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2 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 191 · D onnerstag, 17. August 2017<br />
Winnetou und Konsorten<br />
Mit dem Kinofilm zur „Bullyparade“ reist Michael Herbig in sein eigenes Universum zurück<br />
V ON TORSTEN WAHL<br />
Nein, die Maueröffnung<br />
brachte wirklich nicht nur<br />
Gutes. Sobereitet der Auftritt<br />
von David Hasselhoff auf der<br />
<strong>Berliner</strong> Mauer bis heute Schmerzen.<br />
Dieeinzige Chance,diese peinlichen<br />
Szenen ungeschehen zu lassen:<br />
Günter Schabowskis Zettel<br />
muss rechtzeitig aus dem Verkehr<br />
gezogen werden! Die grimmigen<br />
Zwickauer Tüftler Jens und Jörg Kasirske<br />
(Rick Kavanian und Christian<br />
Tramitz) nehmen anno 2017 die Mission<br />
auf sich. Siedüsen mit ihrem getuntenTrabi„Zurück<br />
in die Zone“ und<br />
tauchen am 9.11.1989 auf der historischen<br />
Pressekonferenz wieder auf.<br />
Auch Michael „Bully“ Herbig und<br />
seine Getreuen haben sich auf eine<br />
Zeitreise begeben. Denn ihr neuester<br />
Film fliegt in jenes Universum zurück,<br />
das die Ausgangsbasis war für so erfolgreiche<br />
Filme wie „Der Schuh des<br />
Manitu“ oder „(T)Raumschiff Surprise“.<br />
In den Jahren zwischen 1997<br />
und 2002 hatten Herbig und Co.inder<br />
„Bully Parade“ bei ProSieben jene Figuren<br />
und Szenerien entwickelt, die<br />
später insgesamt mehr als 23 Millionen<br />
Besucher in die Kinos ziehen sollten.<br />
Hartnäckig vermarktet der Verleih<br />
den „Schuh des Manitu“ als<br />
erfolgreichsten deutschen Film aller<br />
Zeiten –was er gemessen an der Resonanz<br />
aber gar nicht ist. Denn die<br />
knapp 12 Millionen Zuschauer wurden<br />
in den goldenen Kinojahren der<br />
50er mehrfach übertroffen. Auch der<br />
erste Kinostreich vonOttoWaalkes erreichte<br />
1985 in Ostund West deutlich<br />
mehr Besucher.<br />
Erstaunlich bleibt aber, dass sich<br />
Herbig dem Druck widersetzte, eine<br />
Fortsetzung der Karl-May-Verulkung<br />
nachzulegen. Der „Bullyparaden“-<br />
Film fügt nun einfach fünf Episoden<br />
aneinander,nimmt in Kauf, dass sich<br />
kein durchgehender Spannungsbogen<br />
aufbaut. Natürlich nehmen jene<br />
drei Szenarien, die zwischen 2001<br />
und 2007 schon in den Kinofilmen<br />
verarbeitet wurden, den breitesten<br />
Raum ein, werden am aufwendigsten<br />
ausgestattet und stärksten gespielt.<br />
So kommt die Karl-May-Parodie<br />
diesmal als„Winnetou in Love“daher,<br />
eine gealterte Sissi erlebt die „Wechseljahre<br />
einer Kaiserin“ und die Besatzung<br />
des Raumschiffs landet auf<br />
dem „Planet der Frauen“. Dazwischen<br />
arbeiten sich Herbig und seine<br />
Leute noch am Genre der Börsen-<br />
Thriller ab.Doch„Lutz OfWall Street“,<br />
kürzeste der fünf Episoden, besitzt<br />
keinen besonderenWitz, weil Figuren<br />
wie „Mister Moneymaker“ (Christian<br />
Tramitz) schon im Original von der<br />
Überzeichnung leben. Ob die verwor-<br />
Film<br />
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D V D - T I P P S<br />
Ende im<br />
Kugelhagel<br />
SCHAYAN RIAZ<br />
über „Meuterei am Schlangenfluss“<br />
„Die Uhr ist abgelaufen“ und<br />
„Rancho River“<br />
James Stewart ist einer der besten<br />
Schauspieler Hollywoods gewesen,<br />
ohne Zweifel. Mit seinen Rollen<br />
in Dramen, Liebeskomödien oder<br />
Thrillernhat er sich tief ins filmhistorische<br />
Gedächtnis eingegraben.<br />
Auch heute noch erinnert man sich<br />
gern anseine Arbeit in Werken von<br />
Regisseuren wie Alfred Hitchcock<br />
oder Frank Capra, darunter Klassiker<br />
wie „Mr. Smith geht nach Washington“,<br />
„Ist das Leben nicht schön?“,<br />
„Das Fenster zum Hof“ oder „Vertigo<br />
–Aus dem Reich derToten“. Letzterer<br />
wurde 2012 in der<br />
Zeitschrift Sight &<br />
Sound von 800<br />
Kritikern zum<br />
besten Film aller<br />
Zeiten gewählt.<br />
Oft vergisst<br />
man bei all diesen<br />
Titeln, dass Stewart<br />
auch eine<br />
beachtliche Western-Karriere<br />
hingelegt hat. Mit Anthony<br />
Mann, einem Spezialisten des<br />
Genres, hat er ganze fünf Filme gedreht.<br />
In ihrer zweiten Kollaboration,<br />
„Meuterei am Schlangenfluss“, spielt<br />
er einen Trapper namens Glyn<br />
McLyntock. Er hat seine kriminelle<br />
Vergangenheit hinter sich gelassen<br />
und führt jetzt eine Siedlerfamilie<br />
über den gefährlichen Gebirgspass<br />
von Oregon. Auf dem Wegrettet er<br />
dem Banditen Emerson Cole (Arthur<br />
Kennedy) das Leben und dieser wird<br />
fortan Teil der Gruppe. Sie müssen<br />
nun mit knappen<br />
Vorräten den drohenden<br />
Winter<br />
überstehen.<br />
Cole hintergeht<br />
McLyntock<br />
und setzt ihn der<br />
Wildnis aus. Wir<br />
sehen Stewarts<br />
schweißgebadetes,<br />
schmerzverzerrtes<br />
Gesicht in einer Nahaufnahme<br />
und hören dazu ein flüsterndes,zähnefletschendes:<br />
„Mich wirst<br />
du noch sehen.“ Es kommt dann<br />
wie versprochen.<br />
Bei „Die Uhr ist abgelaufen“<br />
sollte Anthony Mann ebenfalls Regie<br />
führen – es wäre der sechste<br />
Western des Regie-Schauspieler-<br />
Duos gewesen. Doch Mann ließ das<br />
Projekt kurznach Drehbeginn fallen<br />
und so sprang Regisseur James Neilson<br />
ein. Audie Murphy verkörpert<br />
hier den viel gefürchteten Banditen<br />
„The Utica Kid“, der mit seiner<br />
Bande eine Bahnlinie mehrmals<br />
ausgeraubt hat. James Stewart ist<br />
sein älterer Bruder Grant McLaine,<br />
der entgegen familiärer Bande den<br />
Auftrag entgegennimmt,<br />
persönlich<br />
sicherzustellen,<br />
dass der<br />
nächste Geldtransport<br />
nicht<br />
geplündert wird<br />
und problemlos<br />
am Ziel ankommt.<br />
Es endet,<br />
wie so in vielen<br />
Filmen dieser Art, im Kugelhagel.<br />
Stewart beweist sich in „Die Uhr ist<br />
abgelaufen“ als achtbarer Sänger<br />
und Akkordeonspieler –das Instrument<br />
spielte er seit seiner Kindheit.<br />
Und man bekommt umwerfende<br />
Naturaufnahmen der Landschaft in<br />
Colorado zu sehen.<br />
Bei all diesen Western spielt Stewart<br />
nicht wirklich die essenzielle,<br />
betont männliche Hauptfigur, sondern<br />
fungiert zuvorderst als revisionistischer<br />
Antiheld. So auch im kuriosen<br />
Film „Rancho River“ von Andrew<br />
V. McLaglen. Die Handlung<br />
spielt 1880. Martha Price (Maureen<br />
O’Hara) hat ein Hereford-Rind versteigert<br />
und will das wertvolle Tier<br />
persönlich zur Ranch des neuen Besitzers<br />
zu bringen. Die Reise dahin<br />
ist nicht ohne Hindernisse, also<br />
stellt sie den Cowboy Sam Burnett<br />
ein, der sie und ihreTochter Martha<br />
begleiten soll. 1966 hat James Stewart<br />
seine größten Erfolge bereits<br />
hinter sich, doch als Cowboy gibt er<br />
immer noch eine ziemlich dynamische<br />
Figur ab. Wie in allen seinen<br />
Filmen bewiest er hier seine äußerst<br />
charismatische Präsenz.<br />
Meuterei am Schlangenfluss USA 1952<br />
Die Uhr ist abgelaufen USA 1957<br />
Rancho River USA 1966<br />
Koch Media, jeweils ca. 17 Euro<br />
Nicht ohne meine Fusselrolle: Dr.Schmitz, (Rick Kavanian), Winnetou (Michael Herbig) und Old Shatterhand (Christian Tramitz, v.l.)<br />
DAS<br />
FLIEGENDE<br />
AUGE<br />
Zwischen Glamour und<br />
Propaganda<br />
CLAUS LÖSER<br />
über das zwiespältige Erbe der UFA,<br />
deren Gründung sich zum hundertsten Mal<br />
jährt und über drei ihrer<br />
Stummfilm-Klassiker<br />
„Die Liebe der Jeanne Ney“ (1927) von Georg<br />
Wilhelm Pabst mit Edith Jéhanne und Fritz Rasp<br />
ZDF/FRIEDRICH-WILHELM-MURNAU-STIFTUNG, WIESBADEN<br />
fene Idee, ihn mit Trump-Perücke zu<br />
spielen, die Episode gerettet hätte,sei<br />
mal dahin gestellt.<br />
Auch wenn„Bully“ Herbig alle Mitstreiter<br />
von einst wieder um sich geschart<br />
hat, neben Kavanian und Tramitz<br />
auch Autor Alfons Biedermann,<br />
Filmkomponist Ralf Wengenmayer<br />
und Stefan Raab als Songlieferant, so<br />
liefert die „Bullyparade“ tatsächlich<br />
nicht nur Fortsetzungen, sondern<br />
blickt aus heutiger Warte auf Winnetou,<br />
Sissi, Spock und Co.Erwolle den<br />
aktuellen Zeitgeist einfließen lassen,<br />
betont Herbig.<br />
Am auffälligsten ist der Wandel in<br />
der Karl-May-Episode. Denn der<br />
„Schuh des Manitu“ hatte viele Kalauer<br />
noch aus dem Spiel mit dem<br />
schwulen Bruder des Indianerhäuptlings<br />
bezogen –den Winnetouch von<br />
der „Puder Rosa Ranch“. DieTunten-<br />
Gags,die Kritiker für einen Rückfall in<br />
die 50er-Jahre hielten, im Publikum<br />
aber zuverlässig für die meisten Lacher<br />
sorgten, sind komplett verschwunden.<br />
Winnetou (Herbig) ist<br />
nicht mehr in die Zwillingsbrüder<br />
Abahachi und Winnetouch aufgespalten,<br />
sonderndarfnach einer Einigung<br />
mit dem Karl-May-Verlag jetzt<br />
einfach Winnetou sein und mit Old<br />
Shatterhand für die Apachen kämpfen.<br />
Ihre Gegner sind der fiese„General<br />
Motors“ (Sky du Mont) und Kopfgeldjäger<br />
Dr.Schmitz (Rick Kavanian)<br />
und dessen Handpuppe „Tschango“.<br />
Diese Karikatur auf Christoph Waltz<br />
als Dr. Schultz in „Django Unchained“<br />
entwickelt sogar den stärksten<br />
Witz.<br />
Auch die Besatzung des interstellaren<br />
„U.S.S. Hasselhoff“ gibt sich<br />
nicht mehr so vordergründig tuntig<br />
wie noch auf dem „(T) Raumschiff<br />
Surprise“. Captain Kork, Mister Spucky<br />
und Schrotty zicken sich nicht<br />
mehr an, sondern müssen sich auf<br />
dem „Planet der Frauen“ beweisen –<br />
eine prächtige Reminiszenz an die<br />
„Barbarella“-Reihe. Babsirella, Monirella<br />
und Susirella werden bedroht<br />
vonKing Klon und seiner Armee.Die<br />
finale Episode ist der Höhepunkt des<br />
Films. Sie bietet nicht nur die größte<br />
optische Opulenz und die originellsten<br />
Anspielungen, sondern auch<br />
aufwendige Showeinlagen und viele<br />
Gags mit Prominenten(so sind Lena<br />
Meyer-Landrut und Lena Gercke für<br />
Sekunden als „Sirenen“ zu sehen).<br />
Bullyparade –der Film Deutschland<br />
2017, 110 Minuten, Buch /Regie: Michael<br />
Bully Herbig,Co-Autoren: Alfons<br />
Biedermann, Rick Kavanian &Christian<br />
Tramitz, Darsteller:Herbig,Tramitz, Kavanian,<br />
SkyDuMont, Alexander Schubert,<br />
u.a., 100 Min., Farbe. FSK: ab 6Jahre<br />
ImJahr 1964 erwarb der Bertelsmann-Konzerndie<br />
damals hoch verschuldete Ufa. Eigentümer war<br />
bis dahin ein Bankenkonsortium, mit der Deu<br />
tschen Bank als Hauptaktionär. Bei dem Kauf<br />
ging es dem expandierenden Medienunternehmen<br />
damals auch um den legendären Namen,<br />
mit dem sich doch so viele glamouröse Klassiker<br />
und Stars des deutschen Films aus den 20er-und<br />
30er-Jahre verbanden. Die Einsicht, dass zum<br />
Erbe aber auch die zwölf unheilvollen Jahre von<br />
1933 bis 1945 gehörten, setzte sich –vorsichtig<br />
formuliert –etwas zögerlich durch. Zwar ist die<br />
„neue Ufa“ als Nachkriegs-Gründung nicht der<br />
Rechtsnachfolger der einstigen NSDAP-Firma<br />
und kann deshalb weder wirtschaftlich noch politisch<br />
in Haftung genommen werden –wohl aber<br />
moralisch. Denn wer sich mit diesem Namen<br />
schmückt, sollte auch um dessen dunkle Flecken<br />
wissen. Im Mai diesen Jahres beteiligte sich deshalb<br />
die Ufa-Geschäftsführung an einem Symposium,<br />
das sich unter der Überschrift „Linientreu<br />
und populär. Das Ufa-Imperium 1933 bis 1945“<br />
mit der NS-Vergangenheit der Babelsberger<br />
Traumfabrik beschäftigte. Nun, im Rahmen der<br />
bereits zum siebten Mal stattfindenden „Ufa-<br />
Filmnächte“ wirdwieder auf die Glanzpunkte der<br />
Geschichte verwiesen. Das ist auch richtig so.<br />
Denn die von Fritz Lang, Georg Wilhelm Pabst,<br />
Friedrich Wilhelm Murnau und anderen vollbrachten<br />
Leistungen weisen weit über das hinaus,<br />
was am selben Schauplatz unter Goebbels<br />
produziertwurde.<br />
Neben den beiden Evergreens „Metropolis“<br />
(1926) von Lang und „Der letzte Mann“ (1924)<br />
von Murnau –die beide live mit neuen, zeitgenössischen<br />
Soundtracks versehen werden –gibt<br />
es eine verkannte Kuriosität zu bestaunen. Der<br />
1927 gedrehte Film „Die Liebe der Jeanne Ney“<br />
geht im Oeuvre von Pabst zwischen Klassikern<br />
wie „Die freudlose Gasse“ (1925) oder „Tagebuch<br />
einer Verlorenen“ (1929) immer etwas unter. Dabei<br />
lohnt eine Wiederbegegnung unbedingt. Der<br />
Plot ist eine echte Räuberpistole und deshalb nur<br />
schwer nachzuerzählen. Fieberhaft pendelnd<br />
zwischen Liebes- und Abenteuerfilm, ausgestattet<br />
mit mondänem, zwielichtigem und leidenschaftlichem<br />
Personal, liegt die Stärke des Films<br />
eindeutig nicht in seiner Geschichte.Als nachhaltig<br />
aber erweisen sich seine mutige Form sowie die<br />
einmaligen personellen wie historischen Konstellationen<br />
seiner Entstehung. Basierend auf einem<br />
Roman vonIlja Ehrenburg, der auch am Drehbuch<br />
mitschrieb, verblüfft das Werk durch seine kühne<br />
Mischung aus deutschem Expressionismus mit<br />
deutlich spürbaren Einflüssen vonEisenstein und<br />
Pudowkin. Zu danken ist dies nicht zuletzt Fritz<br />
Arno Wagner,einem der großen deutschen Kamerapioniere,<br />
dem auch der einzigartige Look von<br />
Langs „Der müde Tod“ oder „M“ zu verdanken ist.<br />
Wenn sich zuletzt die französische Diplomatentochter<br />
Jeanne und der geläuterte russische Revolutionär<br />
Andrej vor dem Altar kniend das Ja-Wort<br />
geben, mündet eine wilde, auf der Schicksals-<br />
Halbinsel Krim und in Parisspielende Storyinihr<br />
zuckersüßes Happy End, über das filmhistorisch<br />
milde hinweggeblickt werden darf.<br />
Nicht so locker nahm dies bei der Premiereseinerzeit<br />
Ilja Ehrenburg, der in einem Offenen Brief<br />
gegen die Verstümmelung seiner Vorlage protestierte.<br />
Inseinem Roman war Andrej noch als unschuldiges<br />
Opfer der Klassenjustiz hingerichtet<br />
worden. „Die Liebe der Jeanne Ney“ wird ineiner<br />
brandneuen, durch ZDF/arte rekonstruierten Fassung<br />
gezeigt, bei der die ursprüngliche Filmmusik<br />
mit großem Orchester eingespielt wird. Damit<br />
kommt auch der heute vergessene, Komponist<br />
Hans May (1886-1958) zu Ehren, der 1933<br />
Deutschland verlassen musste.Ummit den Filmnächten<br />
einen Bogen zu den gegenwärtigen Aktivitäten<br />
des Ufa-Namensträgers zu spannen, wird<br />
erstmals auch ein aktueller Film gezeigt. ZumAbschluss<br />
läuft Philipp Stölzls Historien-Epos „Der<br />
Medicus“ (2013) nach dem Roman vonNoah Gordon.<br />
Ingo Ludwig Frenzels Score wird mit großer<br />
Besetzung live intoniert, die originalen Dialoge<br />
und Geräusche des Films bleiben erhalten.<br />
Ufa-Filmnächte 2017 Kolonnadenhof auf der Museumsinsel,<br />
22. bis 25. August<br />
WARNER BROS.<br />
Gut gemacht<br />
und ärgerlich<br />
Der Film „Ein Sack voll<br />
Murmeln“ nach Joseph Joffos<br />
autobiografischem Roman<br />
VON CHRISTINA BYLOW<br />
Nur wenige Regisseure bringen<br />
Kinder so ins Kino, dass sie Kinder<br />
sind. Louis Malle konnte das, in<br />
„Aurevoir,les enfants“ –„AufWiedersehen,<br />
Kinder“ und auch in „Lacombe,<br />
Julien“, wo es um einen von<br />
Krieg und Besatzung kontaminierten<br />
Jugendlichen geht. Der Zweite Weltkrieg,<br />
die Okkupation, die Deportation<br />
der französischen Juden, Erschießungen<br />
von Résistance-Kämpfern<br />
und die Rache an Nazi-Kollaborateuren<br />
am Ende des Kriegs sind<br />
allgegenwärtig in diesen Filmen,<br />
auch wenn die Verbrechen nicht explizit<br />
in Szene gesetzt werden. Es sind<br />
Werke, deren Entstehungszeit Jahrzehnte<br />
zurückliegt und die doch so<br />
viel mehr über diese Zeit sprechen, als<br />
es so viele jüngereFilme tun.<br />
Manmuss nicht die Auseinandersetzung<br />
zwischen Claude Lanzmann<br />
(„Shoah“) und Steven Spielberg<br />
(„Schindlers Liste“) bemühen, die<br />
sich darüber uneins waren, in welcher<br />
visuellen Form an die Shoah zu<br />
erinnern wäre. Spielberg hat sie als<br />
„Stoff“ dramatisiert, auch wenn er<br />
nicht der Erste war,sowurde er zum<br />
Modell für jene Art des Erzählens,<br />
wie sie sich auch in „Ein Sack voll<br />
Murmeln“ findet: Immer um Spannung<br />
bemüht, den Schrecken benutzend,<br />
um die Zuschauer bei der<br />
Stange zu halten. DieEmotionen des<br />
Zuschauers gelten solchen Regisseuren<br />
als Beweis, dass ihre Mission gelungen<br />
ist. Werhier nicht weint, der<br />
ist ein schlechter Mensch.<br />
Doch Kinder, die verfolgt, gequält,<br />
von ihren Familien getrennt,<br />
sich selbst überlassen werden, die<br />
Zeuge entsetzlicher Taten werden,<br />
die mitansehen müssen, wie ihreEltern<br />
umgebracht werden – solche<br />
Kinder sind keine niedlichen Helden<br />
und Jacques Doillon hat das in seiner,<br />
der ersten Verfilmung des autobiografischen<br />
Romans von Joseph<br />
Joffo, auch genau verstanden. Sie<br />
sind traumatisiert, destabilisiert, sie<br />
nehmen so schweren Schaden, dass<br />
es sich noch Jahrzehnte und Generationen<br />
später auswirkt. Das heißt<br />
nicht, dass ein Regisseur das zeigen<br />
muss. Esheißt aber, dass er nicht so<br />
tun kann, als hätten die Kinder alles<br />
gut überstanden und vor allem –als<br />
hätten sie nur überlebt, weil sie so<br />
gewitzt und mutig waren wie die beiden<br />
Brüder in diesem Film. Waswar<br />
dann mit den anderen?<br />
VonParis nach Nizza: Joseph und<br />
Maurice auf der Flucht<br />
„Ein Sack voll Murmeln“ ist ein<br />
gut gemachter und gleichzeitig ärgerlicher<br />
Film. Gut gemacht, weil<br />
der Regisseur natürlich sein Handwerk<br />
beherrscht und Licht und Farben<br />
des französischen Südens das<br />
ihre dazu beitragen, dass das alles<br />
sehr schön aussieht, ärgerlich, weil<br />
er die Kinder zu Sprechpuppen<br />
macht, die ihreSätzegut auswendig<br />
gelernt haben und selbst beim Anblick<br />
einer Erschießung nicht wirklich<br />
aus der Fassung geraten. So<br />
hätte man sie gern, so resilient.<br />
Das sagt viel aus über den Druck<br />
des Funktionierenmüssens, eine<br />
Notwendigkeit auf der Flucht. Wenn<br />
eine biedere Pädagogik nun glaubt,<br />
sie müsse den Film als Lehrmaterial<br />
verwenden –wie es sich schon abzeichnet<br />
–dann ist das symptomatisch<br />
für eine Zeit, die Kinder als Helden<br />
ausstellt. Louis Malle hat fast<br />
sein ganzes Leben lang gebraucht,<br />
bis er die Erfahrung aus einer Kindheit<br />
erzählen konnte. Erwar Zeuge,<br />
wie ein jüdischer Junge, den Padres<br />
in einem Internat versteckt hatten,<br />
vonder Gestapo abgeholt wurde.<br />
Ein Sack voll Murmeln Frankreich, Kanada,<br />
Tschechien 2017. Regie: Christian<br />
Duguay. Darsteller:Patrick Bruel, Elsa Zylberstein,<br />
Dorian Le Clech, Batyste Fleurial,<br />
Christian Clavier u.a., 113 Minuten,<br />
Farbe. FSK: ab 12 Jahre<br />
WELTKINO