Spencer, Herbert Die Mode System der ... - modetheorie.de
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<strong>Spencer</strong>, <strong>Herbert</strong><br />
<strong>mo<strong>de</strong>theorie</strong>.<strong>de</strong><br />
<strong>Spencer</strong>, <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, 1885, 1 (6)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong><br />
<strong>System</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> synthetischen Philosophie Bd. VIII:<br />
<strong>Die</strong> Principien <strong><strong>de</strong>r</strong> Soziologie, III. Band, Theil IV, Kap. XI. (§§ 423 – 426)<br />
<strong>de</strong>utsche Übersetzung von B. Vetter, Stuttgart (E. Schweitzerbart’sche Verlagshandlung)<br />
1889,245-252 (Englisches Original zuerst: 1885)<br />
245 (245-252; §§ 423-426)<br />
XI. Capitel.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>.<br />
§ 423.<br />
Wenn wir hier in <strong><strong>de</strong>r</strong> allgemeinen Betrachtung <strong><strong>de</strong>r</strong> ceremoniellen Einrichtungen<br />
nichts über die <strong>Mo<strong>de</strong></strong> sagen wollten, so wür<strong>de</strong> eine Lücke offen bleiben; aber freilich<br />
ist es sehr schwer, die <strong>Mo<strong>de</strong></strong> in irgendwie systematischer Weise zu behan<strong>de</strong>ln.<br />
Bei all’ <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Formen <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zwanges (<strong><strong>de</strong>r</strong> socialen<br />
Controle), die bisher behan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>n, haben wir wenigstens einzelne durchgängig<br />
gültige Merkmale gefun<strong>de</strong>n, die sich auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen<br />
liessen, und die gewonnenen Folgerungen waren daher ziemlich bestimmter<br />
Natur. Jene verschie<strong>de</strong>nartigen und stets sich än<strong><strong>de</strong>r</strong>n<strong>de</strong>n Regeln<br />
246<br />
für das Betragen <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen aber, welche <strong><strong>de</strong>r</strong> Name <strong>Mo<strong>de</strong></strong> umfasst, lassen sich<br />
nicht in gleicher Weise erklären, und es genügt auch nicht eine einzige Erklärung<br />
für sie alle.<br />
In <strong>de</strong>n Verstümmelungen, <strong>de</strong>n Geschenken, <strong>de</strong>n Besuchen, <strong>de</strong>n Verbeugungen<br />
und ähnlichen Ehrenbezeichnungen, in <strong>de</strong>n Anre<strong>de</strong>formen, <strong>de</strong>n Titeln, <strong>de</strong>n Abzeichen<br />
und Trachten u.s.w. wird, wie wir sahen, nicht Ähnlichkeit, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n im Gegentheil<br />
Unähnlichkeit zwischen <strong>de</strong>n Handlungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Höheren und <strong>de</strong>nen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>en hervorgekehrt: was <strong><strong>de</strong>r</strong> Herrscher thut, darf <strong><strong>de</strong>r</strong> Beherrschte nicht thun,<br />
und das, was <strong>de</strong>m Beherrschten geboten wird, ist zugleich dasjenige, was <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
<strong>Spencer</strong>, <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, 1885, 1 (6)<br />
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<strong>Spencer</strong>, <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, 1885, 2 (6)<br />
Herrscher natürlich vermei<strong>de</strong>t. In jenen Abän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong>de</strong>s Betragens, <strong><strong>de</strong>r</strong> Kleidung,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Lebensweise u.s.w. jedoch, welche die <strong>Mo<strong>de</strong></strong> ausmachen, wird stets das<br />
grösste Gewicht nicht auf die Ungleichheit, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auf Gleichheit gelegt. Man<br />
hat seine Ehrerbietung und schuldige Rücksicht zu bezeugen dadurch, dass man<br />
das Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong> in höherem Ansehen Stehen<strong>de</strong>n nachahmt, und nicht in<strong>de</strong>m man<br />
von <strong>de</strong>mselben abweicht. Wie kommt es zu diesem eigenthümlichen Gegensatz?<br />
<strong>Die</strong> Erklärung hierfür scheint etwa folgen<strong>de</strong> zu sein. <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong> ist ihrem ganzen<br />
Wesen gemäss nachahmen<strong><strong>de</strong>r</strong> Natur. Nachahmung kann nun aus zwei weit von<br />
einan<strong><strong>de</strong>r</strong> abweichen<strong>de</strong>n Beweggrün<strong>de</strong>n entspringen. Man kann dazu angetrieben<br />
wer<strong>de</strong>n durch Ehrfurcht vor <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>n man nachahmt, o<strong><strong>de</strong>r</strong> aber durch <strong>de</strong>n<br />
Wunsch, seine Gleichstellung mit ihm möglichst bestimmt auszudrücken. Zwischen<br />
<strong>de</strong>n Nachahmungen, welche durch diese verschie<strong>de</strong>nartigen Beweggrün<strong>de</strong><br />
veranlasst wer<strong>de</strong>n, lässt sich aber keine schaffe Grenze ziehen, und daraus entspringt<br />
die Möglichkeit eines allmählichen Übergangs von jenen durch die Ehrerbietung<br />
veranlassten Nachahmungen, welche das Zeichen einer entschie<strong>de</strong>nen<br />
Unterordnung sind, zu diesen eher auf Wettbewerb beruhen<strong>de</strong>n Nachahmungen,<br />
die einen zustand von verhältnismässiger Unabhängigkeit charakterisiren.<br />
Bedienen wir uns dieser Auffassung als Schlüssel für die Thatsachen, so können<br />
wir nun leicht einsehen, wie die ehrfurchtsvollen Nachahmungen ihren Anfang<br />
nehmen und wie es zu einem Übergang von ihnen zu <strong>de</strong>n auf Wetteifer beruhen<strong>de</strong>n<br />
Nachahmungen kommt.<br />
247<br />
§ 424.<br />
Wenn wir von einer Gesellschaft ausgehen, in <strong><strong>de</strong>r</strong> knechtische Unterordnung<br />
herrscht, so entsteht die Frage: in welchen Fällen wird <strong><strong>de</strong>r</strong> Höhergestellte sich<br />
durch Nachahmungen von seiten eines Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>en begütigen lassen? Hinsichtlich<br />
welcher Eigenthümlichkeiten wird <strong><strong>de</strong>r</strong> letztere versuchen dürfen, es ihm gleichzuthun,<br />
wenn er ihm damit einen Beweis <strong><strong>de</strong>r</strong> Höflichkeit geben will? Offenbar nur<br />
hinsichtlich seiner eigenen Mängel und Gebrechen.<br />
Aus <strong>de</strong>n Sitten jener einem tyrannischen Ceremoniell huldigen<strong>de</strong>n Wil<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Fidschianer, kann ich ein Beispiel anführen, welches <strong>de</strong>n Beweggrund und seine<br />
Folge <strong>de</strong>utlich erkennen lässt.<br />
„Ein Häuptling ging eines Tages auf einem Bergpfa<strong>de</strong>, gefolgt von einer langen<br />
Reihe seiner Leute, als er zufällig stolperte und hinfiel. Sofort thaten alle seine<br />
Leute dasselbe, mit Ausnahme eines Mannes, über <strong>de</strong>n die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en ohne weiteres<br />
herfielen und wissen wollten, warum er <strong>de</strong>nn sich für etwas besseres hielte als<br />
seinen Häuptling“.<br />
Und Williams Williams and Calvert, Fiji and the Fijians. 1860, 2 vols.<br />
beschreibt uns seinen Versuch, eine schlüpfrige Brücke, welche von einem einzigen<br />
Cocospalmenstamm gebil<strong>de</strong>t war, zu überschreiten, mit folgen<strong>de</strong>n Worten: -<br />
„Eben als ich meinen Versuch beginnen wollte, rief einer <strong><strong>de</strong>r</strong> Hei<strong>de</strong>n mit grosser<br />
<strong>Spencer</strong>, <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, 1885, 2 (6)<br />
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<strong>Spencer</strong>, <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, 1885, 3 (6)<br />
Lebhaftigkeit aus: ‚Heute wer<strong>de</strong> ich eine Muskete haben!’ . . . Als ich ihn dann<br />
fragte, warum er von einer Muskete gesprochen, antwortete <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann: ‚Ich war<br />
ganz sicher, dass Du bei <strong>de</strong>m Versuch, hinüberzugehen, hinunterfallen wür<strong>de</strong>st,<br />
und ich wür<strong>de</strong> natürlich hinter Dir her gefallen sein’ (d. h. ich wür<strong>de</strong> mir <strong>de</strong>n Anschein<br />
gegeben haben, ebenso ungeschickt zu sein], ‚und da die Brücke hoch ist,<br />
das Wasser sehr reissend und Du ein feiner Herr bist, so wäre es Dir gewiss nicht<br />
in <strong>de</strong>n Sinn gekommen, mir weniger als eine Muskete dafür zu geben’.“<br />
Fast noch merkwürdiger ist ein verwandtes Verfahren in Afrika bei <strong>de</strong>m Volke<br />
von Darfur. „Wenn <strong><strong>de</strong>r</strong> Sultan auf einem Ritt vom Pfer<strong>de</strong> fällt, so müssen alle in<br />
seinem Gefolge ebenso herunterfallen, und sollte irgend Jemand diese Formalität<br />
zu befolgen versäumen: so hoch er auch stehen mag, er wird auf die Er<strong>de</strong> gelegt<br />
und durchgeprügelt“.<br />
248<br />
Solche Beispiele <strong>de</strong>s Bestrebens, einem Herrscher zu gefallen, in<strong>de</strong>m man je<strong>de</strong>n<br />
Anschein einer Überlegenheit über ihn vermei<strong>de</strong>t, wer<strong>de</strong>n uns weniger unglaublich<br />
erscheinen, als es sonst <strong><strong>de</strong>r</strong> Fall wäre, wenn sich zeigt, dass bei europäischen<br />
Völkern, wenn auch nicht ganz gleiche, so doch ähnliche Vorkommnisse stattgefun<strong>de</strong>n<br />
haben. Im Jahre 1461 hatte <strong><strong>de</strong>r</strong> Herzog Philipp von Burgund sein Haar<br />
während einer Krankheit abschnei<strong>de</strong>n lassen; „er erliess sodann ein Gebot, dass<br />
alle edlen Männer seiner Staaten sich ebenso scheeren lassen sollten. Mehr als<br />
Fünfhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t . . . . . . opferten ihr Haar“. Von diesem Beispiele, wo also <strong><strong>de</strong>r</strong> Herrscher<br />
darauf bestand, dass sein Gebrechen von seinen Untergebenen auch wi<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
<strong><strong>de</strong>r</strong>en Willen nachgeahmt wer<strong>de</strong> (<strong>de</strong>nn Viele erwiesen sich ungehorsam), können<br />
wir zu einem späteren Beispiele. übergehen, wo eine ähnliche Nachahmung freiwillig<br />
erfolgte. In Frankreich wur<strong>de</strong> im Jahre 1665, nach<strong>de</strong>m Ludwig XIV. an<br />
einer FisteI operirt wor<strong>de</strong>n war, das königliche Gebrechen zu einer <strong>Mo<strong>de</strong></strong> bei allen<br />
Hofleuten.<br />
„Manche, die bis dahin mit grosser Sorgfalt eine ähnliche Krankheit verheimlicht<br />
hatten, schämten sich nun nicht mehr, dieselbe bekannt wer<strong>de</strong>n zu lassen. Es gab<br />
sogar Höflinge, die sich darum beimühten, in Versailles operirt zu wer<strong>de</strong>n, weil<br />
dann <strong><strong>de</strong>r</strong> König von allen Einzelheiten ihrer Krankheit unterrichtet wur<strong>de</strong>. . . . . .<br />
Ich habe ihrer mehr als dreissig gesehen, die operirt wer<strong>de</strong>n wollten und <strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />
Thorheit so gross war, dass sie sich fast beleidigt fühlten, als man ihnen erklärte,<br />
es läge kein Grund vor, dies zu thun“.<br />
Wenn wir nun <strong><strong>de</strong>r</strong>artigen Fällen noch an<strong><strong>de</strong>r</strong>e anreihen können, wo eine Abän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />
<strong>de</strong>s Anzugs, die ein König vornimmt, um irgend einen körperlichen Fehler<br />
zu ver<strong>de</strong>cken (wie etwa eine hoch hinaufreichen<strong>de</strong> Halsbin<strong>de</strong>, wo es sich um das<br />
Verbergen eines scrophuIösen Halses han<strong>de</strong>lt), von <strong>de</strong>n Leuten am Hofe nachgeahmt<br />
wird und sich dann bald nach unten ausbreitet, so ersehen wir <strong>de</strong>utlich, wie<br />
aus jenem Wunsche nach Begütigung, welcher veranlasst, dass man einen ähnlichen<br />
Mangel zu besitzen vorgibt, auch <strong>Mo<strong>de</strong></strong>n in <strong><strong>de</strong>r</strong> Art <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekleidung hervorgehen<br />
können, und wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Beifall, <strong>de</strong>n Nachahmungen dieser Art fin<strong>de</strong>n, unvermerkt<br />
mit Billigung an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Nachahmungen führen mag.<br />
<strong>Spencer</strong>, <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, 1885, 3 (6)<br />
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<strong>Spencer</strong>, <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, 1885, 4 (6)<br />
§ 425.<br />
Nicht als ob freilich eine solche Ursache von sich aus eine <strong><strong>de</strong>r</strong>artige Folge haben<br />
müsste. Es gibt noch eine mitwirken<strong>de</strong> Ursache, welche <strong>de</strong>n so betretenen Weg<br />
noch verbreitern hilft. <strong>Die</strong> auf Wetteifer gegrün<strong>de</strong>te Nachahmung, die stets so<br />
weit geht, als die Autorität es überhaupt gestattet, macht sich je<strong>de</strong> Gelegenheit zu<br />
Nutze, die ihr von seiten <strong><strong>de</strong>r</strong> auf Ehrerbietung begrün<strong>de</strong>ten Nachahmung dargeboten<br />
wird.<br />
<strong>Die</strong>se wetteifern<strong>de</strong> Nachahmung beginnt nicht min<strong><strong>de</strong>r</strong> frühzeitig als die ersterwähnte.<br />
<strong>Die</strong> Angehörigen eines wil<strong>de</strong>n Stammes lassen sich nicht selten durch<br />
<strong>de</strong>n Wunsch nach Beifall ihrer Genossen zu Ausgaben verIeiten, die verhältnismässig<br />
noch viel verschwen<strong><strong>de</strong>r</strong>ischer sind als die <strong><strong>de</strong>r</strong> Civilisirten. Es gibt barbarische<br />
Völker, bei welchen die in Folge <strong><strong>de</strong>r</strong> Verheirathung einer Tochter zu erwarten<strong>de</strong>n<br />
Kosten <strong><strong>de</strong>r</strong> Gastfreundschaft so hoch sich belaufen, dass sie die Ermordung<br />
weiblicher Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> That entschuldigen, weil eben damit jene die Leute<br />
ruiniren<strong>de</strong>n Ausgaben, welche mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehung <strong><strong>de</strong>r</strong> Tochter schliesslich verbun<strong>de</strong>n<br />
sein wür<strong>de</strong>n, vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Thomson und Angas stimmen vollkommen<br />
überein in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s unglaublichen Aufwan<strong>de</strong>s, zu <strong>de</strong>m die neuseeländischen<br />
Häuptlinge durch die <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, grosse Festlichkeiten zu veranstalten, getrieben<br />
wer<strong>de</strong>n, wodurch sogar manchmal Hungersnöthe entstehen – Festlichkeiten,<br />
für welche die Häuptlinge ein ganzes Jahr im voraus sich zu rüsten beginnen, da<br />
von einem Je<strong>de</strong>n erwartet wird, dass er seine Nachbarn in <strong><strong>de</strong>r</strong> Verschwendung<br />
noch übertreffe. Derselbe Beweggrund aber, <strong><strong>de</strong>r</strong> auf solche Weise schon frühzeitig<br />
in <strong><strong>de</strong>r</strong> socialen Entwickelung mit ins Spiel kommt und die einan<strong><strong>de</strong>r</strong> Gleichgestellten<br />
hinsichtlich <strong>de</strong>s öffentlich gemachten Aufwan<strong>de</strong>s mit einan<strong><strong>de</strong>r</strong> wetteifern<br />
lässt, treibt ganz ebenso auch je<strong><strong>de</strong>r</strong>zeit die Niedriggestellten zu einem ähnlichen<br />
Wetteifer mit <strong>de</strong>n Höheren an, soweit ihnen dies überhaupt gestattet ist. Überall<br />
und immer hat das Bestreben <strong><strong>de</strong>r</strong> Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>en, sich in Geltung zu setzen, mit <strong>de</strong>n<br />
ihnen auferlegten Schranken in Gegensatz gestan<strong>de</strong>n. Und eine beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s beliebte<br />
Weise, sich diese Geltung zu verschaffen, war stets die, dass man die Tracht und<br />
die Einrichtungen und die Sitten annahm, welche die Höheren auszeichnen. In <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Regel fin<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>nn auch einige von untergeordnetem Range, <strong>de</strong>nen aus <strong>de</strong>m<br />
einen<br />
250<br />
o<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Grun<strong>de</strong> gestattet wird, durch solche Nachahmung in <strong>de</strong>n über ihnen<br />
stehen<strong>de</strong>n Rang sich zu erheben, und gewöhnlich geht dann die allgemeine Ten<strong>de</strong>nz<br />
dahin, solche Präce<strong>de</strong>nzfälle einer Nachahmung zu vermehren und so für<br />
immer sich erweitern<strong>de</strong> Classen die Freiheit zu erwerben, in gleicher Weise zu<br />
leben und sich zu klei<strong>de</strong>n wie die Angehörigen <strong><strong>de</strong>r</strong> bevorzugten engeren Kreise.<br />
Insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e trat dies stärker hervor, sobald Rang und Reichthum nicht mehr zusammenfielen<br />
– d. h. sobald durch die Gewerbsthätigkeit Einzelne emporkamen,<br />
<strong>Spencer</strong>, <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, 1885, 4 (6)<br />
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<strong>Spencer</strong>, <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, 1885, 5 (6)<br />
die reich genug waren, um es in <strong><strong>de</strong>r</strong> Lebenshaltung mit <strong>de</strong>n im Range über ihnen<br />
Stehen<strong>de</strong>n aufzunehmen. Theils wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> grösseren Mittel und theils wegen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
dadurch erworbenen grösseren Macht, welche die höheren Stufen <strong><strong>de</strong>r</strong> Producenten<br />
und <strong><strong>de</strong>r</strong> Vertheilen<strong>de</strong>n erlangten, theils endlich wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> zunehmen<strong>de</strong>n Wichtigkeit<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> finanziellen Hilfeleistungen, welche sie <strong>de</strong>n herrschen<strong>de</strong>n Classen in öffentlichen<br />
und privaten Angelegenheiten darbieten konnten, hat <strong><strong>de</strong>r</strong> Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand<br />
dagegen, dass sie auch solche Gebräuche annahmen, welche ursprünglich Je<strong><strong>de</strong>r</strong>mann<br />
ausser <strong>de</strong>n a<strong>de</strong>lig Geborenen verboten waren, immer mehr abgenommen.<br />
<strong>Die</strong> Schranken, die man in früheren Zeiten durch Luxusgesetze immer und immer<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aufzurichten suchte, wur<strong>de</strong>n doch allmählich erschüttert, bis endlich die<br />
Nachahmung <strong><strong>de</strong>r</strong> Höheren durch die Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>en, fortwährend nach unten sich ausbreitend,<br />
durch nichts mehr sich aufhalten liess als höchsten durch die Gefahr,<br />
Spott und <strong>de</strong>n Fluch <strong><strong>de</strong>r</strong> Lächerlichkeit auf sich zu la<strong>de</strong>n.<br />
§ 426.<br />
So sehr also auch das Ceremoniell und die <strong>Mo<strong>de</strong></strong> einan<strong><strong>de</strong>r</strong> gegenseitig durchdringen<br />
und unentwirrbar vermengt erscheinen mögen, so sind sie doch nach <strong>de</strong>m<br />
vorhergehen<strong>de</strong>n ganz entgegengesetzten Ursprungs und haben verschie<strong>de</strong>ne Be<strong>de</strong>utung:<br />
jenes ist <strong>de</strong>m Regime <strong>de</strong>s zwangsweisen Zusammenwirkens eigenthümlich,<br />
diese aber gehört in <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>s freiwilligen Zusammenwirkens. Denn<br />
offenbar besteht ein sehr be<strong>de</strong>utsamer Unterschied, ja sogar ein Gegensatz <strong>de</strong>s<br />
ganzen Wesens zwischen <strong>de</strong>m Verhalten, das durch die Unterordnung unter einen<br />
Höheren vorgeschrieben wird, und <strong>de</strong>mjenigen, das aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachahmung eines<br />
Höherstehen<strong>de</strong>n entspringt.<br />
251<br />
Es muss zugegeben wer<strong>de</strong>n, dass die Regeln <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns, die wir hier unterschie<strong>de</strong>n<br />
haben, gewöhnlich in die grosse Masse <strong><strong>de</strong>r</strong> allgemeinen gesellschaftlichen<br />
Vorschriften eingewoben erscheinen. Es ist richtig, dass man heutzutage<br />
manche eigentlich <strong>de</strong>m Ceremoniell zugehörige Formalitäten erfüllt, als ob sie<br />
Theile <strong><strong>de</strong>r</strong> vorherrschen<strong>de</strong>n <strong>Mo<strong>de</strong></strong> wären, und dass an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits gewisse Elemente<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, wie z. B. die Ordnung <strong><strong>de</strong>r</strong> einzelnen Gänge hei einem Festmahle, vielfach<br />
als Elemente <strong>de</strong>s Ceremoniells aufgefasst wer<strong>de</strong>n. Und es ist ferner richtig,<br />
dass die einen wie die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong>de</strong>n Gehorsam <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen erzwingen vermöge<br />
einer nirgends verkörperten öffentlichen Meinung, die für diese wie für jene dieselbe<br />
zu sein scheint. Allein, wie wir schon oben sahen, dies ist nur eine Täuschung.<br />
Wenn in unseren Tagen ein reicher Quäker sich weigert ähnliche Kleidung<br />
zu tragen wie diejenigen, die ebenso bemittelt sind, und wenn er zugleich<br />
seinen Hut nicht vor einem Höherstehen<strong>de</strong>n abnehmen will, so betrachten wir<br />
diese Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>setzlichkeiten gewöhnlich als solche von gleicher Natur. Wir sehen<br />
aber sofort ein, wie wenig dies zutrifft, wenn wir bis in die Zeiten zurückgehen,<br />
wo die Begrüssung eines Höherstehen<strong>de</strong>n bei To<strong>de</strong>sstrafe geboten war, während<br />
im Gegentheil die Nachahmung <strong>de</strong>s Anzuges einer höhergestellten Classe, weit<br />
<strong>Spencer</strong>, <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, 1885, 5 (6)<br />
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<strong>Spencer</strong>, <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, 1885, 6 (6)<br />
entfernt, wohlgefällig zu erscheinen, vielmehr verboten war. Zwei ganz verschie<strong>de</strong>ne<br />
Autoritäten sind es also, <strong>de</strong>nen durch diese bei<strong>de</strong>n Handlungen wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprochen<br />
wird: <strong><strong>de</strong>r</strong> Autorität <strong><strong>de</strong>r</strong> Classenherrschaft, welche einstmals solche Ehrenbezeugungen<br />
for<strong><strong>de</strong>r</strong>te, und <strong><strong>de</strong>r</strong> Autorität <strong><strong>de</strong>r</strong> öffentlichen Meinung, welche daran<br />
festhält, dass Nichtübereinstimmung in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kleidung eine niedrigere Lebenslage<br />
verrathe.<br />
Demnach ist, so wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bar dies auch klingen mag, die <strong>Mo<strong>de</strong></strong> im Gegensatz zum<br />
Ceremoniell eine Begleiterscheinung <strong>de</strong>s industriellen Typus und steht in Gegensatz<br />
zum kriegerischen Typus. Man braucht blos zu beachten, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Kaufmann,<br />
wenn er silberne Gabeln auf seinem Tische einführt, in dieser Hinsicht seine<br />
Gleichstellung mit <strong>de</strong>m E<strong>de</strong>lmann betont, o<strong><strong>de</strong>r</strong> noch besser darauf zu sehen, wie<br />
sehr das <strong>Die</strong>nstmädchen, das sich für seinen freien Sonntag herausgeputzt hat, mit<br />
seiner Herrin wetteifert, in<strong>de</strong>m es einen Hut nach <strong><strong>de</strong>r</strong> allerneuesten <strong>Mo<strong>de</strong></strong> aufsetzt,<br />
um einzusehen, wie die Regeln <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns, die man unter <strong>de</strong>m Namen <strong>Mo<strong>de</strong></strong><br />
zusammenfasst, auf jene stets sich erweitern<strong>de</strong><br />
252<br />
Freiheit hinweisen, die mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Ersetzung kriegerischer durch vorwiegend friedliche<br />
Thätigkeiten Hand in Hand geht.<br />
Wie sie heutzutage besteht, ist die <strong>Mo<strong>de</strong></strong> eine Form <strong><strong>de</strong>r</strong> socialen Ordnung, ähnlich<br />
und vergleichbar <strong><strong>de</strong>r</strong> constitutionellen Regierung als Form <strong><strong>de</strong>r</strong> staatlichen Ordnung;<br />
<strong>de</strong>nn sie stellt in <strong><strong>de</strong>r</strong> That ein Compromiss zwischen allgemein herrschen<strong>de</strong>m<br />
Zwang und Freiheit <strong>de</strong>s Einzelnen dar. Gera<strong>de</strong> so wie mit <strong>de</strong>m Übergang<br />
vom zwangsweisen zum freiwilligen Zusammenwirken in <strong><strong>de</strong>r</strong> öffentlichen Thätigkeit<br />
eine Verstärkung und Vermehrung <strong><strong>de</strong>r</strong> Vertretungskörper erfolgt ist, die<br />
<strong>de</strong>n Willen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mehrheit zum Ausdruck zu bringen haben, so hat auch jenes unbestimmt<br />
abgegrenzte Aggregat reicher und gesitteter Leute, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Übereinstimmung<br />
in <strong><strong>de</strong>r</strong> Lebensweise das Privatleben <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzen Gesellschaft mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger<br />
beherrscht, immer mehr an Umfang zugenommen. Und es lässt sich im einen<br />
wie im an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Falle beobachten, dass dieser beständig hin und herschwanken<strong>de</strong><br />
Compromiss zwischen Zwang und Freiheit doch im allgemeinen einem<br />
Siege <strong><strong>de</strong>r</strong> Freiheit zustrebt: <strong>de</strong>nn während im Durchschnitt die staatliche Beaufsichtigung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Thätigkeit <strong>de</strong>s Einzelnen abnimmt, verliert auch die <strong>Mo<strong>de</strong></strong> viel von<br />
ihrer früheren Starrheit, wie sich schon aus <strong>de</strong>m grösseren Spielraum ergibt, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
<strong>de</strong>m innerhalb gewisser sehr lose abgesteckter Grenzen sich bewegen<strong>de</strong>n Urtheile<br />
<strong>de</strong>s Einzelnen gestattet ist.<br />
So hat <strong>de</strong>nn die <strong>Mo<strong>de</strong></strong> getreu <strong><strong>de</strong>r</strong> von Anfang in ihr vorwalten<strong>de</strong>n Ten<strong>de</strong>nz zur<br />
Nachahmung, zunächst nur <strong><strong>de</strong>r</strong> Mängel und Fehler eines Höheren, sodann aber<br />
auch allmählich an<strong><strong>de</strong>r</strong>er ihm eigenthümlicher Züge, stets auf Ausgleichung hingearbeitet.<br />
Sie diente dazu, die Zeichen <strong><strong>de</strong>r</strong> Classenunterschie<strong>de</strong> zu verwischen und<br />
zuletzt ganz verschwin<strong>de</strong>n zu lassen, und so hat sie die Stärkung <strong><strong>de</strong>r</strong> Individualität<br />
begünstigt. Dadurch aber trug sie auch zur Schwächung <strong>de</strong>s Ceremoniells bei, das<br />
ja gera<strong>de</strong> auf die Unterordnung <strong>de</strong>s Individuums gegrün<strong>de</strong>t ist.<br />
<strong>Spencer</strong>, <strong>Die</strong> <strong>Mo<strong>de</strong></strong>, 1885, 6 (6)<br />
<strong>mo<strong>de</strong>theorie</strong>.<strong>de</strong>