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Petra Steckelmann: Die Waschanlage der Schutzengel

Die Familie des zehnjährigen Justin erbt von ihrem verstorbenen Großonkel Anthony eine Tankstelle mit Autowaschanlage und Werkstatt an der Südküste Englands. Da der Vater gerade seinen Job verloren hat, beschließt die Familie, die Tankstelle weiterzuführen und zieht an die Steilküste. Aber die Tankstelle befindet sich mitten in einem autofreien Naturschutzgebiet und in der Waschanlage findet die Familie Kisten voller Münzen. Jeden Tag füllen sich die Kisten mehr und niemand kann sich erklären, warum das so ist. Justin hat einen Verdacht und beobachtet eines Nachts die Waschanlage. Plötzlich hört er ein Rauschen am Himmel und ein Engel landet direkt vor dem Eingang zur Waschanlage.

Die Familie des zehnjährigen Justin erbt von ihrem verstorbenen Großonkel Anthony eine Tankstelle mit Autowaschanlage und Werkstatt an der Südküste Englands. Da der Vater gerade seinen Job verloren hat, beschließt die Familie, die Tankstelle weiterzuführen und zieht an die Steilküste. Aber die Tankstelle befindet sich mitten in einem autofreien Naturschutzgebiet und in der Waschanlage findet die Familie Kisten voller Münzen. Jeden Tag füllen sich die Kisten mehr und niemand kann sich erklären, warum das so ist. Justin hat einen Verdacht und beobachtet eines Nachts die Waschanlage. Plötzlich hört er ein Rauschen am Himmel und ein Engel landet direkt vor dem Eingang zur Waschanlage.

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<strong>Die</strong><br />

<strong>Waschanlage</strong><br />

<strong>der</strong><br />

<strong>Schutzengel</strong><br />

<strong>Petra</strong> <strong>Steckelmann</strong><br />

EDITION PASTORPLATZ<br />

35<br />

Mit Illustrationen von Mele Brink


Für M.<br />

In Liebe und Dankbarkeit


<strong>Die</strong><br />

<strong>Waschanlage</strong><br />

<strong>der</strong><br />

<strong>Petra</strong> <strong>Steckelmann</strong><br />

<strong>Schutzengel</strong><br />

Mit Illustrationen von Mele Brink


Inhalt<br />

Kapitel 1:<br />

Von Schafen und Schornsteinen<br />

7<br />

Kapitel 2:<br />

Von Gerümpel und Meeresrauschen<br />

23<br />

Kapitel 3:<br />

Von Schatzkisten und hölzernen Gesellen<br />

38<br />

Kapitel 4:<br />

Von geheimen Türen und<br />

schlotternden Knien<br />

55<br />

Kapitel 5:<br />

Von Piraten und Vogeldreck<br />

65<br />

Kapitel 6:<br />

Von Rinnsalen und Löchern<br />

79<br />

Kapitel 7:<br />

Kapitel 8:<br />

Von Wun<strong>der</strong>n und Würmern<br />

Von wählerischen Lämmern und<br />

weichen Buchstaben<br />

88<br />

100<br />

5<br />

Kapitel 9:<br />

Von gefährlichen Flaschenbürsten und<br />

viel zu vielen Keksen<br />

110<br />

Kapitel 10:<br />

Von Fischköpfen und zu langen Ohren<br />

123<br />

Kapitel 11:<br />

Von Zeitungsmeldungen und<br />

eingegipsten Knöcheln<br />

131<br />

Kapitel 12:<br />

Von erdrückenden Geheimnissen und<br />

<strong>der</strong> ganzen Wahrheit<br />

143<br />

Kapitel 13:<br />

Von staubigen Flügeln und Vanillearoma<br />

156<br />

Kapitel 14:<br />

Vom Silbermond und<br />

an<strong>der</strong>em Unfassbaren<br />

167


Kapitel 1<br />

Von Schafen und Schornsteinen<br />

Justin hatte noch nicht einmal den Schlüssel ins Schloss<br />

gesteckt, als die Tür schon aufflog.<br />

„Komm schnell, Justin“, rief ihm seine Schwester Holly aufgeregt<br />

entgegen. „Paps hat Neuigkeiten!“<br />

Justin ließ seine Schultasche auf den Boden plumpsen und<br />

eilte ihr hinterher.<br />

„Wir haben Karten für das Endspiel <strong>der</strong> Hatters gekriegt,<br />

richtig?“, platzte es aus Justin heraus, kaum dass er das<br />

Wohnzimmer betreten hatte. Mit großen Augen starrte er auf<br />

den braunen Umschlag, den sein Vater in den Händen hielt.<br />

„Meistertitel, Meistertitel ... lalalalala ...“, trällerte Justin<br />

und wollte seinem Vater schon den Umschlag aus den Händen<br />

reißen, als <strong>der</strong> ihn zurückpfiff.<br />

„Justin, du musst jetzt ganz tapfer sein. Deine Jungs vom LTF<br />

müssen den Ball ohne deine anfeuernden Lobgesänge<br />

ins gegnerische Tor ballern. Wir werden zum<br />

Saisonendspiel nicht mehr hier sein.“<br />

7


„Nicht?“ Justin ließ enttäuscht die Schultern sinken. „Das<br />

schaffen die nie. Ich muss ins Stadion!“<br />

„Junge, auf uns wartet ein neues Leben!“, verkündete seine<br />

Mutter und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ein tolles,<br />

neues Leben!“ Mrs Kinney strahlte ihre Kin<strong>der</strong> an. „Den Luton-<br />

Fußballklub hast du bald vergessen“, sagte sie voraus.<br />

„Ein neues Leben?“, fragte Holly. „Wie? Und warum?“<br />

„Hiermit!“, antwortete Mr Kinney, öffnete den Umschlag und<br />

zog ein wichtig aussehendes Dokument hervor – mit vielen<br />

Unterschriften und einem Siegel drauf.<br />

8


„Das hier ist die Eintrittskarte in eine an<strong>der</strong>e Welt! In eine<br />

schönere Welt!“ Mit einem Leuchten in den Augen, wie Justin es<br />

nie zuvor bei seinem Vater gesehen hatte, sah er in die Runde.<br />

Seine Mutter stand daneben und strahlte nicht weniger.<br />

„Das hier“, sagte er, „das hier ist <strong>der</strong> Fahrschein ins Glück für<br />

Familie Kinney!“<br />

Justin glaubte, Tränen hinter den dicken Brillengläsern<br />

seines Vaters zu sehen.<br />

„Mein Großonkel Anthony ist gestorben – Gott hab ihn selig<br />

– und hat mir eine Tankstelle und Autoreparaturwerkstatt in<br />

East Sussex vermacht – direkt am Cuckmere Haven. Wir fahren<br />

an die Küste! Packt eure Sachen, dieser alte Kasten hier wird<br />

verkauft!“<br />

Und mit ihm das Grau, hoffte Justin.<br />

Das Grau, das über seinem Leben lag, seit <strong>der</strong> Vater seinen<br />

Arbeitsplatz beim Automobilhersteller Vauxhall verloren hatte.<br />

„Pierce, das ist so wun<strong>der</strong>bar!“, sagte Mrs Kinney.<br />

Den erleichterten Seufzer seiner Mutter würde Justin sein<br />

Leben lang nicht vergessen, da war er sicher!<br />

„Und noch etwas ... Da ist noch eine Kleinigkeit, die euch<br />

gehört.“ Mr Kinney deutete auf ein Buch, das auf dem Tisch lag.<br />

„Das hat mir auch <strong>der</strong> Notar überreicht, als wir vor ein paar<br />

Tagen bei ihm waren, um alles zu klären, was geklärt werden<br />

9


musste. <strong>Die</strong>ses Buch hat meine Großmutter, eure Urgroßmutter<br />

Sue, irgendwann einmal in sauberer Handschrift geschrieben.<br />

Es ist eine nette Kin<strong>der</strong>geschichte – <strong>der</strong> alte Tony hat sie wohl<br />

für euch aufbewahrt. Nett, nicht wahr?“ Mr Kinney schob das<br />

Buch über den Tisch und Justin nahm es an sich.<br />

„Liest du mir das gleich vor?“, fragte er Holly. „Du kannst<br />

besser lesen als ich.“<br />

Das laute Seufzen seiner Mutter überhörte Justin – so wie<br />

immer.<br />

10<br />

Gleich nach dem Abendbrot verschwand Justin mit dem Buch<br />

unter dem Arm und ging die Treppe hoch in Hollys und sein<br />

Zimmer.<br />

<strong>Die</strong> schwüle Luft, die im Haus hing, hüllte Justin sanft ein. <strong>Die</strong><br />

Hitze des Sommers war mittlerweile in jede Fuge des Hauses<br />

gedrungen. Doch das schwere Ächzen des Ventilators, <strong>der</strong><br />

zwischen seinem Bett und dem seiner Schwester stand, nahm<br />

Justin nur aus weiter Ferne wahr. Gebannt wartete er darauf,<br />

dass Holly sich zu ihm setzen und das Buch aufschlagen würde.<br />

„Wir ziehen ans Meer, Justin“, rief Holly begeistert aus, als<br />

sie sich neben ihn setzte. Justin stellte sich vor, wie sich das<br />

Rauschen des Meeres wohl anhören mochte, das er zwar noch<br />

nie gesehen hatte, von dem er aber schon viele Geschichten


gehört hatte. Wie das Rauschen <strong>der</strong> Toilettenspülung, wenn<br />

man immer wie<strong>der</strong> an ihr zog? O<strong>der</strong> eher wie das Rauschen des<br />

Windes, wenn er im Herbst die heruntergefallenen Blätter vor<br />

sich hertrieb?<br />

Er fragte Holly. Auch sie wusste es nicht. Schulterzuckend<br />

schlug sie das Buch auf und las laut vor:<br />

<strong>Die</strong> Geschichte <strong>der</strong> <strong>Schutzengel</strong><br />

Von Sue Kinney<br />

Einst waren es sieben Engel. Es gab eine Zeit, in <strong>der</strong><br />

durchflogen sie die Wolken nicht, da saßen sie auf ihnen.<br />

Es gab eine Zeit, in <strong>der</strong> die Menschen den Sonnenaufgang<br />

betrachteten, die Sterne am Himmelszelt zählten und dem<br />

Plätschern <strong>der</strong> Bäche lauschten. Zu jener Zeit waren die Tage<br />

<strong>der</strong> Engel noch voller Muße und sie hatten ausgiebig Zeit, auf<br />

den Wolken sitzend über das Himmelszelt zu ziehen und sich<br />

<strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>pflege hinzugeben. Das war zu jener Zeit. Längst<br />

vergangen und vergessen.<br />

Staub gab es immer. Sorgen und Nöte ebenfalls. Der Staub<br />

wirbelt nicht nur in Luton tagtäglich durch die Luft. …“<br />

11


12<br />

„Das ist hier! Wir wohnen in Luton!“, unterbrach Justin,<br />

schlüpfte unter <strong>der</strong> Bettdecke hervor und eilte zum Fenster.<br />

„Kannte Urgroßmutter Luton?“, fragte er, ohne auf eine Antwort<br />

zu hoffen. Sehnsuchtsvoll blickte er durch die trüben Scheiben<br />

in den Nachthimmel. „Hast du schon mal einen Engel gesehen,<br />

Holly?“, wollte er von seiner Schwester wissen und drückte<br />

sich die Nase am Fenster platt.<br />

„Nein, aber sie sind da! Überall ... glaube ich.“<br />

Justin spuckte auf seine Handfläche und rieb über das<br />

Fenster. Der Staub, <strong>der</strong> sich von außen auf das Glas gelegt<br />

hatte, ließ sich so natürlich nicht entfernen. Durch die trübe<br />

Scheibe lugte er hinaus. Er konnte keinen Engel sehen. Noch<br />

nicht einmal die Sterne sah er, die eigentlich am Himmel<br />

blitzen sollten. Draußen war alles grau. <strong>Die</strong> Mauer, die um das<br />

Haus verlief, war ebenso grau wie Nachbars Kater, <strong>der</strong> über die<br />

Straße flitzte und hinter den Mülltonnen verschwand. Auch<br />

sie waren grau. Allerdings nicht nur in <strong>der</strong> Nacht. Sie waren<br />

immer grau. Dunkelgrau. Genauso grau wie die Häuser in<br />

<strong>der</strong> Straße, die dicht beieinan<strong>der</strong> standen und keinen Platz<br />

für Bäume o<strong>der</strong> Rosen ließen. Nur ein einsamer Löwenzahn<br />

hatte sich durch den Asphalt gebohrt und seinen Platz mitten<br />

auf <strong>der</strong> Straße gefunden. Auch er war grau. Hellgrau. Bei<br />

Sonnenaufgang ist er bestimmt gelb und grün, dachte Justin,


und bei Sonnenuntergang dann auch schon platt. Hier gab es<br />

niemanden, <strong>der</strong> den Löwenzahn hegen und pflegen würde, bis<br />

aus ihm eine Pusteblume wurde. Nicht in dieser Straße.<br />

„Auch <strong>der</strong> Löwenzahn braucht einen Engel, <strong>der</strong> ihn beschützt“,<br />

wisperte Justin und krabbelte zurück zu Holly ins Bett.<br />

Holly nickte zustimmend. Gespannt las sie weiter:<br />

13


14<br />

„… Der Staub <strong>der</strong> Welt setzte sich zwischen die Fe<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

Engel und überzog ihr weißes Fe<strong>der</strong>kleid mit einem bräunlichen<br />

Schleier. Es war mühselig, jede einzelne Fe<strong>der</strong> zu putzen.<br />

Für einen Flügel brauchte ein <strong>Schutzengel</strong> manchmal die halbe<br />

Nacht. Doch wenn dann im Mondlicht die Flügel endlich silbern<br />

glänzten, war selbst <strong>der</strong> müdeste <strong>Schutzengel</strong> selig und<br />

zufrieden. Und wenn die Sonne am nächsten Morgen am<br />

Horizont hervorkam, schwärmten die Engel erneut aus. Rein<br />

und fe<strong>der</strong>leicht – denn nur so war es ihnen möglich, rechtzeitig<br />

ihre schützenden Flügel auszubreiten.<br />

Doch die Zeiten än<strong>der</strong>ten sich und ….“<br />

Holly brach ab. „Justin“, wisperte sie und sah ihren Bru<strong>der</strong><br />

mit ernstem Blick an. „Bist du traurig, weil Großonkel Tony<br />

gestorben ist?“<br />

„Nein“, sagte Justin. „Na ja, vielleicht, weil er ja jetzt tot ist.<br />

Aber ich kannte ihn ja gar nicht.“<br />

„Ich auch nicht. Ich bin auch nicht traurig. Und dass wir bald<br />

ans Meer ziehen, finde ich ganz wun<strong>der</strong>bar!“ Holly strahlte<br />

Justin an.<br />

„Ja, das ist toll! Aber wie hört es sich an, wenn das Meer<br />

rauscht?“, fragte er erneut.<br />

„Komm mit, wir fragen Papa. Der weiß das bestimmt“, sagte<br />

sie und sprang auf.


Als Holly das Buch zuschlug, rieselte ein wenig silberner<br />

Staub auf den Boden. Justin sah ihm hinterher. War es<br />

Engelsstaub? Vorsichtig las er ein wenig davon auf. Er fühlte<br />

sich weich an, zart, beinahe pudrig – so an<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> Staub von<br />

den Fensterscheiben. Ganz bestimmt ist es Engelsstaub, dachte<br />

Justin, bevor er Holly hinterher die Treppe hinabpolterte. Justin<br />

sprang über die gebügelte Wäsche, die auf dem Treppenabsatz<br />

lag, und eilte zu seinem Vater. <strong>Die</strong>ser saß in <strong>der</strong> Küche am Tisch<br />

und diskutierte mit <strong>der</strong> Mutter, ob es wirklich nötig wäre, die<br />

ollen Gardinen mit ins neue Leben zu nehmen.<br />

15


16<br />

„Wie hört sich Meeresrauschen an?“, unterbrach Justin seine<br />

Eltern.<br />

„Es ist brausend“, antwortete die Mutter.<br />

Damit konnten we<strong>der</strong> Justin noch Holly etwas anfangen.<br />

Fragend sahen sie zu ihrem Vater hinüber.<br />

„Wartet mal kurz“, sagte Mr Kinney, stand auf und ging ins<br />

Wohnzimmer.<br />

Mit einer großen Muschel in <strong>der</strong> Hand kam er zurück und<br />

drückte sie leicht gegen Justins Ohr. „Hörst du das?“, fragte er<br />

leise.<br />

„Pscht“, machte Justin und lauschte gebannt dem Treiben<br />

in <strong>der</strong> Muschel. „Das ist das Meer?“, fragte er schließlich<br />

ungläubig. „So hört sich das Meer an? Wie ist es in die Muschel<br />

gekommen?“<br />

„Justin, hör bitte auf, so dumme Fragen zu stellen“, sagte<br />

seine Mutter und strich ihrem Sohn<br />

über den Kopf. „Du bist doch keine<br />

drei Jahre alt. Du kannst nicht<br />

ernsthaft glauben, dass das<br />

ganze Meer in dieser kleinen<br />

Muschel steckt.“ Ihr irritiertes<br />

Kopfschütteln stichelte<br />

Justin an.


„Doch“, beharrte er und stieß unter dem Tisch Hollys<br />

Schienbein an.<br />

„Ich glaube das auch!“, sagte sie und kicherte.<br />

„Ihr seid albern“, murmelte die Mutter und scheuchte die<br />

zwei zurück ins Bett.<br />

Bevor sie erneut die Treppe hochstiefelten, fragten sie ihren<br />

Vater, ob er das Meer schon mal gesehen hätte.<br />

Mr Kinney nickte. „Ja, einmal habe ich meine Großmutter<br />

dort besucht. Glaubt mir, genauso, wie es in <strong>der</strong> Muschel zu<br />

hören ist, hört sich das Meer an.<br />

„Warum warst du nur einmal dort? Mochtest du deine<br />

Großmutter nicht?“, bohrte Justin nach und hielt sich noch<br />

einmal die Muschel ans Ohr.<br />

„Doch, ich mochte sie. Aber irgendetwas in ihrem Haus<br />

mochte ich nicht. Das Wohnhaus neben <strong>der</strong> Tankstelle ist<br />

alt – damals war es das schon. Ich dachte wohl, dass es dort<br />

spukt und hatte ein bisschen Angst. Ich wollte da nicht wie<strong>der</strong><br />

hinfahren. Also haben meine Eltern mich nie wie<strong>der</strong> in den<br />

Ferien zu Oma geschickt. Ich war so alt wie du jetzt, Justin ...<br />

vielleicht ein bisschen jünger. Da glaubt man noch an Geister<br />

und Seeungeheuer.“ Mr Kinney lachte auf. „Zumindest ich habe<br />

noch daran geglaubt. Wie auch immer ... ich kann mich nicht<br />

mehr so genau erinnern.“ Mr Kinney kratzte sich verlegen am<br />

17


Ohr. „Aber wie sich Meeresrauschen anhört, weiß ich noch<br />

genau!“<br />

„So, Zeit ins Bett zu gehen. Morgen wird ein langer Tag! Wir<br />

werden kramen und räumen und die Koffer packen!“<br />

18<br />

Tatsächlich war die gesamte Familie Kinney am nächsten<br />

Tag schwer beschäftigt. Und am übernächsten und am<br />

überübernächsten Tag und eigentlich die ganze nächste<br />

Woche. Statt nach <strong>der</strong> Schule über ihren Hausaufgaben zu<br />

brüten, packten sie Kisten und verabschiedeten sich von ihren<br />

Freunden. Erst als alles erledigt war, setzten sie sich endlich<br />

in ihren kleinen Wagen und fuhren in Richtung Süden – ans<br />

Meer. Der Kofferraum war vollgestopft mit Koffern, Taschen und<br />

Hoffnung. <strong>Die</strong> schäbigen Möbel würden mit dem alten Kasten<br />

verkauft werden und die schlechten Erinnerungen gleich<br />

mit. Nur die Guten hatte je<strong>der</strong> für sich zwischen die sauber<br />

gefalteten Kleidungsstücke mit in den Koffer gelegt. Behutsam,<br />

damit keine verschwand.


„Wäre ja gelacht, wenn wir die Sieben Schwestern nicht<br />

finden!“, sagte Mr Kinney, reichte die Straßenkarte an seine<br />

Frau und lächelte zufrieden.<br />

„Wer sind die Sieben Schwestern? Hexen?“, flüsterte Justin<br />

und sah Holly fragend an.<br />

„So heißen die Kreidefelsen, an <strong>der</strong>en Fuß die Tankstelle<br />

liegt“, erklärte die Mutter, die Justins Frage gehört hatte.<br />

„Hinter den Sieben Schwestern ist das Land zu Ende, es hört<br />

einfach auf. Danach kommt nur noch Wasser.“<br />

Justin wollte sich vorstellen, wie es aussieht, wenn das Land<br />

einfach zu Ende ist. Aber es klappte nicht. Also stellte er sich<br />

einen Schokokuchen vor, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Mitte durchgeschnitten war.<br />

Und die Krümel, die runtergefallen waren, stellten die Felsen<br />

dar. Sieben Krümel zählte er.<br />

19


20<br />

Seine Gedanken kreisten auch in den nächsten Stunden um<br />

die Sieben Schwestern. Je näher sie dem Meer kamen, desto<br />

aufgeregter wurde Justin. Wie Wellen durchzogen die grünen<br />

Hügel das Land. <strong>Die</strong> Schmetterlinge in seinem Bauch schienen<br />

mit den Schmetterlingen auf den saftigen Wiesen um die Wette<br />

zu fliegen. <strong>Die</strong> Häuser, an denen sie vorbeifuhren, waren längst<br />

nicht so grau und trostlos wie <strong>der</strong> alte Kasten, in dem sie bisher<br />

gewohnt hatten. Viele waren windschief. Manche winzig klein.<br />

Und wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e strahlten weiß in den Himmel, <strong>der</strong> mit je<strong>der</strong><br />

Meile, die sie hinter sich ließen, blauer wurde. Sie alle wirkten<br />

freundlich. So freundlich, dass Justin vergaß, dass er erst<br />

gestern noch Angst vor den Schornsteinen gehabt hatte, die von<br />

<strong>der</strong> Fabrik gegenüber bedrohlich in seine kleine Schlafkammer<br />

zu starren schienen. Er lächelte still in sich hinein.


Holly hingegen ließ ihrer Begeisterung freien Lauf. „Seht nur,<br />

all die Schafe!“, rief sie und strahlte. „Gibt es bei den Sieben<br />

Schwestern auch so viele Schafe?“, fragte sie.<br />

„Ich weiß es nicht“, gestand Mrs Kinney, „ich bin noch nie<br />

dort gewesen. Pierce, gibt es dort Schafe?“<br />

„Sicher“, antwortete Mr Kinney knapp.<br />

„Ich möchte ein Lämmchen haben!“, rief Holly so laut, dass<br />

ihr Vater vor Schreck auf die Bremse trat.<br />

Zum Glück fuhr kein Wagen hinter ihnen. Alle kippten nach<br />

vorne. Holly stieß sich die Nase am Sitz ihrer Mutter und<br />

Justin, <strong>der</strong> noch versuchte, den plötzlichen Schwung nach<br />

vorne abzufe<strong>der</strong>n, knuffte seinem Vater unfreiwillig mit den<br />

Knien in den Rücken. Der kleine Koffer, den Holly auf dem<br />

Schoß liegen hatte, sprang auf und gab ihr Kostbarstes preis.<br />

21


Justin konnte einen kurzen Blick auf eine silberne Haarspange<br />

und einen Stapel Postkarten erhaschen. Rasch klappte Holly<br />

den Koffer wie<strong>der</strong> zu. Ob das Engelsstaubbuch auch in dem<br />

Koffer war?, überlegte Justin fieberhaft. O<strong>der</strong> haben wir es in<br />

Luton vergessen?<br />

„Das Buch!“, rief er und buffte Holly in die Seite.<br />

„Es ist in irgendeinem Koffer“, antwortete Holly und bohrte<br />

noch mal nach: „Bekomme ich ein Lämmchen?“<br />

„Warten wir doch erst einmal ab“, sagte Mrs Kinney, als <strong>der</strong><br />

Wagen wie<strong>der</strong> rollte.<br />

22


Kapitel 2<br />

Von Gerümpel und Meeresrauschen<br />

„Wir sind da“, sagte Mr Kinney.<br />

Langsam fuhr er den Wagen auf den Besucherparkplatz,<br />

<strong>der</strong> das Parken für zwei Stunden erlaubte. Justin und Holly<br />

rissen gleichzeitig die Türen auf. Ungeschickt stolperten<br />

sie aus dem Auto. Ihre Beine waren während <strong>der</strong> langen<br />

Fahrt im beengenden Innenraum eingeschlafen und Justin<br />

spürte das Kribbeln des einschießenden Blutes bis in seine<br />

Zehenspitzen.<br />

„In meinen Schuhen krabbeln Ameisen“, sagte er lachend.<br />

„In meinen Schuhen hüpfen Flöhe.“ Holly prustete los.<br />

„Dabei wollte ich die doch in Luton lassen!“<br />

„Kin<strong>der</strong>, nicht so laut! Wie es aussieht, befinden wir uns<br />

mitten in einem Naturschutzgebiet“, sagte Mr Kinney und<br />

deutete auf das Hinweisschild vor ihm.<br />

„Und was machen wir hier?“, fragte Justin.<br />

„Hier werden wir in Zukunft leben!“, verkündete Mr Kinney<br />

stolz und verwirrt zugleich. „Ich wusste gar nicht, dass die<br />

23


24<br />

Tankstelle in einem Naturschutzgebiet liegt. Seltsam … Na ja,<br />

ich war ja noch ein Kind“, murmelte er.<br />

„In einem Natur … was?“<br />

Justin wünschte, er könnte das Schild vor ihnen lesen. Er<br />

konnte rechnen. Schnell wie ein Pfeil schossen die Antworten<br />

aus ihm heraus, kaum dass die Lehrerin die zu rechnenden<br />

Zahlen ausgesprochen hatte. Doch obwohl er schon in <strong>der</strong><br />

vierten Klasse war, las er nicht viel besser als im zweiten<br />

Schuljahr. Holly, die zwei Jahre älter war als er, übte oft mit ihm.<br />

Aber viel geholfen hatte das nicht.<br />

Sie ging zu dem Hinweisschild und las laut vor: „Willkommen<br />

im Naturschutzpark <strong>der</strong> Sieben Schwestern.“<br />

„Wer braucht denn eine Tankstelle in einem Naturpark?“ Jetzt<br />

stutzte auch Justin. Sein Vater zuckte ratlos mit den Schultern.<br />

Dann machte er sich murmelnd kopfüber im Kofferraum zu<br />

schaffen.<br />

„Liebling, den Brief habe ich hier“, rief Mrs Kinney, wohl<br />

wissend, wonach ihr Mann kramte.<br />

„Oh, danke.“


Mr Kinney nahm den Brief, faltete ihn auseinan<strong>der</strong> und<br />

murmelte:<br />

„Anthony Kinney, Seven Sisters Service Station, Exceat<br />

Seaford, East Sussex BN25 4AD. Hm“, brummte er in sich<br />

hinein. „Laut <strong>der</strong> Wegbeschreibung sind wir hier genau richtig:<br />

zwischen Eastbourne und Seaford. Und wir sind auch von<br />

<strong>der</strong> A259 gekommen, so wie es hier steht. Seltsam. Ich kann<br />

nirgends eine Tankstelle sehen. Ihr?“<br />

„Da hinten steht ein Schild ,Zum Restaurant Farmhaus‘;<br />

frag doch dort nach <strong>der</strong> Tankstelle“, schlug Mrs Kinney vor.<br />

„Wir warten hier.“<br />

Sie mussten gar nicht lange warten, da kam Mr Kinney auch<br />

schon zurück. Er sah genauso ratlos aus wie zuvor. Wie<strong>der</strong><br />

zuckte er mit den Schultern und verscheuchte gleichzeitig mit<br />

dem Brief wild wedelnd eine Fliege.<br />

„Also“, begann er und machte eine bedeutungsvolle Pause.<br />

„Ich verstehe das zwar nicht so ganz, aber wir sind hier richtig.<br />

Wir müssen nur dem Wasserlauf des Cuckmeres folgen, ca. eine<br />

halbe Meile, und dann kommen wir direkt auf die Tankstelle zu.<br />

Ich kann mich wirklich an nichts erinnern.“<br />

Justin setzte sich wie<strong>der</strong> ins Auto. Auch Holly krabbelte<br />

schweigend auf den Rücksitz.<br />

25


„Kin<strong>der</strong>, kommt wie<strong>der</strong> raus, wir gehen zu Fuß. Um mit dem<br />

Auto durch das Naturschutzgebiet fahren zu dürfen, brauchen<br />

wir eine Son<strong>der</strong>genehmigung und die haben wir nicht.“<br />

„Und wahrscheinlich auch sonst kaum jemand“, murmelte<br />

Mrs Kinney und schüttelte den Kopf.<br />

Justin fragte: „Ja, und was machen wir dann mit <strong>der</strong> Tankstelle,<br />

wenn niemand zum Tanken vorbeikommt?“<br />

„Warten wir doch erst einmal ab“, antwortete Mrs Kinney in<br />

gewohnter Weise und stiefelte los. <strong>Die</strong> an<strong>der</strong>en folgten ihr.<br />

26<br />

Justin beschäftigte bald eine ganz an<strong>der</strong>e Frage. Seine Füße<br />

sanken bei jedem Schritt ein wenig in den grünen Boden ein.<br />

Während er hinter seinen Eltern und seiner Schwester hertrottete,<br />

die dicht am Ufer des sich durchs Land schlängelnden<br />

Flusses entlanggingen, überlegte er, wie sich wohl das Gras<br />

anfühlte. Es sah so weich aus. Ganz an<strong>der</strong>s als die paar<br />

Grashalme, die hinter dem alten Kasten in Luton wuchsen. <strong>Die</strong>se<br />

hier waren grüner. Und es waren so viele. Kurzerhand schlüpfte<br />

er aus seinen Sandalen und lief barfuß weiter. Schön. Weich.<br />

Warm. Auch die paar Disteln, in die er trat, konnten seine<br />

Freude nicht min<strong>der</strong>n. Erst ein Haufen sonnengetrockneter<br />

Schafsköttel, die vom Gras bedeckt und nicht zu erahnen<br />

gewesen waren, bevor er hineintrat, trübte seine Freude.


Er kniete sich auf den Boden und zog die Sandalen wie<strong>der</strong> an.<br />

Er hatte nur einen Moment die Ohren aus dem Wind gedreht,<br />

<strong>der</strong> kräftig zwischen den Hügeln wehte, da hörte er es: das<br />

Meer! Es klang tatsächlich genauso wie das Rauschen in <strong>der</strong><br />

Muschel.<br />

Er drehte den Kopf noch einmal zurück – das war <strong>der</strong> Wind.<br />

Und jetzt noch einmal – das Meer! Justin lief so schnell er<br />

konnte über die Salzwiesen und sauste an seinen Eltern und<br />

Holly vorbei. Mit ru<strong>der</strong>nden Armen rief er immer wie<strong>der</strong>: „Ich<br />

höre das Meer! Ich höre das Meer!“<br />

„Justin! Warte!“, rief Holly ihm hinterher und lief ebenfalls<br />

los.<br />

27<br />

Sie sprangen über Findlinge, Böschungen und sogar über<br />

eine kleine Düne, in <strong>der</strong> ein Vogelpärchen ein Nickerchen<br />

machte. Sie liefen und liefen. Immer dem Meeresrauschen<br />

entgegen.


28<br />

An <strong>der</strong> Cuckmeremündung angekommen ließen sie<br />

sich laut lachend und völlig außer Puste im rauen Sand<br />

nie<strong>der</strong>. Um sie herum spielten die auslaufenden Wellen<br />

mit den Kieseln und Feuersteinen, die zu Tausenden den<br />

Strand besetzten. Es gab nur ein kleines Fleckchen Sand,<br />

auf dem die beiden jetzt saßen und auf die schäumenden<br />

Wellen blickten. Justin sprang auf, krempelte die<br />

Hosenbeine hoch, streckte die Füße aus und wackelte mit<br />

den Zehen. Das kühle Nass umspielte seine Fußsohlen.<br />

Es fühlte sich ganz an<strong>der</strong>s an als Badewasser – wild und<br />

weich zugleich.


„Das ist das Meer, Holly, jetzt kann ich es endlich sehen!“<br />

„Und fühlen.“ Holly breitete die Arme aus wie ein Albatros<br />

seine Schwingen.<br />

Justin hielt die Nase in die Luft und atmete tief ein. „Es riecht<br />

wie das alte Salzfass von Ma“, sagte er und zog die Nase kraus.<br />

„Und es kribbelt in <strong>der</strong> Nase wie Sprühregen. Brausepulver ist<br />

nichts dagegen.“<br />

Justin war so begeistert von <strong>der</strong> Weite, die sich vor ihm<br />

ausdehnte, dass er nichts weiter tat, als mit einem kribbeligen<br />

Gefühl im Bauch und an den Füßen in <strong>der</strong> Ferne den Horizont<br />

anzusehen, wo <strong>der</strong> Himmel das Meer zu berühren schien.<br />

Wäre jetzt ein Delfin zwischen den Schaumkronen aufgetaucht,<br />

wäre Justin augenblicklich ins Meer gesprungen, um<br />

sich von ihm ans Ende <strong>der</strong> Welt bringen zu lassen. Irgendwo,<br />

ganz weit draußen musste es sein – das Ende <strong>der</strong> Welt.<br />

29<br />

Nicht ganz so weit entfernt klatschte eine Welle mit Getöse<br />

gegen die Felsen. Justin und Holly sprangen erschrocken auf<br />

und sahen in die Richtung, aus <strong>der</strong> <strong>der</strong> Lärm kam. Immer höher<br />

glitt ihr Blick die Kreideklippen hinauf, die in <strong>der</strong> Mittagssonne<br />

so hell schimmerten wie das Innere <strong>der</strong> Muschel, die Justin<br />

sich ans Ohr gehalten hatte. Sie waren so hoch, dass sie den<br />

Himmel zu berühren schienen. Justin musste den Kopf weit


30<br />

in den Nacken beugen, um überhaupt bis zum oberen Rand<br />

blicken zu können. <strong>Die</strong> Möwen, die hoch oben nach Nahrung<br />

suchten, sah er nur als schwarze Bögen. Sie tanzten zwischen<br />

den windschiefen Bäumen, die auf dem Felsen wuchsen, auf<br />

und ab.<br />

Justin zählte die Felsvorsprünge, die mit dem Himmel zu<br />

verschmelzen schienen.<br />

„Sind das die Sieben Schwestern?“, flüsterte er andächtig.<br />

Mit seinen sieben Schokoladenkuchenkrümeln hatten diese<br />

Felsen nichts gemein.<br />

„Bestimmt“, hauchte Holly.<br />

„Hey, ihr zwei, lauft nicht zu weit ins<br />

Wasser, sonst kommt die Flut und packt<br />

euch“, hörten sie die Stimme ihrer<br />

Mutter, die ihnen nachgekommen war.<br />

„Was ist die Flut?“, fragte Justin.<br />

„Das ist, wenn <strong>der</strong> Mond das Meer<br />

ausspuckt – o<strong>der</strong> so ähnlich“, erklärte<br />

Holly, „hat Paps gesagt.“<br />

„Hm.“ Justin nickte – aber verstanden, was die Flut nun<br />

wirklich ist, hatte er nicht. Aber dass sie gefährlich war und<br />

kleine Kin<strong>der</strong> mitnahm, das merkte er sich.


„Ihr seid viel zu weit gelaufen. <strong>Die</strong> Tankstelle habt ihr wohl<br />

nicht gesehen, was?“, fragte ihr Vater und deutete auf ein<br />

kleines Gebäude. Es lag behütet von den Hügeln vor einer<br />

Gruppe windschiefer Bäume, in <strong>der</strong>en Schatten es friedlich zu<br />

schlafen schien. Auch als sie näher kamen, glaubte Justin noch,<br />

dass das Gebäude und <strong>der</strong> kleinen Anbau schlummerten. <strong>Die</strong><br />

Fensterläden waren zugeklappt, nur vor <strong>der</strong> Haustür baumelte<br />

ein vermo<strong>der</strong>ter Klappladen, den <strong>der</strong> Wind aus <strong>der</strong> Verankerung<br />

gerissen hatte – so, wie die Vorhänge in Justins Zimmer, wenn<br />

<strong>der</strong> Wind sich in ihnen gefangen hatte.<br />

Jetzt sah Justin auch die beiden Zapfsäulen aus dem Boden<br />

ragen. Das war also die geerbte Tankstelle! Sie sah uralt aus. Sie<br />

hatte nichts mit den riesigen, mo<strong>der</strong>nen Tankstellen gemein,<br />

die er aus Luton kannte.<br />

Hinter den roten Zapfsäulen war ein kleiner Laden mit einer<br />

Veranda, auf <strong>der</strong> sogar ein Schaukelstuhl stand. Das helle Kissen<br />

auf dem Stuhl sah weich und einladend aus. Justin schlen<strong>der</strong>te<br />

zwischen den Zapfsäulen hindurch auf die Veranda zu. <strong>Die</strong><br />

dichten Lavendelbüsche, die rings um die Veranda gepflanzt<br />

waren, verströmten ihren würzigen Duft, als Justin sie mit den<br />

Knien streifte. Erst als Justin sich auf den Schaukelstuhl setzen<br />

wollte, erkannte er das Kissen als kleines, weißes Kätzchen.<br />

Es fuhr erschrocken hoch und sprang entrüstet mit einem Satz<br />

31


über den Lavendel. Mit erhobenem Schwanz flitzte es in die<br />

Hügel.<br />

„Wir haben ein Kätzchen!“, freute sich Justin und wollte ihm<br />

hinterher eilen.<br />

„Halt! Hier geblieben!“, rief sein Vater und hielt ihn an <strong>der</strong><br />

Kapuze seines Sweatshirts fest. „Wir sehen uns jetzt erst einmal<br />

das Haus an. <strong>Die</strong> Katze kommt bestimmt zurück.“<br />

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„Und wenn die Flut sie holt?“ Vielleicht greift die nicht nur<br />

nach kleinen Kin<strong>der</strong>n, bangte Justin. Er fühlte sich unwohl bei<br />

dem Gedanken, dass er die Katze verscheucht hatte.<br />

„Wir locken sie nachher mit Milch“, flüsterte Holly ihm ins<br />

Ohr. „Und dann überlegen wir uns einen Namen für sie.“<br />

Justin hatte ihr längst einen Namen gegeben. Er wusste, dass<br />

sie eine Mim war. Das hatte er sofort gesehen. Was gab es da<br />

noch zu überlegen?<br />

Mr Kinney fand an dem riesigen Schlüsselbund, den er vom<br />

Notar erhalten hatte, gleich den richtigen Schlüssel. <strong>Die</strong> Tür<br />

sprang auf und abgestandene Luft schlug den Ankömmlingen<br />

entgegen. Mrs Kinney öffnete schnell die Fenster und klappte die<br />

Fensterläden auf. <strong>Die</strong> salzige Meeresluft fegte durch den Laden.<br />

Papiere wirbelten durch die Luft und Justin jagte ihnen hinterher.<br />

„Seht mal, hier hinten ist ein riesiges Zimmer.“<br />

„Und noch eins“, rief Holly, die ihrem Bru<strong>der</strong> hinterher<br />

geeilt war. „Und überall stehen Möbel herum“, sagte sie und<br />

sprang auf einem Bett auf und ab, dass die Eisenfe<strong>der</strong>n nur so<br />

quietschten.<br />

„Und selbst die Küche ist voller Gerümpel“, klang dumpf die<br />

Stimme ihrer Mutter aus einer an<strong>der</strong>en Richtung. „Eine echte<br />

Rumpel-Küche!“<br />

33


34<br />

Mrs Kinney hatte sämtliche Fenster in dem Haus geöffnet,<br />

als sich schließlich alle Familienmitglie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Küche trafen.<br />

Alles wurde inspiziert: <strong>der</strong> alte Kühlschrank, <strong>der</strong> lautstark<br />

ächzte, <strong>der</strong> Backofen, <strong>der</strong> steinerne Spülstein und die Küchenschränke.<br />

„Seht euch das an.“ Mr Kinney stand vor dem geöffneten<br />

Schrank und schüttelte den Kopf. „In den Gläsern und Dosen<br />

sind Schrauben, Muttern, Nägel und allerlei Kram. Ich kann<br />

hier nicht ein Glas saure Gurken finden. Geschweige denn<br />

Marmelade o<strong>der</strong> Erdnussbutter.“<br />

„Von Ordnung in seinen Schränken schien Tony viel gehalten<br />

zu haben“, sagte Mrs Kinney und betrachtete die Etiketten<br />

auf den Gläsern. „583 Nägel, 1239 Muttern, 56 Schrauben<br />

1 ¼ Zoll, 78 Schrauben ½ Zoll“, las sie vor. „Nur mit seiner


Ernährung scheint es nicht weit her gewesen zu sein. Außer<br />

einer Fertigmischung für Brownies kann ich keine Nahrung in<br />

diesem Schrank finden.“<br />

„Ist Tony verhungert?“, fragte Justin.<br />

„Nein, nein, Junge, sein schwaches Herz hat einfach aufgehört<br />

zu schlagen“, beruhigte ihn sein Vater. „Sicherlich gibt es hier<br />

auch irgendwo einen Vorratsschrank mit Äpfeln und sauren<br />

Gurken. Wir haben ihn nur noch nicht gefunden.“<br />

„Hey, kommt mal alle zu mir. Ich habe hier etwas Sensationelles<br />

entdeckt“, rief Holly.<br />

„Wo bist du?“ Justin sah sich um.<br />

„HIER!“<br />

„WO?“<br />

„Na hier, DRAUSSEN!“<br />

Justin lief aus dem Laden hinaus, schnappte sich im Vorbeidüsen<br />

an <strong>der</strong> Ladentheke einen Schokoriegel und suchte seine<br />

Schwester.<br />

Mr und Mrs Kinney folgten ihm – ebenfalls mit Schokoriegeln<br />

in den Händen.<br />

35<br />

„Das glaubt ihr mir nie! So etwas gibt es sonst nur im<br />

Märchen.“ Hollys Stimme überschlug sich beinahe vor


Aufregung. Ungeduldig zerrte sie ihren Bru<strong>der</strong> zu dem Anbau,<br />

<strong>der</strong> sich neben dem Laden befand.<br />

„Pssst, mach die Augen zu“, sagte sie und blieb vor dem<br />

geschlossenen Tor stehen. Sie hatte es wie<strong>der</strong> zugeklappt, um<br />

die Spannung zu erhöhen. Den Moment des stummen Staunens<br />

wollte sie sich nicht entgehen lassen. Erst als auch ihre Eltern<br />

bei ihnen standen und erwartungsvoll nickten, klappte sie das<br />

Tor auf und rief laut: „Tatarata!“<br />

36


„Klasse, eine echte Autowaschanlage!“, rief Justin begeistert.<br />

„Was ist an einer alten <strong>Waschanlage</strong> so spannend, dass du<br />

hier so ein Tamtam veranstaltest?“, fragte Mr Kinney trocken,<br />

als er die blauen Bürsten und die vielen Schläuche sah.<br />

Gelangweilt wandte er sich wie<strong>der</strong> seinem Schokoriegel zu<br />

und biss herzhaft in die von <strong>der</strong> Wärme verklebte Masse aus<br />

Karamell und Schokolade.<br />

„Vergesst die <strong>Waschanlage</strong>, ich habe etwas viel Unglaublicheres<br />

gefunden. Trommelwirbel bitteschöööön …“<br />

Justin purzelten fast die Augen aus dem Kopf, als er sah, was<br />

Holly gefunden hatte. „Wow!“, war alles, was er herausbekam.<br />

Und das lag nicht etwa an <strong>der</strong> schmelzenden Schokolade, die<br />

er eben noch genussvoll im Mund hin und her geschoben hatte.<br />

37


178<br />

Foto: Privat Foto: Privat<br />

<strong>Petra</strong> <strong>Steckelmann</strong><br />

Geboren 1970 in Hamburg. Noch immer lebt sie in<br />

ihrer Geburtsstadt und schreibt dort seit über 15<br />

Jahren Bücher – vorwiegend Kin<strong>der</strong>- und Jugendbücher.<br />

Als sie mit 15 Jahren mit <strong>der</strong> Prinz Hamlet<br />

nach England schipperte, ahnte sie nicht, wie sehr sie das Land<br />

in ihrem Schreiben beeinflussen würde. Doch als sie Jahre später<br />

zum ersten Mal an <strong>der</strong> Cuckmere-Mündung saß, wusste sie gleich,<br />

dass an diesem Ort irgendwann einer ihrer Protagonisten seinem<br />

<strong>Schutzengel</strong> begegnen wird. Denn wenn es eine Einflugschneise<br />

für <strong>Schutzengel</strong> gibt, dann wird sie gewiss dort sein – am Fuße <strong>der</strong><br />

„Seven Sisters“.<br />

www.steckelmann.de<br />

Bücher von <strong>Petra</strong> <strong>Steckelmann</strong> in <strong>der</strong> EDITION PASTORPLATZ:<br />

· <strong>Die</strong> Nachtschwärmer (ISBN 978-3-943833-23-2)<br />

· Ich bin Mimi! (ISBN 978-3-943833-30-0)<br />

· <strong>Die</strong> <strong>Waschanlage</strong> <strong>der</strong> <strong>Schutzengel</strong> (ISBN 978-3-943833-35-5)<br />

Mele Brink<br />

Geboren 1968 in Ostwestfalen, lebt sie seit<br />

Mitte <strong>der</strong> 80er-Jahre in Aachen. Nach einem<br />

Architekturstudium (Diplom ’98) hat sie sich dann<br />

doch lieber <strong>der</strong> Zeichnerei verschrieben und<br />

produziert seitdem heitere Bil<strong>der</strong> für kleine und große Menschen.<br />

Zum Glück hat sie ihrem <strong>Schutzengel</strong> noch nicht in die Augen<br />

geschaut, sonst würde er auch dauernd in Handtaschen nach<br />

Schlüssel, Smartphone, Schnupftuch suchen …<br />

www.melebrink.de


„<strong>Die</strong> <strong>Waschanlage</strong> <strong>der</strong> <strong>Schutzengel</strong>“ wird herausgegeben von <strong>der</strong><br />

Edition Pastorplatz<br />

(Mele Brink & Bernd Held GbR · Luisenstraße 52 · 52070 Aachen)<br />

www.editionpastorplatz.de<br />

www.facebook.com/edition.pastorplatz<br />

www.twitter.com/ed_pastorplatz<br />

Editionsnummer: 35 (September 2019)<br />

ISBN 978-3-943833-35-5<br />

1. Auflage<br />

Idee + Text: <strong>Petra</strong> <strong>Steckelmann</strong><br />

Zeichnungen: Mele Brink<br />

Layout + Umsetzung: Bernd Held<br />

Lektorat + Korrektorat: Daniela Dreuth/OptimumText<br />

179<br />

Druck: Jettenberger Internationale Druckagentur<br />

Innenseiten: 120-g-Offsetpapier (FSC © -zertifiziert)<br />

Umschlag: 135-g-Bil<strong>der</strong>druckpapier (FSC © -zertifiziert)<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des<br />

Verlags unzulässig. Das gilt insbeson<strong>der</strong>e für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die<br />

Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Bibliografische Information <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliothek: <strong>Die</strong> Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet<br />

diese Publikation in <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<br />

https://dnb.dnb.de abrufbar.


<strong>Die</strong> Familie des zehnjährigen Justin erbt von ihrem<br />

verstorbenen Großonkel Anthony eine Tankstelle mit<br />

Autowaschanlage an <strong>der</strong> Südküste Englands. <strong>Die</strong>se<br />

Tankstelle befindet sich mitten in einem autofreien<br />

Naturschutzgebiet. In <strong>der</strong> <strong>Waschanlage</strong> findet die Familie<br />

Kisten voller Münzen. Jeden Tag füllen sich die Kisten<br />

mehr, aber niemand weiß, warum. Justin hat einen<br />

Verdacht und beobachtet eines Nachts die <strong>Waschanlage</strong>.<br />

Plötzlich hört er ein Rauschen am Himmel. Er traut<br />

seinen Augen kaum: Ein Engel landet direkt vor ihm.<br />

Ab 8 Jahren.<br />

Tankstelle<br />

&<br />

<strong>Waschanlage</strong><br />

ISBN 978-3-943833-35-5<br />

7 Schwestern

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