Das leise Sterben (Leseprobe)
2019 Residenz Verlag (Martin Grassberger)
2019 Residenz Verlag (Martin Grassberger)
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Oberarzt Dr. Herrmann
Es ist Montagmittag und ich sitze mit Dr. Herrmann (* Name geändert),
einem sehr gefragten Internisten, in der sterilen Atmosphäre
der Betriebsmensa eines Wiener Krankenhauses. Herrmann hat sich
als Hormonspezialist auf die erapie von Stoffwechselstörungen wie
Diabetes mellitus spezialisiert und sich damit als Wissenschaler und
Vortragender in der medizinischen Community einen Namen gemacht.
Er sieht müde und abgespannt aus.
»Weißt du, was mir in letzter Zeit große Sorgen macht?«, fragt
mich Herrmann über einem großen Teller mit Vollkorn-Tagliatelle,
garniert mit einer undefinierbaren, mehligen Sauce mit einzelnen
Gemüsepartikeln.
»Nein«, antworte ich, »aber du siehst müde aus. War der Nachtdienst
anstrengend?«
»Ja, das auch. Aber ich gehe auf die fünfzig zu und die Arbeit wird
ständig mehr. Bei dem derzeitigen Personalmangel wird es nicht einfacher.
Wirklich Kopfzerbrechen macht mir aber, dass ich immer fetter
und schwammiger werde, und das, obwohl ich doch alles richtig
mache. Ich ernähre mich gesund und vegetarisch, esse Vollkornpasta
statt rotem Fleisch«, er deutet auf den wenig einladenden Teller voller
Teigwaren, »und ich gehe, wann immer ich Zeit habe, ins Fitnesscenter
oder mit Maria laufen. Mindestens dreimal pro Woche, obwohl
es mich eigentlich nicht recht freut. Ich vermeide Fett, rauche nicht,
trinke kaum Alkohol. Wie stehe ich nur vor meinen Patienten da? Ich
rate Ihnen abzunehmen und sehe selbst nicht besser aus. Meine Frau
findet es übrigens auch nicht gerade prickelnd, wie ich in den letzten
Jahren aus dem Leim gegangen bin.«
»Ich sehe, dass du in letzter Zeit ein bisschen zugenommen hast«,
stimme ich vorsichtig zu.
»Was heißt hier ein bisschen?! Ich kann meinen Kittel nicht mehr
zuknöpfen, habe zu hohen Zucker und im Ultraschall die ersten Anzeichen
einer Fettleber. Meine Hüen und Knie schmerzen in letzter Zeit
regelmäßig! Was ist bloß los? Da stimmt doch etwas nicht!« Herrmann
lässt die Gabel auf seinen Teller fallen, sodass die Nudeln quer über den
Tisch fliegen.
»Du hast es gut«, seufzt er schließlich nach einer endlos wirkenden
Minute des Sinnierens. »Du bist aufs Land gezogen, wohnst an
der frischen Lu und bist umgeben von üppiger Natur. Als ich letztes
Mal durch deine Gegend gefahren bin, habe ich mir gedacht: Hier ist
13