StadtHochDrei – Berlin Mitte
ISBN 978-3-86859-529-1 https://www.jovis.de/de/buecher/product/stadthochdrei-berlin-mitte.html
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ist hoch gotisch, der Turm, die Vierungskuppel und<br />
die Seitenkapellen spätgotisch. Aus ebendiesen<br />
Epochen stammen auch die übrigen Gebäude der<br />
Stadt. In ihrem Leitbau verdichtet sich die Stadt nicht<br />
nur formal, sondern auch geschichtlich.<br />
Stadtbildformel IV:<br />
Individualität und Würde des Menschen<br />
Im Unterschied zur heidnischen Antike dachte das<br />
christliche <strong>Mitte</strong>lalter die Welt nicht von unten nach<br />
oben, sondern von oben nach unten. Letztlich galt<br />
dies auch für die Architektur. In der mittelalterlichen<br />
Theologie ist alles von Gott erschaffen und alles auf<br />
ihn hin erschaffen. Die Würde des Menschen und die<br />
Würde der Architektur definierten sich gleichermaßen<br />
durch ihre metaphysische Dimension. Wie der mittelalterliche<br />
Mensch die Sakralarchitektur als ein Abbild<br />
des Himmels wahrnahm, so begriff er sich selbst als<br />
ein Ebenbild Gottes. Daher gründete sich seine Würde,<br />
anders als in der Antike, nicht auf mühsam erworbene<br />
Fähigkeiten (etwa auf durch körperliche Ertüchtigung<br />
gewonnene physische Schönheit oder auf<br />
durch Bildung erlangte Geistesgröße), sondern auf<br />
sein Dasein an sich. Als Ebenbild Gottes erhielt er<br />
eine Würde qua Geburt. Darüber hinaus folgte er<br />
durch seine Tätigkeit als Architekt und Handwerker<br />
nicht nur universalen Ordnungsprinzipien; indem er<br />
die Materie durch seine Kunst zu einem Abbild des<br />
Himmels machte und sie somit vergeistigte, gewann<br />
er auch selbst am göttlichen Schöpfungsakt Anteil.<br />
Somit steht die gotische Kathedrale für eine von Gott<br />
verliehene Menschenwürde und für eine sich auf<br />
künstlerischer wie ethischer Ebene vollziehende Mitwirkung<br />
des Menschen an der Heilsgeschichte.<br />
Stadtbildformel V:<br />
Ausdrucksstarke, charaktervolle Figur,<br />
die große Empfindungen weckt<br />
Noch mehr als der griechische Tempel mit seinem<br />
Säulenkranz besitzt die gotische Kathedrale mit ihren<br />
hohen Türmen eine markante und unverwechselbare<br />
Gestalt. Jeder Turm hat seine einzigartige, unverwechselbare<br />
Form: sei er nun ein schlichter kubischer<br />
Block wie in Notre Dame zu Paris, ein klassisches<br />
Oktogon mit aufgesetzter achtseitiger Pyramide wie<br />
in Freiburg oder ein höchst kunstvolles Gebilde mit<br />
angestückten Ecktürmchen und einem abgetreppten<br />
Helm wie in Straßburg. Alle diese Türme sind zu<br />
Wahrzeichen geworden, besonders der Straßburger,<br />
der mit 142 Metern Höhe lange Zeit das höchste Gebäude<br />
der Welt war.<br />
Und natürlich hat der Anblick der Kathedralen<br />
ebenso viele empathische Reaktionen hervorgerufen<br />
wie die Betrachtung des Parthenon. Der wohl<br />
prominenteste Text, der dies belegt, stammt aus der<br />
Feder des jungen Goethe, der in Straßburg Rechtswissenschaften<br />
studierte und beim Anblick des<br />
Münsters seine Liebe zur Gotik entdeckte.<br />
»Mit welcher unerwarteten Empfindung überraschte<br />
mich der Anblick, als ich davor trat! Ein ganzer,<br />
großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er<br />
aus tausend harmonierenden Einzelheiten bestand,<br />
ich wohl schmecken und genießen, keineswegs<br />
aber erkennen und erklären konnte. Sie sagen, dass<br />
es also mit den Freuden des Himmels sei, und wie<br />
oft bin ich zurückgekehrt, diese himmlisch-irdische<br />
Freude zu genießen, den Riesengeist unsrer älteren<br />
Brüder in ihren Werken zu umfassen. Wie oft bin ich<br />
zurückgekehrt, von allen Seiten, aus allen Entfernungen,<br />
in jedem Lichte des Tags zu schauen seine<br />
Würde und Herrlichkeit!« 36<br />
Was Goethe neben der Schönheit besonders beeindruckte,<br />
war die Neuartigkeit der Gotik. Während<br />
die Baumeister der Renaissance, des Barock und<br />
des Klassizismus seiner Meinung nach nur an den<br />
»mächtigen Resten« der Vergangenheit krochen, um<br />
sich von ihren antiken Vorgängern Maßverhältnisse<br />
zu erbetteln, und »aus den heiligen Trümmern« Lusthäuser<br />
zusammenflickten, habe Erwin von Steinbach,<br />
der legendäre Erbauer des Straßburger Münsters,<br />
wirklich Neues geschaffen. Die Gotik <strong>–</strong> in<br />
Goethes Augen eine reine Avantgarde-Architektur.<br />
Stadtbildformel VI:<br />
Ausgewogenheit der Komposition<br />
Obwohl die Gotik in der vertikalen Streckung ihrer Formen<br />
dem Proportionsempfinden der griechischen<br />
Klassik vollkommen zuwiderläuft (ein antiker Baumeister<br />
hätte die Teile als überlängt empfunden), verfügt sie<br />
über ausgewogene Kompositionsprinzipien. An der<br />
Fassade des Straßburger Münsters folgt das Verhältnis<br />
von Unterbau und Turmaufsatz dem Goldenen<br />
Schnitt. Der Bau verjüngt sich in allen seinen Gliedern<br />
nach oben, sodass er trotz seiner Höhe nicht inkommensurabel<br />
oder wuchtig wirkt. Zugleich mutet er aber<br />
auch nicht zu steil an, da seine Vertikalität an vielen<br />
Stellen durch horizontale Stockwerksgesimse, Kaffgesimse<br />
und Wirtel ausgeglichen wird. Hinzu kommt,<br />
dass viele Einzelformen in sich ausgewogen sind. Dies<br />
gilt besonders für die alles überziehenden Maßwerkformen,<br />
die sich aus vollkommenen geometrischen<br />
Figuren zusammensetzen. So besteht die zentrale<br />
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