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So einfach ist Fermentieren (Leseprobe)

KOPP Verlag (Sandor Ellix Katz)

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So einfach ist

Fermentieren



SANDOR ELLIX KATZ

SO EINFACH IST

FERMENTIEREN

Wie Sie durch Vergärung wohlschmeckende

und gesunde Lebensmittel herstellen:

von Brot über Sauerkraut bis hin zu Bier und Wein

Mit über 100 raffinierten Rezeptideen


1. Auflage Dezember 2014

2. Auflage Juli 2016

Copyright © 2003 by Sandor Ellix Katz

Illustrationen Copyright © 2003 Robin Wimbiscus

Copyright © 2014 für die deutschsprachige Ausgabe bei

Kopp Verlag, Bertha-Benz-Straße 10, D-72108 Rottenburg

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Wild Fermentation – The

Flavor, Nutrition, and Craft of Live-Culture Foods

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Christine Ibele

Übersetzung: Ortrun Cramer, Wiesbaden

Satz und Layout: opus verum, München

ISBN: 978-3-86445-161-4

Gerne senden wir Ihnen unser Verlagsverzeichnis

Kopp Verlag

Bertha-Benz-Straße 10

D-72108 Rottenburg

E-Mail: info@kopp-verlag.de

Tel.: (074 72) 98 06-0

Fax: (0 74 72) 98 06-11

Unser Buchprogramm finden Sie auch im Internet unter:

www.kopp-verlag.de


Widmung

Ich widme dieses Buch meinem teuren Gefährten Jon Greenberg

(1956–1993).

Er war es, der mich erstmals auf die Idee brachte, mit Mikroben in

friedlicher Koexistenz zu leben, anstatt sie zu bekriegen. Ich achte Jon

und all unsere Mitstreiter – jene Zweifler, Rebellen und Bilderstürmer,

die die herrschende Weisheit und Autoritäten infrage stellen.

Glauben Sie an die Zukunft und lassen Sie die Veränderung weiter

gären!


Inhalt

Vorwort ................................................................................... 8

Einführung: Kultureller Kontext ............................................. 12

Kulturelle Rehabilitierung ....................................................... 20

Ein Plädoyer für mikrobielle Koexistenz ............................................... 25

Mikrobiodiversität und das Einbeziehen der Wildnis ............................ 29

Kulturelle Theorie .................................................................. 32

Die Wissenschaft rätselt über ein verwirrendes Phänomen .................. 37

Louis Pasteur und der Beginn der Mikrobiologie ................................. 39

Kulturelle Homogenisierung .................................................. 42

Fermentierte Stimulanzien und der Aufstieg der Globalisierung .......... 45

Widerstand leisten gegen die Kommerzialisierung der Kultur ............. 51

Kulturelle Manipulation ......................................................... 54

Selbermachen .................................................................................... 56

Jedes Nahrungsmittel kann fermentiert werden .................................. 59

Die Grenzen verschwimmen ............................................................... 60

Grundlegendes über Geräte und Zutaten ........................................... 63

Neue Grenzen von Erfahrung und Wissen .......................................... 66

Gemüse fermentieren ............................................................ 68

Die Basis-Technik des Befüllens ........................................................... 69

Kimchi ................................................................................................ 81

Weiterer Lesestoff ............................................................................ 100

Fermentierte Bohnen ........................................................... 102

Wie Miso gemacht wird ................................................................... 104

Kōji auftreiben .................................................................................. 106

Weiterer Lesestoff ............................................................................ 128


Fermentiertes aus Milch ...................................................... 130

Käserei ............................................................................................. 145

Die Auseinandersetzungen über die Rohmilchkäse-Verordnungen .... 153

Vegane Adaptationen ....................................................................... 157

Weiterer Lesestoff ............................................................................ 161

Brot .................................................................................... 162

Getreidesprossen und Essenerbrot .................................................... 181

Weiterer Lesestoff ............................................................................ 191

Breie und Getränke ............................................................ 194

Gentechnisch veränderter Mais ........................................................ 202

Porridge ........................................................................................... 204

Weine ................................................................................. 218

»Hooch« .......................................................................................... 221

Ballonflaschen und Gärstopfen ......................................................... 223

Wein reifen lassen: Siphonieren und Abfüllen ................................... 227

Landweine ....................................................................................... 231

Weiterer Lesestoff ............................................................................ 245

Biere .................................................................................... 246

Bier in Flaschen abfüllen ................................................................... 257

Bier in kleinen Fässern ...................................................................... 262

Weiterer Lesestoff ............................................................................ 263

Essige .................................................................................. 264

Weiterer Lesestoff ............................................................................ 275

Kulturelle Reinkarnation ...................................................... 276

Mit dem Tod vertraut werden ........................................................... 279

Kompost passiert .............................................................................. 281

Gesellschaftlicher Wandel ................................................................. 284

Anhang ............................................................................... 288

Dank .............................................................................................. 289

Anmerkungen .................................................................................. 292

Literatur/Bildnachweis ...................................................................... 298

Register ............................................................................................ 303


Vorwort

von Sally Fallon


Die Fermentierung oder Vergärung von Nahrungsmitteln – einerseits

zur Konservierung, andererseits aber auch, um sie verdaulicher

und nahrhafter zu machen – ist so alt wie die Menschheit. Von

den Tropen – wo man Maniok in ein Erdloch wirft, um ihn weicher

und süßer werden zu lassen – bis zur Arktis – wo Fische gegessen werden,

die man zuvor »verrotten« lässt, bis sie die Konsistenz von Eiscreme

annehmen – werden fermentierte Nahrungsmittel ihrer gesunden

Eigenschaften und ihres komplexen Geschmacks halber geschätzt.

Leider sind fermentierte Nahrungsmittel in der westlichen Welt

fast vollständig verschwunden, sehr zum Nachteil unserer Gesundheit

und unseres Budgets. Denn fermentierte Speisen unterstützen

die Verdauung und schützen uns vor Krankheiten. Und weil die Fermentierung

nun einmal ein handwerkliches Verfahren ist, hat ihr

Verschwinden die zentralisierte und industrialisierte Produktion von

Lebensmitteln beschleunigt. Die Leidtragenden sind vor allem kleine

Bauernhöfe und die regionale Wirtschaft.

An den Geschmack fermentierter Speisen oder Getränke muss man

sich zumeist erst gewöhnen. Kaum jemand kann sich vorstellen, fermentierten

Tofu zu essen, in dem sich Würmer tummeln, aber in

manchen Regionen Japans gilt er als Delikatesse. Das Gleiche gilt für

schäumendes Sorghum-Bier, das wie der Mageninhalt schmeckt, in

Afrika aber literweise getrunken wird. Andererseits mögen nur wenige

Afrikaner oder Asiaten die streng riechenden Stücke verrotteter

Milch (Käse genannt), die den westlichen Gaumen so schmeicheln.

Allen, die mit fermentierten Nahrungsmitteln aufgewachsen sind,

bieten sie die großartigsten Ess-Erlebnisse – und viele kommen dem

westlichen Geschmack ohne lange Gewöhnung entgegen.

Im Geiste der großen Reformer und Künstler hat Sandor Katz hart

gearbeitet, um dieses Opus Magnus einer Leserschaft zu übergeben,

die bereit ist, reale Nahrung wieder mit dem Leben selbst in Einklang

zu bringen. Denn fermentierte Nahrungsmittel sind nicht nur eine

Freude zu essen, sondern es macht auch große Freude, sie zuzuberei-


10 Vorwort

ten. Von der ersten erfolgreich produzierten Portion Kombucha bis

zum aufregenden Geschmack selbst gemachten Sauerkrauts gewährt

die Fermentierung uns eine Partnerschaft mit mikroskopischem Leben.

Diese Partnerschaft veranlasst uns zur Ehrfurcht vor den Abläufen,

die zum Wohlergehen der Menschheit beitragen, von der Bildung

von Enzymen durch unsichtbar kleine Bakterien bis zum

Geschenk von Milch und Fleisch der heiligen Kuh.

Tatsächlich ist die Wissenschaft und Kunst der Fermentation die

Grundlage der menschlichen Kultur: Ohne Kultivierung gibt es keine

Kultur. Länder, die noch heute kultivierte Nahrungsmittel konsumieren,

wie Frankreich mit seinem Wein und seinem Käse und Japan mit

eingelegtem Gemüse und Miso, gelten als Länder mit Kultur. Kultur

beginnt auf dem Bauernhof, nicht in der Oper, und bindet Menschen

an ein Land und seine Kunsthandwerker.

Oft hört man, Amerika sei ein Land, dem die Kultur fehle – wie

können wir kultiviert sein, wenn wir nur Dinge essen, die in Dosen

abgefüllt, pasteurisiert und einbalsamiert wurden? Welche Ironie ist

es, dass uns der Weg zur Kultur in unserer keimfeindlichen, hoch

technisierten Gesellschaft als Erstes abverlangt, uns auf eine alchemistische

Beziehung mit Bakterien und Pilzen einzulassen und Essen

und Trinken auf unsere Tische zu bringen, das von Magiern, nicht

von Maschinen, zubereitet wurde.

So einfach ist Fermentieren ist nicht nur der Versuch, diese wertvollen

Methoden dem Vergessen zu entreißen, sondern es ist auch eine Straßenkarte

in eine bessere Welt, eine Welt gesunder Menschen und

gleichberechtigter Wirtschaft, eine Welt, in der besonders jene ikonoklastischen,

frei denkenden Individuen geschätzt werden – die oft genug

als Außenseiter abgestempelt werden, die aber auf einzigartige

Weise qualifiziert sind, die Alchemie fermentierter Nahrungsmittel

nachzuvollziehen.


Vorwort 11

Hinweis des Autors

In der englischen Originalausgabe dieses Buchs habe ich die Maße

sowohl im US-System als auch im metrischen System angegeben, das

in der übrigen Welt verwendet wird.

Da ich in den USA lebe und meine Küchengeräte und vertrauten

Referenzen dieses System verwenden, habe ich die Rezepte danach

entwickelt. Als ich sie auf das metrische System übertrug, habe ich

gelernt, dass feste Zutaten im metrischen System nach Gewicht angegeben

werden und nicht nach Volumen wie im US-System (für den

Hausgebrauch, nicht im professionellen Bereich). Anstatt das Volumen

von Mehl, Bohnen und Getreide abzuwiegen, habe ich amerikanische

Volumenangaben in metrische Volumen umgerechnet.

Die metrischen Angaben in diesem Buch sind also eher Übertragungen

als Übersetzungen. Trotzdem hoffe ich, dass sie sich für Fermentierer

außerhalb der USA als nützlich erweisen.


Einführung:

Kultureller Kontext

Wie sich ein Fermentierungs-Fetisch

entwickelt


Dieses Buch ist mein Lobgesang auf die Fermentierung. Für mich

ist sie gleichzeitig Heilmittel und Gourmet-Kunst, ein multikulturelles

Abenteuer, eine Form von Aktivismus und ein spiritueller

Pfad. Mein Tagesablauf wird vom Rhythmus dieser transformativen

Lebensprozesse bestimmt.

Manchmal komme ich mir vor wie ein verrückter Wissenschaftler,

der sich um bis zu zwölf verschiedene blubbernde Fermentierungs-

Experimente gleichzeitig kümmert. Ich fühle mich wie der Moderator

einer Spielshow: »Möchten Sie den Inhalt von Topf Nummer eins

probieren, oder ihn tauschen gegen das, was in Topf Nummer zwei

schlummert?« Manchmal wirke ich fast wie ein Erweckungsprediger,

der mit glühendem Eifer das Wort über die wunderbare Heilkraft fermentierter

Nahrungsmittel verbreitet. Wenn meine Freunde die fermentierten

Leckereien probieren, witzeln sie über meine Besessenheit.

Einer von ihnen, Nettles, hat sogar ein Lied darüber geschrieben:

Hört meine Freunde, kommt zu mir,

Ich erklär’ die Verbindung zwischen Wein und dem Bier

Und Sauerteig und Joghurt und Miso und Kraut,

Ich zeig’ worauf alle sind aufgebaut.

O, die Mikroorganismen,

O, die Mikroorganismen …

Wo wir gehen und stehen, begegnen wir der Fermentierung. Sie ist ein

alltägliches Wunder, der Weg des geringsten Widerstands. Mikroskopisch

kleine Bakterien und Pilze (Hefe- und Schimmelpilze) tummeln

sich in jedem bisschen Luft, das wir einatmen, und in jedem Bissen,

den wir essen. So sehr Sie auch versuchen – wie es viele tun –, sie mit

antibakteriellen Seifen, antimykotischen Cremes oder Antibiotika

auszurotten, sie können ihnen nicht entkommen. Sie sind allgegenwärtige

Urheber einer Transformation, sie gedeihen auf vermodernder

Materie und verändern ständig die dynamischen Lebenskräfte –

von einer wunderbaren und schrecklichen Kreation zur nächsten.


14 Einführung: Kultureller Kontext

Mikrobielle Kulturen sind für Abläufe des Lebens wie die Verdauung

und Immunabwehr unabdingbar. Wir Menschen leben in einer

symbiotischen Gemeinschaft mit diesen einzelligen Lebewesen. Die

Mikroflora, wie sie auch oft genannt wird, zerlegt unser Essen in

Nährstoffe, die der Körper absorbieren kann, schützt uns vor gefährlichen

Organismen und bringt unserem Immunsystem bei, wie es

sich zu verhalten hat. Aber wir sind nicht nur von Mikroorganismen

abhängig, sondern wir sind auch ihre Nachkommen: Nach allem, was

wir von Fossilien wissen, sind sämtliche Formen des Lebens auf der

Erde bakteriellen Ursprungs. Mikroorganismen sind unsere Vorfahren

und unsere Verbündeten. Sie erhalten den Boden fruchtbar und

bilden einen unverzichtbaren Teil des Lebenszyklus. Ohne sie könnte

kein anderes Leben existieren.

Bestimmte Mikroorganismen können ganz außergewöhnliche kulinarische

Transformationen zustande bringen. Winzige Wesen, die

wir mit bloßem Auge gar nicht erkennen können, bescheren uns verlockende,

dabei ganz unterschiedliche Geschmacksvarianten. Fermentierung

gibt uns Grundnahrungsmittel wie Brot und Käse und so

beliebte Schlemmereien wie Schokolade, Kaffee, Wein und Bier. Kulturen

auf der ganzen Welt erfreuen sich an unzähligen exotischen fermentierten

Köstlichkeiten. Der Prozess der Fermentierung macht

Nahrungsmittel leichter verdaulich und nahrhafter. Lebende, nicht

pasteurisierte fermentierte Lebensmittel bringen nützliche Bakterien

direkt in unser Verdauungssystem, wo sie in einer Symbiose mit uns

leben, unsere Nahrung aufspalten und uns bei der Verdauung helfen.

In diesem Buch erkläre ich einfache Methoden für die Zubereitung

verschiedener fermentierter Speisen und vergorener Getränke. In

den letzten zehn Jahren habe ich viel über Fermentation geforscht

und in alle Richtungen experimentiert. Ich möchte das, was ich gelernt

habe, an Sie weitergeben. Dabei bin ich kein echter Experte. Die

Experten finden meine Techniken wahrscheinlich primitiv, und das

sind sie auch. Die Fermentation ist einfach. Jeder kann fermentieren,


Einführung: Kultureller Kontext 15

überall, mit einfachsten Gerätschaften. Menschen fermentieren

schon länger, als wir Worte schreiben oder den Boden bestellen. Fermentierung

erfordert weder großes Wissen noch Laborbedingungen.

Sie brauchen kein Wissenschaftler zu sein, der einzelne Mikroben

und deren enzymatische Transformation unterscheiden kann, und

auch kein Techniker, der ein steriles Umfeld und exakte Temperaturen

einhält. Sie können ganz einfach in Ihrer Küche fermentieren.

Auf den folgenden Seiten konzentriere ich mich auf die grundlegenden

Prozesse der Transformation, was praktisch nichts anderes

bedeutet, als die Bedingungen zu schaffen, unter denen natürlich vorkommende

wilde Organismen gedeihen und sich vermehren. Fermentierung

geht ohne viel Technik. Es sind uralte Rituale, die Menschen

seit vielen Generationen vollziehen. Sie geben mir das Gefühl

der Verbundenheit mit der Magie unserer natürlichen Welt und mit

unseren Vorfahren, deren kluge Beobachtungen es uns ermöglichen,

uns an den Vorzügen dieser Transformationen zu erfreuen.

Sauerkraut – wunderbares Lebensmittel und ganz leicht selbst herzustellen.


16 Einführung: Kultureller Kontext

Wenn ich versuche, den Ursprung meiner Faszination mit diesem

Naturphänomen zu besprechen, führt es mich zu den Geschmacksknospen.

Ich war immer ein großer Fan von in Salzlake eingelegten

sauren Gurken und Sauerkraut. Ich bin Nachkomme jüdischer Einwanderer

aus Polen, Russland und Litauen. Diese Speisen und ihr unverwechselbares

Aroma sind Teil meines kulturellen Erbes. Auf Jiddisch

heißen diese Speisen Zoyers. Der saure Geschmack, den die

Fermentierung ihnen verleiht, ist in der Küche Osteuropas (und vieler

anderer Regionen der Welt) sehr prominent, er wurde Teil der kulinarischen

Identität von New York City, wo ich aufwuchs. Wir lebten

in der Upper West Side von Manhattan, zwei Blocks entfernt von

Zabar’s, einer Ikone des New Yorker Essens, und meine Familie genoss

regelmäßig ihre Zoyers (Würzsauce aus Obst oder Gemüse mit

Essig, Zucker und Gewürzen abgeschmeckt). Erst kürzlich habe ich

erfahren, dass die litauische Kultur den Roguszys verehrt, ein göttli-

Wer in New York auf der Upper West Side spazieren geht, sollte unbedingt

einen Besuch bei Zabar’s machen.


Einführung: Kultureller Kontext 17

ches in Salzlake eingelegtes Gericht. Mir, dessen Familie erst vor ein

paar Generationen aus Osteuropa ausgewandert ist, läuft bei Roguszys

noch immer das Wasser im Mund zusammen.

Bei meinen Fermentierungs-Abenteuern wurde ich angespornt

von meinen Mitbewohnern, lauter Geschmacks-Tester, Philosophen

und gleichfalls Fermentierungs-Enthusiasten. Ich gehöre zu einer

Gemeinschaft namens Short Mountain Sanctuary, einem Gehöft voll

queerer Leute – wir nennen uns »Faeries« – mitten in den Bergen von

Tennessee. Bei uns wohnen normalerweise 20, oft auch mehr, Leute,

wir essen zusammen und veranstalten zweimal in der Woche mit unserer

ausgedehnten Nachbarschaft ein gemeinsames Mahl, bei dem

jeder etwas zu essen mitbringt.

Ich empfinde es als unglaubliches Glück, tief im Wald an einem so

schönen Ort zu leben. Dieses Land nährt, erzieht und unterrichtet

mich. Jeden Tag trinke ich frisches Quellwasser, das tief aus der Erde

kommt, und genieße wilde Pflanzen, selbst angebautes organisches

Gemüse, Obst und Gourmet-Gerichte, die in unserer Gemeinschaftsküche

liebevoll zubereitet werden. Wir sind Siedler, weit weg von jeder

Infrastruktur und den Annehmlichkeiten des Mainstream-Lebens

in Amerika. Keine Strommasten durchschneiden unsere Wälder

(Halleluja!), deshalb tippe ich diesen Text in einen Laptop-Computer,

der mit Strom betrieben wird, den wir direkt von der Sonne gewinnen.

Die Do-it-yourself-Ethik eines ländlichen Siedlerhofs und der unstillbare

kollektive Appetit unserer Gemeinschaft haben mich vor

nunmehr fast zehn Jahren dazu inspiriert zu lernen, wie Sauerkraut

gemacht wird. In einem Winkel unserer Scheune fand ich einen alten

Keramiktopf und erntete Kohl aus unserem Garten. Ich schnippelte

ihn klein, salzte ihn und wartete. Dieses erste Kraut schmeckte wunderbar

lebendig und nahrhaft! Sein säuerlicher Geschmack brachte

meine Speicheldrüsen in Wallung und machte mich umgehend zum

Fan der Fermentierung. Seither mache ich Sauerkraut. Es hat mir den


18 Einführung: Kultureller Kontext

Spitznamen »Sandorkraut« eingebracht, obwohl ich mein Repertoire

mittlerweile beträchtlich erweitert habe. Nach dem Kraut habe ich

gelernt, wie einfach es ist, aus dem ständigen Nachschub frischer

Milch von unserer kleinen Ziegenherde Joghurt und Käse zu machen.

Das Backen mit Sauerteig, Bierbrauen, Weinmachen und die

Herstellung von Miso folgten. Blubbernde Keramiktöpfe sind in unserer

Küche mittlerweile ein vertrauter Anblick. Manche Projekte

sind über Nacht fertig, einige brauchen Jahre und wieder andere sind

noch im Gang, während wir Töpfe und Gläser füllen, umrühren und

einen symbiotischen Rhythmus mit diesen winzigen Fermentierungs-Organismen

entwickeln, die wir nähren, damit sie später uns

nähren.

Ernährung liegt mir sehr am Herzen. Ich habe AIDS und muss meinen

Körper so stark und widerstandsfähig erhalten, wie es nur eben

geht. Durch fermentierte Speisen ist mein Körper gut genährt, ich esse

sie regelmäßig als eine Art gesunder Kur. Fermentierte Speisen und

Getränke sind nicht nur nahrhaft, sondern sie helfen, uns vor potenziell

schädlichen Organismen zu schützen, und stärken unsere Abwehrkräfte.

Leider gibt es keine Allheilmittel und fermentierte Nahrungsmittel

haben nicht verhindert, dass ich an AIDS erkrankt bin. Ich habe

grauenvolle Abstürze durchlebt, aber auch wundersame Erholungsphasen.

Ich fühle mich glücklich, am Leben und relativ gesund zu

sein, voller Ehrfurcht vor der Kraft meines Körpers, sich wieder zu

erholen. Ich nehme antiretrovirale Medikamente ein, aber viele verschiedene

Faktoren, darunter auch der regelmäßige Genuss fermentierter

Speisen und Getränke, tragen mit dazu bei, dass mein Gesundheitszustand

heute stabil ist und ich mich energiegeladen fühle. Sie

helfen mir auch, Medikamente zu vertragen, die dafür berüchtigt sind,

Magen- und Darmverstimmungen auszulösen. Der spürbare Nutzen

hat meine Hingabe an die Fermentation nur verstärkt.

Ein Fetisch ist laut Webster’s Dictionary etwas »von dem man annimmt,

es besäße ›magische Kräfte‹ und verdiene deshalb ›besondere


Einführung: Kultureller Kontext 19

Hingabe‹. Fermentierung ist magisch und mystisch und ich gebe

mich ihr hin. Ich habe diesem geheimnisvollen Fetisch seinen Lauf

gelassen (und fröne ihm). Dieses Buch ist das Ergebnis. Die Fermentierung

war für mich eine wichtige Entdeckungsreise; ich möchte Sie

einladen, mich auf diesem spannenden Weg zu begleiten. Es ist ein

Weg, der schon seit Jahrtausenden begangen wird, aber in unserer

Zeit und in dem Teil der Welt, in dem wir leben, weitgehend in Vergessenheit

geraten ist – überholt vom Superschnellweg der industriellen

Lebensmittelherstellung.


Kulturelle Rehabilitierung

Fermentierte Speisen und Getränke

sind gesund


F

ermentierte Speisen und Getränke sind buchstäblich lebendig an

Aromen und Nährstoffen. Ihr Geschmack ist zumeist kräftig ausgeprägt.

Denken Sie nur an stinkigen alten Käse, streng riechendes

Sauerkraut, erdigen Miso, großartige edelsüße Weine. Zu allen Zeiten

haben die Menschen den besonderen Geschmack geliebt, der durch

die transformative Kraft mikroskopisch kleiner Bakterien und Pilze

erzeugt wurde.

Die Fermentation macht Lebensmittel haltbar. Die beteiligten Organismen

bilden Alkohol, Milchsäure und Essigsäure, allesamt »Bio-

Konservierungsstoffe, die die Nährstoffe erhalten und vor Verderb

schützen. Gemüse, Früchte, Milch, Fisch und Fleisch sind leicht verderblich,

unsere Vorfahren nutzten deshalb jede Technik, derer sie

habhaft werden konnten, um Lebensmittel in der Zeit des Überflusses

für den späteren Verzehr zu lagern. Captain James Cook, der englische

Entdecker des 18. Jahrhunderts, der die Grenzen des britischen

Weltreichs erweiterte, wurde in die Royal Society berufen, weil er seine

Mannschaften vor dem gefürchteten Skorbut (Vitamin-C-Mangel)

schützte, indem er große Mengen Sauerkraut mit auf seine Reisen

nahm. 1 Bei seiner zweiten Weltumsegelung in den 1770er-Jahren

reichten 60 Fässer Sauerkraut für 27 Monate, und kein einziges Mitglied

der Mannschaft erkrankte am Skorbut, der zuvor bei langen

Seefahrten regelmäßig unzählige Opfer gefordert hatte. 2

Zu den vielen Ländern, die Cook »entdeckte« und dem Reich der

Krone einverleibte, gehörten auch die Hawaii-Inseln (die Cook zu

Ehren seines Dienstherren Sandwich-Inseln nannte). Ich empfinde es

als interessante Parallele, dass sich die polynesischen Völker, die mehr

als 1000 Jahre vor Cook den Pazifik überquerten und Hawaii besiedelten,

bei der langen Reise ebenfalls von fermentierten Lebensmitteln

ernährten. In diesem Fall war es Poi, ein dicker, stärkehaltiger

Brei aus Tarowurzeln, der noch heute auf Hawaii und im gesamten

südpazifischen Raum gegessen wird. 3

Durch Fermentierung werden die Nährstoffe nicht nur konserviert,

sondern in leichter verdauliche Formen zerlegt. Ein gutes Bei-

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