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StadtHochDrei – Berlin Mitte

ISBN 978-3-86859-529-1 https://www.jovis.de/de/buecher/product/stadthochdrei-berlin-mitte.html

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Leseräume, Unterhaltungs- und Spielzimmer, Wandelgänge<br />

und alles andere des Volkshausprogramms<br />

zeigen eine das häuslich Intime überwindende<br />

architektonische Gestaltung, welche ganz<br />

auf die große Gemeinschaft gestellt ist und sich mit<br />

einem bildnerischen und malerischen Schmuck verbindet,<br />

der, gleichermaßen hinausgehend über die<br />

Schranken des Alltags, des ›Natürlichen‹, ihr frei und<br />

zugleich in engster geistiger Bindung folgt.« 28<br />

Die Funktion des einst alles überragenden Kreuzes,<br />

das die Kathedralen der Vergangenheit krönte,<br />

würde durch einen Glasbau übernommen, der Museum,<br />

Bibliothek, Theater und Volkshaus sowohl<br />

überragt als auch verbindet und eine ähnlich ausgeprägte<br />

Lichtsymbolik besitzt wie in der Gotik.<br />

»Es ist das Kristallhaus, das aus Glas errichtet<br />

ist, dem Baustoff, der Materie und doch mehr als<br />

gewöhnliche Materie in seinem schimmernden,<br />

transparenten, reflektierenden Wesen bedeutet.<br />

Eine Eisenbetonkonstruktion hebt es über das Massiv<br />

der vier großen Bauten heraus und bildet sein<br />

Gefüge, zwischen dem in Prismenglasfüllungen, farbigen<br />

und Smalten-Glastafeln die ganze reiche Skala<br />

der Glasarchitektur prangt.« 29<br />

Wie die gotische Kathedrale scheint diese Lichtarchitektur<br />

durch die biblische Erzählung vom Neuen<br />

Jerusalem inspiriert, das, über der Erde schwebend,<br />

ganz aus Edelsteinen erbaut, von himmlischem Licht<br />

erfüllt ist. 30 Sie besteht aus einem einzigen Raum, in<br />

dem Architektur, Malerei, Plastik und Glasbildkunst<br />

ihre lange verlorene Einheit wiedererlangen.<br />

»Hier wird die Architektur ihren schönen Bund<br />

mit der Plastik und Malerei wieder erneuern. Es wird<br />

alles ein Werk sein, in dem die Leistung des Architekten<br />

in der Konzeption des Ganzen, die des Malers<br />

in den Glasgemälden von entrückter weltendurchziehender<br />

Phantasie und die des Plastikers<br />

untrennbar vom Ganzen und so mit ihm verbunden<br />

ist, dass alles nur einen Teil der großen Baukunst,<br />

ein Glied des hohen Gestaltungsdranges bildet, der<br />

alle Künstler gleichmäßig erfüllt und zum letzten<br />

Ausdruck zwingt.«<br />

In dieser »kosmischen« Atmosphäre entfaltet<br />

sich »die ganze freie vom Bann der Realistik erlöste<br />

Formenwelt«. Vom Sonnenlicht erhellt und durchströmt,<br />

glänzt und schimmert der Raum an allen<br />

Stellen »in allen Farben und Materialien, Metallen,<br />

edlen Steinen und Glas« und weckt so in den Besuchern<br />

zahllose große Empfindungen.<br />

Und natürlich hat diese Architektur für Taut auch<br />

eine ethische, ja politische Aussage. Sie steht für einen<br />

»Sozialismus im unpolitischen, überpolitischen<br />

Sinne, fern von jeder Herrschaftsform«, der die Menschen<br />

verbinde und »gleichsam ein Christentum in<br />

neuer Form verheiße«. Mit dieser Art von moderner<br />

Stadtkrone, davon ist Taut überzeugt, könne den alten<br />

Kathedralen Ebenbürtiges zur Seite gestellt werden.<br />

31<br />

In seinem Ansatz, die städtebauliche Dominanz<br />

von Architektur an Geschichte, sozialen und geistigen<br />

Fortschritt, an das Gemeinwohl, an Toleranz,<br />

Freiheit und Frieden, an Schönheit, bürgerliche Identität<br />

sowie an Religion und an eine entsprechende<br />

Lichtsymbolik zu knüpfen, öffentliche Bauten als<br />

Glieder des urbanen Organismus zu verstehen und<br />

den Architekten zum Interpreten einer kollektiven<br />

Identität zu machen, erwies sich Taut als ein Avantgardist<br />

par excellence. Hinzu kommt, dass er im Unterschied<br />

zu den späteren Vertretern der Internationalen<br />

Moderne nicht dazu neigte, seine Meinungen<br />

zu verabsolutieren. Deutlich wird dies im sechsten<br />

Kapitel seines Manifests, das die Überschrift »Gebt<br />

eine Fahne« trägt. Diese Losung enthält zweifellos<br />

einen Appell zum Aufbruch. Diesen Aufbruch hat<br />

Tauts Mitstreiter Erich Baron in einem das Manifest<br />

ergänzenden Beitrag erläutert:<br />

»Wir wollen ohne Scheu (...) wieder Weltverbesserer<br />

heißen, Zukunftsgläubige sein. (...) Nicht ein<br />

Programm, sondern eine Fahne soll gegeben werden;<br />

nicht ein toter Entwurf, sondern ein lebendiges<br />

Gebilde, das die Sehnsucht des Herzens schuf.« 32<br />

Freilich will Taut das Ziel dieses Aufbruchs und<br />

den Weg dorthin nicht diktieren <strong>–</strong> ebenso wenig wie<br />

Baron. Unter »Fahne«, so versichert er, verstehe er<br />

»bestenfalls (...) eine Idee und theoretische Anregung,<br />

deren endgültige Lösung vieltausendfältige<br />

Möglichkeiten in sich schließt.« 33 Tauts Fahne steht<br />

für eine Vision, nicht für ein Dogma. Es ist dieselbe<br />

Fahne der Freiheit und des Fortschritts, die in der<br />

Hand von Delacroix’ Liberté weht.<br />

Bekanntlich musste Taut unmittelbar nach der<br />

Machtergreifung der Nationalsozialisten Deutschland<br />

verlassen. Somit wurde seine Idee zum Sinnbild<br />

einer Avantgarde, die schon damals gegen reaktionäre<br />

Systemeliten ankämpfte. Gegen die Fahnenwälder,<br />

mit denen diese Eliten eine avantgardistische<br />

Grundhaltung simulierten, steht seine geistige Fahne.<br />

Diese Fahne konkretisiert sich in der Würde des<br />

griechischen Tempels, in der Lichtmetaphysik der<br />

gotischen Kathedrale, in der Erhabenheit der asiatischen<br />

Pagode, im Pathos des amerikanischen Wolkenkratzers<br />

und in seinem Traum vom Kristallhaus.<br />

98

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