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recke:in - Das Magazin der Graf Recke Stiftung Ausgabe 4/2016

In unserer Weihnachtsausgabe stellen wir, wie jedes Jahr, Menschen in den Mittelpunkt, bei denen sich 2016 etwas bewegt hat.

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18 Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik<br />

Ke<strong>in</strong>er plant <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben e<strong>in</strong>e<br />

psychische Erkrankung e<strong>in</strong>«, sagt<br />

Andreas Kernchen. Menschen<br />

rechnen mit zunehmendem Alter<br />

damit, körperlich abzubauen. Aber wer ke<strong>in</strong>e<br />

Berührungspunkte mit Psychosen hatte,<br />

<strong>der</strong> denkt nicht daran, dass er an <strong>der</strong> Seele<br />

erkranken könnte.<br />

Bei Andreas Kernchen war das nicht<br />

an<strong>der</strong>s. Der 51-Jährige, <strong>in</strong> Dortmund aufgewachsen,<br />

stand mitten im Leben. Nach<br />

<strong>der</strong> Realschule und se<strong>in</strong>er Ausbildung zum<br />

Chemiefacharbeiter machte er se<strong>in</strong> Fachabitur.<br />

»Ich wollte Entwicklungshilfe im<br />

Bereich Agrarwirtschaft leisten.« Doch<br />

Andreas Kernchen än<strong>der</strong>te se<strong>in</strong>e Pläne <strong>der</strong><br />

Liebe wegen und zog 1989 <strong>in</strong>s Rhe<strong>in</strong>land.<br />

Dort fand er e<strong>in</strong>e Arbeitsstelle bei Henkel.<br />

Schichtarbeit. »Davon wollte ich aber bald<br />

weg.« Andreas Kernchen g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> die Meisterschule.<br />

Se<strong>in</strong> Sohn wurde geboren. In <strong>der</strong><br />

kle<strong>in</strong>en Familie begann es zu rumoren. Dem<br />

jungen Vater wurde alles zu viel. Schichtarbeit,<br />

Meisterschule, e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es, schreiendes<br />

K<strong>in</strong>d. Im Sommer 1993 <strong>der</strong> totale Zusammenbruch.<br />

Andreas Kernchen wurde »akut<br />

e<strong>in</strong>gewiesen«, blieb drei Wochen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychiatrie.<br />

Da war sie, »die Krise«, wie er sie<br />

nennt. Diagnose: Schizophrenie.<br />

Schizophrenie. Viele verb<strong>in</strong>den diese<br />

Krankheit mit dem Begriff Persönlichkeitsspaltung.<br />

Doch damit hat diese Krankheit<br />

nicht viel zu tun. Auch wenn es im Falle von<br />

Andreas Kernchen durchaus etwas gibt, das<br />

man als »Persönlichkeitsspaltung« bezeichnen<br />

könnte: Andreas Kernchens Leben<br />

drohte zu zerfallen. Und es zerfiel – im<br />

Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> betrachtet – <strong>in</strong> zwei Teile: vor<br />

<strong>der</strong> Krise und danach.<br />

Andreas Kernchen arbeitete sich nicht<br />

e<strong>in</strong>fach aus <strong>der</strong> Krise heraus. Er nutzte sie für<br />

e<strong>in</strong>e totale Neuausrichtung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben.<br />

Auf die Frage, ob er sich tatsächlich <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Persönlichkeit verän<strong>der</strong>t habe sagt<br />

Andreas Kernchen: »Ich war früher auf ke<strong>in</strong>en<br />

Fall so sozial wie jetzt. Ich war schon<br />

auch empf<strong>in</strong>dsam, hatte e<strong>in</strong> Gefühl für<br />

an<strong>der</strong>e Leute, aber nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konsequenz<br />

wie heute, mit <strong>der</strong> ich diesen kirchlichsozialen<br />

Weg gehe.«<br />

Doch das Leben ist ke<strong>in</strong> Film, und da, wo<br />

<strong>der</strong> Regisseur den Schnitt wählen würde,<br />

um die e<strong>in</strong>drucksvolle Wandlung des Andreas<br />

Kernchen <strong>in</strong> Szene zu setzen, folgte<br />

für den damals 27-Jährigen erst e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e<br />

lange, schwierige Zeit. In den drei Wochen<br />

auf <strong>der</strong> Akutstation gestand er sich langsam<br />

e<strong>in</strong>: »Ich muss mich behandeln lassen.«<br />

Dann g<strong>in</strong>g es doch ziemlich schnell. Zu<br />

schnell.<br />

Andreas Kernchen versuchte die berufliche<br />

Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ung, schon vier<br />

Monate nach Entlassung. »Aber das war zu<br />

früh, es funktionierte nicht.« Beruflich <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Sackgasse, privat ebenso: Freund<strong>in</strong>nen<br />

rieten se<strong>in</strong>er Frau, »den Andreas zu verlassen,<br />

<strong>der</strong> wird nie wie<strong>der</strong> arbeiten«, berichtet<br />

Andreas Kernchen. So kam es: Scheidung<br />

nach acht Jahren Beziehung und fünf Jahren<br />

Ehe. Ehe kaputt, kaum Kontakt zum K<strong>in</strong>d,<br />

berufliche Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ung gescheitert,<br />

Wohnung weg.<br />

»Ich habe e<strong>in</strong> Jahr vor mich h<strong>in</strong> vegetiert<br />

und bei 30 Grad mit e<strong>in</strong>er Decke überm<br />

Kopf im elterlichen Wohnzimmer gelegen.«<br />

Auch mit dem Rauchen habe er angefangen,<br />

sagt Andreas Kernchen. <strong>Das</strong> ist für ihn<br />

ke<strong>in</strong>e Kle<strong>in</strong>igkeit. Der heute recht schwer<br />

wirkende 51-Jährige ist früher Marathon<br />

gelaufen und sogar Triathlet gewesen, war<br />

durchtra<strong>in</strong>iert und legte großen Wert auf<br />

se<strong>in</strong>e körperliche Fitness.<br />

Doch jetzt kämpfte Andreas Kernchen<br />

um se<strong>in</strong>e seelische Gesundheit. Schritt für<br />

Schritt fand er zurück <strong>in</strong> die Spur, half<br />

se<strong>in</strong>em Vater <strong>in</strong> dessen Radio- und Fernsehgeschäft,<br />

TV-Geräte zu schleppen. (»Die<br />

waren noch schwer damals!«) Dann g<strong>in</strong>g<br />

Andreas Kernchen <strong>in</strong>s BTZ, das Berufliche<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gszentrum, und anschließend machte<br />

er e<strong>in</strong>e Umschulung zum Industriekaufmann<br />

im Berufsför<strong>der</strong>ungswerk Dortmund.<br />

»<strong>Das</strong> hat gut geklappt, das hätte niemand<br />

gedacht, als ich dann wie<strong>der</strong> bei Henkel<br />

angeklopft habe. Ich kam wie<strong>der</strong> klar!« Er<br />

war nun im kaufmännischen Bereich tätig<br />

und zurück im Berufsleben. <strong>Das</strong>s er im Laufe<br />

<strong>der</strong> nächsten Jahre noch vier Mal psychotisch<br />

erkrankte, erzählt er heute mit e<strong>in</strong>er<br />

gewissen Gelassenheit – »2002 das letzte<br />

Mal, ansonsten gibt es Phasen, die nicht so<br />

gut waren, mit leichter depressiver Verstimmung,<br />

aber ich b<strong>in</strong> gut klar gekommen.« Im<br />

Juni hat Andreas Kernchen wie<strong>der</strong> geheiratet,<br />

se<strong>in</strong>e Frau hat e<strong>in</strong>e 16-jährige Tochter<br />

und an se<strong>in</strong>em 50. Geburtstag ist er auch<br />

noch Opa geworden.<br />

Hier könnte die Geschichte enden. Happy<br />

End. Abspann.<br />

Aber das Leben geht weiter, im Guten<br />

wie im Schlechten. So ist Andreas Kernchens<br />

Verhältnis zu se<strong>in</strong>em Sohn und dessen<br />

junger Familie nicht völlig ungetrübt.<br />

»Es ist nicht e<strong>in</strong>fach zu vermitteln, dass<br />

me<strong>in</strong>e Krankheit e<strong>in</strong>e normale Sache ist, mit<br />

<strong>der</strong> man leben kann, darf und sollte«, sagt<br />

Andreas Kernchen. Psychische<br />

Erkrankungen s<strong>in</strong>d heute zwar<br />

ke<strong>in</strong> Tabu mehr, aber gerade Menschen,<br />

die sich mitten im Leben<br />

wähnen, haben oft das Bedürfnis,<br />

sich dagegen abzugrenzen.<br />

Und spätestens hier beg<strong>in</strong>nt die<br />

Geschichte des neuen, des »kirchlich-sozialen«<br />

Andreas Kernchen.<br />

Denn die Geschichte ist auch deshalb<br />

nicht zu Ende, weil er nun<br />

bewusst e<strong>in</strong> neues Kapitel aufschlägt.<br />

Seit etwa 15 Jahren engagiert<br />

er sich im Psychose-Forum für die<br />

Selbsthilfearbeit und <strong>in</strong> dem von<br />

ihm gegründeten Anti-Stigma-<br />

Projekt. Auf Verbandsebene ist er<br />

aktiv im Fachverband Deutsche<br />

Gesellschaft für soziale Psychiatrie<br />

und seit fast zehn Jahren im<br />

Vorstand <strong>der</strong> regionalen Rhe<strong>in</strong>ischen<br />

Gesellschaft für soziale Psychiatrie.<br />

Auch im Berufstra<strong>in</strong><strong>in</strong>gszentrum,<br />

<strong>in</strong> dem Andreas Kernchen<br />

damals se<strong>in</strong>en beruflichen<br />

Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>stieg vorbereitete, hielt<br />

<strong>der</strong> frühere Dortmun<strong>der</strong> Vorträge<br />

darüber, wie man mit e<strong>in</strong>er psychischen<br />

Erkrankung leben kann,<br />

ob und wie man sich outen sollte<br />

im Beruf. Zurzeit bildet er sich per<br />

Fernstudium zum Seelsorger fort.<br />

»Ich habe immer versucht, vernetzt<br />

zu denken«, sagt er. Er will psychisch<br />

erkrankten Menschen konkrete Orientierung<br />

geben: »Die Hilfesysteme s<strong>in</strong>d da«,<br />

sagt er, »aber man muss sich dar<strong>in</strong> auch<br />

zurechtf<strong>in</strong>den.«<br />

»Man kann und sollte sich<br />

als psychisch Erkrankter <strong>der</strong><br />

Gesellschaft zumuten.«<br />

Bei allem, was er tut, ist Andreas Kernchens<br />

Haltung: »Man kann und sollte sich<br />

als psychisch Erkrankter <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

zumuten.« Er will den Kreislauf von Fremdund<br />

Selbststigmatisierung durchbrechen.<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> Anti-Stigma-Arbeit haben<br />

se<strong>in</strong>e Mitstreiter und er seit 2003 über 150<br />

Schulprojekte <strong>in</strong> Düsseldorf und Umgebung<br />

begleitet. Sie gehen auch <strong>in</strong> Betriebe,<br />

Geme<strong>in</strong>den o<strong>der</strong> Altenkreise. Ihre Botschaft:<br />

»Mit psychischen Erkrankungen kann man<br />

leben, das ist ke<strong>in</strong> Todesurteil.« <strong>Das</strong> Leben<br />

<strong>recke</strong>: <strong>in</strong> 4/<strong>2016</strong>

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