31.12.2017 Aufrufe

LG München I, Endurteil v. 18.01.2017 – 9 O 5246_14

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />

<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />

Haftung des behandelnden Arztes bei<br />

unterbliebenem Abbruch der<br />

künstlichen Ernährung am Lebensende<br />

Normenketten:<br />

BGB § 280, § 611, § 823, § 1901a, § 1901b, § 1922<br />

ZPO § 286<br />

Leitsätze:<br />

1. Wird ein nicht mehr einwilligungsfähiger, unter Betreuung stehender Patient mittels<br />

PEG-Sonde künstlich ernährt und kann mit der künstlichen Ernährung allenfalls noch<br />

eine Lebenserhaltung für die Dauer der lebenserhaltenden Maßnahme ohne<br />

Aussicht auf Besserung oder zumindest Stabilisierung des gesundheitlichen<br />

Zustandes des Patienten erreicht werden, so stellt es keinen Behandlungsfehler dar,<br />

wenn der behandelnde Arzt die Ernährung des Patienten über die PEG-Sonde nicht<br />

selbst einstellt. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)<br />

2. Dem behandelnden Arzt erwächst in einem solchen Fall allerdings aus § 1901b<br />

Abs. 1 BGB die das Behandlungsverhältnis gleichfalls prägende Pflicht, den Betreuer<br />

davon in Kenntnis zu setzen, dass ein über die reine Lebenserhaltung<br />

hinausgehendes Therapieziel nicht mehr erreichbar ist, und mit ihm vor diesem<br />

Hintergrund zu erörtern, ob die PEG-Sonden-Ernährung fortgesetzt bzw.<br />

abgebrochen wird. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)<br />

3. Ein Verstoß des Arztes gegen diese Pflicht führt jedenfalls dann nicht zu einem<br />

Schadensersatzanspruch des Patienten, wenn nicht mit der nach § 286 ZPO<br />

erforderlichen Gewissheit festgestellt werden kann, dass im Falle einer Erörterung<br />

zwischen Arzt und Betreuer die Entscheidung für eine Beendigung der PEG-<br />

Sondenernährung tatsächlich getroffen worden wäre. (Rn. 39 <strong>–</strong> 46) (redaktioneller<br />

Leitsatz)<br />

4. Die Frage, ob im Falle der Erörterung die Entscheidung für eine Beendigung der<br />

PEG-Sondenernährung tatsächlich getroffen worden wäre, erfordert eine konkrete,<br />

abwägende Betrachtung im jeweiligen Einzelfall, wobei sich die Entscheidung an den<br />

Voraussetzungen der § 1901a, § 1901b BGB zu orientieren hat (Anschluss BGH<br />

BeckRS 2010, 29891 Rn. 12). Danach ist zunächst der vom Patienten in einer<br />

Patientenverfügung niedergelegte Wille und - in Ermangelung<br />

einer Patientenverfügung - der mutmaßliche Willen des Patienten zu ermitteln. Eine<br />

für die Annahme eines Behandlungsabbruchs sprechende Vermutung<br />

beratungsgerechten Verhaltens gibt es nicht. (Rn. 41 <strong>–</strong> 43) (redaktioneller Leitsatz)<br />

Schlagworte:<br />

Arzthaftung, Schadensersatz, Schmerzensgeld, Behandlungsfehler,<br />

lebenserhaltende Maßnahme, lebensverlängernde Maßnahme, Aufklärungsfehler,<br />

Betreuer, Patientenverfügung, mutmaßlicher Wille<br />

Fundstellen:<br />

FamRZ 2017, 1716<br />

LSK 2017, 112362<br />

MedR 2017, 889


<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />

Tenor<br />

1. Die Klage wird abgewiesen.<br />

2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.<br />

3. Das Urteil ist für den Beklagten - hinsichtlich der Kosten - gegen<br />

Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags<br />

vorläufig vollstreckbar.<br />

Tatbestand<br />

1<br />

1. Die Parteien streiten um Schadensersatz und Schmerzensgeld im Zusammenhang<br />

mit der künstlichen Ernährung des Vaters des Klägers durch eine PEG-Sonde in den<br />

Jahren 2010 und 2011.<br />

2<br />

Der Kläger ist Sohn und Alleinerbe des am 19.10.2011 verstorbenen … Der Beklagte<br />

ist niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin und betreute seit dem Frühjahr 2007<br />

den Vater des Klägers (im Folgenden: der Patient), Herrn …, hausärztlich.<br />

3<br />

Der am 25.06.1929 geborene Patient stand wegen eines dementieilen Syndroms von<br />

September 1997 bis zu seinem Tod unter Betreuung. Die Betreuung war einem<br />

Münchner Rechtsanwalt übertragen und umfasste sowohl die Gesundheitsfürsorge<br />

als auch die Personensorge. Seit jedenfalls 2006 lebte der Patient in einem<br />

Pflegeheim. Während eines stationären Klinikaufenthaltes wurde ihm am 15.09.2006<br />

wegen Mangelernährung und Austrocknung des Körpers (Exsikkose) eine PEG-<br />

Sonde angelegt, durch welche er bis zu seinem Tod künstlich ernährt wurde.<br />

4<br />

Der Patient hatte weder eine Patientenverfügung errichtet, noch ließ sich - insoweit<br />

unstreitig -sein tatsächlicher oder mutmaßlicher Wille hinsichtlich des Einsatzes<br />

lebenserhaltender Maßnahmen anderweitig feststellen.<br />

5<br />

Bereits im Jahr 2003 war die Demenz weit fortgeschritten und es wurde eine<br />

mutistische Störung diagnostiziert, auf Grund derer eine Kommunikation kaum mehr<br />

möglich und seit jedenfalls 2008 gänzlich unmöglich war. Bereits seit 2003 war der<br />

Patient wegen Kontrakturen nicht mehr zur selbstständigen Fortbewegung fähig. Im<br />

Juni 2008 wurden zudem eine spastische Tetraparese und ein Nackenrigor<br />

diagnostiziert. Am 09.02.20.07 wurden dem Patienten alle bis auf fünf Zähne<br />

gezogen. Ab November 2008 wurden dem Patienten von dem Beklagten regelmäßig<br />

Tramadol Tropfen, ein Schmerzmittel auf Opioidbasis, verschrieben.<br />

6<br />

Im streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.01.2010 bis zum 19.10.2011 hatte der<br />

Patient regelmäßig Fieber, Atembeschwerden und wiederkehrende Druckgeschwüre<br />

(Dekubitus). Viermal wurde eine Lungenentzündung festgestellt (16.07.2010,<br />

01.11.2011, 20.01.2011 und 04.10.2011). Vom 28.05.2011 bis zum 18.06.2011<br />

befand sich der Patient in stationärer Behandlung wegen einer Cholezystitis mit zwei<br />

Abszessen. In Anbetracht seines schlechten Allgemeinzustands wurde eine<br />

operative Intervention unterlassen. Am 08.11.2011 erfolgte eine stationäre Aufnahme<br />

aufgrund einer Aspirationspneumonie. Obwohl die Antibiose nicht anschlug und der<br />

Zustand sich weiter verschlechterte, wurde auf eine intensivmedizinische<br />

Behandlung verzichtet. Am 19.11.2011 verstarb der Patient im Krankenhaus.


<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />

Hinsichtlich der Einzelheiten der Krankengeschichte wird auf die Klageschrift vom<br />

11.03.20<strong>14</strong> und die bei den Gerichtsakten befindlichen Behandlungsunterlagen<br />

Bezug genommen.<br />

7<br />

Der Kläger trägt vor, obschon in einem Arztbrief vom 18.09.2006 aus den<br />

Behandlungsunterlagen des Klinikums … dokumentiert sei, die Anlage sei „auf<br />

ausdrücklichen Wunsch des Sohnes und des Betreuers“ durchgeführt worden, habe<br />

der Kläger zu keinem Zeitpunkt der Anlage der PEG-Sonde oder der Fortführung der<br />

künstlichen Ernährung zugestimmt.<br />

8<br />

Jedenfalls aber sei die künstliche Ernährung seines Vaters mittels einer PEG-Sonde<br />

ab dem 01.01.2010 nicht mehr medizinisch indiziert gewesen. Sie habe nämlich<br />

allein zu einer sinnlosen Verlängerung der mit den Krankheiten des Patienten<br />

einhergehenden Leiden und Schmerzen geführt, ohne dass eine Aussicht auf<br />

Besserung seines gesundheitlichen Zustands bestanden habe. Spätestens im<br />

streitgegenständlichen Zeitraum sei die Krankheit des Patienten irreversibel und zum<br />

Tode führend gewesen, so dass sich die Behandlung als bloße Herauszögerung des<br />

Sterbens darstelle. Im Sterbeprozess verböte sich eine lebenserhaltende und damit<br />

sterbensverlängernde Maßnahme als nicht indiziert. Der Beklagte sei daher<br />

verpflichtet gewesen, spätestens ab Anfang 2010 das Therapieziel dahingehend zu<br />

ändern, das Sterben des Patienten unter palliativmedizinischer Betreuung durch<br />

Beendigung aller nur lebensverlängernden therapeutischen Maßnahmen -<br />

insbesondere der Sondenernährung zuzulassen.<br />

9<br />

Die künstliche Ernährung über die PEG-Sonde ohne rechtfertigende Indikation stelle<br />

deshalb einen rechtswidrigen körperlichen Eingriff und damit einen Behandlungfehler<br />

dar. Der Begriff der medizinischen Indikation sei durch fachärztliche Standards sowie<br />

allgemeine Wertvorstellungen determiniert und habe sich dahingehend entwickelt,<br />

dass eine Lebensverlängerung um jeden Preis nicht angezeigt sei, nur weil sie im<br />

Bereich des Machbaren liege. In diesem Zusammenhang sei es auch unerheblich, ob<br />

die Maßnahme dem Willen des Patienten entsprochen habe, da es auf diesen nur<br />

ankomme, wenn eine Behandlung indiziert sei. Dies werde auch durch den im<br />

September 2009 eingeführten neuen § 1901a BGB deutlich. Die Kenntnis von der<br />

Rechtslage sei dem Beklagten als Arzt auch zumutbar gewesen.<br />

10<br />

Daher stehe dem Kläger aus ererbtem Recht ein Anspruch seines Vaters auf<br />

Schmerzensgeld zu, welches mit mindestens 100.000,00 € zu bemessen sei. Indem<br />

22 Monate lang die Ernährung über die PEG-Sonde fortgeführt worden sei, habe<br />

eine fortgesetzte Körperverletzung stattgefunden. Dadurch habe der Beklagte auch<br />

die Fortdauer der Krankheit und der damit verbündenen Schmerzen und Leiden<br />

verursacht. Darin liege überdies eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts des<br />

Patienten.<br />

11<br />

Ferner habe der Kläger Anspruch auf Ersatz der im streitgegenständlichen Zeitraum<br />

entstandenen Behandlungs- und Pflegeaufwendungen in Höhe von 52.592,00 €, die<br />

ohne die rechtswidrige Behandlung nicht entstanden wären, da der Patient dann<br />

nicht gelebt hätte. Dieser Schadensersatz sei - wie bei der Rechtsprechung zum<br />

„Kind als Schaden“ - streng von einem Schadensersatz für das Leben zu<br />

unterscheiden. Anders als beim Schadenersatzanspruch eines nicht abgetriebenen,<br />

mit einer Behinderung geborenen Kindes habe der Patient im vorliegenden Fall nur<br />

auf Grund der Behandlung des Beklagten ein wrongful Hfe erleiden müssen. In den


<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />

„Kind als Scha-den' [ -Fä!len habe der Arzt hingegen die Schädigung nicht verursacht,<br />

sondern das Kind wäre bei natürlichem Verlauf ohne Abtreibung mit der Behinderung<br />

geboren worden. Hinsichtlich der Berechnung der Schadenshöhe wird wiederum auf<br />

die Klageschrift vom 11.03.20<strong>14</strong> (dort S. 29 . 31) Bezug genommen.<br />

12<br />

Schließlich bestehe ein Anspruch auf Ersatz der Kosten für die außergerichtliche<br />

Rechtsverfolgung in Höhe von 1.383,61 €; Auch insoweit wird für die Einzelheiten der<br />

Berechnung auf die Klageschrift vom 11.03.20<strong>14</strong> (dort S. 31) Bezug genommen.<br />

13<br />

Der Kläger hat zunächst - und insoweit vorsorglich - auch Behandlungsfehler auf<br />

Grund von unzureichenden palliativen Maßnahmen gerügt, diesen Vorwurf allerdings<br />

in der mündlichen Verhandlung vom 28.11.2016 ausdrücklich für die erste Instanz<br />

nicht mehr aufrecht erhalten.<br />

<strong>14</strong><br />

Der Kläger beantragt,<br />

1.<br />

den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger ein der Höhe nach in das<br />

Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch<br />

100.000,00 €, nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über<br />

dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen, und<br />

2.<br />

den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 52.592,00 € nebst Zinsen hieraus<br />

in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit<br />

Rechtshängigkeit sowie 1.383,61 € als außergerichtliche Kosten der<br />

Rechtsverfolgung nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über<br />

dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.<br />

15<br />

Der Beklagte beantragt,<br />

die Klage abzuweisen.<br />

16<br />

Der Beklagte trägt vor, die künstliche Ernährung über die Sonde sei medizinisch<br />

indiziert gewesen. Der Beklagte habe den Pattenten nach dem Standard einer guten<br />

ärztlichen Behandlung versorgt. Die PEG-Sonde sei zudem zunächst auf Wunsch<br />

des Klägers und des Betreuers noch vor Übernahme der Behandlung durch den<br />

Beklagten gelegt worden. An den Beklagten seien auch weder der Kläger noch der<br />

Betreuer je mit der Frage nach einem Abbruch der Sondenernährung herangetreten.<br />

17<br />

Da die Rechtslage keineswegs eindeutig gewesen und der Wunsch nach einem<br />

Behandlungsabbruch weder vom Betreuer noch vom Sohn gegenüber dem<br />

Beklagten geäußert worden sei, fehle es auch an einem Verschulden des Beklagten.<br />

Es sei einem Hausarzt nicht zuzumuten, eine künstliche Ernährung eigenmächtig<br />

abzubrechen. Dies werde auch durch die jüngere Rechtsprechung bestätigt.<br />

Insbesondere führe die Tatsache, dass ein Behandlungsabbruch unter Umständen<br />

vertretbar sei, nicht zu einer entsprechenden Pflicht des Hausarztes, den Abbruch<br />

auch vorzunehmen.<br />

18<br />

Dessen ungeachtet habe der Beklagte am 20.01.2011 mit dem Betreuer tatsächlich<br />

ein Gespräch über die Frage der Fortführung der PEG-Sonden-Ernährung geführt;<br />

der Betreuer habe dies ausdrücklich gewünscht.<br />

19


<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />

Auf die Einrede des Beklagten hin hat die Kammer mit Beschluss vom 11.07.20<strong>14</strong><br />

die Leistung einer Prozesskostensicherheit angeordnet. Der Kläger hat daraufhin am<br />

06.11.20<strong>14</strong> eine Geldsumme von 20.000,00 € beim Amtsgericht <strong>München</strong> (Az. 38 HL<br />

1048/<strong>14</strong>) hinterlegt.<br />

20<br />

Die Kammer hat Beweis erhoben durch Erholung eines allgemeinmedizinischen<br />

Sachverständigengutachtens. Für die Einzelheiten des Gutachtens wird auf das<br />

schriftliche Gutachten von … und … vom 20.01.2016 (Bl. 130 - 153 d.A.) und auf die<br />

Erläuterungen von … in der mündlichen Verhandlung vom 28.11.2016 Bezug<br />

genommen.<br />

21<br />

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Parteivorbringens wird auf<br />

die gewechselten Schriftsätze der Parteien mit Anlagen und auf das Protokoll der<br />

mündlichen Verhandlung vom 28.11.2016 Bezug genommen.<br />

Entscheidungsgründe<br />

22<br />

Die zulässige Klage erweist sich als unbegründet.<br />

23<br />

1. Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist das Landgericht <strong>München</strong> I örtlich und<br />

sachlich gem. §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG, 12, 13 ZPO zuständig Der Kläger hat<br />

auch auf die vom Beklagten erhobene Einrede Prozesskostensicherheit gem. § 110<br />

ZPO geleistet.<br />

24<br />

2. Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen<br />

Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadenersatz aus ererbtem Recht (§ 1922 Abs.<br />

1 BGB), und zwar weder unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung der ärztlichen<br />

Pflichten aus dem Behandlungsvertrag (§§ 611, 280 BGB) zwischen dem Vater des<br />

Klägers und dem Beklagten noch nach Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB). Denn nach dem<br />

Ergebnis der Beweisaufnahme hat der Beklagte zwar fehlerhaft nicht auf die<br />

spätestens ab Beginn des Jahres 2010 nicht mehr gegebene Indikation für eine<br />

Ernährung über die PEG-Sonde hingewiesen, allerdings hat der Kläger den<br />

Nachweis dafür, dass dies ursächlich für einen bei seinem Vater eingetretenen<br />

Schaden geworden wäre, nicht zu führen vermocht.<br />

25<br />

2.1 Der Arzt schuldet dem Patienten diejenige Behandlung, die dem zum Zeitpunkt<br />

der Behandlung anerkannten und gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft<br />

entspricht. Objektiver Maßstab dafür ist der Standard eines berufserfahrenen<br />

Facharztes, also das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen Praxis und<br />

Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte, von einem<br />

durchschnittlichen Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können (BGH, Urteil v.<br />

19.04.2000 - Az. 3 StR 442/99 - Rz. 37 - alle Entscheidungen, sofern nicht anders<br />

gekennzeichnet, zitiert nach juris-Datenbank). Der Standard gibt Auskunft darüber,<br />

welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der<br />

konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs<br />

im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen<br />

Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der<br />

zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist. und sich in der<br />

Erprobung bewährt hat (BGH, Urteil v. 15.04.20<strong>14</strong> - Az. VI ZR 382/12 -Rz. 11).


<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />

26<br />

Diesen Maßstab zugrunde gelegt, stellt sich die Behandlung des Vaters des Klägers<br />

durch die Ernährung mittels einer PEG-Sonde jedenfalls ab dem 01.01.2010 ohne<br />

eine ausdrückliche Erörterung der Situation mit dem Betreuer des Patienten als nicht<br />

mehr dem medizinischen Standard entsprechend dar.<br />

27<br />

2.2.1 Wie alle ärztlichen Eingriffe stellen auch lebenserhaltende Maßnahmen<br />

einschließlich der künstlichen Ernährung durch eine PEG-Sonde<br />

rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in die körperliche Integrität des Patienten dar<br />

(BGH v. 17.03.2003 - Az. XII ZB 2/03 - Rz. 53; BGH v. 08.06.2005 - Az. XII ZR<br />

177/03 - Rz. 9 ff.; vgl. auch Hufen, NJW 2001, S. 849/853 f.; Lipp, MedR 2015, s.<br />

762/764). Eine lebenserhaltende ärztliche Maßnahme ist nur gerechtfertigt, wenn sie<br />

indiziert ist und dem Willen des Patienten entspricht (Lipp in Laufs/Katzenmeier/Lipp,<br />

Arztrecht, 6. Aufl., Kapitel VI, Rn. 92, 94 m. w. Nachw.). Dies gilt nicht nur für das<br />

ursprüngliche Legen, sondern auch für die Beibehaltung der Sonde, die somit als<br />

andauernder Eingriff einer fortwährenden Indikation und Einwilligung des Patienten<br />

bzw. seines Vertreters (§ 1901 a Abs. 2 BGB) bedarf. Wie sich aus §§ 1901b Abs. 1<br />

S. 1,1904 Abs. 2 BGB ergibt, stellt sich die Frage nach der Einwilligung jedoch erst<br />

dann, wenn und soweit die Indikation gegeben ist (BT-Drucks 16/133<strong>14</strong>, S. 20; Kern<br />

in Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl., § 54 b, Rz. 7; Palandt/Götz, BGB,<br />

76. Aufl., § 1901 b, Rz. 1; so schon zur Rechtslage vor Einführung der §§ 1901 a ff.<br />

BGH v. 17.03.2003 - Az. XII ZB 2/03 - Rz. 55).<br />

28<br />

Damit kommt der Indikation zunächst eine weichenstellende Bedeutung zu. Die<br />

medizinische Indikation wird verstanden als das fachliche Urteil über den Wert oder<br />

Unwert einer medizinischen Behandlungsmethode in ihrer Anwendung auf den<br />

konkreten Fall (BGH v. 17.03.2003 - Az. Xii ZB 2/03 - Rz. 53). Hinsichtlich der<br />

Indikation lebenserhaltender Maßnahmen wurde und wird teilweise noch immer in<br />

Anlehnung an die sog. Kemptener Entscheidung des BGH vom 13.09.1994 (Az. 1<br />

StR 357/94 - Rz. 10 ff.) zwischen sterbenden Patienten und Patienten mit infauster<br />

Prognose, bei denen der Tod noch nicht unmittelbar bevorsteht, unterschieden. Der<br />

BGH hat die Sterbephase den damaligen Richtlinien der Bundesärztekammer zur<br />

Sterbehilfe folgend als Zustand definiert, in dem die Grundleiden des Patienten<br />

irreversibel sind, einen tödlichen Verlauf genommen haben und der Tod in kurzer Zeit<br />

eintreten wird (BGH v. 13.09.1994 - Az. 1 StR 357/94 - Rz. 10; BGH v. 17.03.2003 -<br />

Az. XII ZB 2/03 - Rz. 41).<br />

29<br />

Sowohl in der Medizin als auch in der Rechtswissenschaft setzt sich jedoch<br />

zunehmend die Auffassung durch, dass es nicht allein auf das schwer bestimmbare<br />

Kriterium der unmittelbaren Todesnähe ankommen kann und die Indikation vielmehr<br />

auch in den anderen Fällen fehlen kann, wenn die lebenserhaltende Maßnahme<br />

Leiden lediglich verlängert (BGH v. 25.06.2010 - Az. 2 StR 454/09 - Rz. 15 ff.; Lipp,<br />

a. a. O., Rz.102 und Rz. 111, jeweils m.w.N.; Knauer/Brose, a. a. O., § 216 StGB,<br />

Rn. 17; Palandt/Götz, § 1901 a, Rz. 28; Coeppicus, NJW 2013, S. 2939/2941; so<br />

auch die „Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung, DÄBl 2011, A<br />

346, A 347). Anders als das scheinbar objektive Kriterium der unmittelbaren<br />

Todesnähe ermöglicht eine sorgfältige einzelfallbezogene Abwägung im Rahmen der<br />

Indikationsstellung einen umfassenden Schutz aller der genannten Rechte des<br />

Patienten (kritisch zum Kriterium der Todesnähe auch Stackmann, NJW 2003, S.<br />

1568/1568).<br />

30


<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />

Vor diesem Hintergrund ist für die Indikation einer lebensverlängernden<br />

Behandlungsmaßnahme entscheidend, welches Behandlungsziel - neben der rein<br />

zeitliche Verlängerung, die durch eben diese Maßnahme bewirkt wird - verfolgt wird.<br />

Zum Teil wird in diesem Zusammenhang die Auffassung vertreten, dass bei der<br />

Festlegung dieses Zieles bereits ein abwägendes Zusammenwirken zwischen dem<br />

Arzt und dem Patienten bzw. seinem Betreuer im Sinne von § 1901b BGB<br />

erforderlich sei (so Lipp, MedR 2015, S. 762/765). Allerdings ist dies insoweit<br />

missverständlich, als dies nahelegt, dass die Indikation für eine Maßnahme und die<br />

Einwilligung in ihre Durchführung als ein abwägender Gesamtbetrachtungsvorgang<br />

zu verstehen seien. Tatsächlich ist aber zunächst einmal für die Festlegung eines<br />

Behandlungsziels in Abstimmung mit dem Patienten bzw. seinem Betreuer die<br />

Klärung erforderlich, welche Ziele medizinisch überhaupt verfolgt werden können;<br />

erst daran kann dann die Bestimmung des Behandlungsziels und die Einwilligung<br />

und die sich danach ergebenden Maßnahmen anknüpfen.<br />

31<br />

2.2.2 Diese Erwägungen zugrunde gelegt, bestanden für den Vater des Klägers<br />

jedenfalls ab dem Anfang, des Jahres 2010 keine mit der PEG-Sonden-Ernährung<br />

verfolgbaren Behandlungsziele mehr, die über eine Verlängerung des Lebens über<br />

die Dauer eben der Maßnahme hinausgingen.<br />

32<br />

Die Sachverständigen … und … haben bereits in ihrem schriftlichen Gutachten vom<br />

20.01.2016 (dort S. 20 - 22) ausgeführt, dass jedenfalls ab dem Jahr 2010,<br />

möglicherweise früher, u.U. sogar schon im Jahr 2006 kein Therapieziel im<br />

eigentlichen Sinne mehr bestanden habe, weil es keinerlei begründete Hoffnung und<br />

Aussicht auf eine Besserung des Zustandes gegeben habe. Nach gängigen Leitlinien<br />

habe daher keine objektive Indikation für die künstliche Ernährung mehr vorgelegen.<br />

33<br />

Soweit die Sachverständigen in ihrem schriftlichen Gutachten allerdings noch davon<br />

ausgegangen sind, dass der Indikationsbegriff nur „schwer abbildbar“ gewesen sei,<br />

„da der Wille des Patienten nicht zu ermitteln“ gewesen sei (Gutachten, S. 21), und<br />

damit eine klare Verneinung der Indikation nicht möglich sei, hat der Sachverständige<br />

… in der mündlichen Verhandlung vom 28.11.2016 deutlich gemacht, dass die PEG-<br />

Sonden-Ernährung zur Vermeidung von Komplikationen bei der Ernährung gewählt<br />

worden sei, damit aber tatsächlich auch nur die Ernährung habe aufrecht erhalten<br />

werden können, wohingegen weitergehende Ziele nicht damit erreichbar gewesen<br />

seien (Protokoll, S. 3). Damit sei als Ziel der Sondenernährung die Vermeidung von<br />

Komplikationen bei der Ernährung anzusehen. Die Sichtweise auf darüber<br />

hinausgehende, mit der künstlichen Ernährung zu verfolgende Therapieziele habe<br />

sich demgegenüber verändert, so dass nicht nur das reine Aufrechterhalten des<br />

Lebens im Vordergrund stehe, sondern insgesamt die mit der Maßnahme verfolgten<br />

Ziele differenzierter betrachtet würden. Für den Vater des Klägers habe sich die<br />

Situation damit so dargestellt, dass er bei einer Beendigung der PEG-<br />

Sondenernährung im Jahr 2010 an den Folgen der Beendigung verstorben wäre,<br />

andere Gründe für ein alsbaldiges Versterben aber nicht bestanden hätten, zugleich<br />

aber sein Befinden auf Grund der Grunderkrankungen zunehmend schlechter<br />

geworden sei - ohne Aussichten auf eine Änderung der Situation (Protokoll, S. 4).<br />

34<br />

Auf Grund dieser Ausführungen des Sachverständigen steht für die Kammer zur<br />

Überzeugung fest, dass eine medizinisch zweifelsfreie Indikation für die Ernährung<br />

mit der PEG-Sonde jedenfalls ab Anfang 2010 nur insoweit bestanden hat, als damit<br />

Komplikationen, die bei anderen Formen der Ernährung drohten und in der


<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />

Vergangenheit z.T. schon eingetreten waren wie etwa Aspirationspneumonien,<br />

vermieden werden konnten. Ein darüber hinausgehendes, mit der künstlichen<br />

Ernährung als solches verfolgbares Therapieziel bestand demgegenüber nicht mehr,<br />

sondern es konnte allenfalls eine Lebenserhaltung für die Dauer der<br />

lebenserhaltenden Maßnahme ohne Aussicht auf Besserung oder zumindest<br />

Stabilisierung des gesundheitlichen Zustandes des Vaters des Klägers erreicht<br />

werden.<br />

35<br />

2.2.3 In dieser Situation war der Beklagte nicht verpflichtet, selbst die Ernährung mit<br />

der PEG-Sonde abzubrechen.<br />

36<br />

Zwar kann regelmäßig eine nicht indizierte Behandlung weder durch eine<br />

Patientenverfügung noch durch einen an Stelle des Patienten berufenen<br />

Entscheidungsträger angeordnet werden (Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht,<br />

§ 216 StGB, Rz. 19, § 223 StGB, Rz. 61; Palandt/Götz, § 1901 a, Rz. 29; Coeppicus,<br />

NJW 2013, S. 2939/2941). Vorliegend geht es aber nicht um die erstmalige<br />

Anordnung einer Behandlung sondern um die Entscheidung über ihre Beendigung.<br />

37<br />

Eine Verpflichtung, die PEG-Sonden-Ernährung abzubrechen, oder auch nur eine<br />

Empfehlung dazu ergibt sich weder aus ärztlichen Leitlinien, wie die<br />

Sachverständigen … und … in ihrem schriftlichen Gutachten vom 20.01.2016 (dort S,<br />

<strong>14</strong>/15) noch aus der vom BGH entwickelten Rechtsprechung oder aus Gesetz.<br />

Soweit der BGH in seiner Entscheidung vom 17.03.2003 (Az. XII ZB 2/03 - Rz. 55)<br />

etwa ausgeführt, hat, dass bei Todesnähe und fehlenden Therapiezielen ein Arzt<br />

lebenserhaltende Maßnahmen einstellen dürfe, bezog sich dies auf die Frage, ob<br />

eine Beendigung strafbar sei, nicht ob eine Verpflichtung dazu bestehe. Nunmehr hat<br />

jedoch der Gesetzgeber mit den im Jahr 2009 neu eingeführten §§ 1901a ff. BGB<br />

eine ausdrückliche Regelung getroffen, die dem behandelnden Arzt gerade nicht den<br />

eigenverantwortlichen Abbruch einer Behandlung auferlegt, sondern vielmehr die<br />

Verpflichtung, die Indikation für die Behandlung regelmäßig zu prüfen und mit dem<br />

Betreuer die Fortsetzung der Maßnahme zu erörtern. Dementsprechend stellt es sich<br />

auch nicht als behandlungsfehlerhaft dar, dass der Beklagte im vorliegenden Fall<br />

nicht selbst die Ernährung des Patienten über die PEG-Sonde beendet hat.<br />

38<br />

2.2.4 Wohl aber stellt es sich als eine Verletzung der ihm aus § 1901b Abs. 1 BGB<br />

erwachsenden, neben den medizinischen Standards gleichfalls das<br />

Behandlungsverhältnis prägenden Pflicht dar. Denn danach hat der behandelnde<br />

Arzt zu prüfen, welche ärztlichen Maßnahmen im Hinblick auf den Gesamtzustand<br />

und die Prognose des Patienten indiziert ist, und die dann nach § 1901a BGB zu<br />

treffende Entscheidung über die Fortsetzung der Maßnahme mit dem Betreuer zu<br />

erörtern. Es handelt sich dabei um eine von dem Arzt in eigener Verantwortung<br />

vorzunehmende Prüfung und Erörterung (BGH v. 10.11.2010 - Az. 2 StR 320/10 -<br />

Rz. <strong>14</strong>). Vorliegend wäre der Beklagte nach dem oben Dargelegten verpflichtet<br />

gewesen, jedenfalls ab Anfang 2010 den Betreuer des Patienten davon in Kenntnis<br />

zu setzen, dass ein über die reine Lebenserhaltung hinausgehendes Therapieziel<br />

nicht mehr erreichbar war, und mit ihm vor diesem Hintergrund zu erörtern, ob die<br />

PEG-Sonden-Ernährung fortgesetzt bzw. abgebrochen werden soll. Dies ist unstreitig<br />

nicht geschehen und stellt damit eine Verletzung der Verpflichtung aus § 1901b Abs.<br />

1 BGB und somit einen Behandlungsfehler dar.<br />

39


<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />

2.3 Gleichwohl lässt sich nicht mit der gem. § 286 ZPO erforderlichen Gewissheit zur<br />

Überzeugung der Kammer feststellen, dass dieser Behandlungsfehler ursächlich<br />

dafür geworden ist, dass die PEG-Sonden-Ernährung bis zum Versterben des Vaters<br />

des Klägers am 19.10.2011 fortgesetzt worden ist.<br />

40<br />

Denn anders als bei therapeutischen Maßnahmen, die erst zu ergreifen sind,<br />

bestand hier schon seit geraumer Zeit die Ernährung über die PEG-Sonde. Es hätte<br />

also vielmehr einer aktiven Entscheidung bedurft, die Ernährung einzustellen. Dass<br />

eine Erörterung zwischen dem Beklagten und dem Betreuer des Patienten über die<br />

mit der PEG-Sonden-Ernährung nur noch erreichbaren Ziele, nämlich die reine<br />

Lebenserhaltung bei kontinuierlicher Verschlechterung des allgemeinen<br />

Gesundheitszustandes, zu einer Entscheidung im Sinne von § 1901a BGB, die<br />

Ernährung zu beenden, geführt hätte, ist vom Kläger nicht zur Überzeugung<br />

dargetan und nachgewiesen worden.<br />

41<br />

Zum einen kann - entgegen der Ansicht des Klägers - nicht in jedem Fall davon<br />

ausgegangen werden, dass eine Behandlung, mit der kein weitergehendes<br />

Therapieziel verfolgt werden kann, im konkreten Fall zweifelsfrei unterlassen werden<br />

muss. Gerade lebenserhaltende Maßnahmen berühren unmittelbar das zentrale und<br />

fundamentale Grundrecht auf Leben. In diesem Sinne schützt jede das Leben<br />

erhaltende Maßnahme das Grundrecht auf Leben. Ob dieses Leben „lebenswert“,<br />

d.h. aus Sicht des Betroffenen wert ist, auch tatsächlich durch eine künstliche<br />

Ernährung aufrecht erhalten zu werden, ist eine höchstpersönliche Entscheidung.<br />

Daraus folgt einerseits nicht, dass ein Leben ohne Aussicht auf Besserung in jedem<br />

Fall erhalten werden müsste. Andererseits folgt aber auch nicht, dass es nicht<br />

erhalten werden dürfte. Vielmehr erfordert die Frage eine konkrete, abwägende<br />

Betrachtung im jeweiligen Einzelfall, wobei sich die Entscheidung an den<br />

Voraussetzungen der §§ 1901a, 1901b BGB zu orientieren hat (BGH v. 10.11.2010 -<br />

Az. 2 StR 320/10 - Rz. 12; so zuvor bereits BGH v. 25.06.2010 - Az. 2 StR 454/09 -<br />

Rz. 24).<br />

42<br />

Nach § 1901 a Abs. 1 BGB ist zunächst bei der Entscheidung der vom Patienten in<br />

einer Patientenverfügung niedergelegte Wille und - in Ermangelung einer solchen -<br />

gem. § 1901a Abs. 2 BGB der mutmaßliche Wille des Patienten zu ermitteln.<br />

Vorliegend lag unstreitig keine Patientenverfügung vor und ebenso unstreitig war<br />

auch der mutmaßliche Wille des Vaters des Klägers nicht zu ermitteln, und dies auch<br />

nicht über eine Einbeziehung von Angehörigen - etwa dem Kläger selbst. Dabei kann<br />

es dahingestellt bleiben, dass der Kläger selbst nach eigenen Angaben in der<br />

mündlichen Verhandlung seinen Vater nur etwa einmal jährlich und ab 2008 gar nicht<br />

mehr besuchte, also keine eigene Wahrnehmung von der konkreten Situation ab<br />

2010 hatte.<br />

43<br />

In einer solchen Situation spricht auch nicht die - in anderen Zusammenhängen<br />

entwickelte - Vermutung eines beratungsgerechten Verhaltens für die Annahme<br />

eines Behandlungsabbruchs. Gerade weil es sich um eine - die - fundamentale<br />

Entscheidung über das Grundrecht auf Leben und die Bewertung, wann es als<br />

„lebenswert“ empfunden wird, handelt, stellt sich die Entscheidung als so<br />

höchstpersönlich dar, dass ein aligemeiner Vermutungssatz hier keinen Raum<br />

greifen kann.<br />

44


<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />

Dafür sprechen zum einen die Überlegungen des Gesetzgebers, wie sie in der<br />

Gesetzesbegründung zu § 1901a Abs. 2 BGB (BT-Drs. 16/8442, S. 16, linke Spalte)<br />

ihren Ausdruck gefunden haben: „Kann ein auf die Durchführung, die Nichteinlösung<br />

oder die Beendigung einer ärztlichen Maßnahme gerichteter Wille des Betreuten<br />

auch nach Ausschöpfung alier verfügbaren Erkenntnisse nicht festgestellt werden,<br />

gebietet es das hohe Rechtsgut auf Leben, entsprechend dem wohl des Betreuten<br />

zu entscheiden und dabei dem Schutz des Lebens Vorrang einzuräumen.“ Ähnlich<br />

wird auch in der Rechtsprechung (BGH v. 06.07.2016 - Az. XII ZB 61/16 - Rz. 37)<br />

und teilweise in der Literatur (Palandt/Götz, a.a.O., § 1901a, Rz. 28; a.A.' dagegen<br />

Bamberger/Roth/Müller, Beck'scher Online-Kommentar, § 1901a, Rz. 24) in<br />

Zweifelsfällen ein Vorrang des Lebens betont. Bereits dies macht deutlich, dass für<br />

eine Vermutung beratungsgerechten Verhaltens hier kein Raum sein kann.<br />

45<br />

Zum andern hat aber auch der Sachverständige … in der mündlichen Verhandlung<br />

vom 28.11.2016 auf Grund eigener Erfahrungen ausgeführt, dass es immer wieder,<br />

Patienten gebe, die bei vergleichbarem Leiden wie dem des Vaters des Klägers - so<br />

sie ihren Willen äußern konnten - die Entscheidung für eine Fortsetzung der<br />

lebenserhaltenden Maßnahmen getroffen hätten, so dass es aus seiner Sicht sehr<br />

schwierig sei, allein aus den Leiden den Rückschluss darauf zu ziehen, welche<br />

Entscheidung im Sinne des Patienten gewesen wäre. Auch dies macht deutlich, dass<br />

es in einer so elementaren Frage keine Vermutung beratungsgerechten Verhaltens<br />

geben kann.<br />

46<br />

Somit hat der Kläger aber nicht den Nachweis geführt, dass im Falle einer Erörterung<br />

zwischen dem Beklagten und dem Betreuer tatsächlich die Entscheidung für eine<br />

Beendigung der PEG-Sondenernährung getroffen worden wäre.<br />

47<br />

2.4 Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines sog.<br />

„Aufklärungsmangels“.<br />

48<br />

Grundsätzlich muss ein Patient bzw. sein Betreuer vor der Durchführung eines<br />

Heileingriffs aufgeklärt werden und darin einwilligen; der ohne wirksame Einwilligung<br />

durchgeführte Heileingriff stellt eine rechtswidrige Körperverletzung gem. § 823 Abs.<br />

1 BGB und zugleich auch eine Verletzung der vertraglichen Pflichten gem. §§ 611,<br />

280 BGB dar (vgl. z.B. BGH, Urteil v. 07.02.2012 - Az. VI ZR 63/11 - Rz. 10;<br />

Staudinger/Hager, BGB, Neubearbeitung 2009, § 823, Rz. I 76). Der Patient muss<br />

also - zumindest im Großen und Ganzen - wissen, worin er einwilligt (BGH, Urteil v,<br />

07.02.1984 - Az. VI ZR 174/82 - Rz. 21). Er soll zu einer Risikoabwägung in der Lage<br />

sein, wozu er der grundlegenden Informationen bedarf. Das gilt grundsätzlich auch<br />

für die Ernährung mit einer PEG-Sonde (BGH v. 17.03.2003 - Az. XII ZB 2/03 - Rz.-<br />

33; vgl. BT-Drs. 16/8442, S. 16, rechte Spalte).<br />

49<br />

Allerdings gilt dies zunächst und vor allem einmal für die Entscheidung über die<br />

Anlage einer PEG-Sonde. Anders stellt sich die Situation demgegenüber bei der<br />

Entscheidung über die Aufrechterhaltung oder die Beendigung einer bereits<br />

begonnenen Sondenernährung dar. Denn hier haben die oben bereits dargelegten<br />

§§ 1901a ff. BGB eine ausdrückliche Regelung für die Entscheidungsfindung<br />

getroffen.<br />

50<br />

Unstreitig war es nicht der Beklagte, der die Ernährung mittels PEG-Sonde<br />

ursprünglich veranlasst hatte; er übernahm die Behandlung des Patienten erst zu


<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />

einem späteren Zeitpunkt. Damit aber verbleibt es wiederum bei dem oben bereits<br />

Dargelegten; der Beklagte hätte zwar die - nur noch limitierten - Therapieziele<br />

erörtern müssen; da allerdings der Beklagte selbst nicht zum Abbruch der Ernährung<br />

befugt gewesen wäre, kann die Fortführung - in Ermangelung des Nachweises, dass<br />

bei einer entsprechenden Erörterung eine Entscheidung zugunsten der Beendigung<br />

getroffen worden wäre - nicht als rechtswidrige Körperverletzung dem Beklagten<br />

zugerechnet werden. Insoweit haben die §§ 1901a ff. BGB Vorrang.<br />

51<br />

2.5 Aufgrund dessen geht die Kammer zwar insoweit von einer Verletzung der<br />

ärztlichen Pflichten durch den Beklagten aus, sieht aber den Nachweis für eine<br />

Schadensursäch-lichkeit als nicht geführt an.<br />

52<br />

2.6 Hinsichtlich der durchgeführten palliativen Maßnahmen hat der Kläger den<br />

Vorwurf von Behandlungsfehlern in der ersten Instanz nicht mehr aufrecht erhalten,<br />

so dass eine weitergehende sachverständige Klärung diesbezüglich nicht erforderlich<br />

war. Auch hinsichtlich der durchgeführten palliativen Maßnahmen lassen sich keine<br />

Behandlungsfehler feststellen.<br />

53<br />

2.7 Insgesamt lassen sich damit keine schadensursächlichen Behandlungsfehler zur<br />

Überzeugung der Kammer feststellen.<br />

54<br />

2.8 Die Kammer hat sich bezüglich der medizinischen Fragestellungen durch … und<br />

… sachverständig beraten lassen. Das schriftlichen Gutachten, aber auch die<br />

mündlichen Erläuterungen sind klar, schlüssig und verständlich. Die<br />

Sachverständigen haben ihre Beurteilung nach ersichtlich gründlicher Auswertung<br />

der umfassend beigezogenen Behandlungsunterlagen uneingeschränkt fundiert,<br />

sachlich nachvollziehbar und in überzeugender Auseinandersetzung mit der<br />

Argumentation der Parteien erstattet. In der mündlichen Verhandlung hat sich der<br />

Sachverständige … eingehend und nachvollziehbar mit den an ihn gerichteten<br />

Fragestellungen befasst und überzeugende Antworten gegeben.<br />

55<br />

Die Ausführungen des Sachverständigen sind von großer praktischer Erfahrung<br />

geprägt und zeugen von großem Fachwissen/Kompetenz und Erfahrung stehen für<br />

die Kammer ebenso außer Zweifel wie die Objektivität der beiden Sachverständigen.<br />

Die Kammer schließt sich den Feststellungen daher uneingeschränkt an.<br />

56<br />

2.9 Auf Grund all dessen hat der Kläger gegen den Beklagten keinen Anspruch auf<br />

Schmerzensgeld und Schadenersatz aus übergegangenem Recht, so dass die Klage<br />

unbegründet und daher abzuweisen ist.<br />

57<br />

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, der Ausspruch zur vorläufigen<br />

Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!