Noetzel, Thomas (2008): Das Gute oder nur das Bessere? Zur ...
Noetzel, Thomas (2008): Das Gute oder nur das Bessere? Zur ...
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<strong>Noetzel</strong>, <strong>Thomas</strong> (<strong>2008</strong>): <strong>Das</strong> <strong>Gute</strong> <strong>oder</strong> <strong>nur</strong> <strong>das</strong> <strong>Bessere</strong>? <strong>Zur</strong><br />
Begründung politischer Legitimität in der M<strong>oder</strong>ne, in: Janich,<br />
Peter (Hrsg.): Humane Orientierungswissenschaft. Was leisten<br />
verschiedene Wissenschaftskulturen für <strong>das</strong> Verständnis menschlicher<br />
Lebenswelt?. Würzburg: Königshausen & Neumann, S.<br />
115-128.
8.<br />
<strong>Das</strong> <strong>Gute</strong> <strong>oder</strong> <strong>nur</strong> <strong>das</strong> <strong>Bessere</strong>?<br />
<strong>Zur</strong> Begründung politischer Legitimität in der M<strong>oder</strong>ne 1<br />
<strong>Thomas</strong> <strong>Noetzel</strong><br />
Die Organisation des Politischen seit der Beendigung der religiös motivierten<br />
Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts profitierte von einer fundamentalen<br />
Umstellung der Rede vom Menschen. Eines der Hauptkennzeichen dieser neuen Beschreibungen<br />
war ihre substantielle Entleerung, die sich zunächst auf <strong>das</strong> Problem<br />
der religiösen Orientierung bezog. Zum Menschsein gehörte nicht mehr<br />
ein spezifisches Glaubensbekenntnis 2 . Die politische Durchsetzung dauerte bis<br />
Mitte des 18. Jahrhunderts. Spätestens mit der amerikanischen Verfassungsdeklaration<br />
von 1789 fußte erstmals ein politisches System auf einem Toleranzgebot<br />
gegenüber allen religiösen Werthaltungen.<br />
Die Frage des richtigen <strong>oder</strong> falschen Glaubens wurde in die Privatsphäre<br />
jedes Einzelnen verwiesen. Dadurch erfuhr <strong>das</strong> politische System eine erhebliche Legitimationsentlastung,<br />
weil Streitfragen über religiöse Gehalte, ja letztlich alle moralischen<br />
Auseinandersetzungen, nicht seine Fundamente beschädigen konnten. Der<br />
Preis für diesen Stabilitätsgewinn bestand in einer weitgehenden Reduzierung<br />
des politisch relevanten Menschenbildes auf rational-kalkulatorische Aspekte.<br />
Der so erfundene homo oeconomicus trug nicht <strong>nur</strong> zur weitgehend gelungenen<br />
binnengesellschaftlichen Friedenssicherung bei, sondern dynamisiere auch<br />
Konzepte politischen Handelns, weil zweckrationale individuelle Nutzenkalkulation<br />
kein endgültig zu erreichendes allgemeines <strong>Gute</strong>s kennt, sondern stattdessen<br />
Prozesse besserer Zweck-Mittel-Bestimmungen. Dieser menschenbildliche<br />
Umbau fand in Hobbes’ Leviathan einen ersten wirkungsmächtigen Ausdruck,<br />
der in seinen grundlegenden Strukturen bis heute politisches und politikwissenschaftliches<br />
Denken bestimmt.<br />
1 Für vielfältige Anregungen und Hilfe danke ich Christine Pontow.<br />
2 <strong>Das</strong> war schon allein deshalb eine Revolutionierung des menschenbildlichen Vokabulars,<br />
weil die Vorstellung, vom Menschen ungeachtet seiner religiösen Heilsorientierung reden<br />
zu können, als unsinnig galt.<br />
115
116<br />
1 Einleitung<br />
Hobbes bearbeitet in seiner politischen Philosophie <strong>das</strong> Problem sozialer Handlungskoordinierung<br />
angesichts der nachlassenden Bindungskraft theologischer Ordnungsstiftung.<br />
Mit dieser Beschreibung stoßen wir auf die historische Einbettung seines<br />
Denkens, sieht er sich doch mit einem Zustand struktureller Friedlosigkeit in<br />
Europa und vor allem in England konfrontiert. Die herkömmliche Rechtfertigung<br />
politischer Hierarchien des Absolutismus als göttlich eingesetzter, weltlicher<br />
Herrschaft stößt in seiner Zeit praktisch und theoretisch an ihre Grenze.<br />
Praktisch, weil sich binnengesellschaftlich relevante Machtkonkurrenten des<br />
Königs organisieren. <strong>Das</strong> 17. Jahrhundert ist in England durch einen sich bis zur militärischen<br />
Auseinandersetzung zuspitzenden Konflikt zwischen der eher dem Anglikanismus/Katholizismus<br />
zugeneigten Stuart Monarchie und dem eher protestantisch/puritanisch<br />
orientierten Parlament, genauer dem Unterhaus, geprägt. Eine<br />
Epoche machende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Hinrichtung<br />
Karls I. (1649) zu, denn die Exekution des Königs manifestiert existentiell<br />
<strong>das</strong> Ende bis dahin geltender Legitimationsfiguren politischer Ordnung.<br />
Theoretisch wird die Grenze traditioneller Legitimation erreicht, weil der<br />
permanente Bürgerkrieg gerade auch durch die Unversöhnlichkeit widerstreitender<br />
religiöser und politischer Ideen genährt wird, die allerdings selbst wiederum<br />
aus eigener Kraft eine Friedenshegemonie nicht errichten können. Es muss erst<br />
ein System innen- und außenpolitischer Machtaustarierung erfunden werden, <strong>das</strong><br />
sog. „westfälische System“, damit der verheerende Dreißigjährige Krieg still<br />
gestellt werden kann.<br />
Aber die Bedeutung Hobbes’ geht über diesen zeitgeschichtlichen Kontext<br />
weit hinaus. Er ist kein Apologet des neuen Parlamentsabsolutismus <strong>oder</strong> der monarchistischen<br />
Restauration. Hobbes’ Relevanz für die Grundlegung einer neuzeitlichen,<br />
m<strong>oder</strong>nen politischen Theorie und Philosophie liegt darin begründet,<br />
<strong>das</strong>s für ihn die Konflikte des 17. Jahrhunderts Ausdruck einer grundsätzlich<br />
neuen Vergesellschaftungslage sind. Der Verlust traditioneller Bindungen wird im<br />
politischen Chaos seiner Zeit augenscheinlich, und jede erfolgreiche Überwindung<br />
dieser Friedlosigkeit muss nach Hobbes die Nutzenkalkulation der Individuen<br />
zur Grundlage haben. Diese radikale Individualisierung verweist die Menschen<br />
auf sich selbst als einzige Quelle politischer Ordnungsstiftung. Die Idee<br />
einen artificial body politic, einen künstlichen Menschen als Herrschaftspersonifikation<br />
zu schaffen, ist nicht <strong>nur</strong> Ausdruck dieses Bewältigungsoptimismus’, sondern legt<br />
<strong>das</strong> Fundament für eine unendliche Perfektibilisierung dieses neuen politischen<br />
Körpers, die mit der Vergrößerung des wissenschaftlichen Wissens verbunden<br />
wird. Hobbes’ zentrale Arbeiten kreisen um diese Entbindung der Selbstbehauptungsfähigkeiten<br />
des Menschen. Hier berühren sich seine naturwissenschaftlichen<br />
und politisch-philosophischen Schriften. Die zwi-
schen 1640 (Elements of Law, De Cive) und 1651 (Leviathan) erschienen Werke<br />
bringen Probleme der Zeit auf ihren naturwissenschaftlichen Begriff.<br />
In dieser Funktion des Erfinders eines neuen Menschenbildes tritt Hobbes<br />
aber erst klar hervor, wenn man sich in der Interpretation seiner Schriften von<br />
der These frei macht, er folge in seinem Ordnungsdenken einer theologisch<br />
inspirierten, durch die Idee der menschlichen Ursünde bestimmten Anthropologie.<br />
Ganz im Gegenteil trifft zu, <strong>das</strong>s es Hobbes’ M<strong>oder</strong>nität ausmacht, politische<br />
Ordnung auf Anthropologie als leeren Signifikanten zu gründen. Der<br />
Mensch entzieht sich bei ihm Signaturen des „<strong>Gute</strong>n“ <strong>oder</strong> „Bösen“. <strong>Das</strong> stellt<br />
einen Paradigmenwechsel der politischen Philosophie dar. 3 Für Hobbes wird die<br />
Gestaltung des politischen Raumes zum Teil der Selbstbehauptungsimperative<br />
des Menschen. Regulieren die Individuen und Staaten ihre Konflikte nicht selbst,<br />
dann müssen sie auf Frieden verzichten. Rettung ist von keiner anderen Instanz,<br />
auch keiner göttlichen, zu erwarten. Theologie wird zur Magd der Politik und<br />
damit zu einem Funktionsbestandteil politischer Systeme. Sie ist nicht mehr der außerpolitische<br />
Referenzpunkt für die Bestimmung des guten politischen Handelns.<br />
Hobbes Leviathan ist damit ein beispielhafter politisch-philosophischer Ausdruck<br />
des Zusammenhangs von Säkularisation und Selbstbehauptung (Blumenberg<br />
1985).<br />
2. Mechanistische Ontologie/Anthropologie als Theologieersatz<br />
und menschenbildliches Fundament<br />
In Hobbes’ politischem Denken manifestiert sich trotzdem eine Ontologie, eine<br />
prima philosophia, die allerdings nicht aristotelisch angelegt ist. Es geht nicht<br />
mehr um die Formulierung einer Teleologie politischen Handelns, in der gute<br />
Praxis und gute Zwecke einer alles umfassenden Physis, einer kosmologischen<br />
Ordnung entsprechen. Die polis gewinnt ihre Qualität im aristotelischen Denken<br />
dadurch, <strong>das</strong>s sie als politisches Gemeinwesen den natürlichen Bestimmungen<br />
des Menschen entspricht. <strong>Das</strong> Problem des Politischen besteht dann darin,<br />
diese natürliche Bestimmung in gutes Handeln zu überführen.<br />
Bei Hobbes regiert stattdessen eine immerwährende Mechanik, herrschen<br />
moralisch gleichgültige Naturgesetze, Kausalitäten, Kräfte und Bewegungen, die<br />
funktional bestimmt werden und eben nicht mehr normativ aufgeladen sind. Bezeichnenderweise<br />
ist der natürliche Mensch des „Leviathan“ nichts mehr als <strong>das</strong> Zusammenspiel<br />
von mechanischen Wirkkräften. „Denn was ist <strong>das</strong> Herz“,<br />
3 Zwar sind in Hobbes’ Texten immer wieder Restbestände theologischer Argumentation<br />
nachweisbar (Wagner 1991), aber solche Bezüge stellen den Sprachspielen der Zeit geschuldete<br />
Marginalien dar. Bredekamp (1999) hat in seiner großartigen Studie zur Ikonographie<br />
Hobbes’ diese Gratwanderung zwischen Mittelalter und M<strong>oder</strong>ne herausgearbeitet, deren traditionelle<br />
Aspekte allerdings die Lesart des Leviathan als Begründungsfigur neuzeitlicher politischer<br />
Philosophie nicht beeinträchtigen<br />
117
fragt Hobbes „wenn nicht eine Feder, was sind Nerven, wenn nicht viele Stränge<br />
und was sind Gelenke, wenn nicht viele Räder, die den ganzen Körper so in<br />
Bewegung setzen, wie es vom Künstler beabsichtigt wurde?“ (Hobbes 1984: 6).<br />
Der Mensch geht in seiner Mechanik auf. Mehr ist er nicht. Für die Ebene der<br />
Untersuchung des individuellen Handelns bedeutet <strong>das</strong> den Verzicht auf die<br />
Bestimmung der Tugendhaftigkeit als Ausgangspunkt aller Überlegungen. Vielmehr<br />
ist anzuerkennen, <strong>das</strong>s der Mensch eine Erregungsmaschine ist und von<br />
Interessen und Leidenschaften in seinen Bewegungen bestimmt wird. Hobbes<br />
nennt im „Leviathan“ sechs grundlegende psychische Bewegungen: Neigung,<br />
Verlangen, Abneigung, Hass, Freude, Kummer. Bewegungen und Kraftentfaltungen<br />
des Menschen sind der Ausgangspunkt für <strong>das</strong> Herstellen politischer Ordnung.<br />
Alle Institutionen gründen bei Hobbes auf menschlichen Bedürfnissen,<br />
aber diese Bedürfnisse werden eben nicht in eine moralisch bestimmte Reihenfolge<br />
gebracht. Die politische Philosophie hat demgegenüber die Aufgabe, die<br />
allgemeinen mechanischen Kausalitäten zu erkennen und zur Rechtfertigung<br />
politischer Macht anzuwenden. Wie die Expansion der neuzeitlichen Wissenschaft<br />
zum eigentlichen Ausdruck der durch die Säkularisation formulierten Selbstbehauptungsimperative<br />
wird, so ist die wissenschaftliche Konstruktion des politischen<br />
Körpers <strong>nur</strong> eine Ableitung dieses Materialismus. Die Logik der Mechanik und<br />
die Gesetze der Geometrie münden schließlich in der Idee der kontraktualistischen<br />
Fundierung politischer Legitimität. Diese Legitimationsidee bezieht ihre Stärke<br />
nun nicht, wie in vielen Hobbesinterpretationen bis heute immer wieder fälschlich<br />
behauptet, aus einer negativen Sichtweise auf diese Mechanik des<br />
Menschen. Ganz im Gegenteil ist zu betonen, <strong>das</strong>s Hobbes’ Mensch, egal ob<br />
künstlicher <strong>oder</strong> natürlicher, ein Wesen ohne moralische Eigenschaften aber mit<br />
viel Mechanik ist. Bevor der Zusammenhang zwischen dieser leeren Anthropologie<br />
und zeitgenössischen politikwissenschaftlichem Denken aufgezeigt wird, soll<br />
auf zwei Interpretationslinien der Hobbesrezeption eingegangen werden.<br />
118<br />
3. Zügelungsthese<br />
<strong>Das</strong> Wort vom „homo homini lupus“ (Tricaud 1968) scheint die negative<br />
Anthropologie, die moralische Konnotation in Hobbes’ Denken zu belegen.<br />
Zugegebenermaßen steht die Triebnatur des Menschen und die grundsätzliche<br />
Unstillbarkeit seines Verlangens im Zentrum der Überlegungen Hobbes’. So werden<br />
als die drei hauptsächlichen in der menschlichen Natur liegenden Konfliktkursachen<br />
Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht identifiziert (Hobbes 1984 4:95). An<br />
4 Diese Euchnersche Übersetzung kann als Textgrundlage dienen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit<br />
wird auch im Folgenden mit ihr gearbeitet. Allerdings ist für eine genauere Auseinandersetzung<br />
der englische Text von 1651 und der lateinische von 1668 hinzuzuziehen: The<br />
English Works of <strong>Thomas</strong> Hobbes of Malmesbury, ed. by Sir William Molesworth, London<br />
1839-1845, Nachdr. Aalen 1962, Thomae Hobbes Malmesburiensis Opera Philosophica Quae<br />
Latine Scripsit Omnia, Londini 1839-1845, Nachdr. Aalen 1961.
anderer Stelle spricht er von den „natürlichen Leidenschaften“ des Menschen und<br />
verweist dabei auf Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht, Ehrsucht, Neid usw. Sie<br />
werden zum Motor der Gewalt, prallen im Naturzustand aufeinander und<br />
verursachen strukturelle Friedlosigkeit und immerwährende Machtkämpfe.<br />
Hobbes entwirft hier aber kein ewig gültiges Naturgesetz der notwendig zum<br />
Krieg eskalierenden Bewegungskräfte des Menschen. Im Zentrum der Gewaltanwendung<br />
steht die Wahrnehmung, von anderen bedroht zu sein. Es ist <strong>das</strong> Misstrauen,<br />
<strong>das</strong> die Gewalt gebiert: „Und wegen dieses gegenseitigen Misstrauens<br />
gibt es für niemand einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre<br />
wie die Vorbeugung, <strong>das</strong> heißt, mit Gewalt <strong>oder</strong> List nach Kräften jedermann zu<br />
unterwerfen und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß genug<br />
wäre, ihn zu gefährden. Und dies ist nicht mehr, als seine Selbsterhaltung erfordert und<br />
ist allgemein erlaubt.“ (Hobbes 1984: S. 95). Da sich keiner sicher fühlen kann, gibt es<br />
keinen Raum und keine Zeit für Beruf, Künste, Wissenschaft, es gibt keine „gesellschaftlichen<br />
Beziehungen“. Vorstaatlich ist <strong>das</strong> „menschliche Leben ... einsam,<br />
armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ (ebd.). Wie bekannt setzt an dieser Stelle<br />
die kontraktualistische Vernunft ein. Im Gesellschaftsvertrag verzichten die<br />
Individuen auf ihr Recht auf Gewaltausübung und setzen eine schiedsrichterliche<br />
Instanz ein, die fürchterlich mächtig ist und diesen Gewaltverzicht gegenüber<br />
jedermann durchsetzen kann. Der so als künstlicher Mensch geschaffene Herrscher,<br />
der Leviathan, sichert Frieden, in dem er jeden bedroht, der sein Recht auf Gewalt<br />
nicht aufgeben will. Furcht sichert hier Freiheit und begrenzt sie gleichzeitig<br />
paradoxal, denn die Freiheit der Einzelnen muss aufgegeben werden, wenn der<br />
künstliche Mensch seine Kraftmechanik voll entfalten können soll. Der Leviathan<br />
muss die Leidenschaften der Menschen zügeln. Nur so kann er die Einheit der<br />
Differenz der unverträglichen Einzelnen sichern. Der Staat sorgt für Affektkontrolle<br />
5 . In der Idee, <strong>das</strong>s Sozialität vor allen Dingen Versagung bedeutet, wird eine<br />
Nähe zur Psychoanalyse mit ihren triebhydraulischen Szenarien deutlich, die<br />
viel mit Freud, aber meines Erachtens wenig mit Hobbes zu tun hat 6 , denn es<br />
geht ihm nicht um <strong>das</strong> Unterdrücken des „Bösen“, sondern um die Konstruktion<br />
einer politischen Ordnung, in der permanente Kriegsperzeption unnötig<br />
wird. Hinzu kommt, <strong>das</strong>s die Annahme einer negativ konnotierten Anthropologie<br />
im Werk Hobbes die bis<br />
5 So aus ganz unterschiedlicher Perspektive C.B. Macpherson, The Political Theory of Possessive<br />
Individualism, Oxford 1962; Julien Freund: Anthropologische Voraussetzungen<br />
<strong>Zur</strong> Theorie des Politischen bei <strong>Thomas</strong> Hobbes, in: Udo Bermbach/Klaus-M. Kodalle,<br />
Furcht und Freiheit-Leviathan. Diskussion 300 Jahre nach <strong>Thomas</strong> Hobbes, Opladen 1982,<br />
S. 107-129; Joachim Kreische, Konstruktivistische Politiktheorie bei Hobbes und Spinoza, Baden-Baden<br />
2000.<br />
6 Elmar Waibl, Gesellschaft und Kultur bei Hobbes und Freud. <strong>Das</strong> gemeinsame Paradigma<br />
der Sozialität, Wien 1980; Philip Dynia, Alfred Hitchcock and the Ghost of <strong>Thomas</strong> Hobbes,<br />
in: Cinema Journal, 15,1976, Nr. 2, S. 27-41.<br />
119
heute anschlussfähige M<strong>oder</strong>nität seines Denkens nicht erklären kann. Vorstellungen<br />
von einer strukturellen Bösartigkeit des Menschen verweisen auf überkommene<br />
theologische Weltbilder und werden den Anforderungen einer Rechtfertigung<br />
neuzeitlicher politischer Systeme, wie sie zu Zeiten Hobbes diskutiert<br />
wurden, nicht gerecht. Hobbes’ Bedeutung für ein m<strong>oder</strong>nes politisches Menschenbild<br />
erschließt sich <strong>nur</strong>, wenn der Konstruktivismus seiner Argumentation<br />
begriffen wird.<br />
120<br />
4. Konstruktionsthese<br />
Wenn Hobbes von „Natürlichen Leidenschaften“ spricht, beschreibt er keine Wesenseigenschaften<br />
des Menschen, sondern soziale Figurationen. Diese Herangehensweise entspricht<br />
seiner allgemeinen Theorie vom Körper als Teil einer allumfassenden Ursachen-<br />
Wirkungs-Kette. Bestimmte Einflüsse rufen bestimmte Reaktionen hervor und wie<br />
der Körper auf physische Perturbationen reagiert, reagieren die Individuen auf<br />
andere Individuen in einer bestimmten Art und Weise, z.B. in dem sie sich gegen<br />
mögliche Angriffe wappnen. Moralische Konstitutionen spielen dabei keine herausgehobene<br />
Rolle. Ohne besondere staatliche Regulierung müssen alle Individuen<br />
davon ausgehen, <strong>das</strong>s sie sich in ihrer Selbsterhaltung <strong>nur</strong> auf sich selbst<br />
verlassen können. Aus der Selbstverteidigung resultiert eine grundsätzliche Gewaltorientierung.<br />
Die Ursachen des Konflikts resultieren also nicht aus der Natur<br />
des Menschen, sondern aus dem Zustand seiner Soziabilität. Konkurrenz und Abwehr<br />
sind <strong>das</strong> Ergebnis einer unzureichenden Gesellschaftsbildung. Selbst die Ruhmsucht<br />
dient zur Einschüchterung anderer und ist so Mittel der Selbstverteidigung.<br />
<strong>Das</strong> Verlangen nach Gütern und Sicherheit, Bewegungen als solche sind weder gut<br />
noch böse. Durch diese spezifische Beobachtungsperspektive rückt <strong>das</strong> Problem der<br />
anthropologischen Bestimmung in den Hintergrund.<br />
Diese Abkehr von teleologischen Überzeugungen entspricht einer im Vergleich<br />
zur antiken Philosophie neuen Erkenntnistheorie und Methode. Dabei<br />
findet die sich in der Konstruktion des politischen Körpers durchsetzende Idee,<br />
wonach <strong>nur</strong> <strong>das</strong> erkannt werden kann, was selbst hergestellt wurde, schon bei<br />
Aristoteles. Auch für Hobbes gilt bei allem antiaristotelischen Furor die Gewissheit,<br />
<strong>das</strong>s die Geometrie deshalb als Leitwissenschaft gilt, weil sie ihre apriorischen<br />
Prinzipien selbst hergestellt hat. Diese Idee wird von Hobbes auf die<br />
Politik übertragen. Für die Entbindung kontraktualistischer Vernunft heißt <strong>das</strong>,<br />
<strong>das</strong>s der zur Rechtfertigung der Vergesellschaftungszwänge notwendige „Naturzustand“<br />
selbst produziert werden muss, um entziffert werden zu können. Alle<br />
Aussagen über den nicht vergesellschafteten Menschen sind also Ausdruck eines fiktionalen<br />
Gedankenexperiments. Eine solche Konstruktion korrespondiert gut mit<br />
Hobbes’ Idee, <strong>das</strong>s die Individuen ihre Welten in ihrem Vorstellungsvermögen<br />
selbst schaffen. In der Privation wird die Außenwelt quasi vernichtet und
muss in der Perzeption der Individuen wieder entstehen: „For the understanding<br />
of what I mean by the power cognitive, we must remember and acknowledge<br />
that there be in our minds continually certain images or conceptions of the<br />
things without us, insomuch that if a man could be alive, and all the rest of the<br />
world annihilated, he should nevertheless retain the image thereof, and all those<br />
things which he had before seen or perceived in it” (Hobbes 1973: 113). Hobbes<br />
leugnet hier nicht eine objektiv bestehende Außenwelt, aber betont die Bedeutung<br />
des Subjekts der Erkenntnis. Perzeption ist wichtig in ihren individuellen<br />
Bedeutungen und eben nicht als blinder Spiegel einer objektiven Natur. Die<br />
Natur spricht bei Hobbes immer <strong>nur</strong> durch Menschen, die ihr in ihren Wahrnehmungen<br />
eine Stimme verleihen.<br />
Für den immer währenden Bürgerkrieg in Hobbes’ Naturzustand bedeutet<br />
<strong>das</strong>, <strong>das</strong>s er nicht objektiv in der Triebnatur des Menschen angelegt ist, sondern in<br />
den Bedrohungswahrnehmungen der Individuen seine eigentliche Grundlage hat:<br />
»Daraus ergibt sich, <strong>das</strong>s die Menschen während der Zeit, in der sie ohne allgemeine,<br />
sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der<br />
Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden. Denn der<br />
Krieg besteht nicht <strong>nur</strong> in Schlachten <strong>oder</strong> Kampfhandlungen, sondern in einem<br />
Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist“.(Hobbes<br />
1984: 96). Die Perzeptionen der Parteien und nicht deren anthropologische<br />
Pathologien treiben die Konflikte an. Die ständige, im Naturzustand notwendig<br />
vorhandene Furcht lässt ein menschenwürdiges Leben nicht zu, weil sie alle psychischen<br />
und physischen Ressourcen verbraucht.<br />
Wenn Hobbes von „natürlichen“ Leidenschaften spricht und auf Parteilichkeit,<br />
Hochmut, Rachsucht, Ehrsucht, Neid usw. hinweist (ebd.: 131, 133), dann<br />
ist damit immer die gedankenexperimentelle Fiktion möglicher Rechtfertigung<br />
politischer Herrschaft gemeint, d.h. die vermeintliche Asozialität kann immer<br />
<strong>nur</strong> im Zustand ungenügender Gesellschafts- und Staatsbildung überhaupt beobachtet<br />
werden. Kritiker könnten einwenden, Leidenschaften auch im Zustand<br />
der Vergesellschaftung beobachten zu können. Relevant im Gedankenexperiment<br />
ist aber die Frage nach der Realität der asozialen Leidenschaften <strong>nur</strong> im<br />
Hinblick auf Möglichkeiten, staatlicher Herrschaft Legitimität zu verleihen. Die<br />
Rede von den natürlichen Leidenschaften manifestiert keine allgemeine, zweckfreie<br />
Anthropologie, sondern ist Instrument zum spezifischen Zweck einer theologischen<br />
Bindungswirkung entkommenen Gesellschaft ein Vokabular der<br />
Rechtfertigung politischer Herrschaft zu verschaffen.<br />
<strong>Das</strong>s es eine normative Grenze solcher systemfunktionalen Betrachtungsweise<br />
avant la lettre (Diesselhorst 1968) bei Hobbes gibt, behaupten einige<br />
Interpretatoren mit Hinweis auf die von Hobbes beschriebene in der Natur<br />
enthaltene Vernunft der friedlichen Konfliktbeilegung. Im Vokabular naturrechtlicher<br />
Argumentation weist Hobbes dem Menschen sogar die Pflicht zur Frie-<br />
121
denswahrung zu. <strong>Das</strong> erste natürliche Gesetz 7 hält jedermann dazu an, sich um<br />
Frieden zu bemühen, „solange dazu Hoffnung besteht. Kann er ihn nicht herstellen,<br />
so darf er sich alle Hilfsmittel und Vorteile des Kriegs verschaffen und sie benützen.“<br />
(Hobbes 1984: 99f.) Allerdings offenbart sich hier keine antimechanische<br />
Ontologie. Die von Hobbes beschriebenen Naturgesetze sind Interaktionsregeln,<br />
auf die die Individuen in ihrem Experiment der Naturzustandserzeugung<br />
kommen, wenn sie der Logik folgen. Die Vernunft als Zweck-<br />
MittelKalkulation legt friedliches Verhalten nahe, aber dieses Potential<br />
kann der Mensch <strong>nur</strong> in einem politischen System realisieren, <strong>das</strong> ihn der unmittelbaren<br />
Selbstverteidigung und der Abwehrimperative enthebt. Erst die Vergesellschaftung<br />
lässt den ersten, friedensorientierten Teil des grundlegenden Gesetzes<br />
der Natur möglich werden. Deutlich treten hier die Reste theologischen Denkens<br />
hervor, denn der Autor des grundlegenden Gesetzes ist Gott, aber – und<br />
<strong>das</strong> zeigt noch einmal die Überwindung des Sakralen als Leitinstanz – die Menschen<br />
müssen selbst tätig werden, uni diese Chance des Friedens nicht zu verspielen.<br />
Und sie können <strong>das</strong> nicht durch individuelle, weltabgeschiedene Persönlichkeitsbildung<br />
und Besserung erreichen, sondern <strong>nur</strong> durch richtige<br />
Vergesellschaftung. Gerade <strong>das</strong> zeigt die Offenheit der anthropologischen Konstruktion,<br />
denn die Menschen sind zu friedlichem Verhalten und zur Kontrolle<br />
ihrer Leidenschaften fähig. Hier zeigt sich eben keine immer währende Sündhaftigkeit<br />
des Menschen schlechthin. Er ist weder böse noch gut, sondern Kräften<br />
unterworfen. Die Sprache der Moral wird bei Hobbes zu einer Semantik des<br />
Mechanischen, und analog zu einer naturwissenschaftlichen Kausalanalyse kann<br />
auch die politische Theorie als Verhältnis von Ursachen und notwendigen Folgen<br />
betrieben werden. 8 Im vorgesellschaftlichen Zustand, dem Naturzustand,<br />
müssen die Individuen sich gegenseitig als Bedrohung wahrnehmen. Wer diese<br />
Abwehrhaltung nicht einnimmt, gibt sich auf. Sucht man bei Hobbes nach<br />
anthropologischen Grundlagen, so kann der Wunsch nach Existenzsicherung genannt<br />
werden. Aber <strong>das</strong> sind schwache anthropologische Annahmen, und sicher<br />
keine negativen. Von negativer Anthropologie kann <strong>nur</strong> gesprochen werden, wenn<br />
man diese Abwesenheit moralisch konnotierter Anthropologie meint. Weil Hobbes<br />
kein an sich Schlechtes kennt, verfügt er auch nicht über einen Begriff des eigentlichen<br />
<strong>Gute</strong>n.<br />
7 Insgesamt zählt Hobbes (1984: 110-122) 20 solcher Gesetze auf, die allesamt Freiheit und Frieden<br />
sichern und zu denen die Menschen fähig sind (Hüning 1996).<br />
8 Wolfgang Bartuschat, Anthropologie und Politik bei <strong>Thomas</strong> Hobbes, in: Otfried Höffe<br />
(Hrsg.), <strong>Thomas</strong> Hobbes — Anthropologie und Staatsphilosophie, Freiburg/Schweiz 1981, S. 19-<br />
39; Christine Chwaszcza, Anthropologie und Moralphilosophie im ersten Teil des Leviathan, in:<br />
Wolfgang Kersting (Hrsg.), Leviathan — <strong>oder</strong> Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und<br />
kirchlichen Staates, Berlin 1996, S. 83-109.<br />
122
5. Optimierung der Menschmaschine als politische Aufgabe<br />
Wenn der Mensch nicht mehr ist als seine Mechanik und diese Körpervorstellung<br />
auf die Organisation des Politischen übertragen wird, dann entwickelt sich quasi zwangsläufig<br />
ein Diskurs über die Verbesserung dieser Mechanik. Die stetige Weiterentwicklung<br />
und Optimierung verleiht den individuellen und sozialen Körpern ihre<br />
Legitimation. Was auf der diätetisch-individuellen Ebene u.a. La Mettrie und<br />
Condorcet als stetige Verbesserung der gesundheitlichen Ausstattung des Menschen<br />
beschrieben haben, wird in der politischen Philosophie als Verfeinerung<br />
und Verbesserung kontraktualistischer Vernunft betrieben.<br />
In seinen „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ (1690) erweitert Locke<br />
<strong>das</strong> vertragstheoretische Denken seiner Zeit erheblich. Stellt die erste der zwei<br />
Abhandlungen die Kritik an insbesondere von Robert Filmer vertretenen sakralen<br />
Begründungen politischer Ordnung in den Mittelpunkt, so entwirft die zweite<br />
Abhandlung ein neues Modell politischer Legitimationsstiftung. Dabei greift Locke<br />
auf die Fiktion eines Naturzustands zurück, der die einzelnen mit solchen Kosten<br />
belegt, <strong>das</strong>s sie quasi zur Sozialität gezwungen sind. Doch im Gegensatz zu<br />
Hobbes bedeutet der Naturzustand für Locke nicht zwangsläufig ein Kriegszustand.<br />
Im Naturzustand gilt <strong>das</strong> natürliche Gesetz, welches diesem eine unhintergehbare<br />
Qualität verleiht. Der Naturzustand macht <strong>das</strong> Leben nicht mehr –wie<br />
noch im „Leviathan“ – „armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“, sondern ist schon<br />
Ausdruck einer guten, vernünftigen Ordnung. <strong>Das</strong>s es dennoch einen Druck<br />
auf die Einzelnen gibt, eine politische Ordnung zu errichten, liegt an der Instabilität<br />
des Naturzustands, der aufgrund der individuellen Bedrohtheitswahrnehmungen<br />
immer in einen Kriegszustand umschlagen kann. Insbesondere die Sicherung<br />
des Eigentums ist im Naturzustand Ursache struktureller Friedlosigkeit.<br />
Erst die politische Gesellschaft kann die Vernunft des Naturzustands realisieren:<br />
„Da die Menschen, ..., von Natur aus alle frei, gleich und unabhängig sind,<br />
kann niemand ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstoßen und der<br />
politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden. Die einzige Möglichkeit,<br />
mit der jemand diese natürliche Freiheit aufgibt und die Fesseln bürgerlicher<br />
Gesellschaft anlegt, liegt in der Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen<br />
und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel eines behaglichen,<br />
sicheren und friedlichen Miteinanderlebens, in dem sicheren Genuss<br />
ihres Eigentums und in größerer Sicherheit gegenüber allen, die nicht zu dieser<br />
Gemeinschaft gehören.“ (Locke, 1977: 202)<br />
Stellt sich für Hobbes <strong>das</strong> Problem der Entscheidung in der politischen<br />
Gesellschaft nicht, weil der Leviathan nach seiner Einsetzung absolut herrscht, so<br />
verbindet Locke Sozialvertrag und Demokratietheorie zur Legitimation des Mehrheitsprinzips<br />
als Entscheidungsregel der politischen Gesellschaft. Die Verbesserung<br />
der politischen Mechanik, die Locke einführt, ist offensichtlich. Um es bildhaft<br />
zu formulieren: Der künstliche Mensch des <strong>Thomas</strong> Hobbes ist verglichen mit der<br />
Konstruktion des politischen Körpers bei Locke grobschlächtig.<br />
123
In der kontraktualistischen Logik heißt <strong>das</strong>, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Problem des Rechtsverzichts<br />
bei Hobbes, <strong>das</strong> die Mechanik der politischen Legitimation widersprüchlich<br />
werden lässt (Brandt 1980), durch Locke gelöst wird. Kann Hobbes nicht<br />
erklären, warum sich die Individuen ein für allemal dem von Ihnen geschaffenen<br />
Leviathan unterwerfen, auch wenn dieser sich gegen sie wenden sollte, so gibt<br />
Locke darauf die Antwort einer eben nicht mehr bedingungslosen Vergesellschaftungsrationalität<br />
bis hin zu Ansätzen demokratischer Partizipation. Allerdings<br />
finden sich bei Locke keine Problematisierungen von Mehrheitsentscheidungen.<br />
Die Mehrheit hat einfach <strong>das</strong> „Recht, zu handeln und die übrigen mit zu verpflichten“<br />
(ebd.). <strong>Das</strong> Problem des Minderheitenschutzes ist für Locke durch die Normativität<br />
des natürlichen Rechts gelöst, denn jede politische Herrschaft, die diese fundamentalen<br />
Rechte des Einzelnen verletzt, ist illegal. Eine institutionelle Gewaltenteilung<br />
zwischen Legislative, Exekutive und Judikative begrenzt die Herrschaft<br />
der Mehrheit und sichert diese natürlichen Rechte. Zentraler Bestandteil<br />
ist dabei ein grundsätzliches Eigentumsrecht, <strong>das</strong> beim eigenen Körper beginnt<br />
und diesen damit als Grenze jeder politischen Herrschaft ausweist. Damit<br />
legt Locke den Grundstein einer liberalen Demokratietheorie, die den Schutz<br />
individueller Freiheitsrechte gegenüber auch demokratisch verfasster Staatlichkeit<br />
in den Mittelpunkt ihrer Normativität rückt. Locke sieht ausdrücklich<br />
ein Widerstandsrecht gegen solche Herrschaft vor, die diese Mindeststandards<br />
des Naturzustands nicht sichert. Im Gegensatz zur Hobbes, bei dem aufgrund<br />
der rationalen Kalküle der einzelnen der Leviathan zerfällt, wenn er den Frieden<br />
nicht sichert, legt Locke eine normative Theorie der Legitimation politischer<br />
Herrschaft vor und trägt dadurch erheblich zur Verbesserung der politischen<br />
Mechanik neuzeitlicher Staatlichkeit bei.<br />
Rousseau stellt <strong>das</strong> Problem der Sicherung der individuellen Freiheit unter<br />
den Bedingungen politischer Vergemeinschaftung in den Mittelpunkt seines<br />
„Contrat social“ (1762). Dabei beginnt er mit der Feststellung, <strong>das</strong>s der Mensch<br />
frei sei und gleichzeitig in Ketten liege. Rousseau geht es nach eigenen Worten<br />
nun nicht so sehr darum, diesen Zustand der Unfreiheit zu erklären, sondern<br />
vielmehr darum, ihn zu rechtfertigen, <strong>das</strong> heißt mit Freiheit zu versöhnen. Die Selbstbestimmung<br />
des Einzelnen steht in Spannung zur gesellschaftlichen und staatlichen<br />
Organisation. Rousseau verbleibt hier im Kontext der gedankenexperimentellen Fiktion<br />
einer möglichen Legitimation politischer Herrschaft. <strong>Das</strong> fundamentale<br />
Problem besteht für ihn dann darin, eine Ordnung zu beschreiben, in der Freiheit<br />
und die Stellung des Untertanen miteinander vereinbart werden können: „Finde<br />
eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die<br />
Person und <strong>das</strong> Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und<br />
durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, <strong>nur</strong> sich selbst gehorcht und<br />
genauso frei bleibt wie zuvor“ (Rousseau 1977: 17). Damit perfektibilisiert sich der<br />
neuzeitliche politische Körper, wird doch die Spannung zwischen Beherrschten<br />
und Herrschern geglättet und damit ein Funktionsproblem politischer Mechanik<br />
behoben. <strong>Das</strong>s <strong>das</strong> nichts mit der Orientierung an<br />
124
einem Konzept des politisch <strong>Gute</strong>n zu tun hat zeigt sich daran, <strong>das</strong>s die demokratische<br />
Perfektibilisierung totalitäre Züge annimmt. Dieses Zusammenfallen<br />
der Rollen von Untertan und Souverän kann <strong>nur</strong> in politischen Verhältnissen<br />
Wirklichkeit werden, in denen der individuelle Wille mit dem allgemeinen Willen deckungsgleich<br />
wird. Diese Kongruenz setzt die Konstruktion einer Allgemeinheit<br />
voraus, in der die Einzelnen immer schon vorhanden sind. Rousseau prägt dafür<br />
den Begriff des Gemeinwillens, des „volonté général“. Ein beträchtliches Problem<br />
liegt nun in der Frage, wie sich denn dieser „volonté général“ manifestiert.<br />
Rousseau kann dabei nicht an eine rechnerische Überprüfung denken, denn die<br />
Scheidung in Mehrheit und Minderheit widerspricht der Notwendigkeit der<br />
Kongruenz. Folgerichtig unterscheidet er auch vom „volonté général“ den zählbaren<br />
Willen der Mehrheit, den „volonté de tous“.<br />
Rousseau versucht darauf eine Antwort zu geben, indem er jeden Herrschaftsakt<br />
an die unmittelbare, direkte Beteiligung aller potentiell Herrschaftsunterworfenen<br />
bindet. Dieses Primat der Unmittelbarkeit duldet keine intermediären<br />
Organisationen und keine Repräsentation. Jede Form der politischen<br />
Stellvertretung und der institutionellen Gewaltenteilung wird abgelehnt. Im<br />
Raum des Politischen muss sich jedes Individuum authentisch und unmittelbar<br />
artikulieren. Die Voraussetzungen für eine solche Einheitsbildung sind Individuen,<br />
die in ihrer Selbstbestimmung uniform werden. Letztlich ist also gesellschaftliche<br />
Homogenität <strong>das</strong> Fundament einer solchen Demokratie. Diese<br />
kennt keinen Minderheitenschutz. Die Vorstellung, <strong>das</strong>s sich über alle individuelle<br />
Besonderung der Horizont einer einheitlichen und für alle verbindlichen<br />
Vernunft spannt, benennt diese Gleichheit genauer. Weil diese notwendige<br />
Homogenität für große Gesellschaften nicht herstellbar ist, plädiert Rousseau<br />
für kleine, überschaubare politische Gemeinschaften. Aber auch diese bedürfen<br />
einer einheitlichen Vernunft, eines Gesetzgebers, der als Kenner der Vernunft<br />
diese zu deuten versteht. An dieser Stelle wird <strong>das</strong> elitäre Moment im<br />
rousseauistischen Denken deutlich. Rousseau steht in einer Reihe von Theoretikern<br />
identitärer bzw. totalitärer Demokratie. Mit Locke und Rousseau sind<br />
zwei Vertreter liberaler bzw. republikanischer Vergemeinschaftungsvorstellungen benannt.<br />
Kant vollendet diese Form des sozialvertragstheoretischen Denkens, indem<br />
er - abgelöst von allen voluntaristischen und partikular klugen, damit naturalistischen<br />
Vorgängern - die sich im Sozialvertrag offenbarende Rationalität als Ausdruck<br />
der Selbstgesetzgebung der reinen, praktischen Vernunft versteht. Die<br />
Fiktion des Sozialvertrags ist abgelöst von aller Anthropologie und wird zum<br />
reinen Ausdruck prozeduraler Vernunft, die dem - etwa in der „Metaphysik der<br />
Sitten“ (1797) niedergelegten - Universalisierungsgrundsatz entspricht. Allgemeingültigkeit<br />
ist danach gegeben, wenn Aussagen universalisierbar sind, allgemein<br />
anerkennungsfähig sind und öffentlich gegenüber jedermann gerechtfertigt<br />
werden können (Kersting 1992: 181). Der Universalisierungsgrundsatz korrespondiert<br />
nun mit einer inneren Pflicht zur Selbstbestimmung, die als innere<br />
Pflicht zum Sozialvertrag Ausdruck äußerer Freiheit wird. Kant siedelt seine<br />
125
Sozialvertragstheorie fernab jeder Konkretion an. Der Sozialvertrag wird zum<br />
„Probierstein“ der Legitimität politischer Herrschaft, bedarf aber keines institutionellen<br />
Ausdrucks (Über den Gemeinspruch: <strong>Das</strong> mag in der Theorie richtig<br />
sein, taugt aber nicht für Praxis, 1793). Kant zeigt deutlich auf, <strong>das</strong>s die Idee der Universalisierung<br />
wenigstens gedankenexperimentell zur Demokratie drängt. Er<br />
überträgt diesen Prozeduralismus auf die internationalen Beziehungen und<br />
macht Demokratie damit zum globalen Projekt. Kant geht über die Begründung<br />
von Demokratie als adäquater Ausdruck vernünftiger individueller Nutzenkalkulation<br />
hinaus. Gleichwohl bietet er einen politischen Körper an, der auch für <strong>das</strong><br />
friedliche Zusammenleben von egoistischen „Teufeln“ geeignet ist. Die Produktion<br />
politischer Legitimität erreicht hier einen Höhepunkt, der bis heute die demokratietheretische<br />
Diskussion mitbestimmt.<br />
Kann man also davon sprechen, <strong>das</strong>s von Hobbes bis Kant ein Optimierungsdiskurs<br />
des body politic abgelaufen ist, so greifen Theorien der „Rationalen<br />
Wahl“ diese Perfektibilitätsidee entleerter Personalität auf und wenden sie als Universalwissenschaft<br />
zur Erklärung aller individuellen Handlungen an. Politikwissenschaftlich hat<br />
sich in diesem Zusammenhang Anthony Downs mit seiner ökonomischen Theorie<br />
politischen Handelns durchgesetzt. Im homo oeconomicus fallen schließlich individuelle<br />
und gesellschaftliche Körper zusammen. Alle gehorchen allein ihrer<br />
Nutzenkalkulation, mit geringsten Mitteln größten Nutzen zu erzielen.<br />
Die als ökonomische Zweck-Mittel-Bestimmung definierte Handlungs-<br />
Rationalität des Individuums wird zur Folie bei der Analyse des Verhaltens auch<br />
von kollektiven Akteuren (Downs, 1968). Danach ist ein rationaler Akteur einer,<br />
der sich wie folgt verhält: „1. wenn er vor eine Reihe von Alternativen gestellt<br />
wird, ist er stets imstande, eine Entscheidung zu treffen; 2. er ordnet alle Alternativen,<br />
denen er gegenübersteht, nach seinen Präferenzen so, <strong>das</strong>s jede im Hinblick<br />
auf jede andere entweder vorgezogen wird <strong>oder</strong> indifferent <strong>oder</strong> weniger wünschenswert<br />
ist; 3. seine Präferenzordnung ist transitiv; 4. er wählt aus den möglichen<br />
Alternativen stets jene aus, die in seiner Präferenzordnung den höchsten Rang<br />
einnimmt; 5. er trifft, wenn er vor den gleichen Alternativen steht, immer die<br />
gleiche Entscheidung. Alle rationalen Entscheidungsträger in unserem Modell –<br />
politische Parteien, Interessengruppen und Regierungen eingeschlossen – besitzen<br />
diese Eigenschaften“ (Downs 1968: 6). Diese einfachen Grundannahmen setzt<br />
Downs zur Analyse von Parteimotivation, Grundlagen des Wählens, Grundlagen<br />
für Regierungsentscheidungen, Koalitionsbildungen, Ideologiebildungen ein.<br />
Die Bedeutung seines Ansatzes geht aber über politikwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung<br />
im engeren Sinne weit hinaus. In seiner Übertragung ökonomischer,<br />
an der Logik der Grenznutzen/-kostenkalkulation orientierter Modellbildung<br />
auf politikwissenschaftliche Fragestellung legt Downs eine einheitswissenschaftliche<br />
Theorie vor, mit der die Kluft zwischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften<br />
überbrückt werden soll. Der Mensch wird endgültig fast aller Eigenschaften<br />
entkleidet. Im besten Falle kalkuliert er erfolg-<br />
126
eich. Mehr ist über ihn als Menschen nicht mehr zu sagen. Hobbes' Umbauprojekt<br />
ist erfolgreich abgeschlossen worden.<br />
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