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Ach, ist das schön hier! Nur der alte Mann auf der anderen Straßenseite<br />
macht mir langsam Sorgen. Anfangs schien er mir ein ganz<br />
normaler, nein mehr noch, ein ausgesprochen gut gekleideter Herr<br />
in sommerlich beigen Leinenjacket und gepflegten Lederschuhen<br />
zu sein, der einen putzigen, wenn auch wachsamen Hund à la Lassie<br />
ausführte. Aber je weiter wir uns den Römerweg entlang bewegen, desto<br />
mehr fällt mir auf, dass mit ihm irgendwas nicht zu stimmen scheint.<br />
Ach, ja, der Römerweg, ihn habe ich mir diesmal als Ziel meines Erkundungsspaziergangs<br />
ausgesucht. Er schien mir eine gute Ergänzung zur Hasengasse<br />
(siehe Ausgabe 05/<strong>2018</strong>). Hier verruchter Abgrund. Dort die stilvolle<br />
Villenstrasse, wo Göggingen am schönsten ist. Es gibt auf den ersten Blick<br />
eigentlich nur eine Sache, die Hasengasse und Römerweg gemeinsam haben:<br />
Die Scheu, einzutreten. So leicht erkennt man sich selbst. Wer die Frage: „Wer<br />
bin ich?“ zügig und ohne philosophische Verrenkungen beantworten will, muss<br />
eigentlich nur beobachten, wovor er zurückschreckt. Zu bürgerlich, um nonchalant<br />
in eine Bordellstraße zu flanieren und zu proletarisch, um unbefangen<br />
in ein Villenviertel zu schlendern. Wieso eigentlich? Gut, bei der Hasengasse<br />
konnte ich die Antwort leicht finden – es gibt einfach keine halbwegs würdige<br />
Art, dort hinzugehen, dafür ist der Zweck zu erniedrigend. Aber was schreckt<br />
mich an einer Straße, in der die mutmaßlichen Leistungsträger der Gesellschaft<br />
wohnen, in der ich vor Kriminalität, zumindest vor Straßenkriminalität, ganz<br />
gewiss keine Angst haben muss? Darüber muss ich nachdenken, während ich<br />
die Namensschilder an den Häusern studiere. Sehr schön. Sehr viele Doktoren<br />
wohnen hier. Sehr hübsch poliert. Hier ist nichts verlottert. Den ein oder<br />
anderen Namen kennt man aus der Lokalpresse, andere beschränken sich auf<br />
den Anfangsbuchstaben oder eine Kombination. Dr. H., M.A., S.Sch., Fam. v. H.<br />
Diskretion ist ein Merkmal stilvollen Lebenswandels, denke ich mir und werde<br />
von dem alten Herren mit Hund aus meinen Gedanken gerissen.<br />
Der arme Mann, was hat er nur? Als ich ihn am Anfang des Weges sah,<br />
wirkte er gesund, jetzt scheint er sich in einem Zustand der Verwirrung zu<br />
befinden. Traurig, was das Alter mit einem macht. Eben ist man noch ein<br />
sportlicher Architekt oder Rechtsanwalt oder Medienmogul und im nächsten<br />
Moment verwechselt man seinen Hund mit dem Kühlschrank. Er steht ein<br />
Dutzend Meter von mir entfernt und schaut irritiert um sich. Die Straße hoch,<br />
die Straße runter, auf seine Schuhe, fragend zu Lassie, fragend zu mir, wieder<br />
zu Lassie, wieder zu mir. Was mag ihm nur durch den Kopf gehen? Ich scheue<br />
mich, ihn anzusprechen. Ich bin hier ja fremd.<br />
Das ist das Gefühl, das mich von Anfang an beschlichen hat und immer<br />
deutlicher wird. Ich bin hier fremd. Aber das ist natürlich unsinnig, ich weiß<br />
es! Denn ich bin ja in jeder Straße, in der ich noch nicht war, zunächst einmal<br />
fremd. Was ist denn an fremden Straßen schlimm? Gar nichts. Es ist nicht nur<br />
Fremdheit... nein... nicht nur Scheu... nein, nein... es ist ... ein schlechtes Gewissen!<br />
Ja! Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich in dieser Straße bin, in der ich<br />
nicht wohne und in der ich im strengen, im gesetzlichen Sinn des Wortes auch<br />
kein berechtigtes Anliegen habe. Ich liefere ja nichts, ich repariere ja nichts, ich<br />
schaue ja nur. Und was sehe ich? Ach, also ich möchte es diplomatisch formulieren.<br />
Es ist ganz offensichtlich nicht so, dass man mit Reichtum (ich behaupte<br />
einfach mal frech, dass jeder, der hier ein Haus besitzt reich ist) zugleich guten<br />
oder gar außergewöhnlich guten Geschmack erwirbt.<br />
Ich denke da zum Beispiel an die Villa XY in Eierschalengelb, hinter deren<br />
Mauer ein stolzer Adler aus Stein über das Anwesen wacht, während vor der<br />
Mauer eine Igelmama mit Kind und eine Hasenmama mit Kind aus Keramik<br />
den Betrachter freudig anstrahlen. Zur Bekräftigung der idyllischen <strong>Szene</strong>rie<br />
prangen Herzen aus Metall über dem tierischen Trio. Aber verrät die Erwartung,<br />
dass reiche Menschen automatisch mehr Stil als die armen Teufel in der<br />
Hasengasse (wo übrigens auch Herzen angebracht sind) haben müssen, verrät<br />
diese Erwartung nicht in erster Linie, dass ich naiv bin und kein Herz für hübschen<br />
Kitsch habe? Dabei liegt die wahre Schönheit des Römerwegs ja gerade in<br />
dem, was nicht menschengemacht ist, nämlich in den vielen schönen Bäumen,<br />
die die Straße säumen. Grün ist in gewisser Weise ja die Farbe des Reichtums.<br />
Es gibt außerhalb der innersten Innenstadt keine Straßen mit Villen, die nicht<br />
mehr oder weniger großzügig begrünt sind. Das ist kein Vorwurf. Ich sage ja<br />
nicht, dass die Reichen den Armen die Bäume wegnehmen, das nicht. Aber so<br />
sehr es den Reichen da und dort auch mal an Geschmack fehlen mag, immer<br />
verstehen sie, dass eine begrünte, naturnahe Umgebung eine Wohltat für die<br />
Seele ist. Ich weiß gar nicht, ob die Viertel des Prekariats immer grau und trist<br />
sind, ich bin ja selbst kein Bewohner eines solchen Viertels, aber wenn ich wetten<br />
müsste...<br />
Oh, der alte Herr überquert jetzt die Straße. Er flüstert seinem Hund etwas<br />
zu, der schaut interessiert. Die beiden stehen jetzt vor der Einfahrt einer Villa<br />
im Bauhausstil und der alte Herr redet, seine Aufgeregtheit mühsam verbergend,<br />
auf einen Mann mittleren Alters im rosafarbenen Polo-Shirt ein. Dabei<br />
versucht er, ich merke es, unbefangen zu wirken und schaut besorgt die Straße<br />
hinab, aber es gelingt ihm nicht. Was mag nur in seinem Kopf vor sich gehen?<br />
Der Mann im Polo-Shirt hört ihm stirnrunzelnd zu, er wirkt jetzt wie ein Arzt,<br />
dem ein überzeugter Hypochonder eine verwegene Selbstdiagnose vorträgt, der<br />
er lediglich mit professioneller Aufmerksamkeit, nicht aber mit einem Therapievorschlag<br />
begegnen kann. Vielleicht ist er ja wirklich Arzt. Über den Köpfen<br />
der<br />
„<br />
beiden, an der Hauswand, hängt eine sehr moderne Überwachungskamera,<br />
eines dieser Modelle, die wie ein rundes Auge auf die Straße blicken.<br />
Das ist auch so eine Sache. Die Sorge um das Eigentum, welche die Besitzer<br />
wertvollerer Immobilien natürlich in einem weit höherem Maß umtreiben<br />
muss als einen beliebigen Siedlerhausbesitzer im Bärenkeller. Denke ich<br />
mir. Ich kenne die genauen Zahlen nicht. Womöglich ziehen Einbrecher die<br />
einfacheren Gegenden vor, weil sie wissen, dass dort zwar weniger Beute, aber<br />
auch weniger Sicherheitsmaßnahmen zu erwarten sind. Aber weiß man, wie<br />
Einbrecher ticken? Es wäre ja höchst riskant, darauf zu zählen, dass Kriminelle<br />
nüchtern abwägen. Allein schon deswegen, weil intelligente Kriminelle genau<br />
auf diese scheinbar sichere Risikokalkulation der reichen und sorgenvollen<br />
Hausbesitzer setzen und dort angreifen, wo man es nicht erwartet. Viele Zeugen<br />
hätten sie hier jedenfalls nicht zu befürchten. Die Straße ist geradezu post<br />
apokalyptisch leer. Wo sind nur all die Menschen, die hier wohnen? Klar, viele<br />
noble Autos, dazwischen Kleinwagen diverser Alten- und Gartenpflegedienste.<br />
Aber keine spielenden Kinder, keine Frauen/Männer mit Einkaufstaschen, kein<br />
Lärm. Erholen sich die Bewohner in ihren Häusern und meiden die Welt da<br />
draußen? Arbeiten sie gerade alle, um sich das Leben hier leisten zu können?<br />
Man weiß es nicht. Es wirkt aber genau besehen alles etwas... ja ... trist. Ich freue<br />
mich gerade darüber, dass mir das Bonmot irgendeines Philosophen einfällt,<br />
der meinte, die Rache Gottes an den Reichen wäre die Langeweile, da merke<br />
ich Bewegung in der Straße.<br />
Der alte Herr, Lassie und der Mann im rosa Polo-Shirt haben sich in Bewegung<br />
gesetzt und gehen auf mich zu. Tatsächlich auf mich. Ich schaue mich um.<br />
Niemand sonst ist zu sehen. Sie gehen sehr selbstbewusst, der alte Herr wirkt<br />
jetzt gar nicht mehr so verwirrt und der Arzt im rosa Polo-Shirt scheint auch<br />
recht zielstrebig zu sein. Sie kommen näher, bleiben vor mir stehen, der Polo-<br />
Shirt-Mann mustert mich ein ganz klein wenig abschätzig.<br />
„Junger Mann, Sie laufen jetzt schon fast eine halbe Stunde hier in der Straße<br />
rum, suchen Sie vielleicht was, oder wohnen Sie hier?“<br />
„Nein, nicht direkt“, murmle ich.<br />
„So, nicht direkt, dann würde ich vorschlagen, dass Sie diese Straße verlassen,<br />
ja?“<br />
Ich nicke. Eine sehr gute Idee.<br />
Junger Mann, suchen Sie vielleicht<br />
was, oder wohnen Sie hier?“<br />
„