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Das leise Sterben (Leseprobe)

2019 Residenz Verlag (Martin Grassberger)

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Oberarzt Dr. Herrmann

Es ist Montagmittag und ich sitze mit Dr. Herrmann (* Name geändert),

einem sehr gefragten Internisten, in der sterilen Atmosphäre

der Betriebsmensa eines Wiener Krankenhauses. Herrmann hat sich

als Hormonspezialist auf die erapie von Stoffwechselstörungen wie

Diabetes mellitus spezialisiert und sich damit als Wissenschaler und

Vortragender in der medizinischen Community einen Namen gemacht.

Er sieht müde und abgespannt aus.

»Weißt du, was mir in letzter Zeit große Sorgen macht?«, fragt

mich Herrmann über einem großen Teller mit Vollkorn-Tagliatelle,

garniert mit einer undefinierbaren, mehligen Sauce mit einzelnen

Gemüsepartikeln.

»Nein«, antworte ich, »aber du siehst müde aus. War der Nachtdienst

anstrengend?«

»Ja, das auch. Aber ich gehe auf die fünfzig zu und die Arbeit wird

ständig mehr. Bei dem derzeitigen Personalmangel wird es nicht einfacher.

Wirklich Kopfzerbrechen macht mir aber, dass ich immer fetter

und schwammiger werde, und das, obwohl ich doch alles richtig

mache. Ich ernähre mich gesund und vegetarisch, esse Vollkornpasta

statt rotem Fleisch«, er deutet auf den wenig einladenden Teller voller

Teigwaren, »und ich gehe, wann immer ich Zeit habe, ins Fitnesscenter

oder mit Maria laufen. Mindestens dreimal pro Woche, obwohl

es mich eigentlich nicht recht freut. Ich vermeide Fett, rauche nicht,

trinke kaum Alkohol. Wie stehe ich nur vor meinen Patienten da? Ich

rate Ihnen abzunehmen und sehe selbst nicht besser aus. Meine Frau

findet es übrigens auch nicht gerade prickelnd, wie ich in den letzten

Jahren aus dem Leim gegangen bin.«

»Ich sehe, dass du in letzter Zeit ein bisschen zugenommen hast«,

stimme ich vorsichtig zu.

»Was heißt hier ein bisschen?! Ich kann meinen Kittel nicht mehr

zuknöpfen, habe zu hohen Zucker und im Ultraschall die ersten Anzeichen

einer Fettleber. Meine Hüen und Knie schmerzen in letzter Zeit

regelmäßig! Was ist bloß los? Da stimmt doch etwas nicht!« Herrmann

lässt die Gabel auf seinen Teller fallen, sodass die Nudeln quer über den

Tisch fliegen.

»Du hast es gut«, seufzt er schließlich nach einer endlos wirkenden

Minute des Sinnierens. »Du bist aufs Land gezogen, wohnst an

der frischen Lu und bist umgeben von üppiger Natur. Als ich letztes

Mal durch deine Gegend gefahren bin, habe ich mir gedacht: Hier ist

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