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recke:in - Das Magazin der Graf Recke Stiftung Ausgabe 1/2018

Harun und Chinonso flüchteten als Minderjährige ohne Begleitung nach Deutschland. 2015 haben wir sie erstmals getroffen. Jetzt haben wir sie wieder besucht. Wie es ihnen ergangen ist, erzählen sie in dieser recke:in.

Harun und Chinonso flüchteten als Minderjährige ohne Begleitung nach Deutschland. 2015 haben wir sie erstmals getroffen. Jetzt haben wir sie wieder besucht. Wie es ihnen ergangen ist, erzählen sie in dieser recke:in.

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Erziehung & Bildung<br />

11<br />

Nach wie vor liest Harun gern und viel.<br />

Meistens auf Arabisch. Weil ihm das Lesen<br />

mancher anspruchsvoller Texte auf Deutsch<br />

noch zu schwer falle. Se<strong>in</strong>e Alltagssprache<br />

aber ist Deutsch, auch weil Harun e<strong>in</strong>en<br />

bunt gemischten Kreis an schon lange hier<br />

heimischen Freunden hat. Seit drei Jahren<br />

lebt Harun nun <strong>in</strong> Krefeld. Er kennt alle<br />

se<strong>in</strong>e Nachbarn und hat guten Kontakt zu<br />

ihnen. Mit se<strong>in</strong>en Arbeitskollegen unternimmt<br />

er auch gerne außerhalb <strong>der</strong> Arbeitszeit<br />

etwas geme<strong>in</strong>sam. Se<strong>in</strong>e Begeisterung<br />

fürs Skifahren, die Harun bei e<strong>in</strong>er Klassenfahrt<br />

nach Österreich entdeckte, hat er auch<br />

später privat gepflegt: Zwei Mal ist er mit<br />

Freunden auf eigene Faust <strong>in</strong> den Skiurlaub<br />

gefahren.<br />

Und es ist noch etwas ganz Entscheidendes<br />

passiert, das Harun das E<strong>in</strong>leben erleichtert:<br />

Se<strong>in</strong>e Familie ist nun auch <strong>in</strong> Deutschland.<br />

Se<strong>in</strong>e Eltern leben mit se<strong>in</strong>en beiden<br />

Schwestern und se<strong>in</strong>em Bru<strong>der</strong> <strong>in</strong> Bonn.<br />

Traditionsbewusste<br />

Familie<br />

Harun hat seit e<strong>in</strong>iger Zeit auch e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>.<br />

<strong>Das</strong>s sie Jüd<strong>in</strong> ist, spielt für ihn ke<strong>in</strong>e<br />

Rolle. Für se<strong>in</strong>e Familie aber schon, erzählt<br />

er. Haruns Familie ist jesidisch und sehr<br />

traditionsbewusst. »Sie hätten lieber e<strong>in</strong>e<br />

jesidische Freund<strong>in</strong> für mich«, sagt er. <strong>Das</strong><br />

bestätigt ihn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Haltung, die er schon<br />

2015 im Gespräch klar formuliert hat: »Religion<br />

trennt Menschen.« Angesichts <strong>der</strong><br />

Konflikte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Heimat ist diese Ansicht<br />

erklärlich. Früher war Harun selbst »stolz,<br />

Jeside zu se<strong>in</strong>«. Heute sehe er das an<strong>der</strong>s.<br />

Und weil Religion <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er neuen Heimat<br />

zum<strong>in</strong>dest ke<strong>in</strong>e Kriege mehr auslöst, kann<br />

Harun auch den Wunsch se<strong>in</strong>er Eltern<br />

gelassen nehmen. »Ich mache das so, wie<br />

ich es für richtig halte. Und ich b<strong>in</strong> me<strong>in</strong>en<br />

Eltern viel zu wichtig, als dass sie es deshalb<br />

auf e<strong>in</strong>en Konflikt ankommen ließen!«<br />

Ch<strong>in</strong>onso dagegen ist tief religiös. Er geht<br />

weiterh<strong>in</strong> regelmäßig <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong><br />

Düsseldorf, von <strong>der</strong> er schon 2015 erzählte.<br />

Der religionskritische Harun hat mit <strong>der</strong><br />

Religiosität se<strong>in</strong>es ehemaligen Mitbewohners<br />

ke<strong>in</strong> Problem: »Ch<strong>in</strong>onso hat ja nie an me<strong>in</strong>e<br />

Tür geklopft und gewollt, dass ich mit ihm <strong>in</strong><br />

die Kirche gehe«, sagt Harun. »Wenn die Religion<br />

an<strong>der</strong>er mich nicht bee<strong>in</strong>trächtigt, habe<br />

ich ke<strong>in</strong> Problem damit.«<br />

Aufdr<strong>in</strong>glichkeit ist tatsächlich ke<strong>in</strong><br />

Charakterzug von Ch<strong>in</strong>onso. Er konzentriert<br />

»Ich f<strong>in</strong>de<br />

die Leute<br />

hier total lieb<br />

und cool!«<br />

Ch<strong>in</strong><strong>in</strong>so<br />

sich sehr auf sich. Er arbeitet, lernt sehr<br />

viel und auch erfolgreich, wie se<strong>in</strong>e Noten<br />

beweisen, und <strong>in</strong> <strong>der</strong> wenigen Freizeit, die<br />

ihm bleibt, joggt er und geht <strong>in</strong>s Fitnessstudio:<br />

»Ich muss fit se<strong>in</strong> für die Arbeit!«<br />

<strong>Das</strong> Fußballspielen beim Sportvere<strong>in</strong> TuSpo<br />

Huck<strong>in</strong>gen habe er aus Zeitgründen aufgeben<br />

müssen.<br />

So zurückhaltend und auf se<strong>in</strong>e Arbeit<br />

fokussiert Ch<strong>in</strong>onso ist, bedeutet das nicht,<br />

dass er ke<strong>in</strong>e Kontakte knüpft. »Die Leute<br />

haben ihn e<strong>in</strong>fach gern!«, sagt Betreuer<strong>in</strong><br />

Laura Werner. Letztes Jahr kam Ch<strong>in</strong>onso<br />

am Heiligen Abend aus <strong>der</strong> Kirche und fand<br />

e<strong>in</strong> Geschenk vor se<strong>in</strong>er Tür: E<strong>in</strong> Nachbar<br />

hatte ihm e<strong>in</strong>e Karte und Süßigkeiten e<strong>in</strong>gepackt.<br />

E<strong>in</strong> Jahr zuvor war Ch<strong>in</strong>onso am Heiligen<br />

Abend zu Gast bei <strong>der</strong> Familie se<strong>in</strong>es<br />

Chefs. Als Ch<strong>in</strong>onso se<strong>in</strong>en Führersche<strong>in</strong><br />

machte, gaben se<strong>in</strong> Chef und e<strong>in</strong>e Nachbar<strong>in</strong><br />

ihm Geld dazu. Ch<strong>in</strong>onso ist bee<strong>in</strong>druckt<br />

von <strong>der</strong> Unterstützung se<strong>in</strong>es Umfelds. »Ich<br />

f<strong>in</strong>de die Leute hier total lieb und cool!«,<br />

sagt er. »A sign of love«, fügt er h<strong>in</strong>zu – e<strong>in</strong><br />

Zeichen <strong>der</strong> Liebe.<br />

Die beiden jungen Männer fühlen sich<br />

wohl <strong>in</strong> Deutschland. Harun ist bewusst,<br />

dass nicht alle Menschen hier positiv auf<br />

Zuwan<strong>der</strong>er wie ihn und Ch<strong>in</strong>onso reagieren.<br />

Er habe auch selbst Anfe<strong>in</strong>dungen<br />

erlebt, erzählt er und fügt h<strong>in</strong>zu, er könne<br />

manche negativen Reaktionen sogar verstehen.<br />

Wenn Menschen, die hier e<strong>in</strong>e Zuflucht<br />

f<strong>in</strong>den, zum Beispiel krim<strong>in</strong>ell werden, dann<br />

f<strong>in</strong>de auch er das schlimm. Aber Harun<br />

weiß, dass manche »alle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Topf werfen«.<br />

Gegen Verallgeme<strong>in</strong>erungen und Vorurteile<br />

wehrt sich Harun mit Nachdruck.<br />

So wie damals im Deutsch-Nachhilfeunterricht:<br />

Vom Fenster aus, erzählt er, habe man<br />

dort Jugendliche mittags mit Bierflaschen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Hand sehen können. Daraufh<strong>in</strong> habe e<strong>in</strong><br />

Lehrer sich abfällig über diese Jugendlichen<br />

geäußert. Harun erzählt, er habe se<strong>in</strong>em<br />

Lehrer wi<strong>der</strong>sprochen: »Wie können Sie<br />

über diese Leute urteilen? Sie kennen ihre<br />

Geschichte nicht und können ihnen nicht<br />

<strong>in</strong>s Herz sehen.«<br />

Anfang des nächsten Jahres macht<br />

Ch<strong>in</strong>onso se<strong>in</strong>e Gesellenprüfung. Er hat die<br />

Hoffnung, übernommen zu werden. Zwei<br />

Jahre später möchte auch Harun mit se<strong>in</strong>er<br />

Ausbildung fertig se<strong>in</strong>. In Krefeld gefällt es<br />

ihm gut. Es besteht also die Möglichkeit,<br />

dass die beiden auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Jahren noch<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Region leben. Vielleicht gibt es dann<br />

ja e<strong>in</strong> weiteres Wie<strong>der</strong>sehen mit Harun und<br />

Ch<strong>in</strong>onso! //<br />

Den Artikel aus <strong>der</strong> <strong>Ausgabe</strong> 2/2015 f<strong>in</strong>den Sie hier:<br />

www.graf-<strong>recke</strong>-stiftung.de/<br />

Harun-Ch<strong>in</strong>onso-2015<br />

»Unser flexibles Betreuungssett<strong>in</strong>g<br />

ermöglicht gleitende Übergänge und<br />

vermeidet Beziehungsabbrüche.«<br />

Markus Kaiser, Leiter des<br />

Netzwerks <strong>in</strong> Duisburg<br />

1/<strong>2018</strong> <strong>recke</strong>: <strong>in</strong>

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