2019-01 Pfarrblatt
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zäme stah – vorwärts gah<br />
Der zweite Bereich ergibt sich aus<br />
der Situation des relativ engen Zusammenlebens<br />
im Seminar und bezieht<br />
sich auf die “gelebte Kultur”.<br />
Das konstante Miteinander im Alltag<br />
lässt z. B. Unbehagen und/oder<br />
evasives Verhalten eines Kandidaten<br />
leichter erkennen, evaluieren und<br />
adressieren. Wenn man realisiert,<br />
dass jemand z. B. lügt, sich regelmässig<br />
vor Aufgaben oder Verantwortung<br />
drückt, aggressiv verhält,<br />
nachlässig oder immer unpünktlich<br />
ist, Karrieredenken vorneansetzt,<br />
etc., so handelt es sich dabei zwar<br />
nicht um gravierende Einzelheiten,<br />
aber es gibt doch einen Einblick in<br />
den Charakter einer Person, vor allem,<br />
wenn man sieht, wie diese Person<br />
beim Konfrontiert-werden mit<br />
diesen Tatsachen reagiert und damit<br />
umgeht. Hier geht es um das Erkennen<br />
einer Einstellung oder Haltung<br />
im menschlichen und zwischenmenschlichen<br />
Bereich und der Frage,<br />
welche Haltung einer priesterlichen<br />
Berufung entspricht. Hiermit<br />
will nicht ausgesagt werden, dass es<br />
hierbei um Missbrauchsprobleme<br />
gehen muss, sondern ganz einfach,<br />
dass das Zusammenleben im Seminar<br />
den Verantwortlichen zusätzlich<br />
erlaubt, die Person wahrzunehmen<br />
und auf gewisse Sachen und Eigenheiten<br />
aufmerksam zu werden.<br />
Ebenfalls wird dem opportunistischen<br />
Anwärtertourismus (ein Kandidat<br />
wird in einem Seminar abgelehnt<br />
und meldet sich dann einfach<br />
in einem anderen Seminar an) heute<br />
durch verschiedene Massnahmen,<br />
z. B. das Einholen von Referenzen,<br />
Nach- und Anfragen, engere Zusammenarbeit<br />
etc., nach Möglichkeit<br />
der Riegel vorgeschoben, oder mindestens<br />
sehr kritisch beurteilt und<br />
hinterfragt.<br />
Kath. Pfarreiseelsorge Freiburg Stadt und Umgebung | Januar <strong>2<strong>01</strong>9</strong><br />
Fotos: zVg<br />
Es ist interessant zu sehen, dass<br />
heute, im Unterschied zu noch vor<br />
zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren,<br />
viel mehr Bewerber fürs Seminar<br />
aus einer Situation der “Verletzung”<br />
kommen, seien dies Schei dung<br />
der Eltern, eigene negative oder<br />
schmerzende Lebenserfahrungen<br />
etc. Hier zeigt sich dann bereits ein<br />
erstes Evaluationskriterium, nämlich<br />
ob die Person auf Grund dieser Verletzungssituation<br />
an Reife gewonnen<br />
hat und diese entsprechend<br />
auch verarbeiten konnte oder sich<br />
nicht aus dieser Situation befreien<br />
kann. Es ist daher verständlich, dass<br />
die Anforderungen an Ausbildung<br />
und Befähigung der Verantwortlichen<br />
eines Seminars über die letzten<br />
Jahre stetig gestiegen sind, denn<br />
die Begleitung der Anwärter ist heute<br />
komplexer und anspruchsvoller<br />
geworden und ein wichtiger Bestandteil<br />
auf dem Weg des Seminaristen.<br />
Um die bestehenden Hürden,<br />
wie auch die stattfindende Selektion<br />
in einem Seminar zu verdeutlichen,<br />
so werden heute, obgleich die Gesamtzahl<br />
der Anwärter natürlich<br />
stark zurückgegangen ist, lediglich<br />
rund 1/4 bis 1/3 aller Bewerber überhaupt<br />
erst ins Einführungsjahr aufgenommen<br />
und letztendlich werden<br />
dem Bischof im Schnitt nur einer<br />
von zwei ins Seminar aufgenommenen<br />
Kandidaten zur Priesterweihe<br />
vorgeschlagen. Heute ist ganz klar,<br />
wer sich im ‘normalen’ Leben (Schule,<br />
Familie, Kollegen, Beruf, Beziehungen,<br />
etc.) nicht zurechtfindet<br />
und behaupten kann, der ist im Seminar<br />
erst recht am falschen Ort.<br />
Ich danke Abbé Nicolas Glasson für<br />
seine Ausführungen und den uns<br />
gewährten Einblick und bin mir natürlich<br />
sehr wohl bewusst, dass wir<br />
in diesem (zu)kurzen Artikel nicht<br />
alle relevanten Punkte berücksichtigen<br />
konnten.<br />
Josef Güntensperger<br />
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