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Detmolder Kurier 198

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<strong>Detmolder</strong> <strong>Kurier</strong> Nr. <strong>198</strong> 23. Januar 2019 Seite 3<br />

Herstellung in Deutschland „zu teuer“ – Auswirkungen auch auf Werkstätten der Lebenshilfe<br />

Matraflex schließt Produktion: 200 Mitarbeiter müssen gehen<br />

„Es ist einfach nicht mehr machbar.<br />

Wenn ich mir die Entwicklung der<br />

Löhne und Steuern in den letzten<br />

Jahren so anschaue, die Abgaben an<br />

die IHK, die ganzen neuen Auflagen,<br />

Arbeitssicherheitsbestimmungen,<br />

Datenschutzbeauftragte – da lacht<br />

sich das Ausland doch kaputt über<br />

uns hier in Deutschland“, lässt der<br />

Matraflex-Firmengründer Erhardt<br />

Schäuble seiner Frustration im<br />

Gespräch mit dem <strong>Detmolder</strong><br />

<strong>Kurier</strong> freien Lauf. Der Hersteller<br />

von Lattenrosten, Matratzen und<br />

Betten aus Detmold erwirtschaftete<br />

im Jahr 2016 mit 251 Mitarbeitern<br />

eine Bilanzsumme von 11,8 Millionen<br />

Euro bei einem Gewinn<br />

nach Handelsgesetzbuch von rund<br />

487.000 Euro (letzter veröffentlichter<br />

Jahresabschluss, Geschäftsjahr 2016,<br />

Quelle: North Data).<br />

Dabei sei es sein Lebenswerk, das<br />

er jetzt kontrolliert zu Ende bringe:<br />

„Am 31. Juli wird der Schlüssel<br />

umgedreht, dann ist Schluss!“ Die<br />

Marke Matraflex bleibe weiter bestehen,<br />

was damit geschehe, sei aber<br />

derzeit noch unklar. Betroffen von<br />

den Werkschließungen sind die Produktionsstandorte<br />

in Detmold, Horn-<br />

Bad Meinberg und Lage-Heiden, an<br />

denen zuletzt 200 Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter beschäftigt waren.<br />

Sie alle erhielten nach Angaben<br />

der Agentur für Arbeit noch kurz<br />

vor Weihnachten die Kündigung,<br />

zum Teil zum 30. April, der Rest zu<br />

Ende Juli.<br />

„Der Stundenlohn für einen Polsterer<br />

beträgt in Bulgarien 1,56<br />

Euro, hier bei uns 14 Euro. Das ist<br />

für mich kaufmännisch nicht mehr<br />

rechenbar“, so Schäuble. „Ähnlich<br />

sieht es bei den Näherinnen aus.“<br />

Außerdem bekämen Firmen, die im<br />

EU-Ausland investierten, beispielsweise<br />

Zuschüsse von 50 Prozent für<br />

neue Maschinen von der EU. „In<br />

Deutschland muss ich 100 Prozent<br />

selbst finanzieren.“ All das habe ihn<br />

veranlasst, die Produktion aufzugeben<br />

– kontrolliert und kaufmännisch<br />

korrekt: „Das ist eine ganz saubere<br />

Betriebseinstellung.“ Er halte nichts<br />

davon, eine Firma bewusst in Insolvenz<br />

gehen zu lassen, wie es bei<br />

anderen regionalen Unternehmen<br />

der Möbelbranche der Fall gewesen<br />

sei. „So haben meine Leute sieben<br />

Monate Zeit, sich einen neuen Job<br />

zu suchen.“ Gleichwohl müsse er<br />

dem Strukturwandel Rechnung<br />

tragen. Und Liquiditätsprobleme<br />

habe er auch nicht, widerspricht er<br />

momentan kursierenden Gerüchten:<br />

„Alle meine Gebäude und Anlagen<br />

sind schuldenfrei.“<br />

Schäuble hatte 1965 in einem Dorf<br />

bei Blomberg in einem Kuhstall<br />

begonnen, Lattenroste zu fertigen.<br />

„Ich habe mit Null angefangen, ich<br />

komme von ganz unten. Ich habe<br />

nichts geerbt, habe alles selbst aufgebaut<br />

und bin nie abgehoben“, so<br />

der heute 83-jährige Firmengründer.<br />

Umso schwerer sei ihm der Schritt<br />

gefallen, die Produktion jetzt zu<br />

schließen. „Meine Begeisterung hält<br />

sich sehr in Grenzen, das ist schon<br />

eine harte Sache!“<br />

Montieren in der Egge-Werkstatt der Lebenshilfe Detmold Motor-Lattenroste für Matraflex: Stefan<br />

Schlauch und Oliver Kortemeier (v.l.).<br />

Foto: Niederkrüger<br />

Schließt die Produktion zum 31. Juli: Der Lattenrost- und Matratzenhersteller Matraflex, hier das Werk<br />

in Detmold.<br />

Neue Jobs und<br />

Qualifizierung<br />

„Bereits im Oktober und November<br />

haben Gespräche mit der Geschäftsleitung<br />

von Matraflex stattgefunden,<br />

die uns frühzeitig über die<br />

Abwicklung informiert hat“, berichtet<br />

Tanja Liebke, Pressesprecherin<br />

der Agentur für Arbeit, über das<br />

Vorgehen ihrer Behörde. So hätten<br />

ihre Kolleginnen und Kollegen auf<br />

die ersten Kündigungen kurzfristig<br />

reagieren können: „Bereits einen<br />

Tag später haben Mitarbeiter von<br />

uns im Werk Heiden Anträge erfasst<br />

und Gespräche angeboten.“ Dabei<br />

sei das Ziel, möglichst einen nahtlosen<br />

Übergang in einen neuen Job<br />

zu ermöglichen: „Die Vermittlung<br />

hat höchste Priorität, was bei dem<br />

großen Bedarf an Fachkräften im<br />

gewerblich-technischen Bereich<br />

wenig Probleme machen dürfte.“<br />

Problematischer sehe es bei denen<br />

aus, die nur Helfertätigkeiten<br />

ausgeübt hätten – „diese sind am<br />

Arbeitsmarkt weniger nachgefragt.“<br />

Hier würde die Arbeitsagentur vorrangig<br />

auf Qualifizierungsangebote,<br />

wie beispielsweise zum Maschinen-<br />

und Anlagenführer oder zum<br />

Zerspanungsmechaniker setzen,<br />

denn „Qualifizierung schützt vor<br />

Arbeitslosigkeit“, so Liebke.<br />

Auch Lebenshilfe<br />

betroffen<br />

Direkte Auswirkungen hat die<br />

Schließung auch auf zwei Werkstätten<br />

der Lebenshilfe Detmold.<br />

In der „Egge-Werkstatt“ in direkter<br />

Nachbarschaft des Matraflex-Werks<br />

in Horn und in der „Werkstatt am<br />

Funkturm“ am alten Telekom-<br />

Standort in Detmold haben Menschen<br />

mit Behinderung für den<br />

Hersteller Lattenroste montiert und<br />

verpackt. „Hier in Horn haben wir<br />

pro Jahr rund 7000 Motor-Lattenroste<br />

im Luxus-Segment im Auftrag<br />

von Matraflex zusammengebaut“,<br />

so Susanne Grote, Fachkraft für<br />

Arbeits- und Berufsförderung. Bis<br />

zu 30 Menschen mit Handicap<br />

hatten gesägt, gebohrt, montiert und<br />

verpackt – „diese vielen Schritte<br />

bei der Lattenrost-Fertigung bieten<br />

ganz ideal eine Vielzahl an unterschiedlichen<br />

Tätigkeiten.“<br />

Rund 18.000 Standard-Lattenroste<br />

habe die Werkstatt in Detmold<br />

pro Jahr gefertigt, ergänzt Udo<br />

Schwens, Leiter der Lebenshilfe-<br />

Werkstätten. „Unsere Beschäftigten<br />

brauchen sich aber keine Sorgen um<br />

ihre Arbeitsplätze machen, weder<br />

die Menschen mit Behinderung,<br />

noch die Anleitungen.“ Er sei im<br />

Gespräch mit anderen Lattenrost-<br />

Herstellern, aber auch mit anderen<br />

Branchen, beispielsweise im<br />

Bereich Fenster. „Die Tätigkeiten<br />

müssen halt zu unseren Mitarbeitern<br />

und zu den Räumlichkeiten passen.“<br />

Derzeit werde intern ergebnisoffen<br />

diskutiert – „zu den Optionen gehört<br />

leider auch, den Standort in Horn<br />

zu schließen.“ Er hoffe aber auf<br />

Folgeaufträge: „Ich möchte Unternehmen,<br />

die Tätigkeiten anbieten<br />

können, gern auffordern, sich bei<br />

uns zu melden!“<br />

khN<br />

Der aktuelle Kommentar<br />

von Karl-Heinz Niederkrüger<br />

Trotz allem: Respekt!<br />

Es war ganz und gar kein<br />

schönes Weihnachtsgeschenk,<br />

welches Matraflex seinen<br />

Beschäftigten fünf Tage vor<br />

dem Fest gemacht hat. 200<br />

Menschen müssen sich einen<br />

neuen Job suchen, Familien<br />

müssen sich umorientieren,<br />

sicher sehen sich manche in<br />

ihrer Existenz bedroht. Somit<br />

sind es 200 Schicksale, die<br />

von einer Entscheidung eines<br />

einzelnen Unternehmers<br />

betroffen sind. Das hat die<br />

Region seit der sogenannten<br />

Möbelkrise schon oft erleben<br />

müssen: Schieder-Möbel,<br />

Hornitex, Welle Möbel – viele<br />

namhafte Unternehmen<br />

sind verschwunden. Jetzt<br />

schließt auch Matraflex die<br />

Produktion.<br />

Aber es gibt einen großen<br />

Unterschied zu den anderen<br />

genannten Firmen: Matraflex<br />

geht nicht den Weg der Insolvenz,<br />

sondern beendet mit<br />

siebenmonatiger Vorlaufzeit<br />

zum 31. Juli geordnet die<br />

Produktion. Vermutlich wäre<br />

es ein leichtes gewesen, in<br />

den letzten Jahren so viel<br />

Kapital aus der Gesellschaft<br />

zu ziehen, dass sie ebenfalls<br />

hätte Insolvenz anmelden<br />

können. Dann hätte sogar<br />

die Agentur für Arbeit bis<br />

zu drei Monate ausstehende<br />

Löhne gezahlt. Firmengründer<br />

Erhardt Schäuble aber<br />

hat bewusst den anderen<br />

Weg gewählt. So bleibt den<br />

Beschäftigten genügend Zeit,<br />

sich neu zu orientieren. Lieferanten<br />

bleiben nicht auf<br />

ausstehenden Rechnungen<br />

sitzen, und Geschäftspartnern<br />

bleibt genügend Zeit, sich auf<br />

die Situation einzustellen.<br />

Das ist verantwortungsvolles<br />

unternehmerisches Handeln,<br />

das sehr selten geworden ist –<br />

und großen Respekt verdient.<br />

Karl-Heinz Niederkrüger

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