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Leseprobe_Schwertläufer II

Leseprobe Schwertläufer Band II

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Jan Peter Andres<br />

<strong>Schwertläufer</strong>


Band <strong>II</strong><br />

Die Schlüssel von Ormor<br />

Was bisher geschah<br />

Kälte und Düsternis liegen über den Ländern um das nördliche<br />

Taurongebirge. Nur einen Weg gibt es, dem verderblichen Treiben<br />

des Tarantuil, des Nebelbergs, Einhalt zu gebieten. Die<br />

Schlüssel von Ormor müssen gefunden werden. Zu Mitte des<br />

Jahres 2941 machen sich die <strong>Schwertläufer</strong> Robin und Bero mit<br />

dem Elm Boffo auf die Suche. Den ersten Schlüssel namens Khor<br />

entdecken sie in den Ruinen von Bahor. Auf dem Weg nach<br />

Westen treffen sie ihre Freunde und Waffenbrüder Lorin und<br />

Bert. Gemeinsam gelangen die fünf zur schwarzen Festung<br />

Ormor. Doch Khrit, der zweite Schlüssel, bleibt verschollen. Die<br />

Reise geht weiter. Als Lorin verletzt wird, trennen sich die Wege<br />

der Gefährten. Robin, Bero und Boffo erreichen allein das Land<br />

Arangion am westlichen Ende des Kontinents Laudora. Dort<br />

wollen sie die letzten Elme vom Volk der Sirdain suchen. Die<br />

Bewahrer des zweiten Schlüssels.


Erste Auflage: Band <strong>II</strong>, Die Schlüssel von Ormor: November 2017<br />

Bereits erschienen: Band I, Die Reise nach Arangion: März 2017<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische<br />

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

Verlag Heinz Späthling, Weißenstadt<br />

Copyright © 2015 - 2017 – Alle Rechte vorbehalten<br />

Karten auf Vor- und Nachsatz: © 2015 Peter Engerisser<br />

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss<br />

Titelillustration: Tomasz Maroński<br />

Satz und Herstellung: Druckkultur Späthling, Weißenstadt<br />

Verarbeitung und Bindung: Müller Buchbinderei GmbH, Leipzig<br />

Auf säurefreiem und alterungsbeständigen Werkdruckpapier gedruckt<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-942668-34-7


INHALT<br />

Zweiter Teil – Die Schlüssel von Ormor<br />

Erstes Kapitel:<br />

Der Solhir............................................7<br />

Zweites Kapitel:<br />

Die Ruinen von Sethor....................44<br />

Drittes Kapitel<br />

Unterwelt..........................................61<br />

Viertes Kapitel:<br />

Irrlichter............................................87<br />

Fünftes Kapitel:<br />

Die Regenbogenbrücke.................115<br />

Sechstes Kapitel: Die Zwerge von Nimbor ..............153<br />

Siebtes Kapitel: Jäger und Gejagte ..........................184<br />

Achtes Kapitel:<br />

Kutschfahrt.....................................217<br />

Neuntes Kapitel:<br />

Im Zeichen des Krebses................247<br />

Zehntes Kapitel: Das blaue Buch ..............................281<br />

Elftes Kapitel: Novembersonne ............................315<br />

Zwölftes Kapitel:<br />

Die Stadt am Meer.........................352<br />

Dreizehntes Kapitel:<br />

Südwind..........................................391<br />

Vierzehntes Kapitel: Die Ankunft der Botin ..................430<br />

Fünfzehntes Kapitel:<br />

Der Weg ist versperrt....................454<br />

Dritter Teil – Das Zepter Aranurs<br />

Erstes Kapitel:<br />

Schatten in der Dunkelheit...........494<br />

Zweites Kapitel: Sternenstrahl ..................................529<br />

Drittes Kapitel: Der Plan des Schwertmeisters .....562<br />

Viertes Kapitel: Im Bann des Morhultzeichens .....593<br />

Fünftes Kapitel: Das Dorf ohne Namen ..................622<br />

Sechstes Kapitel: Das schwarze Tor ..........................661<br />

Siebtes Kapitel:<br />

Pinutil..............................................692<br />

Achtes Kapitel: Die Wächter Trintals .....................730<br />

Neuntes Kapitel: Die Pforte von Rok ........................760<br />

Zehntes Kapitel:<br />

Heimwärts......................................792<br />

Elftes Kapitel:<br />

Die Rückkehr der Sirdain.............813<br />

Zwölftes Kapitel: Rauquellgeflüster ..........................833<br />

Anhang I:<br />

Anhang <strong>II</strong>:<br />

Der Weg der Gefährten.................839<br />

Namensregister..............................843


Zweiter Teil<br />

Die Schlüssel von Ormor<br />

Diese Geschichte spielt in einer fiktiven Welt zu einer fiktiven<br />

Zeit. Die darin vorkommenden Jahresangaben stehen in keinem<br />

Bezug zu unserer Zeitrechnung.


Erstes Kapitel<br />

Der Solhir<br />

Robin, Bero und Boffo fanden den Grünen Papagei genau so<br />

vor, wie ihn der bärtige Angler an der Kaimauer beschrieben<br />

hatte. Von außen wenig einladend, doch in seinem Innern gemütlich<br />

und aufgeräumt. Die vom Rauch dunkle Wirtsstube war<br />

spärlich beleuchtet. Obwohl es erst kurz nach Mittag war, drang<br />

vom trüben Licht dieses regnerischen Tages nur wenig durch die<br />

kleinen Fenster. Den Rest an Helligkeit spendeten eine von der<br />

Decke hängende Öllampe und eine Laterne, die auf dem Tresen<br />

stand.<br />

An diesem Mittwoch war das Wirtshaus gut besucht. Vielleicht<br />

gerade deshalb, weil Feiertag war. Es waren einfache<br />

Männer, Arbeiter und Handwerker, die hier ihr Bier tranken.<br />

Robin nahm an, dass die meisten von ihnen Junggesellen waren,<br />

auf die keine Familien zuhause warteten. Einige spielten Karten<br />

und wieder andere widmeten sich ihrer Mahlzeit, die eine<br />

Dienstmagd auf Zuruf des Wirts aus der Küche brachte. Über<br />

allem lag Stimmengewirr und dichter Pfeifenrauch.<br />

Die beiden <strong>Schwertläufer</strong> und der Elm 1 wurden neugierig<br />

gemustert. Vor allem letzterer erregte Aufmerksamkeit. Mancher<br />

der Anwesenden betrachtete ihn mit einem Kopfschütteln, andere<br />

mit einem Blick, als erinnere sie der kleine Kerl an etwas, das<br />

sie längst vergessen zu haben schienen.<br />

»Wenn ihr etwas essen wollt, setzt euch lieber in den Nebenraum<br />

... wie sagtet ihr, waren eure Namen?« Der Wirt war ein<br />

grobknochiger, großer Mann, mit dicken Unterarmen, riesigen<br />

1<br />

Über <strong>Schwertläufer</strong> siehe S. 862; mehr »Über Elme« im Anhang von Band I.<br />

7


Händen und ohne übertrieben höfliche Umgangsformen. Aber<br />

seine Augen blickten lebhaft und vermittelten den Eindruck,<br />

dass man ihm vertrauen könne. Bevor sie die Wirtsstube betreten<br />

hatten, hatte er Anweisungen gegeben, die Pferde unterzubringen<br />

und ihren Besitzern die Kammer gezeigt, wo sie die Nacht<br />

verbringen sollten. Sie war klein und dunkel, nur mit einem<br />

Bretterregal und einem Etagenbett möbliert. Doch gab es frische<br />

Bettwäsche.<br />

»Wir hatten noch nicht die Gelegenheit, uns vorzustellen«,<br />

erwiderte Robin, der sich angesprochen fühlte. »Mein Name ist<br />

Robin Rob, dies ist Herr Bero Bordin und unser kleiner Begleiter<br />

hier heißt Boffo.«<br />

»Nun gut, dort drüben ist’s jedenfalls ruhiger und weniger<br />

rauchig.« Der Wirt drückte die Klinke einer Seitentür. Essensduft<br />

drang heraus und weckte ihren Hunger. Deshalb befolgten sie<br />

seinen Rat und begaben sich ins Nebenzimmer. Hier saßen nur<br />

zwei Männer, an zwei verschiedenen Tischen für sich allein<br />

essend. Auf Robin wirkten sie wie Handlungsreisende. Bis auf<br />

ein knappes Kopfnicken zur Begrüßung nahmen sie keine Notiz<br />

von den Neuankömmlingen. Der dritte Tisch war frei und dort<br />

ließen sie sich nieder. Wenig später brachte die Küchenmagd<br />

drei Teller dicke Bohnen mit Speck und einen Brotkorb. Dazu<br />

stellte der Wirt drei Krüge mit dunklem Bier auf die blank gescheuerte<br />

Tischplatte.<br />

»Nicht gerade ein Festmahl, aber schmeckt nicht übel«, sagte<br />

Bero kauend und schob sich einen weiteren Löffel Bohnen in den<br />

Mund. »Eigentlich genau das Richtige, bei dem Wetter.«<br />

Boffo nickte und brach sich ein Stück Brot ab. Auch Robins<br />

Appetit stellte sich ein, nachdem er einen guten Zug aus seinem<br />

Krug genommen hatte. Das Bier war nicht besonders kalt, aber<br />

es schmeckte kräftig und nach Malz. Und die Bohnen waren gut<br />

gewürzt. Mit viel Zwiebeln und Speck zubereitet. Eine typische<br />

Mahlzeit für Schwerarbeiter. Robin vermutete, dass sie auch<br />

gestern schon auf der Speisekarte gestanden hatte.<br />

»Wie ich euch sagte. Nach einem kräftigen Essen und einem<br />

8


guten Schluck sieht die Welt ganz anders aus.« Boffo stellte<br />

seinen Krug zurück und wischte sich mit dem Handrücken den<br />

Bierschaum aus dem Bart.<br />

»Heißt das, du hast einen Plan, wie wir weiter vorgehen sollen?«,<br />

fragte Robin.<br />

»Keinen speziellen. Aber ich habe das Gefühl, dass wir hier in<br />

Sirdun nicht viel erreichen werden. Natürlich werden wir uns<br />

umhören. Ein paar Leute befragen. Wenn wir Glück haben,<br />

findet sich vielleicht auch jemand, der etwas Genaueres weiß.<br />

Doch dass wir letztendlich weiter nach Westen müssen, steht für<br />

mich jetzt schon außer Frage. Mit großer Wahrscheinlichkeit bis<br />

zum Arnokgebirge. Darauf deutet Einiges hin. Doch wohin<br />

genau, das müssen wir noch herausfinden.«<br />

»Und das eben ist unser Problem«, sagte Bero. »Wir wissen ja<br />

noch nicht einmal, nach was genau wir fragen sollen. Nach<br />

Elmen? Nach einem Schlüssel? Jedenfalls sollten wir gleich hier<br />

beim Wirt damit beginnen. Am besten in einer ruhigen Minute,<br />

wenn er mehr Zeit hat. Im Moment machen wir nur die Pferde<br />

scheu.«<br />

»Der Meinung bin ich auch«, sagte Robin. »Deshalb schlage<br />

ich vor, dass wir den Nachmittag nutzen und uns vorher ein<br />

wenig umsehen. Mir geht dieser Jeromir nicht aus dem Sinn.<br />

Auch wenn sein Haus verfallen ist. So leicht verschwindet keiner,<br />

ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Wäre vielleicht<br />

keine schlechte Idee, auf einen Sprung dort vorbeizuschauen.<br />

Und heute, wo auf den Straßen wenig los ist, stört uns sicher<br />

niemand.«<br />

»Von mir aus«, sagte Bero. »Ein kleiner Verdauungsspaziergang<br />

kann nicht schaden. Vorausgesetzt, es regnet nicht mehr.«<br />

Es regnete noch immer, als sich die drei auf den Weg zum<br />

Ladekai machten. Wenn auch nicht mehr so sehr, wie auf dem<br />

Herweg. Die Promenade war jetzt menschenleer. Eine seltsame<br />

Stimmung lag über der Stadt. Kein Vogel oder anderes Getier<br />

war zu hören. Es schien, als wolle sich selbst das brauntrübe<br />

9


Wasser des Legris möglichst lautlos an dieser trostlosen Szenerie<br />

vorbei schleichen. Nur der Regen plätscherte monoton in die<br />

Wasserpfützen, die sich auf dem Pflaster gebildet hatten.<br />

Die Gartentür vor dem Haus des Trödlers hing schief in dem<br />

einen ihr verblieben Scharnier. Einige zerborstene Steinstufen<br />

führten hinauf zur Haustür, die nur angelehnt war. Robin drückte<br />

sie auf und die drei traten in einen düsteren Flur. Allerhand<br />

Unrat und kaputte Einrichtungsgegenstände lagen herum. Nach<br />

oben führte eine Treppe, die auf halbem Wege eingebrochen<br />

war. Durch die Decke tropfte es. Es roch modrig und nach Exkrementen.<br />

Robin öffnete eine der seitlichen Türen. Sie führte in einen<br />

kahlen Raum mit Fenstern zum Hinterhof. Ein roh gezimmertes<br />

Regal lag umgestürzt auf dem Fußboden. Sein ehemaliger Inhalt<br />

war zerstreut: stockfleckiges Papier, ein paar alte Kleidungsstücke<br />

und anderes wertloses Zeug. Für alle anderen noch brauchbaren<br />

Sachen hatten sich, so konnte man vermuten, bereits neue<br />

Besitzer gefunden.<br />

»Lasst uns hier verschwinden«, drängte Bero. »Am Ende verhaftet<br />

man uns noch wegen unbefugten Eindringens in fremden<br />

Besitz.«<br />

»Bero hat recht«, sagte Boffo und scharrte mit der Stiefelspitze<br />

in den Papierfetzen. »Hier gibt es wohl nichts, was noch von<br />

Wert für uns sein könnte.«<br />

Robin antwortete nicht gleich, denn eine seltsame Kleinigkeit<br />

hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Neben einem hellen Fleck an<br />

der Wand, wo ehemals vermutlich ein Schrank gestanden hatte,<br />

hing noch ein Bild in einem zerbrochenen Glasrahmen. Robin<br />

trat davor und sah es sich genauer an. Es war eine Federzeichnung.<br />

Nicht groß, doch sorgfältig ausgeführt. Und sie zeigte eine<br />

Landschaft. Den Hintergrund bildeten die zerklüfteten Züge<br />

eines Gebirges. Davor erstreckte sich eine sanft geschwungene<br />

Hügellandschaft. An einen der Berghänge schmiegten sich<br />

merkwürdige Gebäude. Sie waren aus sorgfältig behauenen und<br />

verzierten Steinen kunstvoll erbaut, ähnlich den Tempeln einer<br />

10


Kultstätte. Aus ihrer Mitte ragte ein kuppelgekrönter Turm mit<br />

einem hohen, säulenflankierten Portal.<br />

»SOLHIR IU LINUVAR«, las Robin vor, der mittlerweile einige<br />

elmische Buchstaben von Boffo gelernt hatte. In diesem Augenblick<br />

stand der Elm bereits neben ihm.<br />

»Lass mich einen genaueren Blick darauf werfen«, bat er und<br />

streckte beide Hände in Richtung des Bildes. Robin nahm es von<br />

der Wand, zog das Papier aus dem kaputten Rahmen und reichte<br />

es dem Elm.<br />

»Manchmal bist du einfach nur ein Glückspilz, mein Lieber«,<br />

sagte der, nachdem er sich die Zeichnung eine Weile betrachtet<br />

hatte. »Aber heute bist du ein Glücksfall für uns alle. Die Überschrift<br />

hier lautet: ›Der Sonnenschrein in Linuvar‹. Erinnerst du<br />

dich an das Tontäfelchen, welches Meridoz in Ormor zurückgelassen<br />

hatte? Auf dem stand, man solle Khrit im Sonnenschrein<br />

suchen. Doch stand dort nicht, wo sich dieser befindet.«<br />

»Vielleicht, weil es Meridoz damals selbst noch nicht wusste?«<br />

Robin zog fragend die Brauen hoch.<br />

»Möglicherweise. Aber jetzt wissen wir es. Denn Linuvar ist<br />

in meiner Karte verzeichnet. Am nördlichen Ende des Arnokgebirges<br />

liegt es, wo der Legris entspringt. Dorthin müssen wir.<br />

Schon morgen früh sollten wir los. Unser geplanter Ruhetag<br />

muss leider ausfallen.«<br />

Am Abend war Hochbetrieb im Grünen Papagei. Selbst das<br />

Nebenzimmer war voll besetzt. Robin, Bero und Boffo hatten<br />

sich nur kurz auf einen Krug Bier in der Gaststube sehen lassen<br />

wollen, um anschließend zeitig zu Bett zu gehen. Doch daraus<br />

wurde nichts. Zahlreiche Gäste hatten sich zu ihnen gesellt,<br />

saßen und standen um ihren Tisch herum, fragten nach dem<br />

Grund ihres Aufenthaltes, woher sie kamen und wohin sie gingen.<br />

Vor allem Boffo hatte es ihnen angetan. Von solchen kleinen<br />

Leuten hätten ihnen ihre Großmütter erzählt. Ob es noch mehr<br />

von ihm gäbe? Denn es hieß, die kleinen Kerle sollen nachts in<br />

die Wohnstuben kommen. Und am Morgen wäre dann alles<br />

11


aufgeräumt und die Arbeit getan. Boffo ließ ihre Fragen geduldig<br />

über sich ergehen, sagte dieses und jenes, doch nicht zu viel.<br />

Bero und Robin hörten zu, interessiert und amüsiert, bemühten<br />

sich jedoch zu Boffos Ausführungen ernst zu bleiben.<br />

»Ja!«, sagte der schließlich. »Dieses Land gehörte einst den<br />

kleinen Leuten. Und ein mächtiger Herrscher regierte es. Fürst<br />

Tantriloz hieß er. Überall im Land herrschte Zufriedenheit und<br />

Wohlstand, so erzählt man. Und alles war sauber und adrett.<br />

Aber das war vor langer Zeit. Doch irgendwann scheint es den<br />

kleinen Leuten hier nicht mehr gefallen zu haben. Denn sie sind<br />

weg. Zerstreut in alle Winde. So wie ich und meine Verwandtschaft.«<br />

»Dass ich nicht lache!«, ließ sich einer der Umstehenden vernehmen.<br />

»Ein Fürst der Wichtelmänner! Und alles sauber! Hier<br />

in Arangion hat es immer nur eines gegeben: Kohle und Erdpech.<br />

Und solange es die gibt, wird es uns gut gehen. Unsere<br />

Kohlebarone sorgen schon dafür, dass auch für die einfachen<br />

Arbeiter noch etwas abfällt. Dazu brauchen wir keine Fürsten,<br />

die nur auf ihren eigenen Reichtum bedacht sind. Und gerade<br />

dieses feiern wir heute. Auf die Abschaffung der Fürstenherrschaft!«<br />

Er hob seinen Krug und nahm einen kräftigen Schluck.<br />

»Solche Umstürze lob ich mir«, murmelte Bero halblaut vor<br />

sich hin, »wenn dadurch jemand an die Macht kommt, der das<br />

Land ausbeutet und die Gegend verunstaltet.«<br />

»Nun ist’s aber gut«, mischte sich der Wirt ein. »Setzt euch<br />

wieder auf eure Plätze. Unsere Gäste wollen in Ruhe essen.« Er<br />

stellte Brot, Käse und Wurst auf den Tisch.<br />

»Kanntet Ihr eigentlich Jeromir, den Trödler, Herr Wirt?«,<br />

fragte Boffo, als die Umstehenden sich langsam wieder im Gastzimmer<br />

zerstreuten. »Man sagt, er war einer der wenigen, die<br />

sich mit der Geschichte dieses Landes beschäftigten.«<br />

»Natürlich kannte ich ihn. Er war ja öfter auf ein Bierchen<br />

hier. Ob er sich mit Geschichte beschäftigte, weiß ich nicht. Was<br />

er in seiner freien Zeit trieb, wusste niemand so genau. Nur, dass<br />

er sich in seinen letzten Jahren immer weniger seinem eigentli-<br />

12


chen Beruf widmete. Ich meine, dem Sammeln von Lumpen und<br />

Altpapier. Dafür hat er anderes seltsames Zeug zusammengetragen.<br />

Altertümer, oder was weiß ich. Allen möglichen Trödelkram<br />

eben. Geld hatte er erstaunlicherweise immer. Er war nicht<br />

reich, aber zum Leben hat’s gut gereicht. Zuletzt ist er auch öfter<br />

verreist. Als fahrender Händler, wie er sich zuletzt bezeichnete.<br />

Hat auch immer erzählt, er wolle irgendwann ein Buch schreiben.<br />

Doch über was, hat er nicht verraten. Er war eben ein komischer<br />

Kauz. Vor ein paar Jahren ist er dann gestorben, ziemlich<br />

unerwartet. Warum interessiert ihr euch für Ihn?«<br />

»Nun, auch wir sammeln Altertümer«, sagte Boffo. »Alte Bücher,<br />

Bilder und ähnliches. Dachten, wir könnten ihm vielleicht<br />

etwas abkaufen.«<br />

»Tut mir leid, da habt ihr wohl Pech gehabt. Seit Jeromir tot<br />

ist, kümmert sich hier niemand mehr um solches Zeug. Und das,<br />

was Jeromir zurückgelassen hat, ist wer weiß wo. Wahrscheinlich<br />

längst verrottet.« Der Wirt zuckte die Schultern und machte<br />

sich daran, nach seinen anderen Gästen zu sehen.<br />

Die drei Freunde staunten nicht schlecht, als sie am folgenden<br />

Tag auf die geschäftige Betriebsamkeit am Kai und auf der Uferpromenade<br />

von Sirdun blickten. Gestern noch wie ausgestorben,<br />

wimmelte es heute hier nur so von Menschen und Tieren.<br />

Schwer mit Fässern oder Schüttgut beladene Karren holperten<br />

über das Pflaster und entluden ihre Fracht an den Anlegeplätzen.<br />

Dazwischen tummelten sich Hafenarbeiter und Lastenträger<br />

mit schmutzigen Kitteln. An den Marktständen in Ufernähe<br />

boten Händler und Marktfrauen Fisch, Fleisch und Gemüse feil.<br />

Geräucherten Speck, Bohnen und etwas Hafer hatten die Gefährten<br />

vor ihrer Abreise dem Wirt abgekauft. Und hier auf dem<br />

Markt besorgten Robin und Bero noch Eier, etwas Obst, ein Rad<br />

harten Käse und einige Gewürze. Ein paar hundert Schritt flussabwärts<br />

fanden sie die Poststation, zu der ihnen der Wirt vom<br />

Grünen Papagei den Weg gewiesen hatte. Dort hinterließ Boffo<br />

folgende Nachricht an Lorin und Bert:<br />

13


Mussten weiterziehen nach Linuvar am Arnokgebirge. Folgt dem<br />

Fluss in nordwestlicher Richtung bis zu seinem Ursprung. Oder wartet<br />

hier auf unsere Rückkehr. Sirdun, 5. September 2941. Boffo, Robin<br />

und Bero.<br />

Nachdem das erledigt war, machten sie kehrt und ritten am<br />

östlichen Ufer des Legris flussaufwärts. Dort gab es keine ausgebaute<br />

Straße. Nur einen Treidelpfad, morastig und voller Schlaglöcher.<br />

Obwohl Boffo merklich aufgeregt war und seit dem Morgen<br />

zum Aufbruch gedrängt hatte, hatten die Gefährten mit der<br />

Abreise bis zum Mittag gewartet. So konnten sie ihre Einkäufe<br />

tätigen und die Pferde hatten, so wie in Norgid auch, vierundzwanzig<br />

Stunden Ruhe. Die hatte ihnen gut getan. Sie waren<br />

munter und fühlten sich sichtlich wohl. Im Gegensatz zu ihren<br />

Reitern. Robin hatte einen kräftigen Muskelkater und auch Bero<br />

richtete sich öfter im Sattel auf, um seine Sitzposition zu ändern.<br />

Beide ließen die Zügel lang, so dass sich die Pferde ihren eigenen<br />

Weg zwischen den zahlreichen Wasserpfützen suchen konnten.<br />

Nur Boffo schien keinerlei Beschwerden zu haben. Er saß gut<br />

gelaunt auf Sid und die kleine Stute trottete unbeschwert voraus.<br />

Bero folgte auf Groll und Robin bildete mit Reno das Schlusslicht.<br />

Zu ihrer Rechten gab es immer noch Gruben und Abraumhalden,<br />

die davon kündeten, dass man auch hier nach Kohle<br />

schürfte, oder geschürft hatte. Und das Wetter tat ein Übriges<br />

dazu, dass Robin dieser Gegend wenig Reizvolles abgewinnen<br />

konnte. Der Regen hatte im Laufe des Vormittags aufgehört.<br />

Aber der Himmel war nach wie vor grau verhangen. Bisweilen<br />

zogen dunkle Wolkenspiralen aus Westen kommend über sie<br />

hinweg. Doch sie behielten ihre Last – wohl um sie weiter im<br />

Osten, vielleicht über Norgid oder an den Hängen des Borungebirges<br />

loszuwerden.<br />

Es war schwülwarm. Hatten gestern noch leichter Wind und<br />

Regen für Abkühlung gesorgt, so machte an diesem Tag die<br />

14


feuchte Wärme Reitern und Pferden mächtig zu schaffen. Bereits<br />

seit Norgid hatte niemand der drei mehr daran gedacht, ein<br />

Panzerhemd oder ähnlich feste Kleidung zu tragen. Nur das<br />

nötigste trugen sie am Leib, den Rest führten sie quer hinter den<br />

Sätteln verzurrt oder in ihren Gepäcktaschen mit. Doch hatten<br />

sie ihre Mäntel und Umhänge übergeworfen. Einerseits in Erwartung<br />

des nächsten Schauers. Vor allem aber, um sich die<br />

zahlreichen Mücken und anderen Blutsauger vom Leib zu halten,<br />

die sie umschwirrten. Glücklicherweise hatte Boffo noch<br />

einen kleinen Rest seines Mittels, dass ihnen seit damals im<br />

Tribortal so oft geholfen hatte. Somit blieb diese Plage, auch für<br />

die Pferde, erträglich.<br />

Wider Erwarten kamen sie trotz der schlechten Wegverhältnisse<br />

gut voran. Am Abend des folgenden Tages erreichten sie<br />

Targit, eine Bergbausiedlung. Hier hielten sie sich nicht lange<br />

auf, zumal nichts auf eine komfortable Unterkunft hindeutete.<br />

Robin kaufte lediglich einige Laibe frisches Brot in einer Bäckerei,<br />

die am Weg lag.<br />

In Targit endete der Treidelweg am Ufer des Legris und ein<br />

schmaler, kaum sichtbarer Pfad zog sich weiter am Fluss entlang.<br />

Er war nicht gepflegt und augenscheinlich wenig begangen.<br />

Doch gerade deshalb auch weniger morastig. Ihm folgten die<br />

Gefährten, in der Absicht, das Tageslicht so lange wie möglich<br />

zu nutzen.<br />

Die schnell wachsenden Wolkenberge über den Höhen des<br />

Arnokgebirges verhießen nichts Gutes und lauter werdender<br />

Donner rollte von Westen heran. Gerade noch rechtzeitig, bevor<br />

das Gewitter losbrach, erreichten sie eine halbverfallene Bootshütte<br />

am Flussufer. Obwohl diese nur ein halbes Dach hatte,<br />

hielt sie Pferde, Reiter und Gepäck weitgehend trocken. Als<br />

gegen neun Uhr eine bleiche Mondsichel am Horizont emporstieg,<br />

hatte sich das Unwetter verzogen. Die Pferde wurden zum<br />

Grasen entlassen und die Reiter machten es sich auf den Bretterdielen<br />

unter dem Vordach bequem.<br />

15


Der folgende Tag blieb wolkenverhangen und die feuchte<br />

Luft lastete drückend auf Mensch und Tier. Erst in der dritten<br />

Nacht seit ihrem Aufbruch aus Sirdun kam Wind aus Süden auf<br />

und am Beginn des vierten Tages begrüßte sie ein strahlend<br />

blauer Himmel. Das schwülwarme Wetter der letzten Tage war<br />

vorüber.<br />

Robin fühlte sich erfrischt, das Atmen fiel ihm leichter und<br />

selbst die trüben Gedanken, die ihn in letzter Zeit öfter gequält<br />

hatten, waren wie weggeblasen. Er schälte sich aus seiner Decke,<br />

streckte sich und sog die kühle Morgenluft ein. Und mit ihr<br />

einen weiteren Duft, der ihm auch den letzten Rest von Müdigkeit<br />

aus Kopf und Gliedern vertrieb: Über der nahen Feuerstelle<br />

rührte Bero in einer Pfanne mit Eiern und Speck.<br />

Die Kastanie, unter der sie geschlafen hatten, stand auf einer<br />

Anhöhe. Denn die Wanderer hatten am Vorabend nach einem<br />

kühlen Platz für die Nacht gesucht. Jetzt, am Morgen, bot sich<br />

ihnen von hier ein Blick, den sie kaum erwartet hätten. Zumal<br />

die klare Luft des neuen Tages wie ein Vergrößerungsglas wirkte.<br />

Die trostlose und gequälte Landschaft des Ostens war verschwunden.<br />

Rings um sie lagen sanfte Hügeln, und eingebettet<br />

darin ein beschauliches Tal, durch welches sich der Legris<br />

schlängelte.<br />

Vor ihnen, im Westen, erhoben sich die Berge des Arnokgebirges.<br />

Nicht schroff und felsig, sondern grün bis in große Höhen.<br />

Nur die allerhöchsten Gipfel zeigten ihre Felsengesichter<br />

und auf einigen von ihnen leuchteten weiße Schneemützen. Fast<br />

fühlte sich Robin an den Beginn der zweiten Etappe ihrer Reise<br />

zurückversetzt. An die Zeit, als sie von Ormor aufbrachen und in<br />

die Sonne fuhren. Als alles einfach schien und die ihrer harrenden<br />

Abenteuer noch einen ungewissen, doch verlockenden Reiz<br />

ausübten.<br />

»Wenn du noch lange überlegst, versäumst du das Beste!«,<br />

rief Bero. »Oder möchtest du deine Rühreier kalt essen?«<br />

»Möchte ich nicht!«, antwortete Robin, setzte sich an die Feuerstelle<br />

und nahm die Blechtasse mit heißem Tee, die ihm Boffo<br />

16


eichte. Erst nach einem langen und geruhsamen Frühstück<br />

sattelten sie die Pferde und machten sich auf den Weg.<br />

Der Tag wurde heiß. Deshalb begrüßten es die Freunde, als<br />

sie um die Mittagszeit einen lichten Laubwald erreichten. Boffo,<br />

der die Gruppe anführte, bemühte sich, dem nur schwach sichtbaren<br />

Pfad zu folgen, der sich ein wenig vom Legris entfernte<br />

und leicht aber stetig an Höhe gewann. Er war mit Moos und<br />

Flechten überwachsen und die Pferde gingen auf ihm fast lautlos,<br />

wie auf einem grünen Teppich. Zartrosa und violette Blüten<br />

von wilden Malven, Salbei und Tausendgüldenkraut säumten<br />

den Weg. Angelockt von Duft und Farbe suchten Bienen und<br />

Hummeln dort ihre Nahrung. Robin fragte sich, ob jetzt wohl<br />

auch im Westwald die Heide blühen würde. Ihn beschlich eine<br />

vage Furcht, dass es dort, anstatt spätsommerlich warm, trübe<br />

und kalt sein könnte. Doch er verwarf seine Bedenken wieder.<br />

Sicher war die Ernte in Fornland dieses Jahr nicht so gut ausgefallen.<br />

Aber dann gab es immer noch das fruchtbare Iridien. Man<br />

würde sich schon zu helfen wissen. Vielleicht waren seine Sorgen<br />

auch völlig unbegründet und die Bauern würden auch in<br />

Fornland bald mit der Kartoffelernte beginnen.<br />

Gegen Nachmittag wich der Wald zurück und machte den<br />

Blick auf das Gebirge frei, dass nun zum Greifen nahe schien.<br />

Nur eine Reihe alter Bergahornbäume und niederes Gebüsch<br />

säumten den jetzt gut sichtbaren Weg zu beiden Seiten wie eine<br />

Allee. Sie spendeten Schatten gegen die im Westen über dem<br />

Gebirgskamm stehende Sonne.<br />

Das Wechselspiel von Sonne und Schatten, das Summen der<br />

Insekten und die Hitze des Tages machten Robin müde. Sein<br />

Kopf sank nach vorne auf die Brust. Bunte Gedanken begannen<br />

in seinem Kopf zu kreisen und formierten sich zu einem farbenfrohen<br />

Geschehen, welches schnell Gestalt und Handlung annahm:<br />

Er lag auf den sonnengewärmten Stufen einer rötlichgelben<br />

Steinpyramide und blickte in den azurblauen Himmel, in<br />

dem ein einzelnes, weißes Wolkenschiff trieb. Gerade hoffte er,<br />

17


den Inhalt seines Traums zu begreifen, als er aufschreckte. Sein<br />

Pferd war stehen geblieben. Er versuchte sich zu orientieren. Vor<br />

ihm hatten auch Bero und Boffo angehalten. Sie saßen still auf<br />

ihren Pferden und hatten ihre Blicke auf den Weg vor sich gerichtet.<br />

Dort, in einer Entfernung von kaum dreißig Schritten, standen<br />

zwei kleine Gestalten. Mit großen Augen, mehr erstaunt, als<br />

ängstlich, betrachteten sie die Ankömmlinge. Doch plötzlich<br />

sprangen sie zur Seite und verschwanden in den Büschen.<br />

»Noromind!«, rief ihnen Boffo auf elmisch nach.<br />

Es dauerte einige Augenblicke. Dann lugten die beiden hinter<br />

einem dicken Baumstamm hervor. Boffo stieg von Sid ab und<br />

ging langsam auf sie zu. Auch die Elme kamen jetzt hinter ihrem<br />

Baum hervor. Sie trugen weite Hosen und Kittel aus Leinen in<br />

hellen Braun- und Ockertönen, hellbeige Hemden aus einer Art<br />

Nesselstoff und ihre Füße steckten in kunstvoll geflochtenen<br />

Bastschuhen.<br />

»Nirui melor a lon nuhirim varlor Sirdain«, sagte Boffo.<br />

»Nirim tui, Helinsar«, entgegnete der ältere der beiden.<br />

»Itim Falbor, lenui nerbain Robin’ir Bero. Arduir sahor eluhi<br />

Helin val Eluil a Fornor.« Boffo streckte beide Hände zum Gruß<br />

aus. Die beiden ergriffen Boffos Hände einer nach dem anderen<br />

und der Ältere von ihnen erwiderte: »Itim Tarimond, lenir Tinuvil.<br />

Narim vailar nuhir, utir nerbain.« 2<br />

Auch Bero und Robin waren von ihren Pferden gestiegen. Sie<br />

gingen auf die Elme zu und gaben ihnen die Hand.<br />

»Bitte entschuldigt unsere Scheu«, sagte der Ältere in gebrochenem<br />

Laudoranisch. »Nur selten kommen Fremde vom großen<br />

2<br />

»Ihr müsst euch nicht fürchten!«<br />

»Seid gegrüßt, meine Brüder vom Volk der Sirdain.«<br />

»Sei gegrüßt, Elmenreisender.«<br />

»Ich bin Falbor und dies sind meine Gefährten Robin und Bero. Wir kommen<br />

aus dem Osten als Boten der Elme aus dem Rauquelltal in Fornland.«<br />

»Ich bin Tarimond und das ist Tinuvil. Sei willkommen Bruder, mitsamt deinen<br />

Begleitern.«<br />

18


Volk in unsere Gegend. Und noch nie haben wir einen Elm gesehen,<br />

der nicht aus unserer Gemeinschaft kam.«<br />

»Dies gilt ebenso für uns«, antworte Boffo. »Sehr weit sind<br />

wir gereist, um euch zu finden.«<br />

»Und ihr findet uns in großer Verzweiflung, denn ein Unglück<br />

ist uns geschehen. Und arges Unrecht hat man uns angetan.«<br />

»Welches Unrecht, Tarimond?« Boffos Augen weiteten sich.<br />

»Es waren die Zwerge«, erwiderte der Gefragte. »Fünf Tage<br />

nach dem letzten Vollmond kamen sie. Sie fielen über uns her<br />

und schlugen uns. Und sie nahmen uns unseren kostbarsten<br />

Besitz.«<br />

»Euren kostbarsten Besitz?« Boffo zuckte kaum merklich zusammen.<br />

»Ja, den Solmen, den Sonnenstein!« Tarimond machte mit<br />

beiden Händen eine Bewegung, als wolle er einen Gegenstand<br />

von großer Wichtigkeit darstellen. »Obwohl er gut verborgen<br />

war, haben sie ihn gefunden. Weil er im Dunklen leuchtete. Und<br />

weil sie endlos gierig nach seltenen Kristallen sind, wollten sie<br />

ihn. So sehr, dass sie Nelin erschlugen, der den Stein beschützen<br />

wollte.«<br />

Robins beunruhigende Ahnung wurde plötzlich zur Gewissheit.<br />

Ihm schwindelte. Und er hatte das Gefühl, als würde ihm<br />

der Boden unter den Füßen weggezogen. Die Äußerungen des<br />

Elms konnte nur eines bedeuten: dass ihnen die Zwerge zuvorgekommen<br />

waren.<br />

»Das ist in der Tat ein großes Unglück«, sagte Boffo. Man<br />

konnte seiner Stimme anmerken, wie sehr er versuchte, seine<br />

innere Unruhe zu unterdrücken. »Wir möchten mehr darüber<br />

erfahren, doch später. Zu weit sind wir gereist und zu lange<br />

waren wir unterwegs. Wir bitten euch, uns zu eurem Fürsten zu<br />

führen, denn wir haben dringende Fragen an ihn.«<br />

»Unserem Fürsten?« Jetzt meldete sich auch der jüngere der<br />

beiden, der mit dem Namen Tinuvil vorgestellt worden war, zu<br />

Wort und schüttelte den Kopf. »Einen Fürsten der Sirdain gibt es<br />

19


seit dem Tod Fürst Narduils nicht mehr. Und das ist länger als<br />

zweihundert Jahre her, wenn man den Überlieferungen glauben<br />

mag. Ihr könnt mit Salir sprechen. Er ist der Älteste und das<br />

Oberhaupt unserer Gemeinde. Folgt uns! Nach Linuvar ist es<br />

noch ein gutes Stück Wegs.«<br />

Er drehte sich um und schritt an der Seite Tarimonds voraus.<br />

Boffo, Robin und Bero folgten und führten ihre Pferde am Zügel.<br />

»Denkst du, was ich denke?«, fragte Robin Boffo nach einigen<br />

Momenten betretenen Schweigens.<br />

»Ja!«, erwiderte Boffo. »Auch ich befürchte, dass es geschehen<br />

sein könnte.«<br />

»Das hieße, unsere Reise wäre umsonst gewesen. Und all die<br />

Hoffnungen der Daheimgebliebenen vergebens.«<br />

»Ich weiß es nicht. Zumindest hieße es, dass unsere Reise länger<br />

werden könnte, und ihr Ausgang noch ungewisser. Doch<br />

daran sollten wir jetzt nicht denken. Vor allem, solange wir nicht<br />

sicher wissen, was wirklich passiert ist.«<br />

»Ich hatte seit geraumer Zeit das seltsame Gefühl, dass uns<br />

jemand zuvorkommen könnte«, fuhr Robin unbeirrt fort. »Seit<br />

den seltsamen Bemerkungen von Yal und Sirud. Und spätestens<br />

von dem Zeitpunkt an, als Jerbo uns erzählte, dass sich Zwerge<br />

im südlichen Marzadgebirge haben blicken lassen, habe ich mir<br />

Sorgen gemacht. Doch habe ich diese Gedanken verdrängt. Was<br />

sicherlich ein Fehler war. Wir hätten uns mehr beeilen sollen.«<br />

»Das hätte nichts genützt«, sagte Bero. Er war der einzige, der<br />

von den dreien erstaunlich gelassen geblieben war. »An den<br />

letzten Vollmond kann ich mich gut erinnern. Das war an dem<br />

Tag, als Boffo Lorin operierte, im Sil. Und fünf Tage später waren<br />

wir gerade auf dem Weg nach Norgid. Wir wären nie und<br />

nimmer rechtzeitig hier gewesen, selbst wenn wir die Pferde zu<br />

Schanden geritten hätten.«<br />

»Bero hat recht«, sagte Boffo. »Dies hätte nur gelingen können,<br />

wenn wir in Nergath nicht davon abgehalten worden wären,<br />

den direkten Weg nach Arangion zu wählen. Doch im<br />

Nachhinein darüber zu hadern ist sinnlos. Lasst uns zuerst se-<br />

20


hen, was wir vor Ort erfahren können. Dann werden wir überlegen,<br />

was weiter zu tun ist.«<br />

»Eine Sache möchte ich vorher aber noch gerne wissen.« Robins<br />

Stimme bekam einen vorwurfsvollen Unterton »Einige<br />

elmische Brocken verstehe ich ja nun mittlerweile auch. Doch<br />

verstehe ich nicht, warum du dich hier als Falbor vorgestellt<br />

hast. Ist das wieder eines deiner Ablenkungsmanöver?«<br />

»Keineswegs!«, antwortete Boffo unbeeindruckt. »Wir Elme<br />

haben bisweilen auch Rufnamen, die leichter von der Zunge<br />

gehen, als unsere förmlichen Namen. Mich nennt man eben<br />

Boffo. Und das sollten wir auch so beibehalten. Dass mein richtiger<br />

Name Falbor ist, spielt nur unter Elmen eine gewisse Rolle.<br />

Am besten, ihr vergesst ihn gleich wieder.«<br />

Robin schüttelte verständnislos den Kopf. Er schlug einen<br />

schnelleren Schritt an und munterte mit einem Zungenschnalzen<br />

Reno auf, ihm zu folgen. Auch Bero und Boffo beeilten sich mit<br />

ihren Pferden, denn Tarimond und Tinuvil sahen sich bereits<br />

um, wo die Besucher blieben.<br />

Ein Stück weit folgten sie dem ebenen und gerade Weg entlang<br />

der Ahornallee. Dann bog dieser in westlicher Richtung ab<br />

und führte sie hinunter in das Tal des Legris. Nicht allzu breit<br />

doch mit ungebändigter Lebhaftigkeit rauschten dessen weiß<br />

perlende Wasser zu Tal. Und dort, wo ihn der Weg berührte,<br />

schwang sich eine Brücke kühn in einem einzigen Bogen darüber.<br />

Fest gefügt aus schön behauenen und verzierten Quadern<br />

und von so meisterhafter Baukunst, wie man sie in dieser Gegend<br />

nicht erwartet hätte. Je zwei Figuren auf hohen Sockeln,<br />

kauernde katzenartige Körper mit vogelartigen Köpfen darstellend,<br />

zierten ihren Zu- und Abgang. Als die Reisenden ihre<br />

Pferde über den Scheitel ihres Bogens führten, sahen sie jenseits<br />

des Flusses in ein Seitental, das vorher ihren Blicken verborgen<br />

geblieben war. Und am hinteren Ende des Tals bot sich ihnen<br />

das gleiche Bild, wie sie es in Jeromirs verlassenem Haus gesehen<br />

hatten. Vor der der Kulisse des Arnokgebirges erhoben sich<br />

21


die Gebäude von Linuvar. Tempelgleich und seit Jahrhunderten<br />

unverändert. Aus ihrer Mitte ragte der eindrucksvolle Turm mit<br />

dem hohen Portal und in seiner goldglänzenden Kuppel spiegelte<br />

sich die Abendsonne.<br />

So nah sich Linuvar von der Brücke aus gezeigt hatte, so weit<br />

zog sich der Weg bis dorthin noch. Weitere drei Viertelstunden<br />

führte er stetig ansteigend entlang eines kleineren Quellbachs in<br />

das Tal hinein. Gegen Ende des Tals lagen zu beiden Seiten des<br />

Baches kleine Felder, Gärten und Gemüsebeete. An verschiedenen<br />

Stellen, geschützt unter strohgedeckten Verschlägen, standen<br />

Bienenstöcke. Und an den noch sonnenbeschienenen<br />

Südhängen des Tals wuchsen sogar Weinreben. Schließlich<br />

schwang sich der Weg in einer kühnen Kehre hinauf zu den<br />

ersten Gebäuden der Stadt.<br />

Robin staunte nicht schlecht. Dies waren keine kleinen Häuser<br />

oder Hütten, den Bedürfnissen von Elmen angemessen. Vielmehr<br />

schienen diese großen, repräsentativen Bauten ursprünglich<br />

für andere Zwecke errichtet worden zu sein, als nur zum<br />

Wohnen.<br />

Obwohl jetzt gegen Abend ein frischer Wind vom Gebirge<br />

herab wehte, strahlten sie die tagsüber aufgespeicherte Wärme<br />

ab. Und eine tiefe Ruhe ging von ihnen aus, denn keiner ihrer<br />

Bewohner ließ sich sehen. Kein Hund bellte, kein Huhn gackerte,<br />

kein Pferd wieherte und kein Esel rief. Nur die Hufe der ankommenden<br />

Reittiere klapperten auf dem ockergelben Straßenpflaster.<br />

Auf einem rechteckigen Platz inmitten der Stadt hielten die<br />

beiden Elme an. Tarimond ließ einen lang gezogenen Pfiff durch<br />

die hohle Zunge ertönen. Nach einer Weile öffnete sich die Tür<br />

eines der Gebäude und zwei weitere Elme traten heraus. In<br />

ihrem Gefolge schritt ein älterer Elm in einem langen Mantel. Er<br />

hatte einen weißen Bart und auf dem ebenfalls weißen Haupthaar<br />

trug er eine purpurrote, runde Kopfbedeckung. Tarimond<br />

und Tinuvil gingen zu ihm und sie wechselten einige elmische<br />

Worte. Währenddessen warf der Alte immer wieder misstraui-<br />

22


sche Blicke auf Boffo. Der wurde schließlich ungeduldig. Er gab<br />

Bero Sids Zügel und trat einige Schritte nach vorne.<br />

»Nirim tui, Salir!«, sagte er, denn in dem vorangegangenen<br />

Wortwechsel war dieser Name mehrfach gefallen und zweifelsohne<br />

handelte es sich hier um die Person des Gemeindeoberhaupts.<br />

Salir neigte lediglich den Kopf. »Wer bist du und was führt<br />

dich zu uns?«, fragte er auf Laudoranisch, allein an Boffo gewandt<br />

und ohne dessen elmischen Gruß zu erwidern. »Nie<br />

haben wir von Elmen aus dem Osten gehört. Das Land Fornor ist<br />

uns unbekannt und den Namen Falbor haben wir nie vernommen.«<br />

»Das wundert mich nicht.« Boffo ließ sich nicht beirren. »Zwischen<br />

Fornor oder Fornland, wie es die großen Leute nennen,<br />

und Arangion liegen immerhin fünfhundert Wegmeilen 3 . Grenze<br />

zu Grenze und auf dem kürzesten Weg. Unser Weg zu euch<br />

war noch um einiges länger. Aber unterwegs haben wir das eine<br />

oder andere erfahren, über eure Herkunft und eure Geschichte.<br />

Wir werden uns viel zu erzählen haben.«<br />

»Unsere Geschichte ist uns verloren gegangen«, erwiderte Salir.<br />

»Und mit ihr das Wissen unserer Altvorderen. Und nun<br />

haben wir mit dem Solmen auch noch den Sinn unseres Daseins<br />

verloren. Du kommst zu einem unglücklichen Zeitpunkt, Elmenreisender.«<br />

Robin war seltsam zumute. Dass der Älteste ihn und Bero unbeachtet<br />

ließ, störte ihn nicht weiter. Aber für die unfreundlich<br />

Haltung Salirs Boffo gegenüber hatte er keine Erklärung. Er<br />

schaute sich um. Inzwischen waren ungefähr zwei Dutzend<br />

Elme aus den umliegenden Häusern gekommen. Sie waren fast<br />

alle in einem mehr oder weniger gesetzten Alter, und nur weni-<br />

3<br />

Wie wir im ersten Band erfahren hatten, entsprach eine Meile in Laudora 4<br />

Kilometern unseres Maßes. Eine Meile hatte 1000 Ruten (à 4 m). Die Rute<br />

wiederum war in 12 Fuß (à 33,3 cm) unterteilt. Kurze Wegstrecken maß man in<br />

Schritt. Dieser entsprach ungefähr 0,8 m. 5 Schritt ergaben 2 Klafter oder 1<br />

Rute. 5000 Schritt ergaben eine Meile.<br />

23


ge Frauen waren unter ihnen. Ausnahmslos schauten sie stumm<br />

und mit großen Augen auf die Fremden.<br />

»Unser Mitgefühl ist mit euch.«, erwiderte Boffo. Er wandte<br />

sich mit seinen Worten jetzt nicht mehr ausschließlich an Salir,<br />

sondern auch an die Umstehenden. »Und wir teilen eure Trauer.<br />

Denn euer Unglück betrifft auch uns. Viel mehr, als ihr euch<br />

vorstellen könnt. Gerne hätten wir euch unter fröhlicheren Umständen<br />

angetroffen. Doch hat uns das Schicksal nun einmal<br />

gerade zum jetzigen Zeitpunkt zu euch geführt. Eine weite Reise<br />

liegt hinter uns. Wir und unsere Tiere sind müde und hungrig.<br />

Deshalb bitten wir um eure Gastfreundschaft.«<br />

»Tarimond wird euch eine Unterkunft anweisen«, erwiderte<br />

der Alte. »Doch für eure Pferde müsst ihr selbst sorgen. Wir<br />

haben hier keine Ställe, denn wir halten keine Tiere. Ich erwarte<br />

euch später zum Essen. Tinuvil wird euch holen.«<br />

Damit drehte er sich um und verschwand wieder in dem<br />

Haus, aus dem er gekommen war.<br />

Als er weg war, kamen einige der umstehenden Elme auf die<br />

Ankömmlinge zu. Neugierig betrachteten sie die Waffen und das<br />

Gepäck der Fremden. Doch nicht mit Augen der Begierde, sondern<br />

mit Augen des Erstaunens. Boffo gab ihnen der Reihe nach<br />

die Hand und sprach elmische Worte der Begrüßung. In seinem<br />

Blick lagen Mitleid und Enttäuschung. Dann wandte er sich an<br />

Tarimond: »Wir sind bereit!«<br />

Tarimond nickte und ging voraus. Er machte einen geknickten<br />

Eindruck. Das abweisende Verhalten Salirs hatte ihm sichtlich<br />

zugesetzt.<br />

»Gemahlenes Getreide für die Pferde könnt ihr von mir bekommen«,<br />

sagte er, als wollte er die Unfreundlichkeit des<br />

Gemeindeoberhaupts wieder gutmachen. »Es ist genügend vorhanden.<br />

Wenn ihr euer Gepäck abgeladen habt, bringen wir die<br />

Tiere in den Talgrund. Zum Bach hin gibt es ein umzäuntes Feld,<br />

das brach liegt. Dort droht ihnen keine Gefahr und sie finden<br />

genügend Futter und Wasser.«<br />

24


Sie folgten Tarimond in eine Seitengasse und dort durch eine<br />

Toreinfahrt in den Innenhof eines mehrstöckigen Gebäudes.<br />

Alles war aus kunstvoll behauenen und verzierten Steinen erbaut.<br />

Der Hof war jetzt beschattet. Mit Ausnahme der Toreinfahrt<br />

und nur unterbrochen von wenigen Türen wurde er von<br />

einer steinernen Bank umschlossen. Vor dieser, an der dem Tor<br />

gegenüberliegenden Schmalseite, stand ein Tisch, aus massivem<br />

Fels gehauen. Daneben aus der Wand plätscherte ein Laufbrunnen<br />

in einen muschelförmigen Trog. Das Wasser aus seinem<br />

Überlauf ergoss sich in eine Rinne, die mitten durch den Hof zur<br />

Straße hinaus führte. Neben dieser erhob sich eine gemauerte<br />

Feuerstelle mit einem eisernen Rost. Gegenstände aus Holz gab<br />

es, bis auf die Türen, nicht. Eine dieser öffnete Tarimond. Dahinter<br />

lag ein heller Raum mit großen, säulengeteilten Fenstern,<br />

doch ohne Scheiben und Läden. Er war unmöbliert. Nur einige<br />

steinerne Podeste bildeten seine Einrichtung.<br />

»Hier könnt ihr euch niederlassen. Besseres haben wir nicht<br />

zu bieten. Bis gleich.« Damit verschwand Tarimond.<br />

»Heute kann mich nichts mehr erschüttern«, sagte Robin, als<br />

der Elm gegangen war. »Zumindest haben wir erst mal ein Dach<br />

über dem Kopf. Das ist doch schon mal was.«<br />

Er begann damit, Sättel und Gepäck von den Pferderücken<br />

abzunehmen. In seinem Innern spürte er eine große Leere. Die<br />

schlimme Nachricht des heutigen Tages hatte ihn schwer getroffen.<br />

Und den Empfang in Linuvar hatte er sich wahrlich anders<br />

vorgestellt. Nicht nur, was das Verhalten der Elme anbetraf.<br />

Auch die kühle, steinerne Architektur um ihn herum, groß, leer<br />

und unbewohnt, empfand er als bedrückend. Ein Gefühl der<br />

Unsicherheit, der Verlassenheit beschlich ihn, wie er es vorher<br />

nie erfahren hatte und gegen das er sich nicht wehren konnte.<br />

Was die nächsten Tage bringen würden, davon konnte er sich im<br />

Moment nicht die leiseste Vorstellung machen.<br />

»Ich wundere mich nur, dass sie uns nicht gleich wieder fortgeschickt<br />

haben«, sagte Bero, nachdem er Robin eine Weile<br />

25


stumm beim Abschirren der Pferde geholfen hatte. »Gastfreundschaft<br />

scheint hier ein Fremdwort zu sein. Oder sie ist durch zu<br />

viele schlechte Erfahrungen im Laufe der Zeit auf der Strecke<br />

geblieben. Mit den Elmen im Rauquelltal haben die hier jedenfalls<br />

nichts gemein.«<br />

»Was soll ich sagen?« Boffo zuckte mit den Schultern. »Auch<br />

ich habe mir meine Verwandtschaft anders vorgestellt. Ihr Dasein<br />

in diesem zwar recht ansehnlichen doch seltsamen Land hat<br />

sich offensichtlich nachteilig auf die Entwicklung ihrer Fähigkeiten<br />

ausgewirkt. In jeder Beziehung. Kein Wunder, dass die<br />

Zwerge leichtes Spiel mit ihnen hatten. Die ganze Mannschaft<br />

hier scheint komplett unbewaffnet zu sein. Und noch dazu nicht<br />

eben zahlreich. Nicht einmal Armbrüste kennen sie. Ich fürchte,<br />

sie haben sogar verlernt, wie man sich fortpflanzt.«<br />

Er verstummte, denn Tarimond war wieder in der Torhalle<br />

erschienen. In jeder Hand trug er einen Holzbottich mit grob<br />

gemahlenem Getreide.<br />

»Ich zeige euch jetzt den Platz für die Pferde«, sagte er, drehte<br />

sich um und ging voraus. Nur Bero folgte ihm, mit Reno, Groll<br />

und Sid an den Zügeln.<br />

Kurze Zeit später, Bero war gerade wieder von den Pferden<br />

zurück, kam Tinuvil.<br />

»Salir erwartet euch«, sagte er. »Beeilt euch, er liebt es nicht,<br />

wenn er lange warten muss.«<br />

Robin war ärgerlich, fast wütend. Und beinahe hätte er seinem<br />

Ärger Luft gemacht. Zuerst der unfreundliche Empfang<br />

und jetzt diese Eile. Auch Bero brummelte etwas Unverständliches<br />

vor sich hin. Aber Boffo beschwichtigte beide mit einer<br />

Handbewegung.<br />

»Lasst uns unserem Gastgeber durch Pünktlichkeit Respekt<br />

zollen. Unsere Schlafstätten können wir auch später noch richten.«<br />

Er nahm Tinuvil am Arm und die beiden gingen durch das<br />

Tor nach draußen. Robin und Bero ließen ihr Gepäck im Hof<br />

liegen und folgten ihnen. Es war noch früher Abend und letzte<br />

Sonnenstrahlen beschienen die obersten Spitzen der Gebäude an<br />

26


der östlichen Seite des Hauptplatzes. Durch eine schmale Gasse<br />

erreichten sie die Rückseite des Hauses, in dem Salir wohnte.<br />

Eine steinerne Treppe führte hinauf zu einer Terrasse, die mit<br />

einer von wildem Wein überrankten Pergola überbaut war. Ihre<br />

westliche Seite war offen und bot einen beeindruckenden Ausblick<br />

auf die Berge des Arnokgebirges. Auf zwei Holzbänken<br />

entlang einer langen Tafel saßen etwa ein Dutzend Elme. An der<br />

Stirnseite des Tisches saß Salir.<br />

Er deutete auf die freien Plätze neben sich: »Setzt euch! Ich<br />

vermute, ihr seid hungrig.«<br />

Die Gäste grüßten in die Runde und folgten seiner Aufforderung.<br />

Salir klatschte in die Hände. Drei Frauen erschienen. Zwei<br />

von ihnen waren ziemlich jung, fast noch Mädchen. Die dritte<br />

war älter. Tarimond nannte sie Minia und Robin hielt sie für die<br />

Mutter der beiden. Zusammen begannen sie mit dem Auftragen<br />

von Speisen und Getränken. Es waren nur einfache Gerichte:<br />

Brei von Hirse und Hafer und eine Art Auflauf aus gequollenem<br />

Weizen und Sonnenblumenkernen. Dazu rote Beerengrütze und<br />

Mus aus Äpfeln und Birnen. Als Getränk wurde Wasser gereicht<br />

und zu Robins Überraschung auch Wein.<br />

Robin, Bero und Boffo griffen beherzt zu. Alle Speisen waren<br />

frei von jeglichen tierischen Zutaten, mit Ausnahme von Honig.<br />

Sie schmeckten teils süß und fruchtig, teilweise auch scharf und<br />

nach Ingwer. Und sie sättigten schnell.<br />

»Wenige eurer Gemeinschaft haben sich heute sehen lassen«,<br />

wandte sich Boffo an Salir. »Doch waren sie auch nicht auf den<br />

Feldern oder in den Gärten. Warum sind sie in ihren Häusern<br />

geblieben?«<br />

»Diejenigen, welche du gesehen hast, sind auch die Mitglieder<br />

unserer Gemeinde«, antwortete Salir. »Mehr gibt es nicht. Wir<br />

sind sogar zahlreicher, als vor einigen Jahren noch. Denn Sedir,<br />

Netar und Nilor, die anderen Siedlungen der Elme entlang des<br />

Gebirges, sind nun verwaist. Ihre Bewohner sind zu uns gezogen.<br />

Um dem Solmen nahe zu sein. Zwei Dutzend zählen wir<br />

27


noch, einschließlich der Frauen.«<br />

»Auch die Elme in Elegien sind nicht mehr sehr zahlreich«,<br />

sagte Boffo. »Doch wir bemühen uns zumindest um den Fortbestand<br />

unserer Art. Hier aber sehe ich keine Kinder und nur ganz<br />

wenige junge Leute.«<br />

»Du weißt wenig über uns, Elmenreisender«, erwiderte Salir<br />

und lächelte bitter. »Und gar nichts über unsere Sitten und Gebräuche.<br />

Unsere alleinige Aufgabe ist es, den Solmen zu bewahren.<br />

An ihr sind wir gescheitert. Deshalb wird es wenig<br />

Hoffnung für uns geben. Denn unser Schicksal hängt allein an<br />

ihm.«<br />

»Das Schicksal aller Elme hängt an ihm. Und das der meisten<br />

Menschen in Laudora ebenso«, mischte sich Robin in die Unterhaltung.<br />

»Doch erzähl uns mehr über diesen Kristall. Wie sieht er<br />

aus und was macht ihn so besonders?«<br />

»Er sieht wunderschön aus.« Salirs Augen blickten ins Leere.<br />

»Seine Farbe kann man nicht beschreiben. Doch er leuchtet im<br />

Dunkeln. Und er hat die Gestalt eines gehörnten Tieres.«<br />

»Dann gibt es keinen Zweifel«, sagte Robin. »Er ist es. Und<br />

sein Name ist Khrit.«<br />

»So wurde der Sonnenstein von den großen Leuten genannt«,<br />

sagte Salir und seine Augen wurden lebhafter. »Zuletzt von<br />

einem Besucher aus Sirdun. Das war vor einigen Jahren. Jeromir<br />

war sein Name. Ein fahrender Händler und er sagte, er interessiere<br />

sich für alte Schriften. Wir gaben ihm einige von den Sachen,<br />

die hier noch vereinzelt herumliegen. Nur um ihn<br />

loszuwerden. Er kam noch zweimal. Dann blieb er fort. Vor zwei<br />

Wochen hörte ich den Namen Khrit erneut. Denn die Zwerge<br />

nannten ihn so, als sie nach ihm fragten.«<br />

»Ja, auch sie wussten von seiner Existenz«, sagte Boffo. »Bereits<br />

seit langer Zeit begehren sie ihn. Doch erst die Ereignisse<br />

der letzten Monate haben sie bewogen, erneut nach ihm zu<br />

suchen.«<br />

»Welche Ereignisse?«, wollte Salir wissen.<br />

»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Boffo. »Es gibt ei-<br />

28


nen zweiten Stein namens Khor, von gleicher Form und Erscheinung<br />

wie Khrit. Lange Zeit war er im Besitz der Turdain, eines<br />

längst vergangenen Elmenstammes aus Bahor, dreißig Wegmeilen<br />

nördlich von unserer Heimat gelegen. Viele Jahrhunderte<br />

lang ruhte er in den Tiefen Bahors, unberührt und unerreichbar.<br />

Auch er weckte die Begierde von Fremden, die ihn für ihre unlauteren<br />

Absichten nutzen wollten. Ebenso wie die Zwerge<br />

glaubten sie, mit seiner Hilfe Macht und Einfluss zu erlangen.<br />

Doch jetzt ist er in Sicherheit. Wir haben dafür gesorgt. Und es<br />

ist von großer Bedeutung, dass auch Khrit wieder zurück in den<br />

Besitz der Elme gelangt. Denn großes Unheil kann erwachsen,<br />

wenn er in die falschen Hände gerät. Das ist nun leider geschehen.<br />

Doch noch gibt es Hoffnung, größeres Unglück zu verhindern.<br />

Wenn wir schnell und entschlossen handeln.«<br />

»Glaubst du, ihr könnt uns den Sonnenstein zurückbringen?«<br />

Salirs Augen waren jetzt wach und er musterte Boffo aufmerksam<br />

von der Seite.<br />

»Wir werden jedenfalls alles in unserer Macht stehende tun,<br />

damit er wieder an den Platz kommt, an den er gehört.«<br />

Robin konnte gut verstehen, dass Boffo verbindliche Aussagen<br />

gegenüber Salir vermied. Er selbst misstraute dem Oberhaupt<br />

der Elmengemeinde und er konnte sicher sein, dass auch<br />

Boffo dies tat. Ohnehin hatte er das Gefühl, dass dieser alte und<br />

sonderliche Elm keine große Hilfe für die Erfüllung ihrer Aufgabe<br />

sein würde. Und die Mitglieder seiner Gemeinde ebenso<br />

wenig. Zu unsicher und zu hilflos wirkten die meisten von ihnen.<br />

Während ihr Oberhaupt sprach, tuschelten sie nur leise<br />

untereinander oder sie aßen stumm. Robin merkte, dass Tarimond<br />

und Tinuvil gerne etwas gesagt hätten, doch in Salirs<br />

Gegenwart nicht laut zu sprechen wagten. Robin goss sich etwas<br />

Wein ein und trank einen Schluck. Das oberflächliche Gespräch,<br />

in das sich Boffo und Salir vertieft hatten, langweilte ihn. Bero,<br />

der ihm gegenüber saß, schien es ähnlich zu gehen, denn er hatte<br />

ein Gespräch mit Tinuvil begonnen.<br />

29


»Die Zwerge«, wandte sich Robin an Tarimond, der neben<br />

ihm saß. »Kannst du mir mehr über sie erzählen? Warst du<br />

dabei, als sie kamen?«<br />

»Ja«, antwortete der. »Sie kamen in den Abendstunden. Über<br />

die steinerne Brücke, vom Legris her. Tinuvil, Kirsin und ich<br />

waren gerade mit unseren Bienenstöcken beschäftigt. Neun<br />

Zwerge waren es. Jung und kräftig allesamt. Und sie waren<br />

bewaffnet. Mit Äxten und langen Messern. Alles ging sehr<br />

schnell und keiner von uns konnte die anderen warnen. Sie<br />

fragten nach dem Solhir, und forderten, dass wir sie zu ihm<br />

führen sollten. Wir antworteten, dass wir erst Salir um Erlaubnis<br />

bitten müssten. Doch sie schlugen uns und bedrohten uns mit<br />

ihren Waffen. Also führten wir sie zum Solhir. Nelin war gerade<br />

dabei, die Türen des Schreins zu schließen, wie jeden Abend.<br />

Doch sie stießen ihn zur Seite und stürzten sich auf den Solmen,<br />

der bereits im Dunklen leuchtete. Als Nelin sie hindern wollte,<br />

schlugen sie ihn mit einer Axt. Wenig später starb er an seiner<br />

Verletzung. Die Zwerge forderten Nahrungsmittel und Wein.<br />

Dann sperrten sie uns in die große Halle auf der anderen Seite<br />

des Platzes. Am nächsten Morgen waren sie verschwunden. Das<br />

ist alles, was ich dir dazu sagen kann.«<br />

»Am fünften Tag nach dem letzten Vollmond war es, als sie<br />

kamen, sagtest du?«<br />

»Ja, genau an diesem Tag kamen sie. Ich weiß es deshalb, weil<br />

wir an diesem Tag, wie jedes Jahr im August, den Sonnenstein<br />

um unsere Weinberge trugen und um eine gute Ernte baten.«<br />

»Und wisst ihr, wohin sie am nächsten Tag gingen?«, wollte<br />

Robin wissen. »Ich meine, nachdem sie wieder zur Brücke über<br />

den Legris zurückgekehrt waren. Wandten sie sich nach Norden<br />

oder nach Süden?«<br />

»Das haben sie nicht gesagt und gesehen hat es auch niemand.<br />

Doch fiel am Abend davor einige Male der Name Tinura.<br />

Ich denke, dass sie wieder dorthin ziehen, wo sie herkamen.<br />

Nämlich nach Norden, zurück zum Marzadgebirge.«<br />

»Gibt es dorthin eine Straße, oder einen Weg?«, wollte Robin<br />

30


wissen.<br />

»Nein!«, antwortete Tarimond. »Niemand kommt aus dieser<br />

Richtung und niemand will dorthin gehen. Zumindest nicht, seit<br />

es hier Elme gibt. Vielleicht früher, vor unserer Zeit. Denn wenn<br />

man von der Brücke aus nach Norden geht, trifft man bisweilen<br />

auf seltsame Steine und andere Hinterlassenschaften.«<br />

»Doch wer soll diese Zeichen errichtet haben, wenn nicht die<br />

Elme.«<br />

»Das weiß ich nicht«, antwortete Tarimond. »Wohl dieselben<br />

Völker, die auch Linuvar, Sedir, Netar und Nilor und die anderen<br />

Ansiedlungen entlang des Arnokgebirges errichtet haben.<br />

Die Elme waren es jedenfalls nicht. Wir leben zwar schon sehr<br />

lange hier, so erzählte man immer. Doch gebaut haben wir das<br />

alles nicht. Unsere Aufgabe war es, den Solhir zu bewachen. Das<br />

ist alles, was ich weiß.«<br />

Die Sonne war jetzt schon einige Zeit hinter dem Arnokgebirge<br />

versunken und es begann langsam zu dämmern. Doch die<br />

Elme machten keine Anstalten, Lampen oder Kerzen anzuzünden.<br />

Stattdessen klatschte Salir wieder in die Hände als Zeichen<br />

dafür, dass das Mahl beendet war. Minia, die etwas ältere Frau,<br />

kam wieder.<br />

»Awira, Tilia!«, rief sie. »Kommt her und macht euch nützlich!«<br />

Die beiden jungen Frauen kamen eiligen Schrittes herbei und<br />

begannen die restlichen Speisen und das Geschirr abzuräumen.<br />

Die anderen Anwesenden erhoben sich von den Bänken.<br />

»Wir sind es gewohnt, früh schlafen zu gehen«, sagte Salir.<br />

»Tinuvil wird euch zurück zur Unterkunft geleiten. Und morgen<br />

früh wird er euch wieder abholen.«<br />

»Seltsamer Heiliger, dieser Salir. Er scheint die ganze Gemeinde<br />

im Stile eines Despoten zu regieren.« Bero breitete seine<br />

Decke aus und bemühte sich mit Hilfe seiner Satteltaschen und<br />

einiger Bekleidungsstücke eines der harten Steinpodeste in eine<br />

einigermaßen bequeme Schlafstätte zu verwandeln. Draußen<br />

31


war es jetzt gänzlich dunkel geworden. Boffo hatte seine faltbare<br />

Kerzenlaterne angezündet und neben das Schlafpodest gestellt.<br />

»Das kann man wohl sagen«, stimmte Robin zu. »Keiner der<br />

Elme wagte in seiner Anwesenheit offen zu sprechen. Immerhin<br />

konnte ich ein paar Worte mit Tarimond wechseln. Er scheint<br />

mir einer der Vernünftigeren zu sein. Doch frage ich mich, ob es<br />

Sinn macht, ihnen die Wahrheit zu sagen. Ich meine, dass der<br />

Schlüssel zum Wohle der Allgemeinheit fortgebracht werden<br />

muss.«<br />

»Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es sicher unklug, ihre schlichten<br />

Gemüter mit schwierigen Zusammenhängen zu verwirren«,<br />

erwiderte Boffo. »Und nicht nur euch erscheint dieser Salir<br />

merkwürdig. Vor allem ihm gegenüber sollten wir uns mit der<br />

Offenbarung unserer Pläne zurückzuhalten. Ich glaube ohnehin<br />

nicht, dass wir von ihm noch viel erfahren werden.«<br />

»Das brauchen wir auch nicht«, sagte Bero. »Alles, was wir<br />

wissen müssen, wissen wir. Die Zwerge haben den Schlüssel<br />

und sie sind auf dem Weg zurück ins Marzadgebirge. Man<br />

braucht kein Hellseher zu sein um zu wissen, wohin sie damit<br />

wollen: zurück nach Tinura, in ihre Zwergenstadt. Doch hoffe<br />

ich sehr, dass wir ihnen einen Strich durch die Rechnung machen<br />

können. Und jetzt gute Nacht. Ich bin todmüde.«<br />

»Gute Nacht!«, erwiderte Boffo. Er blies die Laterne aus und<br />

drehte sich auf die Seite.<br />

»Gute Nacht!«, sagte auch Robin. Beros Zuversicht und nüchterne<br />

Schlussfolgerung hatte ihm Mut gemacht. Er war froh und<br />

stolz, ihn als Gefährten zu haben. Trotz seines zurückhaltenden<br />

Wesens war er immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte. Auf<br />

ihn und seine Fähigkeiten konnte man sich jederzeit verlassen.<br />

Und er hatte ein gutes Gedächtnis. Tinura! Mehrfach war der<br />

Name auch heute gefallen. Bereits Yalbo Tibbit hatte im Tari<br />

Walid von dieser geheimnisvollen unterirdischen Stadt im Norden<br />

des Marzadgebirges gesprochen. Und von Laurinel, dem<br />

Zwergenkönig, der dort herrschen solle. Morgen würden sie<br />

einen genaueren Blick auf Boffos Karte werfen. Müdigkeit über-<br />

32


kam Robin und er wünschte sich nichts sehnlicher als einige<br />

Stunden tiefen und ungestörten Schlafes. Heilsam für seinen<br />

Körper und seine Seele.<br />

Wie angekündigt, war Tinuvil am nächsten Morgen beizeiten<br />

zur Stelle, um die Schläfer zu wecken. Auf der Steinbank neben<br />

dem Brunnen wartete er geduldig, bis sich die Gäste erfrischt<br />

und angezogen hatten. Dann führte er sie zum Hauptplatz. Doch<br />

nicht, wie am Vorabend, in Salirs Haus, sondern in eine geräumige<br />

Halle am anderen Ende des Platzes. Dort saß die Elmengemeinde<br />

bereits zum Morgenmahl versammelt. Etwa zwanzig<br />

Personen zählte Robin und ihm wurde klar, dass die Elme hier<br />

nicht in Familien, vielmehr in einer Gemeinschaft lebten. Fast<br />

hätte man sie als eine Art Bruderschaft bezeichnen können. Denn<br />

Robin sah nur die gleichen drei Frauen, die sich schon am Vortag<br />

um Geschirr und Essen gekümmert hatten.<br />

Tinuvil wies den Ankömmlingen Plätze am Ende der Tafel an.<br />

Es gab einen Brei aus Hafermehl und mit Honig gesüßten Tee.<br />

Dazu Obst, das in Körben auf den Tischen stand. Robin fiel auf,<br />

dass die Unterhaltung am Tisch viel angeregter war, als am<br />

gestrigen Abend und beim genauen Hinsehen bemerkte er, dass<br />

Salir nicht anwesend war. Einige der Elme, die in der Nähe<br />

Tarimonds saßen, lachten und scherzten sogar. Sie waren jünger<br />

als die restlichen Mitglieder der Gemeinde und stellten sich als<br />

Nefir, Mirkon und Kirsin vor. Erfrischend neugierig stellten sie<br />

Fragen, wollten wissen wo die Besucher herkamen und wo<br />

Elegien überhaupt lag. Boffo versprach ihnen alles zu erklären,<br />

wenn sie nach getaner Tagesarbeit zur Unterkunft der Gäste<br />

kommen würden. Und damit gaben sie sich vorerst zufrieden.<br />

Nach dieser Zusammenkunft ging Bero hinunter zum Bach,<br />

um nach den Pferden zu sehen. Bero und Boffo folgten Tarimond,<br />

um den Solhir zu besichtigen. Über eine schmale gepflasterte<br />

Straße mit stufenartigen Absätzen führte er sie in den höher<br />

gelegenen Teil von Linuvar. Die Gebäude hier waren ebenso<br />

massiv und fest gebaut, wie die rings um den Hauptplatz der<br />

33


Ansiedlung. Und wie diese zeigten sie keinerlei Anzeichen des<br />

Verfalls. Doch waren sie gänzlich unbewohnt. Ihre leeren Fensterhöhlen<br />

und Türöffnungen schauten gespenstisch auf die<br />

Besucher. So, als wären sie erstaunt, lebendige Seelen in den<br />

leeren Gassen zwischen ihnen zu erblicken.<br />

Schließlich erreichten sie den großen Turm. Noch größer und<br />

monumentaler als aus der Ferne wirkte er nun, da sie vor ihm<br />

standen. Sein Umriss war achtseitig, und jede seiner acht Ecken<br />

wurde von einem zusätzlichen Pfeiler gestützt. Weit oben konnte<br />

man die goldene Kuppel glänzen sehen. Tarimond führte sie zur<br />

östlichen Seite des Bauwerks. Dort befand sich die hohe Pforte<br />

mit erzenen Torflügeln, die offen standen. Durch sie betraten sie<br />

den Innenraum. Keine Treppe oder Leiter bot eine Aufstiegsmöglichkeit<br />

in die Höhe des Turminneren. Nur einige Stufen<br />

führten hinauf zu einem Podest. Auf diesem erhob sich ein<br />

Schrein aus massivem Fels gehauen, mit einer halbrunden Nische<br />

darin. Auch ihre erzenen Türen standen offen.<br />

Die Besucher schritten die steinernen Stufen hinauf. Auf der<br />

mittleren blieb Tarimond stehen und senkte das Haupt. Ein<br />

großer, roter Fleck war zu sehen. Und auf ihm lag ein Gebinde<br />

aus Weinlaub und blühenden Dahlien.<br />

»Hier starb Nelin«, sagte Tarimond mit brüchiger Stimme. »Er<br />

war einer von den jüngeren. Voller Lebensfreude und Tatendrang.<br />

Nur noch eine Handvoll gibt es jetzt von seinem Schlag.«<br />

Auch Robin und Boffo verhielten schweigend einige Augenblicke.<br />

Dann stiegen sie die restlichen Stufen hinauf zum Schrein.<br />

»Das ist er also, der Solhir, der Sonnenschrein«, sagte Boffo.<br />

»Das ist zumindest sein Inneres«, erwiderte Tarimond. »Solhir<br />

nennen wir den gesamten Turm mit seiner goldenen Kuppel.<br />

Denn er ist das Symbol, welches schon von weiten sichtbar ist.<br />

Und hier, in seinem Inneren, lag der Solmen. Bis ihn die Zwerge<br />

mit sich nahmen.«<br />

Robin schaute in die Nische vor ihnen. In ihr befand sich ein<br />

steinernes Pult mit nach vorne abgeschrägter Oberfläche. Darin<br />

war eine Vertiefung. Sie hatte die Form eines Stieres. Mit exakt<br />

34


den gleichen Umrissen, wie denen von Khor. Nur spiegelverkehrt.<br />

Und sie war leer. Robin warf einen Blick auf Boffo. Der<br />

wippte fast unmerklich mit dem Kopf. So, als sähe er nur die<br />

Bestätigung von dem, was er längst erwartet hatte. Auch Robin<br />

hatte genug gesehen. Er wandte sich um und stieg die Stufen<br />

hinab. Boffo und Tarimond folgten ihm. Am hohen Portal blieb<br />

Robin stehen und schaute nach Osten. Der Himmel war strahlend<br />

blau und es war beinahe windstill. Nur einige weiße Wolken<br />

zogen fast unmerklich dahin. Die klare Morgenluft<br />

ermöglichte eine wunderbare Fernsicht. Am östlichen Horizont<br />

glaubte Robin die Tiefebene zu ahnen, wo der Tibor floss. Nichts<br />

war zu sehen von Dunst und grauer Dämmerung, die jetzt wohl<br />

über dem Taurongebirge lagen. Robin wandte den Blick nach<br />

Norden. Und dort, undeutlich, wie helle Schaumkronen auf den<br />

Wellen eines dunklen Sees, konnte er die schneebedeckten Gipfel<br />

des Marzadgebirges erkennen. Dorthin mussten sie. Hin zu<br />

einem weiteren, unbekannten Ziel ihrer langen Reise.<br />

Der Tag verging langsam, denn die Gefährten suchten die<br />

Ruhe. Tarimond hatte sie zurück in ihre Unterkunft geleitet und<br />

dort allein gelassen. Auch von den anderen Elmen war niemand<br />

zu sehen. Robin vermutete, dass sie ihren täglichen Arbeiten und<br />

Pflichten nachgingen. Auch dieser Tag versprach, wie schon der<br />

vorhergehende, heiß zu werden. Doch der Innenhof des Gästehauses<br />

lag jetzt, am frühen Vormittag, zur Hälfte im kühlen<br />

Schatten. Nur der Platz, wo der steinerne Tisch stand, wurde von<br />

der Sonne gewärmt. Dort saß Boffo und hatte sich seine Pfeife<br />

angezündet. Bero lag auf der steinernen Bank und döste vor sich<br />

hin. Robin stand am Brunnen und ließ sich das kühle Wasser<br />

über die Arme laufen.<br />

»Was meinst du, wie lange werden wir bleiben?«, wandte sich<br />

Robin an Boffo.<br />

»Wenn es nach mir ginge, würden wir schon morgen früh<br />

aufbrechen«, erwiderte der. »Die Zwerge haben einen gehörigen<br />

Vorsprung. Und Zwerge sind gut zu Fuß, wie jeder weiß. Es<br />

35


wird uns einiges abverlangen, wenn wir sie noch einholen wollen.«<br />

»Dennoch benötigen unsere Pferde einen, besser zwei Tage<br />

Ruhe«, wandte Robin ein. »Sie haben sich bisher wacker gehalten.<br />

Doch viele Tagesreisen liegen noch vor ihnen. Und wenn wir<br />

tatsächlich ins Gebirge kommen, wird es schwer für sie.«<br />

»Ich weiß, ich weiß«, winkte Boffo ab. »Sie werden ihre Ruhepause<br />

bekommen. Und wir werden sie auch in den folgenden<br />

Tagen nicht überfordern. Doch sollten wir selbst schon einmal<br />

alle nötigen Vorbereitungen treffen. Dann müssen wir keine<br />

weitere Zeit verlieren, sobald wir uns für die Weiterreise entscheiden.«<br />

»Und was wird aus Lorin und Bert?«, wollte Bero wissen.<br />

»Ich fürchte, auf die beiden werden wir nicht warten können«,<br />

erwiderte Boffo. »Wesentlich schneller als wir können auch<br />

sie die Reise hierher nicht hinter sich bringen. Und ich kann mir<br />

nicht vorstellen, dass sie weniger als eine zusätzliche Woche im<br />

Sil verbracht haben. Uns bleibt wohl nur, ihnen wieder eine<br />

Nachricht zu hinterlassen. Dann müssen sie selbst entscheiden,<br />

ob sie uns folgen, oder zurückkehren.«<br />

Bero sagte nichts und Robin blickte stumm und nachdenklich<br />

auf den kleinen Wasserfall, der sich mit beruhigendem Plätschern<br />

in das steinerne Brunnenbecken ergoss.<br />

Gegen zwölf Uhr kam Tinuvil und holte die Gäste zum Mittagsmahl.<br />

Wieder gab es nur einfaches Getreidemus mit eingemachten<br />

Früchten. Doch im Grunde genommen war es genau<br />

das richtige Essen für einen heißen Tag, wie diesen. Robin begann<br />

sich langsam an die anspruchslose Kost der Elme von<br />

Linuvar zu gewöhnen. Auch bei dieser Mahlzeit war Salir nicht<br />

anwesend, und Robin fragte sich langsam nach dem Grund, der<br />

den Gemeindevorsteher an der Gesellschaft der anderen hinderte.<br />

Nach dem Essen trafen Robin und Bero Vorbereitungen für<br />

ein Nickerchen. Boffo setzte sich wieder an den steinernen Tisch,<br />

36


der jetzt im Schatten stand, und widmete sich seinen Aufzeichnungen.<br />

Wie immer, wenn er einige freie Minuten nach einem<br />

anstrengenden Abschnitt ihrer Reise hatte, breitete er seine kleine<br />

Schreibkladde und seine Karte vor sich auf, notierte Entfernungen<br />

und Daten und machte sich Notizen.<br />

Robin hatte es sich, ebenso wie Bero, auf der langen, die<br />

Wände des Innenhofs umschließenden Steinbank so gut es ging<br />

bequem gemacht. Die nächsten Tage und Wochen würden anstrengend<br />

genug werden. Jetzt wollte er sich einfach nur ausruhen.<br />

Er lag mit dem Rücken auf einer weichen Decke und sein<br />

Kopf ruhte auf seinem gefalteten Elmenmantel. Sein Blick verlor<br />

sich im wolkenlosen Himmel über ihm, der sich wie ein tiefblaues<br />

Rechteck von den ockerfarbigen Hauswänden abhob. Vielleicht<br />

lag es an der gebirgigen Höhe von Linuvar. Farben<br />

schienen hier kräftiger und eindrucksvoller zu wirken als anderswo.<br />

Die Sonne hatte den lichten Raum über ihm gerade in<br />

Richtung Westen verlassen und ihre Strahlen beschienen nur<br />

noch die östliche Fassade des Innenhofs. Inmitten dieses lebendigen<br />

Farbenspiels kam ihm die steinerne Monumentalität der<br />

Bauten nicht mehr so abweisend vor. Und mit dem Verschwinden<br />

der Sonne war auch die Mittagshitze gewichen und angenehme<br />

Kühle breitete sich aus. Über allem lag eine beruhigende<br />

Stille, nur unterbrochen vom gleichmäßigen Plätschern des<br />

Brunnens.<br />

Robin schlief ein. Seine Gedanken wurden leicht und sorgenfrei<br />

und stiegen auf in das Blau des Himmels. Und sie nahmen<br />

die Bedrückung seiner Seele mit sich fort und die Müdigkeit<br />

entwich aus seinem Körper. So wie früher, in den seltenen Momenten<br />

völliger Unbeschwertheit, fühlte er sich in einen Zustand<br />

der Schwerelosigkeit versetzt und er begann zu schweben. Unter<br />

sich sah er Boffo, der schrieb und keine Notiz von ihm nahm.<br />

Und er sah Bero, der ruhig schlief. Robin war auf dem Weg nach<br />

Hause und er empfand keinen Abschiedsschmerz. Seine Gefährten<br />

würden ihm folgen. Früher oder später – irgendwann. Denn<br />

alles war einfach und nichts war wichtig.<br />

37


Dann begann es zu regnen. Robin schreckte hoch, richtete sich<br />

auf und sah sich um. Der Innenhof lag jetzt vollständig im Schatten.<br />

Neben ihm saß Bero und gähnte. Und am Brunnenrand saß<br />

Boffo und spritzte kleine Wasserfontänen zu ihnen hinüber.<br />

»Setzt euch zu mir!«, rief Boffo lachend. »Ihr habt genug geschlafen<br />

und ich habe euch Wichtiges mitzuteilen!«<br />

Robin ging hinüber zum Brunnentrog, um sich das Gesicht zu<br />

waschen. Dann setzte er sich mit Bero zu Boffo, der Karte und<br />

Notizen vor sich liegen hatte.<br />

»Heute ist Montag der 9. September«, begann der Elm. »Genau<br />

vierzehn Tage ist es nun her, seit die Zwerge von hier aufbrachen,<br />

wenn wir uns auf die Angaben Tarimonds verlassen<br />

können. Das war am 27. August, an dem Tag, als wir gerade in<br />

Norgid ankamen. Wie wir wissen, marschieren Zwerge schnell.<br />

Neunzig, vielleicht schon einhundert Meilen oder auch mehr<br />

könnten sie seither bereits zurückgelegt haben.«<br />

Boffo legte zwei Finger auf seine Karte. Den einen auf Linuvar<br />

und den anderen auf eine Stelle hoch oben im Norden des Marzadgebirges.<br />

»Hier oben im Lande Nimbor liegt Tinura, die unterirdische<br />

Zwergenstadt«, fuhr er fort. »Gut dreihundert Wegmeilen sind<br />

es von hier bis dorthin, wie uns die Karte zeigt. Die Zwerge<br />

haben also schon ein Drittel des Weges hinter sich gebracht. Es<br />

wird sehr schwer werden, sie einzuholen. Doch das müssen wir.<br />

Denn haben sie ihre unterirdische Festung einmal erreicht, ist<br />

der Schlüssel für uns so gut wie verloren. Ich schlage deshalb<br />

vor, dass wir morgen früh aufbrechen. Noch mehr Zeit dürfen<br />

wir nicht verlieren.«<br />

»Woher wollen wir wissen, dass der Schlüssel in Tinura für<br />

uns verloren ist«, wandte Bero ein. »Wir können noch nicht<br />

einmal sicher sein, dass die Zwerge seinen genauen Zweck kennen.<br />

Noch weniger die Art und Weise, wie man ihn anwendet.«<br />

Davon sollten wir nicht ausgehen«, sagte Boffo. »Ich befürchte<br />

sogar, sie wissen mehr, als wir bisher annahmen. Denn noch<br />

etwas habe ich herausgefunden. Wenn die Zwerge am 26. Au-<br />

38


gust in Linuvar ankamen, und wir davon ausgehen können, dass<br />

sie zwischen 45 und 50 Tage hierher unterwegs waren, dann sind<br />

sie ungefähr um die zweite Juliwoche in Tinura abgereist. Erinnert<br />

euch: am 7. Juli haben wir Khor in den Narnenstein eingesetzt.<br />

Dies hat zwar den Tarantuil nicht beruhigen können. Doch<br />

waren gewisse Auswirkungen deutlich zu spüren. Beispielsweise<br />

das Verhalten der Grolds, die wiederkehrende Leuchtkraft des<br />

Sirgensteins, die Neuerstarkung Tiriths und einiges mehr. Die<br />

ganze Aura des Berges hatte sich verändert. Dies alles blieb den<br />

Zwergen auf irgendeine Weise nicht verborgen. Jedenfalls haben<br />

sie sich wenig später auf den Weg gemacht, um nach Khrit zu<br />

suchen, dessen möglicher Aufbewahrungsort ihnen bereits vorher<br />

bekannt gewesen sein muss.«<br />

»Aber dann hätten sie ihn auch schon eher holen können«,<br />

wandte Robin ein.<br />

»Das hätten sie«, erwiderte Boffo. »Aber vielleicht sahen sie<br />

keine Veranlassung dazu. Möglicherweise hielten sie Khor für<br />

verschollen. Erst die Ereignisse des 7. Juli haben sie dazu bewogen,<br />

sich auf die Suche nach Khrit, seinem Gegenstück zu machen.«<br />

»Von mir aus kann’s morgen früh losgehen«, sagte Bero. »Die<br />

Pferde haben heute Morgen einen recht munteren Eindruck<br />

gemacht. Ich denke, der heutige Ruhetag wird ihnen genügen.«<br />

»Dann ist es also beschlossen«, sagte Robin. »Und damit auch,<br />

dass Lorin und Bert vorerst zurückbleiben werden.«<br />

»Das wird sich nicht vermeiden lassen«, erwiderte Boffo.<br />

»Aber bereits jetzt haben sie einen unschätzbaren Beitrag zu<br />

unserer Sache geleistet. Und es wird noch Gelegenheiten geben,<br />

in denen wir auf ihre Hilfe angewiesen sein werden. Da bin ich<br />

mir sicher.«<br />

Stimmen drangen von außen durch das Tor. Darunter auch<br />

helles Mädchenlachen. Wenig später betraten sieben Personen<br />

den Innenhof. Es waren Tarimond, Tinuvil und die jüngeren<br />

Elme Nefir, Mirkon und Kirsin. In ihrer Begleitung waren zwei<br />

39


junge Frauen, welche die Gäste noch nicht gesehen hatten. Tinuvil<br />

stellte sie mit ihren Namen Seleia und Lonara vor und erklärte,<br />

dass ihnen Salir keinen Ausgang gestattete, wenn Fremde im<br />

Dorf wären. Er hätte es auf seine Kappe genommen, die beiden<br />

Frauen vorzustellen, weil sie nun mal die Besucher unbedingt<br />

sehen wollten. Vor allem den Elm unter ihnen. Die beiden kicherten<br />

verlegen, als Tinuvil dies erwähnte. Zugegebenermaßen<br />

war die eine mit dem Namen Lonara für Elmenbegriffe eine<br />

richtige Schönheit. Und Robin entging es nicht, dass Boffo einen<br />

bewundernden Blick auf sie warf.<br />

Alle waren auffallend gut gelaunt, lachten und scherzten. Irgendwie<br />

hatte Robin den Eindruck, dass sich mit seinem, Boffos<br />

und Beros Erscheinen die Hoffnungslosigkeit gelöst hatte, die<br />

wie ein düsterer Schleier über der Elmengemeinde gelegen hatte.<br />

Neue Zuversicht und Lebensfreude waren eingekehrt.<br />

»Wir bringen euch etwas Kuchen«, sagte Tarimond und stellte<br />

einen Korb auf den Steintisch. »Es ist ein sehr guter Kuchen, aus<br />

feinem Dinkelmehl, Nüssen und Honig. Awira und Tilia, meine<br />

Töchter, haben ihn gebacken. Wir hoffen, er wird euch schmecken.«<br />

»Ja, wenn das so ist, dann sollten wir diesen Nachmittag auch<br />

gebührend genießen«, erwiderte Boffo. »Ich habe da auch schon<br />

eine Idee. Und du kannst mir dabei helfen, Kirsin.«<br />

Kirsin schaute zuerst verdutzt, als Boffo sich an der kleinen<br />

Feuerstelle in der Hofmitte zu schaffen machte. Dann verstand er<br />

und holte einen Arm voll Feuerholz. Wenig später brannte ein<br />

kleines Feuer und Boffo stellte seine Kupferkanne mit Wasser<br />

auf den Rost. Als es zu kochen begann, gab er einige Löffel gemahlene<br />

Kopobohnen und ein wenig Imril hinein. 4 Vor allem die<br />

Elmenfrauen schauten interessiert zu und als sich der ganze<br />

Innenhof mit aromatischem Duft füllte, kannte ihr Erstaunen<br />

4<br />

Kopo, vergleichbar unserem Kaffee, wurde in Süd-Heras angebaut und vor<br />

allem in den östlichen Länder Laudoras gehandelt. Als Imril bezeichnete man<br />

ein Extrakt des gleichnamigen Zuckerrohrs, welches in vielen klimatisch<br />

milden Regionen Laudoras wuchs.<br />

40


keine Grenzen mehr. Schnell waren einige Becher zur Hand und<br />

die Elme probierten vorsichtig aber mit sichtbarem Behagen die<br />

braune, süße Flüssigkeit.<br />

»Es nennt sich Kaffee«, sagte Boffo. »Ein anregendes Getränk,<br />

das man unbeschwert genießen kann. Und es passt sehr gut zu<br />

Kuchen. Viel ist nicht mehr übrig von dem Vorrat, den ich in<br />

Largon gekauft habe. Aber solche und andere Köstlichkeiten<br />

könnt ihr täglich erwarten, wenn ihr uns eines Tages in Fornland<br />

besuchen werdet.«<br />

»Aber wir wissen nicht, wo Fornland liegt«, wandte Mirkon<br />

ein.<br />

»Dem lässt sich abhelfen«, sagte Boffo. Er breitete erneut seine<br />

Karte auf der Steintafel aus und lud die Elme ein, sich um ihn zu<br />

scharen.<br />

»Dies sind die drei großen Flüsse Laudoras«, sagte er indem<br />

er auf die Karte wies. »Hier der Tibor, in welchen der Legris<br />

fließt, den ihr gut kennt. Dann der Iruhin und ganz im Osten<br />

seht ihr den Raduin. Dort, wo er entspringt liegt das Land Elegien.<br />

Und dies ist Fornland, eine seiner drei Provinzen, wo wir<br />

Elme im Tal des Rauquells unsere Heimat gefunden haben.«<br />

»Das ist sehr schön«, sagte Nefir. »Doch es sieht aus, als wäre<br />

es sehr weit weg. Und wir haben keine solche Karte.«<br />

»Das macht nichts«, sagte Boffo. »Ich werde euch alles genau<br />

aufzeichnen.«<br />

Er riss eine Seite aus seinem Notizbuch, nahm seinen Stift zu<br />

Hand, zeichnete und erklärte, wobei ihm die Elme staunend<br />

zusahen, Fragen stellten und von Zeit zu Zeit an ihren Kaffeebechern<br />

nippten.<br />

»Nicht schlecht, der Kuchen«, sagte Bero, der mit Robin auf<br />

der Steinbank saß und das Geschehen aus einiger Entfernung<br />

beobachtete. »Obwohl – ein paar Eier und etwas Milch hätten<br />

dem Teig sicherlich gut getan.«<br />

»Was soll’s«, antwortete Robin und nahm einen Schluck aus<br />

seinem Becher. »Noch ein Grund mehr, sich wieder auf zuhause<br />

zu freuen.«<br />

41


»Wie geht es Salir?«, fragte Boffo nachdem er mit seinen Ausführungen<br />

fertig war. »Wir haben ihn lange nicht gesehen. Er ist<br />

doch hoffentlich nicht erkrankt.« Er war mit Tarimond an der<br />

Steintafel sitzen geblieben, während sich Robin und Bero mit den<br />

jungen Elmen um die Feuerstelle geschart hatte, wo sie lachten<br />

und scherzten.<br />

»In gewisser Weise leider ja«, entgegnete Tarimond und sein<br />

Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. »Doch nicht erst in<br />

den letzten Tagen. Man könnte seine Krankheit Schwermut<br />

nennen und er leidet schon einige Zeit daran. Der Überfall der<br />

Zwerge und der Verlust des Solmen hat sein Leiden verstärkt.<br />

Seither verlässt er das Haus nur noch selten.«<br />

»Ich hoffe doch, dass er uns wenigstens zum Abschied die<br />

Ehre seiner Anwesenheit erweisen wird«, sagte Boffo. »Denn die<br />

Zeit unseres Aufbruchs ist gekommen. Wir werden euch morgen<br />

früh verlassen.«<br />

»Bereits morgen früh?« Tarimond bekam große Augen. »Aber<br />

ihr seid doch erst gestern angekommen. Gerade haben wir uns<br />

an euch gewöhnt und wir haben noch viele Fragen.«<br />

»Die können warten«, sagte Boffo. »Doch der Solmen kann es<br />

nicht. Wir dürfen keine Zeit verlieren, wenn wir die Zwerge<br />

noch einholen wollen, bevor sie Tinura erreichen. Das werdet ihr<br />

sicher verstehen. Und ihr könnt uns helfen, rechtzeitig fertig zu<br />

werden. Wir brauchen noch einige Vorräte und geschrotetes<br />

Getreide für die Pferde.«<br />

»Wir werden alles tun, was in unseren Möglichkeiten steht«,<br />

sagte Tarimond. »Noch heute Abend bekommt ihr alles, was ihr<br />

benötigt.«<br />

»Danke!«, sagte Boffo. »Nimm das hier für eure Bemühungen.«<br />

Er reichte Tarimond ein kleines Säckchen.<br />

»Das werde ich keinesfalls annehmen«, erwiderte der Elm.<br />

»Ihr seid unsere Gäste und es ist uns eine Ehre, euch bewirten zu<br />

dürfen. Und falls ihr den Solmen gar wieder erlangen solltet,<br />

wäre dies mehr als genug Lohn für uns.«<br />

»Nimm das Säckchen trotzdem, stellvertretend für die ande-<br />

42


en«, beharrte Boffo auf seinem Angebot. »Es enthält Geld und<br />

einige wertvolle Steine. Ihr werdet das brauchen, falls ihr uns<br />

eines Tages in Fornland besuchen wollt. Macht euch darauf<br />

gefasst, dass ihr den Sonnenstein möglicherweise von dort wieder<br />

nach Hause holen müsst, wenn ihr ihn weiter besitzen wollt.<br />

Denn falls wir Khrit tatsächlich wieder zurückerhalten, wird<br />

unser weiterer Weg zunächst nach Osten führen.«<br />

»Nach Osten?« Tarimond machte ein ungläubiges Gesicht.<br />

»Ja!«, sagte Boffo. »Dort im Taurongebirge haben wir eine<br />

wichtige Aufgabe zu erfüllen. Dann erst wird der Solmen frei<br />

sein. Du musst Salir nicht unbedingt davon erzählen. Dies könnte<br />

seinen Zustand verschlimmern. Und noch etwas: Es könnte<br />

sein, dass in einigen Tagen zwei weitere Gefährten von uns hier<br />

eintreffen. Gib ihnen bitte diese Nachricht.«<br />

Boffo drückte Tarimond einen Brief in die Hand. Dazu das<br />

Säckchen und seine eben gezeichnete Karte von Laudora. Tarimond<br />

verbeugte sich und nahm die Sachen an sich.<br />

43

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