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Dialogprozessbegleitung - Lernwerkstatt

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freigeist sommer 2012<br />

begleiter der lws stellen ihre lieblingstexte vor<br />

„In unserer Familie spielt die Arbeit am Computer eine<br />

große Rolle und so hat es sich ergeben, dass meine<br />

Kinder – auf meinem Schoß sitzend - ihre ersten Schreib-<br />

Erfahrungen mit Tastatur und Bildschirm gemacht haben.<br />

Wenn sie bei den Großeltern sind, dürfen sie fernsehen.<br />

Nun kann das Gehirn aber gar nicht anders als zu lernen.<br />

Umso wichtiger ist es, dass ich mir in Verbindung mit<br />

Computer und Fernsehen auch die unbeabsichtigten<br />

Lernsituationen bewusst mache.“<br />

Gewaltdarstellungen ebenso wie in der<br />

Bibel oder auf alten Gemälden, vom Hexameter<br />

und Holzschnitt zum Video und<br />

Word Wide Web. Warum sollten also in<br />

einem Buch über Lernen diese Sachverhalte<br />

eigens thematisiert werden? Was<br />

haben überhaupt Gewaltdarstellungen<br />

in Film und Fernsehen (und neuerdings<br />

am Computer) mit Lernen zu tun? Wer<br />

am Computer fremde Wesen abschießt,<br />

ins Kino geht oder fernsieht, der lernt<br />

doch gerade nicht, so könnte man meinen<br />

und sich allenfalls über die Behinderung<br />

des Lernens durch die neuen Medien<br />

beschweren.<br />

Leider liegen die Dinge nicht so einfach.<br />

Wir hatten in den vorangegangenen Kapiteln<br />

immer wieder klargestellt, dass<br />

das Gehirn eines nicht kann: Nicht lernen.<br />

Wenn das Gehirn aber immer lernt,<br />

dann lernt es auch im Kino und vor dem<br />

Fernseher bzw. dem Computerbildschirm.<br />

(...)<br />

Fernsehen macht Gewalt<br />

Wenden wir uns nochmals einer naturalistischen<br />

Studie zu, die nicht drei<br />

Städte, sondern drei Länder mit unterschiedlichem<br />

Einführungsdatum für das<br />

Fernsehen miteinander verglich. Das Kriterium<br />

für Gewalt in der realen Welt (die<br />

untersuchte abhängige Variable) war<br />

hierbei nicht beobachtetes oder mit Fragebogen<br />

erfasstes Verhalten, sondern<br />

das sehr „harte“ Kriterium der Anzahl<br />

der Tötungsdelikte in den jeweiligen<br />

Staaten.<br />

Centerwall (1989a, b) untersuchte den<br />

Zusammenhang zwischen der Einführung<br />

des Fernsehens und der Häu gkeit<br />

von Tötungsdelikten in der weißen<br />

Bevölkerung der USA, der gesamten Bevölkerung<br />

von Kanada (97 % Weiße) und<br />

der weißen Bevölkerung von Südafrika.<br />

Nachdem in den 50er Jahren in den USA<br />

und Kanada das Fernsehen eingeführt<br />

wurde, kam es dort zu einer Verdopplung<br />

von Tötungsdelikten innerhalb von<br />

10 - 15 Jahren. Während des gleichen<br />

Zeitraums nahm die Zahl der Tötungsdelikte<br />

in Südafrika um 7 Prozent ab.<br />

Nach der Einführung des Fernsehens in<br />

diesem Land im Jahre 1975 stiegen im<br />

Zeitraum bis 1987 die Tötungsdelikte um<br />

130 Prozent. Der Autor kommentiert:<br />

„Sofern das Fernsehen nie entwickelt worden<br />

wäre, gäbe es heute in den Vereinigten<br />

Staaten jährlich 10.000 weniger Tötungsdelikte,<br />

70.000 weniger Vergewaltigungen<br />

und 700.000 weniger Delikte mit Verletzungen<br />

anderer Personen.“ (Centerwall<br />

1992, S. 3061, Übersetzung durch den Autor)<br />

Ulrike Tinhofer-Sonntag<br />

ist LWS-Begleiterin,<br />

Mutter von 2 Kindern<br />

26<br />

Manfred Spitzer:<br />

Lernen. Gehirnforschung und die<br />

Schule des Lebens.<br />

Spektrum Akademischer Verlag:<br />

Heidelberg, Berlin 2006<br />

„e<br />

freigeist sommer 2012<br />

buch<br />

tipp<br />

rziehung ist eine wunderbare Spielwiese<br />

für Spekulanten.“ Jeder kann<br />

einfach behaupten, was ihm in den<br />

Kram passt, und ndet trotzdem gläubige<br />

Anhänger, beklagt der deutsche<br />

Kinderarzt Herbert Renz-Polster. 2011<br />

war das die „Tigermutter“ Amy Chua, die<br />

es mit „Die Mutter des Erfolgs. Wie ich<br />

meinen Kindern das Siegen beibrachte“<br />

scha te, verweichlichte Westler mit<br />

chinesischen Drillmethoden zu verunsichern,<br />

2008 Michael Winterho , der sich<br />

mit „Wie unsere Kinder Tyrannen werden“<br />

Bernhard Buebs „Lob der Disziplin“<br />

von 2006 anschloss.<br />

Aber brauchen unsere Kinder wirklich<br />

mehr Disziplin? Wollen sie wirklich die<br />

Macht in der Familie übernehmen und<br />

fordern deswegen ihre Grenzen ein?<br />

Müssen sie so früh wie möglich gefördert<br />

werden? Renz-Polster verneint alle<br />

diese Punkte – um auf die Stärken der<br />

Kinder hinzuweisen, die viel besser wissen<br />

als manche heutigen Erwachsenen,<br />

„wie man das Großwerden am besten<br />

anpackt“.<br />

Und zwar mithilfe von jenem Paket, das<br />

die Evolution ihnen mitgegeben hat.<br />

Das Ergebnis dieser jahrtausendelangen<br />

Entwicklung passt manchen Eltern<br />

zwar nicht in ihren durchgetakteten<br />

Alltag, aber sich diese Entwicklung und<br />

ihre Funktionen genauer anzuschauen,<br />

könnte ihnen dabei helfen, ihre Kinder<br />

besser zu verstehen, meint Renz-Polster.<br />

„Kinder verstehen“ lautete auch der Titel<br />

seines 2009 erschienenen Wälzers, der<br />

anhand der viel diskutierten „Problemfelder“<br />

Durchschlafen, Sauberwerden,<br />

27<br />

wer weiß besser, wie man<br />

das großwerden am<br />

besten anpackt?<br />

Herbert Renz-Polster argumentiert gegen die systematische Frühförderung<br />

und für eine wilde Kindheit. Kirstin Breitenfellner<br />

Essen, Trotz und Bildung durchbuchstabierte,<br />

warum Kinder so sind, wie sie<br />

sind. Nicht alles, was Eltern an ihren Kindern<br />

heute nervt, ist auch eine Störung,<br />

im Gegenteil, meint Renz-Polster: Es hat<br />

den Kindern Jahrmillionen dabei geholfen<br />

zu überleben – und der Menschheit,<br />

sich zu entwickeln.<br />

Dieser erfrischende, „artgerechte“ Ansatz,<br />

Kinder nicht ständig ändern zu<br />

wollen, sondern zu ergründen, warum<br />

sie sich verhalten, wie sie sich verhalten,<br />

kann enorme Erleichterung scha en im<br />

Dschungel von Meinungen und Direktiven,<br />

in einem Klima der Angstmache<br />

– vor dem Verwöhnen, vor den kleinen<br />

Tyrannen, davor, nicht perfekt zu sein<br />

und nicht zuletzt, seine Kinder zu wenig<br />

zu fördern.<br />

„Wenn wir den Kindern gerecht werden<br />

wollen, müssen wir diese Geschichte<br />

kennen“, lautet die Prämisse, und tatsächlich<br />

kann Renz-Polster mit seinem<br />

evolutionstheoretischen Ansatz, der<br />

von den Forschungen Sarah Bla er Hrdys<br />

und deren Büchern „Mutter Natur“<br />

(dt. 2000) und „Mütter und andere“ (dt.<br />

2010) inspiriert wurde, so manches erklären,<br />

was Eltern sich die Haare raufen<br />

lässt. Warum wollen die Kleinen nicht alleine<br />

einschlafen? Warum essen sie kein<br />

grünes Gemüse? Weil sie, wenn sie das<br />

in früheren Zeiten getan hätten, nicht<br />

mehr leben würden.<br />

Renz-Polster argumentiert für die Stärken<br />

der Kinder, aber auch dagegen, den<br />

Eltern immer den schwarzen Peter zuzuschieben,<br />

wenn Erziehung nicht gelingt.<br />

Zu keiner Zeit der Menschheitsgeschich-<br />

Herbert Renz-Polster: Menschenkinder.<br />

Plädoyer für eine artgerechte Erziehung.<br />

Kösel,191 S., € 18,50<br />

te waren es nämlich nur die Erzeuger, die<br />

Ein uss auf die Entwicklung ihrer Sprösslinge<br />

nahmen, sondern neben anderen<br />

Betreuungspersonen vor allem andere<br />

Kinder.<br />

Die Kindheit gliederte sich die längste<br />

Zeit der Menschheitsgeschichte in zwei<br />

Abschnitte: Etwa drei Jahre lang waren<br />

die Kleinen Trage- und Stillkinder, mit<br />

der Ankunft eines neuen Geschwisters<br />

wurden sie jedoch unvermittelt vom<br />

Schoß der Mutter katapultiert: in die gemischtaltrige<br />

Kindergruppe.<br />

Darauf mussten sie vorbereitet sein. Und<br />

zwar nicht durch eine Revolution gegen<br />

die Eltern, wie man die kleinkindliche<br />

Entwicklung heute versteht, sondern<br />

durch eine Revolution für die Interessen<br />

der eigenständigen Entwicklung.<br />

In Kinderförderern à la Amy Chua sieht<br />

Renz-Polster einen „Frontalangri auf<br />

die Kindheit, wie wir sie bisher kennen“.<br />

Aber was kommt heraus bei einer Generation,<br />

deren Eltern ständig am Burn-out<br />

schrammen, aber dennoch ihre Kinder<br />

in jeder Minute Freizeit in irgendwelche<br />

Kurse stecken, um sie zu „kleinen

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