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E_1940_Zeitung_Nr.004

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BERN, Dienstag, 23. Januar <strong>1940</strong> Automobil-Revue • II. Blatt, Nr. 4<br />

Franz von Hoesslin dirigiert das Berner Stadtorcheeter.<br />

(Photo Bettina Müller.)<br />

Rauher oes ^/(onzerfs<br />

Die Namen Arturo Toscanini und Adolf Busch<br />

prangen in Riesenlettern auf den Plakatsäulen und<br />

stechen aus den Inseratenseiten der <strong>Zeitung</strong>en heraus:<br />

die Internationalen Musikwochen der Stadt<br />

Luzern haben ihren Höhepunkt erreicht. Ueber die<br />

Fest Stadt ist an diesem Hochsommerabend<br />

des Jahres 1939 ein heftiges Gewitter gerade in<br />

dem Augenblick herniedergegangen, da es Zeit<br />

für die Konzertbesucher ist, dem Kongressgebäude<br />

zuzustreben. Zu den vielen,, die ohnehin im eigenen<br />

Wagen hingefahren wären, gesellen sich nun<br />

auch noch alle andern, die trockenen Hauptes ans<br />

Ziel gelangen möchten. Und so wird der Betrachter<br />

zum Zeugen eines zauberhaften Bildes: die<br />

Fahrbahn der Seebrücke und des Bahnhofplatzes<br />

ist zum Reflektor geworden, in dem sich eine endlose,<br />

nur stockend vorankommende Autokolonne<br />

spiegelt, so dass ein fast gespensterhaftes Spiel<br />

von Licht und Schatten entsteht. Den Automobilen<br />

der verschiedensten Marken aus zahlreichen<br />

Ländern entsteigt eine illustre Gesellschaft, und<br />

ein geradezu babylonisches Sprachgewirr ist unter<br />

den Portalen und bei den Garderoben vernehmbar.<br />

In gewähltesten Toiletten die Damen, im<br />

Abendanzug die Herren, eilen sie dem grossen<br />

Saale zu, der bald bis zum hintersten Winkel besetzt<br />

ist. Plötzlich bricht das Summen der Stimmen<br />

ab. Energischen Schrittes betritt Maestro<br />

Toscanini das Podium, wird mit frenetischem Applaus<br />

begrüsst, dem alsbald' eine absolute Stille<br />

folgt. Völlig verwandelt ist in einem Augenblick<br />

die Gesellschaft. Um des einen Zweckes willen,<br />

von Dr. Hans Ehinger<br />

klassische Musik in vollendeter Interpretation sich<br />

anzuhören, ist sie in dem einen Räume der Fremdenstadt<br />

im Herzen der Schweiz zusammengekommen:<br />

Menschen der verschiedensten Nationalitäten,<br />

der verschiedensten Volksschichten, der verschiedensten<br />

geistigen Gesinnung. Für zwei Stunden,<br />

ist diese Vielheit zur Einheit, ja geradezu .zu<br />

einer Gemeinde geworden. Dank der Macht der<br />

Musik.<br />

Man wird einwenden, dass derartige Höhepunkte<br />

mit dem gewöhnlichen Konzertleben der<br />

Schweiz nur wenig gemeinsam habe, ja Skeptiker<br />

werden behaupten, dass solches nicht Eigengewächs,<br />

sondern streng genommen, fremde Importware<br />

sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass zwar ein<br />

ausländischer Dirigent erst diese Musikwochen<br />

ermöglichte, dass es aber doch schweizerischer<br />

Initiative entsprang, was da gewagt wurde, und<br />

dass es schweizerischer Zähigkeit bedurfte, das<br />

kühne Unternehmen zu einem guten Ende zu führen.<br />

Und sassen in jenem Orchester, das von<br />

allen Kennern ein jeden Vergleich bestehendes<br />

Wunderensemble geheissen wurde, nicht fast ausnahmslos<br />

Musiker, die den Berufsorchestern, von<br />

Zürich, Basel, Bern, Genf, Winterthur angehören,<br />

deren Kern bilden und mit ihrem Können dafür<br />

einstehen, dass auch in den einzelnen Städten<br />

herrliche Musik geboten wird? Und haben diese<br />

Orchester in Ernest Ansermet, Volkmar Andreae,<br />

Fritz Brun, Hans Münch nicht Leiter der Spitze,<br />

die sich weit über die Landesgrenzen hinaus eines<br />

angesehenen Namens erfreuen? An der<br />

ihres Wirkens sind sie es, die etwa einem Dutzeq<br />

Sinfoniekonzerten die Richtung weis,<br />

indem aus dem unendlich reichen Born der<br />

sterwerke der Tonkunst die gültigsten ent<br />

selber darbieten oder sie durch hervorragend,<br />

ländische Kapellmeister darbieten lassen.<br />

Diesen Sinfoniekonzerten wohnt etwas Festliches<br />

inne. Meist legen die Besucher und namentlich<br />

die Besucherinnen, Wert darauf, gut gekleidet<br />

zu sein, und an sich schadet es gar nichts, wenn<br />

der oder jener sich ein Abonnement mehr aus<br />

Gründen der Repräsentation als aus Verlangen<br />

nach guter Musik erwirbt. Ihr Gegenstück finden<br />

die Orchesterkonzerte in den Darbietungen der<br />

grossen gemischten Chöre, wobei an Stelle<br />

der Sinfonie oder des Solistenkonzertes das Oratorium<br />

oder die Passion steht. Die Münster zu<br />

Basel und Bern geben dabei einen besonders feierlichen<br />

Rahmen ab.<br />

An eine wesentlich anders gerichtete Hörerschaft<br />

wendet sich das Konzert mit Kammermusik.<br />

Es verzichtet auf den Glanz eines reich<br />

besetzten Orchesters, stellt dagegen völlig auf ein<br />

paar Instrumente ab, ein Streichquartett oder<br />

ein Klaviertrio, die dann einzeln um so gewichtiger<br />

in Erscheinung treten. Vergleiche zwischen<br />

den Künsten sind immer gewagt. Und doch ist es<br />

reizvoll, das Sinfoniekonzert in dieselbe Ebene wie<br />

ein farbenprächtiges Gemälde, das Kammermusikkonzert<br />

in diejenige einer Holzschnittfolge zu<br />

rücken. Zwischen diesen beiden Ausdruckformen<br />

stehen'die' K am m e r o r c h e s t e r , die sich von<br />

den älteren Schwestern nicht bloss zahlenmässig<br />

unterscheiden. Als Schöpfungen der Zeit nach dem<br />

Weltkrieg entsprangen sie* den Bedürfnissen einer<br />

neuen Einstellung zur Kunst ganz allgemein: sie<br />

rücken bewusst ab von jener Gesinnung, die<br />

manchmal im äusseren Glanz den Hauptzweck<br />

des Unterfangens sieht und achten insbesondere<br />

darauf, jenen Schöpfungen zur Geltung zu verhelfen,<br />

die aus verständlichen Gründen sonst vernachlässigt<br />

blieben. Ihr Augenmerk gilt darum zur<br />

Hauptsache der Zeit bis zu Bach und Händel, mit<br />

gelegentlichen Vorstössen bis zu Haydn und Mozart;<br />

von Beethoven bis zu Reger und Debussy<br />

machen sie sodann einen Sprung, um sich mit um<br />

so grösserer Intensität dem Schaffen der Zeitgenossen<br />

zuzuwenden. In besonders vorbildlicher<br />

Art wirkt das von Paul Sacher gegründete Basler<br />

Kammerorchester, dem die ähnlich gesinnten Vereinigungen<br />

in Zürich, Bern, St. Gallen, Luzern und<br />

Solothurn eifrig nachstreben. .<br />

Das sind nur wenige Andeutungen über das erstaunlich<br />

vielgestaltige Konzertleben unseres kleinen<br />

Landes. Es fehlt, wir dürfen es ohne Selbstüberhebung<br />

sagen, bei uns nichts Wesentliches auf<br />

diesem Gebiet. Dabei sei nicht übergangen, dass<br />

auch die Musikpflege jene Gastfreundschaft<br />

kennt, die mit dem Namen der Schweiz wohl auf<br />

alle Zeiten verknüpft ist. Kaum ein Künstler von<br />

Rang, der nicht zeitweiliger oder ständiger Gast<br />

in unseren Konzertsälen wäre; und was die Programmgestaltung<br />

betrifft, so gilt die Nationalität<br />

nichts, die künstlerische Kraft dagegen alles. Eben<br />

konnte man es in den ersten Wochen des neuen<br />

Jahres erleben, wie in unmittelbarer Folge ein<br />

deutscher Sänger und ein französisches Streichquartett<br />

von zum Teil denselben Musikfreunden<br />

begeistert gefeiert wurden. Das ist Neutralität der<br />

Tat.<br />

*<br />

Was aber ist es, das den ganzen Winter übef<br />

allabendlich Hunderte, ja Tausende von Hörern<br />

in die Konzertsäle lockt? Die Frage stellen, heisst<br />

noch längst nicht, sie beantworten. Zwei Typen<br />

unter den Konzertbesuchern, ihrem Wesen nach<br />

einander völlig entgegengesetzt, scheiden für jede<br />

Ueberlegung aus: der Kenner und der Snob. Diesem<br />

bedeutet der Konzertbesuch eine rein äusserliche,<br />

nach der Mode wechselnde Angelegenheit,<br />

wobei für ihn einzig das Drum und Dran vielleicht<br />

interessant ist; jenem ist die Musik höchste geistige<br />

Offenbarung, für sein Innenleben eine Notwendigkeit.<br />

Aber all die andern, jene vielen, die wahrscheinlich<br />

nicht bis zur letzten Erkenntnis vordringen,<br />

dennoch von jeder Oberflächlichkeit freizusprechen<br />

sind? Gehören sie zu jenen, die eine<br />

Komposition weder rein verstandesmässig'sezieren,<br />

noch sie mit überbordendem Gefühlsaufwand bloss<br />

einschlürfen, wohl aber sie wachen Sinnes in sich<br />

aufnehmen, dann stellen sie unentbehrliche Kulturträger<br />

dar. Denn die Kunst, soll sie weiter beste- 1<br />

hen, braucht den inneren und äusseren Widerhall,<br />

ganz besonders auch die Kunst der Töne, die auf<br />

dem Papier zu den allerwenigsten sprechen kann,<br />

,die erst durch die Aufführung ihre wahre Wirkung<br />

ausübt. Dann freilich ist es ihr möglich, tiefstes<br />

Erleben auszulösen, womit sie in Zeiten, über<br />

denen so unendlich Schweres liegt, eine eigentliche<br />

Mission erfüllt. Es ist darum vielleicht erlaubt,<br />

den Slogan des Winters zur Körperpflege in einen<br />

Slogan zur Geistespflege umzuwandeln:<br />

erst recht in den Konzertsaal!<br />

Aufmerksam. lauschendes Publikum im grossen Casinosaal in Bern anlässlich eines Symphonie-<br />

Konzertes.<br />

(Photo Bettina Müller.)<br />

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