LG München I, Endurteil v. 18.01.2017 – 9 O 5246_14
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<strong>LG</strong> <strong>München</strong> I, <strong>Endurteil</strong> v. <strong>18.01.2017</strong> <strong>–</strong> 9 O <strong>5246</strong>/<strong>14</strong><br />
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Diesen Maßstab zugrunde gelegt, stellt sich die Behandlung des Vaters des Klägers<br />
durch die Ernährung mittels einer PEG-Sonde jedenfalls ab dem 01.01.2010 ohne<br />
eine ausdrückliche Erörterung der Situation mit dem Betreuer des Patienten als nicht<br />
mehr dem medizinischen Standard entsprechend dar.<br />
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2.2.1 Wie alle ärztlichen Eingriffe stellen auch lebenserhaltende Maßnahmen<br />
einschließlich der künstlichen Ernährung durch eine PEG-Sonde<br />
rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in die körperliche Integrität des Patienten dar<br />
(BGH v. 17.03.2003 - Az. XII ZB 2/03 - Rz. 53; BGH v. 08.06.2005 - Az. XII ZR<br />
177/03 - Rz. 9 ff.; vgl. auch Hufen, NJW 2001, S. 849/853 f.; Lipp, MedR 2015, s.<br />
762/764). Eine lebenserhaltende ärztliche Maßnahme ist nur gerechtfertigt, wenn sie<br />
indiziert ist und dem Willen des Patienten entspricht (Lipp in Laufs/Katzenmeier/Lipp,<br />
Arztrecht, 6. Aufl., Kapitel VI, Rn. 92, 94 m. w. Nachw.). Dies gilt nicht nur für das<br />
ursprüngliche Legen, sondern auch für die Beibehaltung der Sonde, die somit als<br />
andauernder Eingriff einer fortwährenden Indikation und Einwilligung des Patienten<br />
bzw. seines Vertreters (§ 1901 a Abs. 2 BGB) bedarf. Wie sich aus §§ 1901b Abs. 1<br />
S. 1,1904 Abs. 2 BGB ergibt, stellt sich die Frage nach der Einwilligung jedoch erst<br />
dann, wenn und soweit die Indikation gegeben ist (BT-Drucks 16/133<strong>14</strong>, S. 20; Kern<br />
in Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl., § 54 b, Rz. 7; Palandt/Götz, BGB,<br />
76. Aufl., § 1901 b, Rz. 1; so schon zur Rechtslage vor Einführung der §§ 1901 a ff.<br />
BGH v. 17.03.2003 - Az. XII ZB 2/03 - Rz. 55).<br />
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Damit kommt der Indikation zunächst eine weichenstellende Bedeutung zu. Die<br />
medizinische Indikation wird verstanden als das fachliche Urteil über den Wert oder<br />
Unwert einer medizinischen Behandlungsmethode in ihrer Anwendung auf den<br />
konkreten Fall (BGH v. 17.03.2003 - Az. Xii ZB 2/03 - Rz. 53). Hinsichtlich der<br />
Indikation lebenserhaltender Maßnahmen wurde und wird teilweise noch immer in<br />
Anlehnung an die sog. Kemptener Entscheidung des BGH vom 13.09.1994 (Az. 1<br />
StR 357/94 - Rz. 10 ff.) zwischen sterbenden Patienten und Patienten mit infauster<br />
Prognose, bei denen der Tod noch nicht unmittelbar bevorsteht, unterschieden. Der<br />
BGH hat die Sterbephase den damaligen Richtlinien der Bundesärztekammer zur<br />
Sterbehilfe folgend als Zustand definiert, in dem die Grundleiden des Patienten<br />
irreversibel sind, einen tödlichen Verlauf genommen haben und der Tod in kurzer Zeit<br />
eintreten wird (BGH v. 13.09.1994 - Az. 1 StR 357/94 - Rz. 10; BGH v. 17.03.2003 -<br />
Az. XII ZB 2/03 - Rz. 41).<br />
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Sowohl in der Medizin als auch in der Rechtswissenschaft setzt sich jedoch<br />
zunehmend die Auffassung durch, dass es nicht allein auf das schwer bestimmbare<br />
Kriterium der unmittelbaren Todesnähe ankommen kann und die Indikation vielmehr<br />
auch in den anderen Fällen fehlen kann, wenn die lebenserhaltende Maßnahme<br />
Leiden lediglich verlängert (BGH v. 25.06.2010 - Az. 2 StR 454/09 - Rz. 15 ff.; Lipp,<br />
a. a. O., Rz.102 und Rz. 111, jeweils m.w.N.; Knauer/Brose, a. a. O., § 216 StGB,<br />
Rn. 17; Palandt/Götz, § 1901 a, Rz. 28; Coeppicus, NJW 2013, S. 2939/2941; so<br />
auch die „Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung, DÄBl 2011, A<br />
346, A 347). Anders als das scheinbar objektive Kriterium der unmittelbaren<br />
Todesnähe ermöglicht eine sorgfältige einzelfallbezogene Abwägung im Rahmen der<br />
Indikationsstellung einen umfassenden Schutz aller der genannten Rechte des<br />
Patienten (kritisch zum Kriterium der Todesnähe auch Stackmann, NJW 2003, S.<br />
1568/1568).<br />
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