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Weihnachtsgeschichte 2016

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Wie eine Handvoll Halunken<br />

die Stadt rettete


ie Kälte hatte früh Einzug<br />

D<br />

gehalten in der Zauche.<br />

Raureif klebte an den Gräsern<br />

und der Wind blies<br />

schneidend über die morgenrote<br />

Lichtung. Heinrich Pfister und<br />

seinen Leuten würden wieder entbehrungsreiche<br />

Monate bevorstehen. Man<br />

schrieb das Jahr 1416 - und zwei lange<br />

Winter hatten sie als Geächtete<br />

schon in den sumpfigen Wäldern hinter<br />

sich.<br />

„Wir werden unser Vieh schlachten<br />

müssen, bevor es noch dürrer wird“,<br />

knurrte der großgewachsene Mann mit<br />

der Narbe im Gesicht, die sich unter<br />

dem rechten Auge in einem dichten<br />

Bart verlor. „Und die Vorräte werden<br />

wir rationieren.“<br />

„Noch mehr als ohnehin schon?“ -<br />

Sein Nebenmann protestierte, obwohl<br />

er wusste, dass die paar Ziegen und<br />

Hühner, die sie sich in einem Verschlag<br />

unter den Bäumen hielten, den<br />

ersten Schnee ohnehin nicht überstehen<br />

würden. Aber der knurrende Magen<br />

war sein steter und lästiger Begleiter.<br />

„Du kannst ja nach Beelitz gehen. Der<br />

Büttel bekommt dich bestimmt satt“,<br />

entgegnete Pfister. Und setzte mit<br />

schiefem Grinsen hinzu: „So eine<br />

Henkersmahlzeit soll ja recht ordentlich<br />

sein.“<br />

„Ich glaube kaum, das irgendein<br />

Strick meinen dünnen Hals noch halten<br />

könnte!“ Konrad gehörte zu jenen<br />

in der Horde, die vor dem Gesetz geflohen<br />

waren. Die meisten nannten ihn<br />

Langfinger, doch er fand den Namen<br />

unpassend. Denn wenn er wirklich so<br />

lange Finger gehabt hätte, wäre er<br />

nicht beim Stehlen erwischt worden.<br />

Andere waren mit ihrer Pacht im<br />

Rückstand gewesen, die meisten von<br />

Pfisters Leuten aber waren aus einem<br />

anderen Grunde fortgegangen: Sie<br />

weigerten sich, dem neuen Markgrafen<br />

die Treue zu schwören.<br />

„Was soll der Nürnberger Tand schon<br />

für uns richten?“, hatte Pfister gefragt,<br />

als ihn der Magistrat unter den Kriegsbefehl<br />

Friedrichs von Hohenzollern<br />

stellen wollte - des neuen, vom Kaiser<br />

Höchstselbst eingesetzten Landesherrn.


Heinrich Pfister war Schmied. Sicher,<br />

er verfügte über einige Kampferfahrung,<br />

aber wer hatte die nicht in diesen<br />

unsteten Zeiten? Die Herrschaften<br />

und Bündnisse wechselten so schnell<br />

wie das Wetter im April und zu groß<br />

war die Gefahr, sich an den Falschen<br />

zu halten. Schlussendlich versuchte<br />

doch jeder nur, sein eigenes Schäflein<br />

ins Trockene zu bringen. Aber das<br />

möge er bitte ohne Pfisters Hilfe tun.<br />

Als die Beelitzer mit Mannschaften<br />

anderer Städte wie Jüterbog und Brietzen<br />

gegen die Festung Beuthen zogen,<br />

die Friedrichs ärgstem Widersacher<br />

Dietrich von Quitzow gehörte, war<br />

Heinrich Pfister an die Esse zurückgekehrt<br />

und seiner Arbeit nachgegangen.<br />

Doch damit begannen die Anfeindungen.<br />

Und am Ende blieb ihm nur<br />

noch, die Stadt zu verlassen, um seine<br />

Familie damit zu schützen.<br />

Sein Sohn, Hans genannt, war ihm<br />

gefolgt - aus jugendlichem Leichtsinn,<br />

wie Heinrich es nannte. Doch er war<br />

froh, wenigstens einen unverdorbenen<br />

Charakter und dabei doch so wachen<br />

Kopf an seiner Seite haben.<br />

„Ein Handelskarren kommt aus der<br />

Stadt!“ Es war Hans, der außer Atem<br />

auf die beiden Männer zulief. Heinrich<br />

hatte ihn noch vor dem ersten<br />

Tageslicht hinunter an die Straße nach<br />

Saarmund geschickt, da gestern ein<br />

Markt in Beelitz abgehalten wurde.<br />

Heute, so wusste er, würden sich die<br />

Händler mit ihren prall gefüllten<br />

Geldbeuteln wieder auf den Heimweg<br />

machen.<br />

Heinrich unternahm solche Überfälle<br />

nur ungern - und wenn, dann sah er<br />

zu, dass niemand verletzt oder gar<br />

getötet wurde. Er wollte die Obrigkeit<br />

nicht zu sehr reizen. Obwohl seine<br />

Männer an der Abwechslung ihre<br />

Freude hatten und man ja auch irgendwie<br />

satt werden musste.<br />

Der Karren, der von einem beleibten<br />

Händler gelenkt wurde, kam in Sichtweite.<br />

„Sieht nach fetter Beute aus“,<br />

bemerkte Konrad und ließ einen Pfeil<br />

direkt vor dem Zugpferd niedergehen.<br />

„Nun, dann lasst uns nachsehen, ob er<br />

auch Geld bei sich trägt“, meinte<br />

Heinrich und griff nach seinem<br />

Schwert.


***<br />

„Dieser verdammte Pfister!“ - Marie<br />

zog den Kopf ein. Sie wusste: Wenn<br />

ihr Onkel in dieser Verfassung war,<br />

sollte man sich lieber still verhalten.<br />

Sie wartete in der Ecke der Amtsstube,<br />

um das Mittagsmahl abzuräumen,<br />

das Georg von Neuendorff bis jetzt<br />

kaum angerührt hatte - weil der unerfreuliche<br />

Besuch, der gerade hineingestürmt<br />

war, ihm den Appetit verdarb.<br />

Der rundliche Mann berichtete, dass<br />

er vor der Stadt überfallen worden war<br />

und nun Schadensausgleich für seine<br />

geraubte Börse verlange.<br />

„Ihr habt uns sicheres Geleit geschworen,<br />

sonst hätte ich mich doch nie auf<br />

den Weg nach Beelitz gemacht“, sagte<br />

der Kaufmann mit einem rotem Gesicht,<br />

das Marie nicht nur seinen Zorn<br />

verriet, sondern auch ein offenkundiges<br />

Zeichen dafür war, dass er das<br />

gestern eingenommene Geld auch<br />

gleich wieder ausgegeben hatte - im<br />

Wirtshaus. „Und nun lauern mir diese<br />

Spitzbuben unweit Eurer Stadt auf!“<br />

Neuendorff war der oberste Ratsmann<br />

in Beelitz und es war schon schwierig<br />

genug, die vielen Mäuler satt zu bekommen.<br />

Überall trieben sich Räuberbanden<br />

herum und brachten den Handel<br />

zum Erliegen. Der bevorstehende<br />

Winter machte ihm jetzt schon Bange<br />

und dass Männer aus der Stadt nun<br />

auch noch die Gegend unsicher machten,<br />

konnte er rein gar nicht gebrauchen.<br />

Fehlte nur noch, dass die Pest<br />

wieder über das Land kam.<br />

Sicher: Durch das Bündnis mit dem<br />

neuen Markgrafen konnten die Beelitzer<br />

auf so einige Vergünstigungen und<br />

Zugeständnisse hoffen, doch die würden<br />

so lange auf sich warten lassen,<br />

bis Friedrich von Nürnberg seine<br />

Herrschaft gefestigt hatte.<br />

„Wie viel haben sie Euch abgenommen?“<br />

fragte Neuendorff.<br />

„Nun, in meiner Börse waren 200<br />

Denare. Hinzu kommen die Kosten<br />

für meinen Mantel, den ich mir auf<br />

der Flucht vor dieser Horde zerrissen<br />

habe. Und dann natürlich noch ein<br />

wenig Geld als Zeichen Eures Wohlwollens.<br />

Nicht auszudenken, wenn<br />

jemand in Lehnin oder Brandenburg<br />

erführe, wie es hier bei Euch zu-


geht…“<br />

Neuendorff legte ihm eine Handvoll<br />

Silbermünzen auf den Tisch, woraufhin<br />

der Händler gierig seine Finger<br />

ausstreckte. Der Ratsmann packte<br />

seinen Arm und hielt ihn fest: „Kein<br />

Wort darüber in Lehnin oder Brandenburg<br />

oder sonst irgendwo“, grollte er.<br />

„Natürlich, ganz wie ihr verlangt.“<br />

Nachdem der Kaufmann sich getrollt<br />

hatte, begann Marie die Schüsseln<br />

abzuräumen.<br />

„Ich sollte Heinrich Pfister aufknüpfen<br />

lassen“, schimpfte ihr Onkel.<br />

„Das kannst Du nicht“, wand die junge<br />

Frau vorsichtig ein.<br />

„Ach, und warum nicht?“, brauste er<br />

auf, obwohl er die Antwort kannte.<br />

„Weil Du niemanden hast, der hinausgehen<br />

würde, um ihn zu stellen. Und<br />

weil er ein Bürger dieser Stadt ist -<br />

wie die meisten seiner Leute.“<br />

„War, meine Liebe. Er war ein Bürger<br />

dieser Stadt. Bevor er und die anderen<br />

uns alle im Stich gelassen haben, als<br />

wir den Quitzow für seinen Hochverrat<br />

zur Rechenschaft gezogen haben.“<br />

Und es gab noch einen Grund, weshalb<br />

Marie Pfisters Bande um jeden<br />

Preis schützen wollte. Doch den konnte<br />

sie ihrem Onkel unmöglich verraten.<br />

***<br />

Nachdem Marie die ersten fetten Gänse<br />

des Jahres geschlachtet, gerupft und<br />

im Hof aufgehängt hatte und nachdem<br />

das Brot gebacken und der Haushalt in<br />

Ordnung gebracht worden war, fand<br />

sie noch Zeit für einen Spaziergang<br />

durch die Stadt und einen Besuch auf<br />

dem Kirchhof. Ihre Eltern waren bei<br />

einem Brand gestorben, als Marie<br />

noch ein Kind gewesen war. Georg<br />

von Neuendorff hatte sich seiner<br />

Nichte angenommen, immerhin hatte<br />

er es als Gewandschneider zu einigem<br />

Wohlstand gebracht und genug Platz<br />

im Haus. Seine Frau war mit dem<br />

Erstgeborenen im Kindbett gestorben,<br />

und so hatten die beiden nur einander.<br />

Als Marie im Dunkeln vor ihrer Haustür<br />

stand, legte sich eine Hand auf ihre<br />

Schulter. Erschrocken fuhr sie herum -<br />

und blickte in jenes kecke Gesicht,<br />

das sie so sehr mochte und das sie<br />

allzu oft vermisste .


„Habe ich dich erschreckt?“, fragte<br />

Hans in unschuldigem Ton.<br />

„Mich nicht, aber wenn dich Strauchdieb<br />

jemand anderes sieht, könnte sich<br />

die ganze Stadt erschrecken“, sagte sie<br />

und zog ihn von der Eingangstür weg<br />

in den Hof.<br />

„Was machst Du hier? Mein Onkel ist<br />

Euretwegen außer sich vor Wut“, flüsterte<br />

Marie während sie sich an ihren<br />

Liebsten drückte.<br />

„Ach, war der Pfeffersack bei Euch?<br />

Ich habe gesehen, wie er aufs Stadttor<br />

zulief. Dem haben wir einen ordentlichen<br />

Schrecken eingejagt“.<br />

„Ja, und wir mussten ihm seinen Verlust<br />

ersetzen“, bemerkte Marie verärgert.<br />

„300 Denare hat uns der Kaufmann<br />

abgeluchst. Mein Onkel hat<br />

gesagt, dass er Euch am liebsten hängen<br />

würde.“<br />

Hans hätte fast laut losgelacht. „Er<br />

hätte den Kaufmann aufhängen sollen.<br />

Der Lump hatte gerade mal 20 Denare<br />

bei sich gehabt.“ Marie entgleisten die<br />

Gesichtszüge, was Hans‘ Heiterkeit<br />

nur noch beflügelte.<br />

Nach einer kostbaren schweigenden<br />

Weile der Zweisamkeit ließen sie einander<br />

los und Hans sagte: „Da wir ja<br />

ohnehin des Todes sind, könnten wir<br />

unseren Kredit beim gestrengen Georg<br />

von Neuendorff ja noch ein wenig<br />

ausreizen.“ Damit griff er nach zwei<br />

der nackten Gänse, die vom Balken<br />

herabhingen.<br />

„Übertreib es nur nicht“, mahnte Marie,<br />

nahm ihm eine Gans wieder ab<br />

und hauchte ihm einen Kuss auf die<br />

Wange. Sie wusste, dass er wieder<br />

gehen musste, bevor der Nachtwächter<br />

seine Runde machte und es zu gefährlich<br />

würde, über die Stadtmauer<br />

zu klettern.<br />

***<br />

Hans Pfister war glücklich. Trotz seiner<br />

Abtrünnigkeit hielt Marie, die er<br />

schon als Kind kannte, ihm die Treue<br />

und wartete auf bessere Zeiten, in<br />

denen sie heiraten und fortan alle Tage<br />

zusammen sein konnten. Wie sie<br />

das ihrem Onkel beibringen wollten,<br />

wusste er freilich noch nicht. Sein<br />

Vater hatte dagegen nur ein Schulterzucken<br />

übrig gehabt. „Ihr seid beide<br />

erwachsen.“


Nachdem Hans die Stadt im fahlen<br />

Mondlicht verlassen hatte und wie er<br />

nun - die Gans über der Schulter -<br />

querfeldein zurück zum Lager lief, sah<br />

er in einiger Entfernung ein rötliches<br />

Leuchten. Dort, hinter der Senke, lag<br />

Schönefeld - und der flackernde<br />

Schein, der darüber lag, verhieß nichts<br />

Gutes.<br />

Je näher er sich heranschlich, um so<br />

deutlicher konnte er erkennen, dass<br />

das Dorf überfallen und die Häuser<br />

gebrandschatzt worden waren.<br />

„Das war Dietrich von Quitzow“, meldete<br />

sich eine raue Stimme hinter ihm.<br />

Es war einer der Dörfler, die sich - aus<br />

reichlicher Erfahrung schlau geworden<br />

- beim ersten Klang von Hufen in<br />

die Büsche geschlagen hatten. Nun, da<br />

die Plünderer fort waren, kamen sie<br />

wieder aus ihren Verstecken und betrachteten<br />

fassungslos, wie Heim und<br />

Herd in Rauch aufgingen.<br />

***<br />

„Ich habe sie reden gehört. Wittbrietzen<br />

haben sie schon niedergemacht,<br />

nun unser Dorf, jetzt wollen sie gegen<br />

Beelitz ziehen“, berichtete der alte<br />

Mann, den Hans ins Lager mitgebracht<br />

hatte.<br />

Heinrich Pfister runzelte die Stirn,<br />

während er sich den Bericht anhörte.<br />

„Sieht ganz danach aus, als wollte der<br />

alte Dietrich eine alte Rechnung begleichen“,<br />

sinnierte Konrad Langfinger<br />

halblaut, während er einen<br />

Schluck aus dem Weinschlauch nahm.<br />

„Wie viele Männer hat er?“, fragte<br />

Heinrich den Mann, der den ihm angebotenen<br />

Wein dankbar entgegennahm.<br />

„Es müssen mindestens hundert, wenn<br />

nicht sogar zweihundert sein.“<br />

„Woher hat der Quitzow so viele Leute?“<br />

Heinrichs Frage richtete sich an<br />

niemanden Bestimmtes, doch sein<br />

Sohn antwortete: „In der Stadt erzählt<br />

man sich, das er jetzt im Dienste des<br />

Magdeburger Erzbischofs steht und<br />

für ihn in der Mark Unruhe stiftet.“<br />

Stehe Gott uns bei, wenn schon die<br />

Kirche gegen uns ist, dachte Heinrich,<br />

der doch insgeheim gehofft hatte, dass<br />

die kriegerischen Zeiten mit dem neuen<br />

Markgrafen endlich vorüber wären.<br />

„Wir müssen ihn aufhalten, Vater“,


verlangte Hans, der an Marie und an<br />

seine Mutter und Geschwister dachte,<br />

und erntete zustimmendes Gemurmel<br />

von den umstehenden Männern.<br />

„Und wie? Sollen wir, die wir nur<br />

zwei Dutzend sind, es mit 200 Reitern<br />

und Soldaten aufnehmen?“, warf Konrad<br />

ein.<br />

Es wurde still in der Runde und jeder<br />

schien für sich über eine Lösung nachzugrübeln.<br />

Denn obwohl sie alle der<br />

Stadt den Rücken gekehrt hatten, hatten<br />

doch viele von ihnen Familie innerhalb<br />

der Mauern - und hofften auf<br />

eine Rückkehr. Wenn nicht gleich, so<br />

doch zumindest irgendwann.<br />

Plötzlich sah Heinrich, wie sich auf<br />

dem Gesicht seines Sohnes ein breites<br />

Grinsen wuchs. „Bitte lass uns doch<br />

teilhaben, an dem, was dich so erheitert“,<br />

forderte er ihn auf.<br />

Selbstbewusst blickte Hans in die<br />

Runde: „Ich weiß, was diese Soldaten<br />

mehr fürchten als uns oder unsere<br />

Waffen.“<br />

***<br />

Der Tag war gerade angebrochen über<br />

Beelitz und von jenseits der Stadtmauern<br />

konnte Dietrich von Quitzow die<br />

Hähne krähen hören. Die Kälte hatte<br />

ihn kaum schlafen lassen, ebenso wie<br />

das Schmerzen seiner steifen Glieder -<br />

und die Frage, wie er den aufsässigen<br />

Beelitzern beikommen konnte.<br />

Die Stadtmauern waren hoch und von<br />

einem Graben umwehrt, dahinter lauerte<br />

eine - wenn auch nur kleine - Besatzung<br />

an Bogen- und Armbrüsten.<br />

Er würde eine Kanone kommen lassen<br />

müssen, doch ob die Magdeburger<br />

ihm eine schicken würden, stand in<br />

den Sternen.<br />

Dietrich war mittlerweile 60 Jahre alt,<br />

zwar kein Greis wie andere in diesem<br />

Alter, aber dennoch würde er nicht<br />

mehr lange die Kraft haben, sich für<br />

die herben Niederlagen zu rächen, die<br />

man ihm Zeit seines Lebens beigebracht<br />

hatte. Er würde sich beeilen<br />

müssen, all jene zu bestrafen, die einen<br />

Markgrafen aus Nürnberg unterstützen<br />

statt sich ihm unterzuordnen.<br />

Er bemerkte, wie Unruhe in sein Lager<br />

einkehrte. Zwischen den zum Teil<br />

noch schlafenden Männern kamen<br />

zwei Posten auf ihn zu, in der Beglei-


tung von Gestalten, die er nicht kannte.<br />

„Wer seid ihr“, wollte Quitzow wissen.<br />

„Ausgestoßene, die sich Euch anschließen<br />

wollen, Herr“, sagte der<br />

Anführer, den Quitzow aufgrund von<br />

dessen Narbe als erfahrenen Soldaten<br />

einschätzte.<br />

Heinrich Pfister musste nicht einmal<br />

lügen, als er vor dem legendären<br />

Raubritter seine Geschichte ausbreitete:<br />

Dass er ausgestoßen wurde aus<br />

Beelitz, weil er den Markgrafen ablehnte,<br />

dass er und seine Leute zum<br />

Raub getrieben wurden um zu Überleben<br />

und dass er wieder nach Beelitz<br />

hineinwollte.<br />

„Ihr kennt also diese Stadt und wisst<br />

einen Weg, wie man hineingelangt“,<br />

fragte Quitzow.<br />

„Ja, Herr. Morgen wechselt die Besatzung<br />

an den Toren. Männer, die ich<br />

kenne und die mir vertrauen. Sie würden<br />

mir öffnen.“<br />

Sollte es wirklich so einfach sein?<br />

Dietrich von Quitzow frohlockte innerlich<br />

bei der Aussicht, einfach durch<br />

das Stadttor zu marschieren und den<br />

Magistrat aus dem Rathaus zu zerren,<br />

um ihn vor aller Augen zu richten.<br />

Und immerhin konnte es nicht schaden,<br />

ein paar Männer mehr dabei zu<br />

haben - auch wenn die meisten von<br />

ihnen zerlumpt und ausgezehrt waren.<br />

Der Alte wusste, dass Entschlossenheit<br />

und Verbitterung solche körperlichen<br />

Mängel mehr als wett machten.<br />

„So sei es also: Ihr schließt Euch uns<br />

an, wir nehmen Beelitz ein und dafür<br />

mache ich Euch zu meinem Stadtvogt.“<br />

***<br />

Die Nachricht von der Belagerung<br />

hatte in Beelitz schnell die Runde<br />

gemacht. Als die ersten Einwohner<br />

morgens ihr Vieh auf die Weide treiben<br />

wollten, ließen die Wachen sie<br />

mit Verweis auf die Gefahr vor den<br />

Toren nicht mehr hinaus. Wie der<br />

erste Schnee, der in der Nacht eingesetzt<br />

hatte, legte sich eine düstere<br />

Stimmung über die Stadt. Die Menschen<br />

versteckten ihre Habseligkeiten,<br />

suchten sich Verschläge, in die sie<br />

notfalls fliehen konnten, und bekreu-


zigten sich immer wieder. Kaum jemand<br />

sprach ein Wort.<br />

Georg von Neuendorff stand auf dem<br />

Wehrgang der Mauer und spähte angestrengt<br />

nach Osten, um die Belagerer<br />

zu zählen. Doch was er dann sah,<br />

trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht.<br />

„Das muss Heinrich Pfister sein“,<br />

sagte der Hauptmann seiner Stadtwache,<br />

der neben ihm stand und in die<br />

gleiche Richtung schaute.<br />

Die großgewachsene Gestalt mit dem<br />

rabenschwarzen Bart war noch auf<br />

vierhundert Meter kaum zu verwechseln.<br />

„Ich hätte ihn einsperren sollen, solange<br />

ich die Gelegenheit dazu hatte“,<br />

sagte der Ratsherr und stieg hinab.<br />

Es gab jede Menge Arbeit: Ein Bote<br />

musste, solange es noch ging, aus der<br />

Stadt nach Brandenburg geschickt<br />

werden, um Verstärkung zu holen.<br />

Die Bürger mussten zu den Waffen<br />

gerufen und in Bereitschaft versetzt<br />

werden. Die Vorräte mussten geprüft<br />

und rationiert werden. Denn es sah<br />

ganz danach aus, als würden die<br />

nächsten Wochen nicht nur aufgrund<br />

der Winterkälte hart werden.<br />

***<br />

Für Heinrich Pfister und die Seinen<br />

war es nicht schwer gewesen, das<br />

Vertrauen der Belagerer zu gewinnen.<br />

Sie hatten ihre letzten Vorräte mitgebracht<br />

und teilten sie nun unter den<br />

Männern auf.<br />

Den ganzen Tag über halfen sie, das<br />

Feldlager weiter auszubauen: Latrinen<br />

wurden geschippt, Unterstände zum<br />

Schlafen aus Ästen und Zweigen bereitet<br />

und Wasser von der Nieplitz<br />

herbeigeschafft. Am Abend wärmte<br />

man sich am Feuer - wo sich vor allem<br />

Konrad Langfinger mit seinen<br />

vermeintlichen Ruhmestaten als Erzähler<br />

hervortat und für Heiterkeit<br />

sorgte. Heinrich hörte nur halb zu,<br />

denn er wusste, dass sein Freund weder<br />

dem Burggrafen Friedrich ein<br />

Auge ausgeschossen, noch seiner Gattin<br />

einen Kuss gestohlen, geschweige<br />

denn ihn überhaupt je zu Gesicht bekommen<br />

hatte. Er fragte sich vielmehr,<br />

ob der Plan seines Sohnes aufgehen<br />

würde.<br />

Als die Nacht vorangeschritten war


und Quitzows Mannen bis auf die<br />

Wachen schliefen, wurden Heinrich<br />

Pfisters Leute unbemerkt tätig. Unter<br />

den Decken förderte jeder zwei kleine<br />

Beutel aus seinen Taschen zutage, die<br />

er bislang versteckt gehalten hatte. In<br />

dem einen befand sich Blut von den<br />

geschlachteten Tieren, in dem anderen<br />

ein Gemisch aus Schlamm, Wasser<br />

und Dung. Das nun verteilte ein Jeder<br />

leise schweigend auf seinem Gesicht,<br />

unter den Armen und auf dem Bauch.<br />

***<br />

Am frühen Morgen gellte ein entsetzter<br />

Schrei durch das Lager. „Die Pest,<br />

sie haben die Pest zu uns gebracht!“<br />

Heinrich, Konrad, Hans und all die<br />

anderen boten ihr gesamtes schauspielerisches<br />

Können auf: Der eine stöhnte<br />

gequält vor sich hin, der andere<br />

hustete und spukte Blut, das er im<br />

Mund aufbewahrt hatte, und sie alle<br />

kratzten sich und wälzten sich und<br />

jaulten in wohl dosierten Abständen<br />

auf. Auch darüber hinaus wurden Geräusche<br />

laut, die so manch edler Dame<br />

eine lang anhaltende Ohnmacht beschert<br />

hätten.<br />

„Was ist das für ein Aufruhr?“, rief<br />

Dietrich von Quitzow, doch dann sah<br />

er das Elend: Männer mit schwarzen<br />

Beulen im Gesicht und am Körper, die<br />

nur eines bedeuten konnten: Niemand<br />

von ihnen würde das Ende des Tages<br />

noch erleben.<br />

„Der schwarze Tod, er ist über uns<br />

gekommen“, rief einer seiner Söldner<br />

und klaubte seine Habseligkeiten zusammen.<br />

„Niemand geht! Ihr werdet hierbleiben“,<br />

schrie Quitzow, doch kaum jemand<br />

achtete noch auf ihn. In alle<br />

Himmelsrichtungen verließen die<br />

Männer das Lager und auch ihm selbst<br />

blieb letztendlich nichts anderes übrig,<br />

als mit seinen engsten Vertrauten das<br />

Weite zu suchen.<br />

***<br />

„Sie ziehen ab! Onkel, sie ziehen ab!“<br />

Marie rüttelte an Neuendorffs Schulter.<br />

Er war, in eine Decke gehüllt,<br />

kurz eingeschlafen, doch nun folgte er<br />

seiner Nichte hellwach über den<br />

Wehrgang.<br />

Während man die Söldner, zu Fuß und<br />

zu Pferde, auseinander stieben sah,


lieb ein kleiner Pulk in dem feindlichen<br />

Lager liegen und schien sich hin<br />

und her zu rollen. Neuendorff kam<br />

schnell in den Sinn, wovor der Gegner<br />

geflohen war und er machte sich<br />

schon Gedanken darüber, wie er die<br />

Pestopfer unter die Erde bringen lassen<br />

sollte, ohne die Stadt in Gefahr zu<br />

bringen. Doch dann, als niemand anderes<br />

mehr in Sicht war, standen diese<br />

Gestalten auf und - war das möglich?<br />

- fingen an zu tanzen.<br />

Nur allmählich reifte dem Ratsherrn<br />

die Erkenntnis, dass Heinrich Pfister<br />

die Stadt gerettet hatte. Mit einer List,<br />

die zwar alles andere als ritterlich war,<br />

aber in ihrer Wirkung alle Bögen,<br />

welche die Stadt aufbieten konnte,<br />

übertraf.<br />

„Marie, wir werden die Tore öffnen.“<br />

„Onkel?“ Ungläubig schaute sie ihn<br />

an, immerhin musste sie gestern noch<br />

befürchten, dass sich ihr Hans gegen<br />

die Stadt verschworen hatte und seine<br />

Tage gezählt waren.<br />

„Wir öffnen die Tore und heißen sie<br />

willkommen. Es ist Zeit, sich auszusöhnen.“<br />

***<br />

Über die Wiese lief Marie ihnen entgegen.<br />

Hans Pfister breitete seine Arme<br />

aus und wirbelte sie lachend herum,<br />

während sein Vater erhobenen<br />

Hauptes vor den versammelten Stadtrat<br />

trat. „Sieht aus, als hätten wir den<br />

Feind vertrieben“, sagte er, weil ihm<br />

nichts Besseres zu sagen einfallen<br />

wollte.<br />

„Mit dem Gestank, mein lieber<br />

Pfister, hättet ihr sämtliche Armeen<br />

des Kaisers in die Flucht geschlagen“,<br />

entgegnete Georg von Neuendorff,<br />

dem es nicht gerade leicht fiel, nach<br />

so langer Zeit wieder mit Heinrich zu<br />

sprechen.<br />

Als hätte der seine Gedanken gelesen,<br />

deutete er auf Marie und Hans und<br />

bemerkte: „Denen macht ihr Wiedersehen<br />

scheinbar weniger zu schaffen.“<br />

„Darüber wird auch noch zu reden<br />

sein“, knurrte Neuendorff, doch dann<br />

hellte sich seine Miene auf: „Es wird<br />

Zeit, dass ihr wieder nach Hause<br />

kommt. Es wird langsam zu kalt, um<br />

draußen Räuber zu spielen. Und außerdem<br />

seid ihr auch schon ein wenig


zu alt für so etwas.“<br />

„Was ist mit meinen Leuten? Nicht<br />

jeder dürfte in Beelitz wohlgelitten<br />

sein“, sagte Heinrich.<br />

Neuendorff blickte in die Runde der<br />

Ratsleute und erntete zustimmendes<br />

Nicken. „Ihr Halunken habt die Stadt<br />

gerettet. Und das wiegt so manche<br />

frühere Sünde auf.“<br />

Hinter Heinrichs Rücken brach Jubel<br />

aus. Neuendorff brachte sie aber mit<br />

einer Geste zum Schweigen. „Obwohl<br />

- eine Sache wäre da noch, die wir aus<br />

der Welt schaffen müssen.“<br />

„Und zwar?“, fragte Heinrich alarmiert.<br />

„Eure Erscheinung“, lachte der Ratsmann.<br />

„So kann ich Euch unmöglich<br />

auf das große Fest vorlassen, das ich<br />

heute zu Euren Ehren zu geben gedenke!“<br />

***<br />

Und es wurde das größte Fest, das die<br />

Stadt bis dahin gesehen hatte - immerhin<br />

feierte man nicht nur den Sieg<br />

über die Belagerer, sondern auch das<br />

Wiedersehen mit jenen, die man so<br />

lang schon vermisste. An den prasselnden<br />

Kaminfeuern im großen Saal<br />

der Stadt wurde an jenem Abend so<br />

manche Freundschaft erneuert und so<br />

manche Familie wieder zusammengeführt.<br />

Vom Kirchturm her läuteten die<br />

Glocken und über der Stadt strahlten<br />

die Sterne so hell wie schon lange<br />

nicht mehr.<br />

„Du hättest mir eine Nachricht geben<br />

müssen, was ihr da draußen vorhabt.<br />

Ich habe mir unendliche Sorgen gemacht“,<br />

sagte Marie zu Hans, als sie<br />

sich abseits des Trubels niederließen.<br />

Der nahm ihre Hand und sagte: „Ich<br />

hoffe, dass Du mir auch das verzeihst.“<br />

Woraufhin Marie auf die feiernden<br />

Menschen blickte und feststellte:<br />

„Natürlich tue ich das. Von Herzen.<br />

Und ich glaube, dass wir gerade in<br />

diesen Tagen alle überlegen sollten,<br />

wem wir noch etwas zu vergeben haben.“


Schlussbemerkung:<br />

Vieles, aber nicht alles an dieser Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich beteiligten sich die<br />

Beelitzer 1414 an der Belagerung der Burg Beuthen, die Dietrich von Quitzow gehörte.<br />

Der wohl berühmteste Raubritter der Landesgeschichte war durch die Belehnung Friedrichs<br />

von Hohenzollern mit der wilden und gesetzlosen Mark Brandenburg unter Druck geraten,<br />

denn anders als seine bayrischen oder böhmischen Vorgänger hatte Friedrich vor, die Mark<br />

tatsächlich zu regieren. Während sich andere Adlige sich seinem Herrschaftsanspruch bald<br />

beugten, widersetzte der Quitzow sich weiterhin. Er zog zwei Jahre darauf - nun im Auftrag<br />

des Erzbischofes von Magdeburg - plündernd durch die Zauche. Als er Beelitz belagern wollte,<br />

soll unter seinen Leuten tatsächlich die Pest ausgebrochen sein, woraufhin er über Buchholz<br />

und (Treuen-)brietzen weiter nach Sachsen zog, wo er im Jahr darauf starb. Neuere Untersuchungen<br />

weisen übrigens darauf hin, dass die Quitzows nicht so schlimm waren wie ihr<br />

Ruf - keinesfalls schlimmer als andere Adlige im 15. Jahrhundert. Ihr Image verdanken sie<br />

allein der Hohenzollern-treuen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts.

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