche Rassen zu distanzieren, was<br />
einen zeitgemäßen Umgang mit seiner Lehre zeigen<br />
würde. Paulus aber sagt: „Steiner beschreibt<br />
nur die historische Entstehung von Rassen.“ Über<br />
Menschen aus Afrika sagt Paulus, dass schwarze<br />
Menschen sich viel besser bewegten als weiße, im<br />
Sport und auch beim Tanzen. Der Pfarrer meint<br />
das als Lob, ihm scheint der Begriff des positiven<br />
Rassismus fremd zu sein. Im Gespräch sagt Paulus<br />
auch, die Rasse sei für das menschliche Verhalten<br />
verantwortlich, nicht die gesellschaftliche Erziehung.<br />
Er bleibt bei dieser Aussage, als die Zeitschrift<br />
der Straße einige Tage später nachfragt. Er meint<br />
aber auch, dass er sich mit dem Begriff der Rasse<br />
nicht sonderlich auseinandergesetzt habe.<br />
„Die Christengemeinschaft steht auf dem Boden<br />
der Menschenrechte“, kann man auf deren<br />
Internetseite nachlesen, „und wendet sich gegen<br />
Rassismus, Nationalismus und sonstige Diskriminierung.“<br />
Nationalisten, sagt Pfarrer Paulus, habe<br />
es auch in der Christengemeinschaft gegeben, aber<br />
diese seien aus der Priesterschaft entfernt worden.<br />
Die Christengemeinschaft, das ist Pfarrer Paulus<br />
wichtig, stehe allen Menschen offen.<br />
Frauke Kuffel studiert Philosophie und<br />
meint, dass Steiners Werk nicht geschmälert<br />
würde, wenn sich Anthroposophen<br />
von seiner Rassentheorie distanzierten.<br />
Wolfgang Everding war als Fotograf erstaunt<br />
über den schlichten Innenraum,<br />
wo nichts vom Blick auf den Altarraum<br />
ablenken konnte.
24 | PORTRAIT<br />
Raus aus<br />
der Spirale<br />
Im Haus Fedelhören wohnen 20 Haftentlassene unter<br />
einem Dach und versuchen einen Neuanfang. Darunter<br />
Manni, der nach 14 Jahren Haft genug vom Knast hat<br />
Text: Philipp Jarke<br />
Fotos: Hartmuth Bendig<br />
Manni blickt von der Dachterrasse des Hauses Fedelhören,<br />
wo er vor 30 Jahren schon einmal gewohnt hat.<br />
Sie haben hier die ganz schwierigen Fälle. Männer,<br />
die schon viele Runden in der Drehtür zum Knast<br />
erlebt haben, bis es kaum noch Strukturen gibt in<br />
ihrem Leben. Sie bekommen kaum noch eine Arbeit,<br />
kaum noch eine Wohnung. Was bleibt, ist die<br />
Straße oder wieder der Knast.<br />
Im Haus Fedelhören versuchen zwanzig Männer,<br />
diesen Kreislauf zu durchbrechen. Sie leben in<br />
der wohl ungewöhnlichsten WG der Stadt, zwanzig<br />
Haftentlassene unter einem Dach. Und eigentlich<br />
ist es ja irre, dass das hier überhaupt funktioniert:<br />
Die Männer sollen der Knastspirale entkommen,<br />
und dann teilen sie mit lauter anderen Exhäftlingen<br />
Bad und Küche. Kann doch gar nicht funktionieren.<br />
Tut es aber, irgendwie, seit mittlerweile<br />
vier Jahrzehnten.<br />
Der Verein Hoppenbank finanziert das Wohnprojekt<br />
und stellt den Bewohnern vier Sozialpädagogen<br />
an die Seite – drei Frauen und einen Mann.<br />
Gemeinsam klären sie alles: Jobcenter, Arztbesuche,<br />
Drogenberatung, Wohnungssuche. Bis zu zwei<br />
Jahre können die Bewohner in dem verwinkelten<br />
Haus am Rembertiring bleiben. Danach, so das<br />
proklamierte Ideal, werden sie in ein „eigenständiges,<br />
straffreies und lebenswertes Leben“ entlassen.<br />
In der Realität stecken sie sich kleinere Ziele: Es<br />
gilt zu verhindern, dass die Bewohner wieder in<br />
Haft müssen.<br />
Manfred, den alle hier nur „Manni“ nennen<br />
und der von seinen 51 Jahren 14 in Haft verbracht<br />
hat, kennt das Haus schon seit 1987. Damals zog er<br />
hier zum ersten Mal ein.<br />
Manni: „Da war das alles nicht so ganz unter<br />
Kontrolle hier. Es ging auch mal was schief, ein<br />
paar Leute wurden tot rausgetragen. Aber was<br />
willst du verlangen? Das ist ja der erste Anlaufpunkt,<br />
wenn du aus dem Knast kommst.“<br />
Im Schnitt vier von fünf Bewohnern sind drogenabhängig,<br />
überwiegend politoxikoman, also<br />
süchtig nach Heroin, Kokain, Cannabis, Amphetaminen,<br />
Medikamenten und anderen Suchtmitteln,<br />
in unterschiedlichsten Kombinationen. Viele, darunter<br />
auch Manni, sind in Substitutionsprogrammen,<br />
bekommen also vom Arzt Methadon oder Polamidon.<br />
Wenn man wissen möchte, wie der ganze<br />
Mist bei Manni mal angefangen hat, landet man<br />
zunächst im ländlichen Nirgendwo bei Hannover.<br />
Manni: „Mit einem Kumpel auf’m Dorf haben<br />
wir Streichhölzer geklaut und auf dem Heuschober<br />
ein Lagerfeuer gemacht. Der Heuschober war<br />
dann weg. Am nächsten Tag gehen wir in den<br />
Schweinestall und machen das Gleiche. Der gesamte<br />
Schaden: 1,8 Millionen Mark, da sind Tiere<br />
verbrannt, alles. Meine eigene Oma hat mich verpfiffen,<br />
weil ich unter ihrem Fenster durchgerannt<br />
bin. Die Hucke, die ich von meinem Vater bekommen<br />
habe, habe ich bis heute nicht vergessen. Mein<br />
Vater war ziemlich streng. Auf der anderen Seite<br />
Das erste Mal volltrunken<br />
war er mit elf<br />
war er ein lieber Vater, aber er konnte auch ein<br />
Schwein sein. Aber das ist nur passiert, wenn du<br />
wirklich Scheiße gebaut hast.<br />
1972 sind wir nach Bremen gezogen, in die Neustadt.<br />
Ich kannte ja nur das Dorf, drei Bauernhöfe,<br />
Tante-Emma-Laden, und dann kommst du auf einmal<br />
in so eine Stadt und siehst nur noch Häuser.<br />
Das war ein Kulturschock. Ich war naiv und leicht<br />
beeinflussbar. Meine eigene Mutter, die im Supermarkt<br />
arbeitete, hat mir gesagt: ‚Geh da mal rein<br />
und klau drei Stangen Zigaretten.‘ Das habe ich<br />
dann gemacht. Verrückt.<br />
Später sind wir nach Tenever gezogen. Es war<br />
deprimierend. Mein zwei Jahre älterer Bruder hat<br />
alles von meinen Eltern bekommen: ein Mofa, ein<br />
Jahr später den Führerschein fürs Kleinkraftrad.<br />
Er hat alles gesponsert bekommen. Mit 18 Autoführerschein:<br />
von den Alten bezahlt.<br />
Als ich dann 15 war, gab es gar nix, als ich 16<br />
war: auch nichts. Mit 18 auch nix. Nicht weil nichts<br />
mehr da war, sondern wegen meiner Abhängigkeit,<br />
ich war da ja schon richtig drauf.<br />
Meine Eltern wussten, dass ich ein Suchtproblem<br />
hatte. Ich habe meinen Eltern geklaute Sachen<br />
verkauft, Werkzeug vor allem. Die wussten genau,<br />
wo der Scheiß herkam. Sie haben es mir trotzdem<br />
abgekauft und damit meine Sucht unterstützt.“<br />
Wie hat deine Sucht angefangen? „Das erste<br />
Mal volltrunken war ich mit elf. Meine Eltern haben<br />
mir irgendwann gesagt: Trink ruhig ein Bier<br />
mehr, dann hast du am nächsten Tag einen dicken<br />
Kopf und weißt, weshalb, anstatt Drogen zu nehmen.<br />
Das war ein Freibrief für mich. Ich war 16<br />
und bin jeden Mittwoch besoffen nach Hause gekommen.<br />
Damals habe ich auch angefangen zu
26 | PORTRAIT<br />
Portrait | 27<br />
kiffen. Mittwochs war in Tenever Disco im Freizeitheim.<br />
Ein paar Leute von damals leben noch. Der<br />
größte Teil auf Drogen, vier wurden umgebracht.<br />
Angefangen mit Drogen habe ich zu der Zeit<br />
und dann weitergemacht. Meine Eltern haben es<br />
irgendwann gerafft. Und dann war das große Donnerwetter<br />
da. Es kamen von der Polizei immer wieder<br />
Briefe angeflattert, dann war vorbei mit lustig.<br />
Vorbei mit lustig war eigentlich schon, seit ich denken<br />
kann. Meine Eltern sind beide aus geschiedenen<br />
Ehen. Meine Mutter wohlerzogen, mein Vater<br />
„Ich hab nie jemandem<br />
körperlich wehgetan. Das<br />
ist nicht meine Liga“<br />
hat nur in die Fresse gekriegt von seinen Alten, das<br />
meinte er dann an mich weitergeben zu müssen.<br />
Und jetzt werde ich 52 Jahre und hänge hier<br />
in der Scheiße. Ich bin Polytoxikomane, habe acht<br />
Entgiftungen hinter mir. Zwei Therapien, eine davon<br />
abgeschlossen. Ich bin nach Bremen zurückgekommen,<br />
keine zwei Stunden später war ich wieder<br />
drauf. Bei meinen Eltern habe ich mal einen<br />
Entzug durchgezogen, eiskalt: kein Alkohol, keine<br />
Tabletten, gar nichts. Ich hatte Schmerzen ohne<br />
Ende … Körperlich war ich dann total sauber. Dann<br />
geh ich vor die Tür, treffe meine Freundin, das war<br />
so ’ne Drogenbeziehung: ‚Manni, woll’n wir ’n bisschen<br />
Druck machen?‘ – ‚Mmhh. Ja, okay!‘ Heute<br />
würde mir das nicht noch mal einfallen.<br />
Jetzt nehm ich nichts mehr, wegen meiner Gesundheit,<br />
nur noch das Mehtadon. Meine Leber ist<br />
verfettet, dann kommt die scheiß Hepatitis C dazu.<br />
Ich trink so gut wie keinen Alkohol. Die Werte halten<br />
sich gut. Wobei: Ich krieg kein Blut aus meinen<br />
Armen, alles kaputtgeschossen.“<br />
Und wann bist du kriminell geworden? „Mit<br />
14 habe ich das erste Mal vorm Richter gesessen,<br />
im Richterzimmer. Mit 17 bekam ich zum ersten<br />
Mal Jugendarrest, gleich die Höchststrafe: 4 Wochen<br />
– Bandenkriminalität, schwerer Raub. Mitte,<br />
Ende der 80er fing das an: Die Stadt hatte keine<br />
Knete mehr, die Sozialarbeiter in Tenever wurden<br />
versetzt, und dann wurde aus unserem Jugendfreizeitheim<br />
ein Bürgerhaus für alte Leute, die da<br />
ihren Kaffee trinken sollten. Wir wussten nicht<br />
mehr, was wir machen sollten. Man kann ja nicht<br />
den ganzen Tag Fußball spielen. Alle Jungs aus<br />
unserer Clique haben sie an die Kette gekriegt.<br />
Mittlerweile habe ich 40 Eintragungen im<br />
Bundeszentralregister, über 300 Anzeigen,<br />
Schwarzfahren, Diebstahl, Einbruch, räuberischer<br />
Diebstahl. Aber ich habe niemandem körperlich<br />
wehgetan. Noch nie. Keine Frau überfallen. Ich<br />
habe mich immer nur an Gegenständen vergriffen.<br />
Nie jemandem ’ne Knarre an den Kopf gehalten,<br />
das ist nicht meine Liga. Jetzt habe ich Bewährung,<br />
bis 2020. Ich darf mir gar nichts erlauben, nicht die<br />
Fahrkarte vergessen, nichts. Deshalb gehe ich immer<br />
zu Fuß.<br />
Zurück in den Knast will ich echt nicht. Zuletzt<br />
war ich zwei Jahre in Oslebshausen, dort ist<br />
es wirklich schlimm. Mit meinem Kumpel Sven,<br />
der auch hier im Haus wohnt, waren wir sechs<br />
Deutsche auf unserer Station – von 41 Leuten. Der<br />
Ausländeranteil in Oslebshausen liegt bei 87 Prozent.<br />
Da stimmt doch was nicht. Ich bin mit Türken<br />
und Polen aufgewachsen, alles kein Problem.<br />
Aber wenn auf der Station nur Russisch oder Türkisch<br />
gesprochen wird, dann kommt man sich echt<br />
arschgeleckt vor.“<br />
Wie verbringst du deinen Tag hier im Haus<br />
Fedelhören? „Vormittags hänge ich mit ein paar<br />
Jungs am Dobben ab, mittags gehe ich runter in<br />
Philipp Jarke ist freier Journalist<br />
und war beeindruckt, wie offen<br />
Manni seine Geschichte erzählte.<br />
die Teestube und esse Mittag, und dann hänge ich<br />
auf meinem Zimmer rum und gucke Filme. Sonst<br />
mache ich nichts. Früher? Das war anders. Da sind<br />
wir zelten gefahren und angeln gegangen. Ein paar<br />
meiner Kumpels, die haben es auch geschafft, die<br />
haben Familie, Arbeit, Autos, alles ganz leger. Aber<br />
der größte Teil ist abgestürzt, gleiche Kategorie wie<br />
ich, und davon ist der größte Teil unter der Erde.“<br />
Und wie soll es weitergehen? „Ich bin auf der<br />
Suche nach einer Wohnung. Zwei habe ich mir<br />
schon angeguckt. Als die mich gefragt haben, wo<br />
ich wohne, habe ich das hier angegeben. Dann<br />
hieß es: Wir melden uns wieder. Das ist jetzt drei<br />
Wochen her. Dabei hätte das alles geklappt mit der<br />
Miete. Mit meinem Arzt habe ich besprochen, dass<br />
ich auf Polamidon umsteige. Polamidon ist reiner<br />
als Methadon und deshalb besser verträglich. Die<br />
Umstellung wird körperlich trotzdem hart. Aber<br />
das sind nur ein paar Tage.<br />
Derzeit bekomme ich Arbeitslosengeld I, ich<br />
habe ja im Knast gearbeitet. Jeden Tag, ich habe<br />
nicht ein Mal gefehlt. Jetzt würde ich gern wieder<br />
als Maler arbeiten, in meinem erlernten Beruf.“<br />
Hartmuth Bending kennt das Haus<br />
Fedelhören noch von seiner früheren<br />
Arbeit in der Jugendgerichtshilfe.<br />
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28 | PORTRAIT<br />
„Eine coole<br />
Challenge“<br />
Das Café Papagei hat einen Chefkoch: Randy Ziegler.<br />
Dabei wäre er beinahe zu spät gekommen. Er ist<br />
angetreten, Gerichte für 2,50 Euro zu kochen – frisch,<br />
regional und lecker<br />
Er wollte nur seine Post abholen, hier im Café Papagei,<br />
und Bewerbungsunterlagen hatte er auch<br />
keine dabei. Dafür war auch keine Zeit mehr. Randy<br />
Ziegler kam noch gerade rechtzeitig, um sich<br />
aus dem Stegreif auf die Stelle zu bewerben – ein<br />
Koch wurde gesucht, für das Café Papagei auf der<br />
Brake. Am 1. Mai sollte das neue Projekt starten,<br />
gefördert von ProJob, einer Tochtergesellschaft<br />
der Inneren Mission.<br />
Auf die Frage, ob er hier der neue Küchenchef<br />
sei, streicht sich Randy Ziegler über den Bart,<br />
grinst breit und antwortet er in einem dezent pfälzischen<br />
Dialekt: „Ja, ich sehe zwar nicht so aus,<br />
aber der bin ich.“ Er ist in Pirmasens geboren und<br />
mit 32 Jahren „im besten Alter“ für den Job, wie<br />
er findet. Als gelernter Koch und Hotelfachmann<br />
tingelte er zuvor durch die ganze Welt, arbeitete<br />
unter anderem in Vietnam, Kroatien, in der Abgeschiedenheit<br />
einer Almhütte und auf Norderney.<br />
In Bremen will er vorerst bleiben.<br />
Im Café Papagei sei vor allem Hausmannskost<br />
gefragt, sagt Ziegler. Dabei will er auf Nachhaltigkeit<br />
und regionale Produkte setzen. Neben<br />
dem jetzigen Lieferanten will er deshalb ein, zwei<br />
weitere engagieren. Ziegler, der auch mal Nachforschungen<br />
über seine Zutaten anstellt, war schon<br />
Küchenchef im Viertel und kennt daher den richtigen<br />
Gemüsehändler am Hulsberg, und einen Hof,<br />
von dem er frische Eier beziehen will, hat er ebenfalls<br />
an der Hand. Stimmt die Kalkulation, dann<br />
Text: Mareike Harms<br />
Foto: Benjamin Eichler<br />
wird das Fleisch beim Schlachter eingekauft. Mit<br />
2,50 Euro pro Gericht ließe sich schon viel machen,<br />
sagt Ziegler – „frisch, regional, saisonal und lecker“<br />
soll es sein. Gewinn will er keinen machen, nur<br />
eben kostendeckend arbeiten. Zertifizierte Bioware<br />
ist da nicht drin, wohl aber solche in „vergleichbarer<br />
Qualität“, sagt Ziegler. Zur Not lasse sich da<br />
auch immer noch verhandeln, Spielraum gebe es<br />
immer. Und wenn Zeit ist, will er auch selbst beim<br />
Erzeuger vorbeischauen.<br />
Als er Ende März – da hat er noch keine eigene<br />
Wohnung und also keine Anschrift – seine Briefe<br />
von der Poststelle holen will, überlegt er sich kurzerhand,<br />
eben noch im Büro von „ProJob“ vorbeizuschauen.<br />
Der Frau dort „ist beinahe die Kinnlade<br />
runtergefallen“. Zwei Stunden zuvor bekam sie<br />
die Nachricht, dass der zunächst ausgesuchte Küchenchef<br />
seine Stelle nicht antreten wolle. Randy<br />
Ziegler kann auch ohne Zeugnisse und Papiere von<br />
sich überzeugen und wird sofort eingestellt. Zwei<br />
Tage später beginnt das Projekt.<br />
Im Café Papagei werden dem neuen Küchenchef<br />
acht weitere Köche und Beiköche zur Seite<br />
stehen. Sie alle waren zuvor langzeitarbeitslos und<br />
wurden über ein Programm zur sozialen Teilhabe<br />
gefördert, in Kooperation mit dem Jobcenter. „Das<br />
ist eine coole Challenge“, sagt Ziegler, das sei eben<br />
nicht wie mit normalen Auszubildenden oder Köchen.<br />
Hier müsse das Team verstärkt angeleitet,<br />
Hilfsköche erst einmal ausgebildet werden. Das<br />
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Was tut dir gut?<br />
Mareike Harms studiert Kulturwissenschaft<br />
und Philosophie an der Uni<br />
Bremen und möchte gerne sehen, wie<br />
sich das Projekt weiterentwickelt.<br />
Benjamin Eichler ist freier Fotograf und<br />
isst kein Fleisch.<br />
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als Integrationsmaßnahme geplante Projekt soll<br />
am Ende eine Perspektive für bisher erwerbslose<br />
Menschen schaffen. Damit das läuft, will der Küchenchef<br />
reichlich motivieren, die Angestellten<br />
sollen nicht an zu langer Leine, aber auch nicht an<br />
zu kurzer Leine gelassen werden.<br />
Sein Speiseplan sei für jeden zu bewältigen,<br />
sagt der Küchenchef. „Spätestens im Juni wird das<br />
alles rundlaufen“. Bisher kommen etwa 20 Gäste<br />
zum Mittagessen ins Café Papagei, 50 sollen es<br />
werden. Wenn erst einmal draußen die Fassade renoviert<br />
ist und die neuen Gerichte an den Mann gehen,<br />
soll jeder hier einkehren wollen. Das ist Zieglers<br />
Ziel. Und er will jenen Menschen eine frische<br />
und gesunde Mahlzeit bieten, für die sie oftmals<br />
die einzige am Tag bleibt. Er will das Café Papagei<br />
für jeden öffnen und Menschen zusammenbringen,<br />
die sonst vielleicht nicht zusammenkommen<br />
würden. Jeder soll sich durch Matjes nach Hausfrauenart<br />
mit Salzkartoffeln, durch Schweinebraten<br />
mit Schwenkkartoffeln und gemischtem Gemüse,<br />
durch Bremer Knipp oder Putenschnitzel<br />
in Champignonrahmsauce mit hausgemachten<br />
Spätzle im Café Papagei verwöhnen lassen wollen.<br />
Und dies: nach wie vor für 2,50 Euro.<br />
AOK_AZ_Heldenbonus_Zeitung der Straße_150x101mm.indd 1 04.04.17 10:34
Die Uni der Straße<br />
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6. Juni – Fascho-Symbole im Alltag<br />
Bomberjacke, Springerstiefel und Glatze sind heute nicht mehr die typischen Erkennungszeichen<br />
für einen Neonazi. Die Globalisierung hat die Strukturen, die Netzwerke<br />
und die Form der Außendarstellung der Rechtsextremen stark verändert. Der Vortrag<br />
stellt gängige Symbole und Kürzel der rechtsextremen Szene vor.<br />
Torsten Dähn hat Politikwissenschaft an der Uni Bremen studiert. Als Dozent war er<br />
vorwiegend in der politischen Bildung tätig.<br />
17 Uhr, Café Papagei, Auf der Brake 2, 28195 Bremen<br />
15. Juni – Streetart Workshop<br />
In diesem Workshop werden wir selber zu Streetartkünstlern. Wir werden unsere<br />
Werke auf Leinwände auftragen und später ausstellen. Sämtliche Arbeitsmaterialien<br />
werden zur Verfügung gestellt, es fallen keine Kosten an. Bitte alte Klamotten anziehen!<br />
Maximal 12 TeilnehmerInnen / Eine Anmeldung ist erforderlich!<br />
Der Workshop wird von einem bekannten Bremer Graffitikünstler geleitet.<br />
10 bis 16 Uhr, Café Papagei, Auf der Brake 2, 28195 Bremen<br />
12. Juli – Stadionführung<br />
Auf dieser Führung erfahrt Ihr in 60 bis 75 Minuten alles Wissenswerte rund um<br />
Werder Bremen und die Geschichte des Weser-Stadions. Es fallen keine Kosten an.<br />
Maximale 20 TeilnehmerInnen / Eine Anmeldung ist erforderlich!<br />
14:45, Weser-Stadion, Tor 2, Franz-Böhmert-Straße 1, 28205 Bremen<br />
20. Juli – Wolfcenter Dörverden<br />
Der Wolf verkörpert für viele das, was unsere „normalen“ Hunde angeblich nicht mehr<br />
haben: das Urtümliche, Wilde, Freiheitsliebende und Mystische. Legenden ranken sich<br />
um den Wolf, Ängste und Bewunderung halten sich die Waage, aber kaum jemand kann<br />
sich der Faszination dieser Tiere entziehen. Das Wolfcenter ist ein etwa 5,2 Hektar großer<br />
Wildpark im Landkreis Verden. Für die Teilnehmer fallen keine Kosten an!<br />
Maximale 15 TeilnehmerInnen / Eine Anmeldung ist erforderlich!<br />
11:30, Café Papagei, Auf der Brake 2, 28195 Bremen. Rückkehr: 15:30 Uhr<br />
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Impressum<br />
Herausgeber Verein für Innere Mission in Bremen,<br />
Blumenthalstraße 10, 28209 Bremen<br />
Partner<br />
Hochschule Bremerhaven<br />
Büro<br />
Auf der Brake 10–12, 28195 Bremen,<br />
Mo–Fr 10–16 Uhr<br />
Tel. 0421/175 216 27<br />
Kontakt post@zeitschrift-der-strasse.de<br />
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Sparkasse Bremen<br />
Verwendungszweck (wichtig!): Zeitschrift der Straße<br />
Spenden sind steuerlich absetzbar.<br />
Redaktion<br />
Fotografie<br />
Marketing<br />
Vertrieb<br />
Gesamtleitung<br />
Mareike Harms, Philipp Jarke, Frauke Kuffel,<br />
Jan Zier<br />
Leitung: Philipp Jarke, Jan Zier<br />
redaktion@zeitschrift-der-strasse.de<br />
Hartmuth Bendig, Benjamin Eichler,<br />
Wolfgang Everding, Ann-Kathrin Just,<br />
Lena Möhler, Norbert Schmacke, Jan Zier<br />
Bildredaktion: Jan Zier<br />
Anneke Geller, Janine Hamann,<br />
Pia Homann, Birte Strauss<br />
Leitung: Prof. Dr. Wolfgang Lukas<br />
marketing@zeitschrift-der-strasse.de<br />
Marie Adenrele, Maria Albers, Ragni Bätzel,<br />
Lisa Bäuml, Angelika Biet, Christian Claus,<br />
Eike Kowalewski, Georg Kruppa,<br />
Hauke Redemann, Michael Risch, Sonja Schnurre,<br />
Eva Schönberger, Klaus Seeger, Philipp Seabear,<br />
Dorothea Teckemeyer, Kalle van der Puetten,<br />
Frederike Voß, Diethard von Wehren<br />
sowie viele engagierte VerkäuferInnen<br />
Koordination: Petra Kettler<br />
Leitung: Rüdiger Mantei, Reinhard „Cäsar“ Spöring<br />
vertrieb@zeitschrift-der-strasse.de<br />
Bertold Reetz, Prof. Dr. Dr. Michael Vogel<br />
Gestaltung Fabian Horst, Janina Freistedt<br />
Ottavo Oblimar, Glen Swart<br />
Lektorat Textgärtnerei, Am Dobben 51, 28203 Bremen<br />
V. i. S. d. P. Philipp Jarke / Anzeigen: Michael Vogel<br />
Druck<br />
BerlinDruck GmbH + Co KG, Achim<br />
Papier<br />
Circleoffset White,<br />
ausgezeichnet mit dem Blauen<br />
Umweltengel und dem EU-Ecolabel<br />
Erscheint zehnmal jährlich<br />
Auflage 8.000<br />
Gerichtsstand<br />
& Erfüllungsort Bremen<br />
ISSN 2192-7324<br />
Mitglied im International Network of Street Papers (INSP).<br />
Gefördert durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft.<br />
Die Redaktion übernimmt keine Haftung für unverlangt eingesandte<br />
Manuskripte, Fotos und Illustrationen. Die Zeitschrift der Straße und<br />
alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Mit<br />
Ausnahme der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung ohne<br />
Einwilligung des Verlages strafbar. Alle Anbieter von Beiträgen, Fotos<br />
und Illustrationen stimmen der Nutzung in den Ausgaben der Zeitschrift<br />
der Straße im Internet, auf DVD sowie in Datenbanken zu.<br />
Sie erkennen unsere VerkäuferInnen am Verkäuferausweis.<br />
DIE STRASSE<br />
Wir machen die 50<br />
voll, sprechen über<br />
Bilder und fragen,<br />
was es hilft.<br />
Ab 15.7. beim<br />
Straßenverkäufer<br />
Ihres Vertrauens<br />
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DIE ZEITSCHRIFT<br />
DER STRASSE<br />
Im Juli erscheint unsere<br />
50. AUSGABE!<br />
Kommt und feiert mit uns:<br />
DAS HOFFEST<br />
Wann? 15. Juli 2017<br />
11-16 Uhr<br />
Wo? Auf der Brake 10-12<br />
(Nähe Bremen Hbf)<br />
im Hof hinter<br />
unserem Büro<br />
zeitschrift-der-strasse.de