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WAS MACHT EIGENTLICH …<br />
Foto: C. Kuhaupt<br />
„Wenn die wüssten,<br />
wie gut es mir heute geht“<br />
Ex-Bürgermeister Dr. Henning Scherf im<br />
Interview / Führung im Focke-Museum<br />
mehr diesen Berufsstress habe. Wenn<br />
man von morgens bis abends eingespannt<br />
ist und sich durchsetzen<br />
muss, weil es sonst nicht weitergeht,<br />
und dann kommen Leute und erheben<br />
zum soundsovieltem Mal die gleichen<br />
Vorwürfe, und es bewegt sich dadurch<br />
nichts – dann konnte ich auch schon<br />
mal heftig reagieren. Auch auf Parteitagen<br />
und Debatten in der Bürgerschaft.<br />
Ich weiß von einigen, die sich sehr über<br />
mich geärgert haben. Aber ich hatte<br />
die große Koalition zu vertreten. Dass<br />
ich schon mal ungerecht und ungeduldig<br />
war, muss ich heute anerkennen.<br />
Manchmal denke ich heute, wenn ich<br />
die aktuelle Politik und die Debatten<br />
verfolge: „Wenn die wüssten, wie gut es<br />
mir heute geht“ (lacht).<br />
66<br />
Henning Scherf zählt zu den populärsten<br />
Politikern in der Geschichte<br />
<strong>Bremen</strong>s. Der in der Neustadt<br />
aufgewachsene Drogisten-Sohn war<br />
bereits 1972, damals noch als Juso, Landesvorsitzender<br />
der Bremer SPD. Von<br />
1978 bis 2005 gehörte er dem Senat der<br />
Freien Hansestadt <strong>Bremen</strong> an. Ab 1995<br />
war er zehn Jahre lang Bürgermeister<br />
und führte die Große Koalition an. Zudem<br />
war der heute 79-Jährige für seine<br />
Bürgernähe bekannt – er fuhr mit dem<br />
Fahrrad durch die Stadt und umarmte<br />
auch fremde Menschen – und erzielte<br />
hohe Beliebtheitswerte.<br />
Was machen Sie zurzeit?<br />
Ich habe viel zu tun. Meine Hauptbeschäftigung<br />
ist das Bücherschreiben.<br />
Momentan sitze ich gerade an einem<br />
neuen Werk mit dem Titel „Älter werden<br />
in der Stadt“. Zudem halte ich im<br />
deutschsprachigen Europa Vorträge zu<br />
dem Thema – alleine im vergangenen<br />
Jahr kam ich dabei auf mehr als 200. Es<br />
geht mir darum, wie die älter werdende<br />
Gesellschaft mit den zusätzlichen, den<br />
geschenkten Jahren, umgeht.<br />
Zudem bekleiden Sie auch noch das eine<br />
oder andere Ehrenamt …<br />
Das stimmt. Ich bin immer noch Präsident<br />
des Deutschen Chorverbandes,<br />
Vorstandsvorsitzender von Pan y Arte<br />
– Brot und Kunst für Nicaragua, Vorsitzender<br />
des Bürgerpreises der Gustav<br />
Heinemann Stiftung, Vorsitzender des<br />
Kuratoriums der Stiftung der Friedrich<br />
Ebert Gedenkstätte in Heidelberg und<br />
Botschafter von HelpAge. In <strong>Bremen</strong><br />
habe ich im St.-Remberti-Stift wöchentlich<br />
einen Lesezirkel, ich engagiere<br />
mich bei Ameb (aktive Menschen in<br />
<strong>Bremen</strong>) und lese in Schulen.<br />
Wie findet es Ihre Frau, dass Sie auch<br />
nach Ihrer politischen Karriere immer<br />
noch so umtriebig sind?<br />
Sie findet das okay, weil sie mich kennt.<br />
Ich nehme kein Honorar, sammle dafür<br />
aber Spenden – unter anderem für Projekte,<br />
die ihr sehr am Herzen liegen.<br />
Wir machen ja auch viel gemeinsam,<br />
zum Beispiel mit unseren Freunden,<br />
mit denen wir seit 30 Jahren in einem<br />
Wohngemeinschaftshaus zusammenleben.<br />
Wir haben neun Enkelkinder<br />
und betreuen seit drei Jahren eine Frau,<br />
die mit ihren drei kleinen Kindern aus<br />
Nigeria geflüchtet ist. Die Familie ist uns<br />
richtig ans Herz gewachsen. Wir sorgen<br />
dafür, dass die Kinder ihre Schularbeiten<br />
erledigen und die Mutter ihre Ausbildungsstelle<br />
kriegt.<br />
Schon während Ihrer politischen Karriere<br />
haben Sie den Spitznamen „Omaknutscher“<br />
verpasst bekommen. Hat Sie<br />
das gestört?<br />
Überhaupt nicht. Man wollte mich damit<br />
in die Pfanne hauen, aber ich habe<br />
das immer als Kompliment verstanden.<br />
Ich mag alte Menschen und mochte sie<br />
auch schon damals. Ich habe so herzliche<br />
Begegnungen in meinem Leben erlebt<br />
und ich weiß auch, wann ich jemanden<br />
in den Arm nehmen darf und wann<br />
nicht. Viele alte Menschen werden von<br />
niemandem mehr in den Arm genommen<br />
– wenn man die dann drückt, sind<br />
sie glücklich und strahlen. Man sollte<br />
generell keinen Bogen um alte Leute<br />
machen, sondern sie ansprechen und<br />
einbeziehen.<br />
Sie haben sich selbst einmal als ungerecht<br />
und ungeduldig bezeichnet. Sehen<br />
Sie sich immer noch so?<br />
Das hat sich sehr gelegt, da ich nicht<br />
Was waren Ihre schlimmen Erfahrungen<br />
während Ihrer politischen Amtszeit?<br />
Tief getroffen haben mich die großen<br />
Firmenpleiten, angefangen mit Borgward.<br />
Oder die Pleite der AG Weser. Ich<br />
werde nie vergessen, wie Hans Koschnick<br />
damals geweint hat. Mir ging es<br />
ganz ähnlich mit der Vulkan-Werft, als<br />
ich in der Verantwortung stand.<br />
Was werten Sie als Erfolge ihrer Amtszeit?<br />
Vor allem, dass es uns gelungen ist, das<br />
angeschlagene Schiff <strong>Bremen</strong> durch<br />
unruhiges Wetter zu steuern. Ein Beispiel<br />
ist die Entwicklung der Universität<br />
zur Eliteuni. Oder die Ansiedlung von<br />
Daimler, mittlerweile das attraktivste<br />
Werk des gesamten Konzerns. Ebenso<br />
sind Airbus, OHB, die Lürssen-Werft<br />
und das Stahlwerk absolute Erfolgsgeschichten.<br />
Auch Bremerhaven mit dem<br />
Alfred Wegener Institut, den Havenwelten<br />
und dem Kreuzfahrtterminal gehören<br />
für mich dazu.<br />
Sie führen am 6. März im Focke-Museum<br />
durch die Ausstellung „Protest + Neuanfang.<br />
<strong>Bremen</strong> nach ’68“. Was erzählen<br />
Sie dort?<br />
Ich berichte als Zeitzeuge natürlich von<br />
der Zeit damals. Ich bin 1968 von Hans<br />
Koschnick aus Osnabrück nach <strong>Bremen</strong><br />
zurückgeholt worden. Ich habe die<br />
Gründung der Universität mitbekommen<br />
und versucht, Brücken zu schlagen.<br />
Als die Häuser im Viertel besetzt wurden,<br />
habe ich beispielsweise versucht,<br />
die Polizei davon abzuhalten, Häuserkämpfe<br />
anzufangen. Wir haben damals<br />
den ersten antiautoritären Kindergarten<br />
gegründet und vieles mehr.<br />
Das Interview führte Martin Märtens.